Leben retten, Leben nehmen

Vor ungefähr einer Woche (ich wollte eigentlich schon früher darüber schreiben, bin aber nicht dazu gekommen) lief auf ARD der Film „Terror“. Mein Eindruck davon im Ganzen: Sehr gut dargestellt und gespielt, sehr spannendes und auch tragisches Thema. Aber hier herrscht eine gewisse Verwirrung in Bezug auf grundlegende Prinzipien der Moralphilosophie.

Situation: Der Luftwaffenpilot Major Lars Koch muss sich vor Gericht wegen Mordes in 164 Fällen verantworten – er hat gegen den Befehl der Verteidigungsministerin ein von einem Terroristen entführtes Flugzeug abgeschossen, ehe es in ein Stadion mit 70.000 Menschen fliegen konnte. Das Spannendste am Film, was dem Ersten wahrscheinlich auch ungewöhnlich hohe Einschaltquoten beschert hat, war natürlich, dass die Zuschauer am Ende quasi als Schöffen abstimmen konnten, ob er schuldig oder nicht schuldig gesprochen werden sollte; 86,9 Prozent entschieden: nicht schuldig. Der Film wurde nach der Zeugenvernahme und den Plädoyers für die Abstimmung unterbrochen, und dann wurde das passende Ende mit der Urteilsverkündung gezeigt (vorher wurden zwei Versionen gedreht); Major Koch wurde freigesprochen.

Koch gab von Anfang an klar zu, was er getan hatte und sagte ebenso klar, dass er es für richtig hielt und wieder tun würde. Er hatte sich auch vorher, wie alle in seiner Einheit, intensiv darüber Gedanken über diese Frage gemacht, und war zu dem Schluss gekommen, dass diese Handlung richtig wäre. Das war natürlich die zentrale Frage, die die Zuschauer bewegte: Hatte er richtig gehandelt? War er ein Held oder ein Mörder?

Die Staatsanwältin im Film argumentierte durchweg mit dem grundgesetzlich begründeten Prinzip der Menschenwürde. Leben dürfe nicht gegen Leben aufgewogen werden. Punkt. Man darf nicht wenige Menschen töten, um viele zu retten. Der Verteidiger warf ihr vor, Prinzipien über Menschenleben zu stellen; man müsse eben abwägen. Kurz gesagt: Die Staatsanwältin hat durchweg die besser klingenden Argumente vorgebracht – aber sie hat deswegen noch nicht recht. Und das sahen auch die Menschen, die intuitiv erkannten, dass Major Koch kein Mörder war, auch wenn er und sein Verteidiger in ihrer Begründung um einiges besser argumentieren hätten können, und auch ein paar falsche Argumente vorgebracht haben.

Hier wird nämlich, auf beiden Seiten, ein moralisches Prinzip nicht einmal erwähnt: Das Prinzip der Handlung mit Doppelwirkung.

Es ist nicht so, dass es keine Gelegenheit gegeben hätte, dieses Prinzip zu erwähnen. In ihrem Plädoyer erwähnt die Staatsanwältin zwei konstruierte Beispiele aus der Rechtsphilosophie, nämlich zwei Varianten des sog. Weichenstellerfalls:

  • Ein führerloser Wagon rast auf einen Bahnhof zu, in dem ein voll besetzter Zug steht. Sie sind der Weichensteller und könnten den Wagon auf ein Nebengleis umlenken, auf dem aber fünf Arbeiter stehen, die sterben würden, wenn sie den Wagon umlenken würden. (Eine Fluchtmöglichkeit für die Arbeiter gäbe es nicht.) Wenn Sie den Wagon nicht umlenken würden, würden die hundert Menschen im Zug sterben.
  • Ein führerloser Wagon rast auf ein Gleis zu, auf dem ein voll besetzter Zug steht. Sie stehen auf einer Brücke über dem Gleis; neben Ihnen steht ein sehr dicker Mann, der den Zug allein durch seine Körpermasse stoppen würde, wenn Sie ihn auf das Gleis stoßen würden; damit wären die hundert Menschen im Zug gerettet. Dafür müssten Sie ihn mit Ihrem Taschenmesser töten und dann eben hinunterstoßen.

Die meisten Menschen würden im ersten Fall den Wagon umlenken, obwohl sie dabei den Tod von fünf Menschen in Kauf nehmen würden, im zweiten Fall aber nicht den dicken Mann töten, obwohl so nur ein Mann sterben würde. Daraus schließt die Staatsanwältin: Die Menschen handeln hier inkonsequent. Einmal wägen sie ab, das andere Mal nicht, allein aufgrund ihrer Gefühle. Man darf also grundsätzlich nie abwägen.

Und dieser Schluss ist falsch.

Denn die instinktive Reaktion der Menschen wäre richtig. Im ersten Fall tötet man nämlich keine unschuldigen Menschen – man nimmt den Tod von unschuldigen Menschen in Kauf, man lässt sie sterben; aber man tötet sie nicht. Das Prinzip der Handlung mit Doppelwirkung sagt folgendes: Es gibt Handlungen, aus denen zwei Wirkungen hervorgehen, eine gute und eine schlechte, in diesem Fall die Rettung der Zuginsassen und der Tod der fünf Arbeiter, intendiert ist die gute, die schlechte wird nur in Kauf genommen – und in diesem Fall kann es in bestimmten Fällen moralisch erlaubt sein, diese Handlung vorzunehmen.

Nach der katholischen Naturrechtslehre gibt es bestimmte in sich schlechte Handlungen, dazu gehört auch das direkte Töten unschuldiger Menschen, und diese können nie erlaubt sein, unter keinen Umständen. Töten schuldiger Menschen in Notwehr, oder indirektes Töten unschuldiger Menschen, kann allerdings in bestimmten seltenen Situationen nötig und richtig sein.

Das, was ich hier sagen will, hat auch Pater Recktenwald schon vor einiger Zeit sehr gut ausgedrückt:

„Es gibt in sich schlechte Handlungen, die moralisch nie gerechtfertigt sind. […] Hier gilt der Grundsatz: Der gute Zweck rechtfertigt nicht die schlechten Mittel. Dazu gehört z.B. der Mord. So ist es etwa einer Gruppe von Menschen, die sich in einer Situation extremer Hungersnot befindet, nicht erlaubt, einen Schicksalsgenossen zu töten, selbst wenn durch diesen Kannibalismus alle anderen gerettet werden könnten und ohne denselben alle zugrunde gehen würden. Bei solchen Handlungen verbietet sich jede Güterabwägung.

Daneben gibt es Handlungen mit doppeltem Effekt, nämlich einer guten und einer schlechten Wirkung. Das Entscheidende dabei ist, dass die gute Wirkung nicht eine Folge der schlechten Wirkung ist. In einem solchen Fall ist eine Güterabwägung erlaubt und notwendig. Als Beispiel soll die Situation dienen, in der das Leben einer verschütteten Gruppe von Bergleuten nur durch eine Sprengung gerettet werden kann, bei der ein Verletzter, der in zu großer Nähe des Sprengungsorts liegt und der nicht zuvor in Sicherheit gebracht werden kann, getötet wird. Diese Sprengung hat zwei Folgen: Die Tötung des Verletzten und die Rettung der restlichen Menschen. In diesem Fall darf und muß ich eine Güterabwägung vornehmen und den Tod des einen in Kauf nehmen um der Rettung der vielen willen.

Diese Rettung ist nicht, wie im ersten Beispiel, eine Folge der Tötung. Um sich dies klarzumachen, braucht man nur das Gedankenexperiment anzustellen, ob dieselbe Handlung auch sinnvoll wäre, wenn sie kein Todesopfer involvierte. In unserem Fall würde die Sprengung genauso ans Ziel führen, wenn nicht zufällig ein Verletzter in der Nähe läge. Dessen Tötung hat im Rahmen der Handlung den Charakter eines unglücklichen Umstands, sie definiert aber nicht dieselbe. Wenn wir das obengenannte Beispiel des Kannibalismus danebenhalten, fällt uns der Unterschied sofort ins Auge.

Mir scheint es klar zu sein, dass der Abschuß eines Passagierflugzeugs nach dem Prinzip der doppelten Wirkung beurteilt werden muß: Die Rettung der Menschen ist nicht eine Folge des Todes der Passagiere. Der Abschuss des Flugzeugs wäre genauso sinnvoll und zweckdienlich, wenn es keine Passagiere an Bord hätte. Deren Tod wird als tragischer Umstand in Kauf genommen, was in diesem Fall um so gerechtfertigter erscheint, als sie auch ohne Abschuß ihr Leben verlieren würden. Selbstverständlich käme diese Option nur als ultima ratio in Frage. […]

So klar der Fall in der Theorie ist, so schwierig dürfte die Urteilsfindung in der Praxis sein. Bei der Güterbewegung müssen folgende Faktoren berücksichtigt werden:

  1. Das positive Gut, das erreicht wird, muss das Gut, dessen Zerstörung in Kauf genommen wird, deutlich überwiegen
  2. Je größer das Gut ist, das geopfert werden soll, um so größer muss die Gewissheit der Gefährdung des Gutes sein, das gerettet werden soll.

Mit anderen Worten: Man darf das Flugzeug nicht auf bloßen Verdacht hin abschießen. Auch eine explizite Drohung der Terroristen ist möglicherweise nur ein Bluff. Erst wenn unmittelbar Gefahr in Verzug wäre, dürfte man zur Tat schreiten. Man mag sich viele verschiedenartige Szenarien vorstellen, aber es scheint die Notwendigkeit fast unvermeidlich, dass die Entscheidung über Leben und Tod innerhalb weniger Minuten oder gar Sekunden getroffen werden muß. Wer kann und sollte dies im konkreten Falle tun? Die Schwierigkeit spitzt sich zu, wenn Fragen wie die nach den Bodenopfern eines Abschusses miteinbezogen werden müssen […].

Auf dem Hintergrund solcher Fragen und der Furcht vor Fehlentscheidungen ist etwa das Unbehagen Volker Becks an einer generellen Billigung (was immer das heißen mag) nachvollziehbar. Wenn er aber als Begründung hinzufügt: ‚Eine Abwägung Leben gegen Leben kann es nicht geben. Es bleibt Unrecht, unschuldige Menschen zu töten’, dann stehen diese Worte in grandiosem Widerspruch zur heute allseits und auch von ihm akzeptierten Abtreibungspraxis, bei der Leben nicht nur gegen Leben, sondern gegen soziales, wirtschaftliches und psychologisches Wohlbefinden abgewogen wird und den Kürzeren zieht.

In der katholischen Moraltheologie der letzten Jahrzehnte gibt es eine einflußreiche Bewegung, die den Unterschied zwischen in sich schlechten Handlungen und solchen, die eine Güterabwägung erfordern, aufheben wollen, und zwar zugunsten der letzteren. Demnach bemißt sich die moralische Qualität einer Handlung ausschließlich nach der Gesamtheit ihrer Folgen. Man nennt dieses Konzept ‚Konsequentialismus’. Dieser kennt keine Handlungen, die in sich schlecht sind. […] [A]ls Papst Johannes Paul II. in seiner Rede vom 12. November 1988 auf der Existenz von in sich schlechten Handlungen beharrte, war dies einer der Gründe für den Aufruhr der 163 Theologen, die die ‚Kölner Erklärung’ unterschrieben und dem Papst ihren Widerstand erklärten. Während also diesen Theologen die kirchliche Lehre zu rigoristisch ist, ist sie es dem heutigen Grünen-Politiker plötzlich zu wenig. Dieser will die Güterabwägung am falschen Ort verweigern, jene an jedem Ort erzwingen.“

An einer Stelle des Films verteidigt sich Major Koch damit, dass man den Staat den Terroristen ausliefere, wenn man sich nach den Prinzipien der Staatsanwältin richte. Wie würden denn Terroristen auf so ein Urteil wie das des Bundesverfassungsgerichts reagieren? (Das kippte nämlich 2005 ein Gesetz, das das Abschießen von entführten Flugzeugen geregelt hatte, es sei grundgesetzwidrig; die Frage danach, ob ein einzelner Soldat wegen eines „übergesetzlichen Notstandes“ in einem Einzelfall wegen des Abschießens eines Flugzeugs verurteilt werden könnte, regelte es allerdings ausdrücklich nicht, was natürlich für eine ziemliche Rechtsunsicherheit in dieser Frage sorgt.) Sie würden natürlich erst recht Flugzeuge mit möglichst vielen unschuldigen Menschen entführen, weil sie sich denken, dass der deutsche Staat sich dann handlungsunfähig macht, weil er seine Leute nicht opfern will, und sie freie Hand haben. Das trifft die Situation genau – es wird nur leider nicht mehr genauer ausgeführt.

Ich möchte das an ein paar Beispielen erläutern:

  • Denken wir uns eine Geiselnahme, wie sie z. B. durch RAF-Terroristen geschahen. Die Terroristen haben unschuldige Menschen in ihrer Gewalt. Sie drohen, sie zu töten, wenn man nicht einige RAF-ler aus dem Gefängnis freilässt. Die deutsche Regierung hat in diesem Fall vollkommen richtig entschieden, sich grundsätzlich nicht erpressen zu lassen, wenn so etwas geschähe. Sie würde die Leben der Geiseln opfern – sie würde sie nicht töten, aber sie würde in Kauf nehmen, dass sie durch die Taten der Terroristen zu Tode kommen. So wurde z. B. Schleyer von der RAF getötet, weil die Regierung sich nicht erpressbar machte; auch bei der Entführung der „Landshut“ gab man nicht den Forderungen der Terroristen nach, sondern schickte die GSG-9, um die Geiseln zu befreien, was zwar deren Tod riskierte, aber im Endeffekt immerhin funktionierte.
  • Anderes Beispiel: Eine Gruppe der Hamas versteckt ihre Waffen und hält ihre Besprechungen für Angriffe auf Israel mit Absicht im selben Haus ab, in dem auch ein paar Dutzend ihrer Frauen und Kinder leben, bzw. sie bringt ihre Frauen und Kinder mit Absicht in ihrem militärischen Hauptquartier unter. Wenn Israel es dann bombardiert, kann sie stolz auf die Grausamkeit ihres Feindes verweisen, der einfach so Zivilisten umbringt; so wird es für Israel natürlich schwieriger, die Hamas-Quartiere anzugreifen, weil man ja eigentlich auch keine Zivilisten töten will.

Beides sind Fälle, in denen Terroristen Unschuldige als menschliche Schutzschilde verwenden. Koch, und die 87 Prozent, die für ihn gestimmt haben, erkannten ganz richtig, dass ein Staat sich nicht völlig handlungsunfähig machen darf, dass er seine Bürger auch vor Terroristen verteidigen muss, die Unschuldige als menschliche Schutzschilde verwenden. Denn nichts anderes tun Terroristen, die Passagierflugzeuge entführen. Koch sagt an einer Stelle der Verhandlung, die Menschen im Flugzeug seien nur noch ein Teil der Waffe des Terroristen gewesen; er formuliert es schlecht (die Staatsanwältin kommt dann ja auch gleich mit ihrem Vorwurf, er spräche ihnen jede Menschenwürde ab und sähe sie nur noch als Objekte), aber er hat irgendwo einen Punkt getroffen.

Meine Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Töten mag manchen haarspalterisch erscheinen. Ist es nicht doch einfach eine Abwägung, wie viele Leben man retten kann? Aber wenn man es genau durchdenkt, sieht man den Unterschied sehr genau.

Lars Koch hat nicht 164 Menschen getötet. Er hat ein Flugzeug abgeschossen und dabei in Kauf genommen, dass 164 Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit sterben werden. Er wollte sie nicht töten. Es wäre ihm sehr recht gewesen, wenn es Überlebende gegeben hätte. Er schoss ein Flugzeug ab, um 70.000 Menschen zu retten, und er hätte es auch getan, wenn sich darin einzig und allein der Terrorist befunden hätte. Eine solche Entscheidung muss nicht in jedem einzelnen Fall richtig sein. Aber sie ist nicht automatisch falsch. Und Koch hat so lange gewartet, wie er konnte. Er ist zusammen mit einem zweiten Piloten eine halbe Stunde lang neben dem entführten Flugzeug her geflogen, sie haben versucht, es abzudrängen und zur Landung zu zwingen, und Koch hat einen Warnschuss abgegeben. Das Flugzeug setzte schon zum Sinkflug an, und Koch sah keine Anzeichen dafür, dass die Passagiere noch etwas ausrichten könnten.

Ich möchte noch einmal ein Beispiel anführen, um den Unterschied zwischen dem direkten Töten Unschuldiger und einer solchen Handlung mit Doppelwirkung wirklich deutlich zu machen.

  • Ein Flugzeug ist entführt worden, und zwar von einem psychisch labilen Mann, der sich vor kurzem radikalisierte und zum IS Kontakt aufnahm. Zwei Polizisten kennen ihn von früher, leben im selben Wohnort wie er und haben seine Handynummer. Sie fahren zu seinem Haus und treffen dort seine Frau und seine fünf kleinen Kinder an, die sie gefangen nehmen und fesseln. Dann rufen sie den Terroristen an und drohen ihm damit, seine Familie zu foltern oder zu töten, wenn er das Flugzeug nicht sicher landen lässt. Er nimmt ihnen die Drohung nicht ab und lacht ihnen ins Gesicht. Das Flugzeug beginnt bereits den Sinkflug auf das mit 70.000 Menschen besetzte Olympiastadion. Also erschießt der eine Polizist die fünfjährige Tochter und beginnt dann damit, dem sechsjährigen Sohn nach und nach die Finger abzuschneiden. Der andere filmt es und sie schicken das Video dem Terroristen mit der klaren Ansage, dass es dem Rest der Familie ebenso ergehen wird, wenn er nicht abdreht. Der Terrorist ist vollkommen geschockt und verstört, der Co-Pilot kann ihm seine Waffe abnehmen und ihn überwältigen, und der Pilot kann das Flugzeug sicher landen. Die 164 Menschen im Flugzeug und die 70.000 im Stadion sind gerettet, nur ein Mensch musste sterben und einer hat zwei Finger verloren. Ein akzeptabler Preis?
  • Nehmen wir dagegen die Situation aus dem Film. Das Flugzeug ist entführt worden und setzt zum Sinkflug aufs Olympiastadion an. Major Koch schießt es ab. Die 164 Menschen im Flugzeug sterben, die 70.000 im Stadion sind gerettet. Ein akzeptabler Preis?

Den meisten Menschen würde ganz intuitiv das erste als falsch, das zweite als richtig erscheinen. Aber wieso? Im zweiten Fall sind doch auch Kinder gestorben, und zwar qualvoll.

Den Unterschied zwischen beiden Handlungen sieht man ganz einfach, wenn man sich die Frage stellt: Hätten besagte Personen das gleiche getan, wenn dadurch keine unschuldigen Menschen getötet worden wären? Hätte Major Koch sein Geschoss abgefeuert, wenn im Flugzeug nur der Terrorist gewesen wäre, oder wenn er gewusst hätte, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit alle Passagiere den Absturz überleben? (Ich spreche rein hypothetisch.) Natürlich hätte er. Hätte der Polizist im ersten Fall seine Waffe abgedrückt, wenn dadurch das Mädchen nicht gestorben wäre, und dem Jungen die Finger abgeschnitten, wenn der dadurch nicht Schmerzen und dauerhafte Schädigung erlitten hätte? Die Frage an sich ist schon lächerlich, nicht wahr? Natürlich nicht.

Der Tod bzw. die Folter der Kinder im ersten Fall wäre ein direkt gewolltes und angestrebtes Mittel zum Ziel, der Tod der Passagiere im zweiten Fall eine unbeabsichtigt in Kauf genommene Nebenfolge. Wenn ein Arzt einem Patienten Antibiotika gegen eine schwere Krankheit verabreicht, die bei diesem Patienten starke Nebenwirkungen, sagen wir mal, wochenlange Darmbeschwerden, auslösen, hat der Arzt den Patienten dann geschädigt? Nein, hat er natürlich nicht. Wenn aber ein Arzt einem Patienten Medikamente verabreichen würde, die wochenlange Darmbeschwerden auslösen, damit er an ihm deren genaue Wirkungsweise testen kann, um des medizinischen Fortschritts willen, dann hätte er ihn geschädigt und seine Menschenwürde verletzt. Und zwar, weil der Schaden hier direkt intendiert ist; und eben gerade keine Nebenwirkung, die man in Kauf nimmt, aber weder als Ziel noch als Mittel zum Ziel braucht oder verursachen will.

(Natürlich könnte man bei dem ersten Beispiel auch noch erwähnen, dass auch die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass ein fanatischer Terrorist erst recht damit reagieren würde, möglichst viele Menschen zu töten, wenn er das Video sieht, und damit hätte man eindeutig recht, aber es wäre auch falsch, die Kinder zu töten, wenn man eine hundertprozentige Garantie hätte, damit die 70.164 Menschen zu retten. Punkt. Aber hieran sieht man schon: Folgenabwägung schadet oft auch mehr als sie nützt.)

Die Staatsanwältin meint, man müsse die Menschenwürde opfern, wenn man die 70.000 Menschen retten wolle. Kochs Verteidiger meint, dann müsse man eben die Menschenwürde opfern. Aber sie irren beide; man muss es in diesem Fall nicht. (Und wenn man es in einem anders gearteten Fall müsste, dürfte man es nicht.)

Ich will das Prinzip noch an ein paar Beispielen mehr erläutern:

  • Man befindet sich in einem gerechten Krieg – zum Beispiel verteidigen sich England und die USA gegen Hitler-Deutschland. Nun gibt es Bomben, die man auf Deutschland werfen kann. Man könnte zum Beispiel eine Bombe auf eine Fabrik werfen, in der kriegswichtige Dinge produziert werden. Dabei wäre es möglich, dass Arbeiter sterben, weil sie nicht rechtzeitig in den Luftschutzkeller kommen, oder weil es da gar keinen Luftschutzkeller gibt, oder wieso auch immer. Es müsste einen wichtigen Grund geben, um den möglichen Tod dieser Arbeiter (unter denen vielleicht polnische oder jüdische Zwangsarbeiter sind) in Kauf zu nehmen. Wenn man ziemlich sicher weiß, dass dort Bomben am Fließband produziert oder sogar an der Atombombe geforscht wird, könnte es wohl gerechtfertigt sein, eine Bombe zu werfen. Wenn dort nur Kochgeschirr für die Wehrmacht produziert werden würde, wäre es das nicht. Hier heißt es, Güterabwägung.
  • Nehmen wir aber mal das Beispiel, dass England sagt, wir werfen Bomben auf Wohnviertel, mit dem direkten Ziel, dabei möglichst viele Zivilisten zu töten, damit die deutsche Bevölkerung mit Hitler unzufrieden wird und revoltiert, oder auch einfach aus Rache. Das wäre direktes Töten unschuldiger Menschen. Damit würde ihnen wirklich jede Würde genommen, sie würden nur mehr als Objekte behandelt. Es wäre falsch.
  • In der Serie „The 100“ ist die Erde nach einem verheerenden Atomkrieg völlig verstrahlt. Einige Menschen haben überlebt und ihr Immunsystem kann die Strahlung aushalten. Einige Menschen haben diesen Schutz nicht entwickelt, aber in einem geschützten unterirdischen Bunker überlebt. Allerdings leben sie da schon über hundert Jahre lang und mittlerweile dringt immer wieder Strahlung ein. Deshalb fangen sie Menschen von draußen, und lassen sich mit deren Blut behandeln, sprich sie lassen sich deren Blut durch ihre Adern laufen, wodurch die besagten Menschen natürlich sterben. An einer Stelle der Serie gibt es den sehr treffenden Wortwechsel zwischen zwei Figuren: „Ohne die Behandlungen sterben wir. Was sollen wir tun?“ – „Sterben.“ Vollkommen richtig, kann man da nur sagen. Man darf nicht Unschuldige töten, um andere damit zu retten.
  • Dasselbe Prinzip (Man darf nicht Unschuldige töten, um andere Unschuldige zu retten) wird an einem Beispiel deutlich, das die Staatsanwältin bringt, als sie Koch verhört. Wäre er auch bereit, einen Menschen töten zu lassen, damit eine ganze Menge schwerkranker Menschen durch seine Organe am Leben erhalten werden könnten? Natürlich wäre er das nicht, wie er sagt, aber er findet keine vollkommen logisch konsistente Antwort, als sie ihn fragt, wie denn das Verhältnis sein müsste, damit es gerechtfertigt wäre, wenige für viele zu töten. Und das liegt daran, dass sie die Frage falsch stellt. Es ist nie gerechtfertigt, Unschuldige direkt zu töten, um des (möglichen) zukünftigen Nutzens einer größeren Zahl willen. Aber das hat Koch auch nicht getan.

Das Problem ist hier wirklich: Die Leute kennen genaue Prinzipien der Moralphilosophie nicht mehr. Sie werfen mit Schlagworten (Menschenwürde vs. Güterabwägung) um sich, und haben keine Ahnung, dass man nicht zwischen diesen Prinzipien wählen muss, auch wenn sie instinktiv am Ende zur richtigen Entscheidung finden. Ich kann hier gar nicht genug einen Artikel von Robert Spaemann zum Thema Verantwortungs- und Gesinnungsethik von 1982 empfehlen (ursprünglich in der Herderkorrespondenz erschienen, online hier). Darin räumt Spaemann nämlich gründlich mit dieser vorgeblichen Wahl auf, vor den Staatsanwältin und Anwalt die Zuschauer stellen wollen, und die erst von Max Weber erfunden wurde und den ganzen Diskurs seither verwirrt hat. Es lohnt sich wirklich sehr, den Artikel im Ganzen zu lesen, er ist lang, aber es lohnt sich sehr, jeden einzelnen Abschnitt zu lesen. Aber ich möchte trotzdem mal die wichtigsten Abschnitte daraus zitieren (Hervorhebungen in fett gedruckten Buchstaben von mir):

„I.

In politischen und sozialethischen Grundsatzdebatten der Gegenwart taucht immer wieder jene Unterscheidung auf, die Max Weber eingeführt und als eine letzte, nicht mehr argumentativ entscheidbare Alternative zwischen zwei moralischen Grundhaltungen bezeichnet hat, die Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Als Verantwortungsethiker bezeichnete Weber denjenigen, der bei seinem Handeln die Gesamtheit der Folgen seines Handelns bedenkt und der die Bewertung dieser Folgen zum Maßstab seiner Entscheidung macht. Gesinnungsethiker nannte er denjenigen, der bestimmte Handlungen kontextunabhängig als moralisch oder unmoralisch qualifiziert, also ohne Rücksicht auf die Folgen bestimmter Handlungen oder Unterlassungen das tut, was er für das sittlich Gebotene hält. […]

Max Weber ordnet diese beiden Handlungen zwei verschiedenen Menschentypen zu, die Verantwortungsethik dem Politiker, die Gesinnungsethik dem Heiligen. Der Gesinnungsethiker habe den Beruf verfehlt, so meinte er, wenn er die politische Verantwortung für ein Gemeinwesen übernehme und so andere für die Folgen seine Haltung büßen lasse, als Heiliger aber würde er umgekehrt die Reinheit und Konsequenz seiner Lebensweise kompromittieren, wenn er begänne, strategisch zu handeln und die Gesamtfolgen seiner Handlungen beziehungsweise Unterlassungen jeweils zu kalkulieren.

Weber übersah freilich, daß Heiligkeit kein spezifischer Beruf und keine spezifische Lebensweise ist und daß es sehr wohl Heilige gegeben hat, die zugleich erfolgreiche Politiker waren, wie zum Beispiel Thomas Morus. […]

Ich möchte behaupten, daß die Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zwar sozialpsychologisch ergiebig sein mag, um bestimmte Personentypen idealtypisch zu charakterisieren, daß sie aber ziemlich ungeeignet ist, uns über die Eigenart des Sittlichen, über Ethik zu belehren. Gerade in der Entgegensetzung von Verantwortung und Gesinnung verlieren nämlich beide die Eigenschaft des Sittlichen. […]

Ähnlich wie mit der Weberschen Formel, die ihre Öffentlichkeitswirksamkeit immer noch behauptet, steht es mit einer verwandten Alternative, die in moralphilosophischen und theologischen Diskussionen heute eher dominiert. Man spricht hier von der Alternative zwischen deontologischer und teleologischer Moralbegründung. Deontologisch nennt man eine Ethik, die bestimmten Handlungsweisen ohne Rücksicht auf die Folgen die Prädikate ‚gut’ oder ‚schlecht’ zuspricht, teleologisch eine Ethik, die als Kriterium der Sittlichkeit einzig die Absicht gelten läßt, die Maximierung außersittlicher Werte – materieller, ästhetischer und humaner Werte – zum Maßstab des Handelns und Unterlassens zu machen. Man nennt solche Moralen auch utilitaristisch oder konsequentialistisch. Als Vertreter einer deontologischen Ethik wird gerne Kant genannt, weil er Handlungen, die nicht einer verallgemeinerbaren Maxime entsprechen, ausnahmslos verurteilt.

Der klassische Vertreter des Utilitarismus ist Jeremy Bentham mit seiner berühmten Formel, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl müsse Ziel jeder sittlichen Handlung sein. […]

Zunächst möchte ich mit Bezug auf die Unterscheidung von deontologischer und teleologischer Moral etwas Ähnliches sagen wie mit Bezug auf die Webersche Unterscheidung. Weder Deontologie noch Konsequentialismus treffen das Phänomen des Sittlichen. Eine rein deontologische Ethik kann es gar nicht geben. Sie ist eine bloße Karikatur. Ein Mensch, dessen Moral darin bestünde, ohne Rücksicht auf die Umstände immer bestimmte Handlungen auszuführen und andere zu unterlassen, wäre ein nicht lebensfähiger Idiot. Güterabwägung ist selbstverständlich die normale Art, sich sittlich, und das heißt immer auch vernünftig, zu verhalten. Von den Handlungsfolgen absehen kann man überhaupt nicht, wenn man handelt. Handeln heißt ja: bestimmte Wirkungen hervorbringen. Man kann Handlungen nicht einmal als Handlungen beschreiben, ohne ihren teleologischen Charakter in die Beschreibung aufzunehmen. Andernfalls beschreiben wir nur Körperbewegungen, was unter Umständen einen sehr komischen Effekt machen kann.

 Im Streit um Deontologie und Konsequentialismus geht es also gar nicht darum, ob wir für bestimmte Wirkungen unserer Handlungen die Verantwortung zu tragen haben oder nicht, sondern es geht darum, für welche Wirkungen – ob nur für diejenigen, die eine Handlung definieren, oder auch für die beabsichtigten ferneren Folgen oder auch für die Nebenfolgen, die in Kauf genommen werden, und wenn ja, für welche und in welchem Umfang? Bei der Beschränkung der Verantwortung auf die unmittelbaren Wirkungen unserer Handlungen hängt schließlich alles davon ab, wie wir die Handlung beschreiben.

Hegel hat schon darauf hingewiesen, daß man natürlich eine Brandstiftung so beschreiben kann, daß sie keine Brandstiftung mehr ist. Der Brandstifter hat lediglich ein winziges Häufchen Heu angezündet. Wer freilich im Ernst seine Handlungen so definiert, den werden wir vielleicht von der Verantwortung für den Brand der Scheune entlasten. Dafür werden wir ihn für unzurechnungsfähig erklären. Die Unterscheidung von Deontologie und Konsequentialismus führt uns hier nicht weiter. Die Frage lautet: Wer hat wofür Verantwortung? Was eigentlich ist Gegenstand unserer sittlichen Verantwortung, wenn wir handeln oder eine bestimmte Handlung unterlassen?

Der Konsequentialist antwortet: prinzipiell alles, zumindest alles, was wir hätten voraussehen können. Jeder hat die Pflicht, mit jeder Handlung und Unterlassung den Gesamtzustand der Wirklichkeit zu optimieren. Gut ist eine Handlungsweise, wenn ihre Folgen bei einem Vergleich mit den voraussichtlichen Folgen aller möglichen alternativen Handlungen besser oder zumindest gleich gut wären. Schlecht ist eine Handlungsweise, wenn es Alternativen mit besseren Folgen gäbe. Die Wertmaßstäbe, die bei der Bestimmung von gut und schlecht mit Bezug auf die Folgen zugrunde gelegt werden, müssen außersittliche Wertmaßstäbe sein, da ja sonst die Definition des Sittlichen zirkulär wäre. (Man darf also zum Beispiel nicht das gute oder schlechte Gewissen des Handelnden unter die Handlungsfolgen rechnen.) Man sieht leicht, woher das Modell zu dieser Konzeption stammt. Es stammt aus Bereichen, in denen Strategien der Nutzenmaximierung die adäquate Handlungsform darstellen. Der Konsequentialismus ist die Übertragung eines technischen Bewertungsmodells auf die Ethik. Sittliches Handeln ist in diesem Verständnis strategisches Handeln in Richtung auf eine universale Nutzenfunktion, es ist eine universale Optimierungsstrategie.

[…] [Z]um Zwecke einer solchen Optimierung bedürfte es eines Lösungsalgorithmus in einem geschlossenen Entscheidungsmodell. Das aber würde voraussetzen: 1. eine endliche Anzahl einander ausschließender Alternativen, 2. Bekanntheit der Alternativen und 3. eine klar definierte Zielfunktion sowie Regeln, mit deren Hilfe eine eindeutige Rangordnung der Alternativen gebildet werden kann.

[…] Es ist vollkommen phantastisch, alle möglichen Gesamtverläufe des Weltgeschehens einem Wertvergleich zu unterwerfen, dabei zu einer eindeutigen Rangordnung zu gelangen und das eigene Verhalten an seiner Nutzenfunktion für einen optimalen Verlauf der Dinge auszurichten. Hätten wir in diesem Sinne eine positive Universalverantwortung, so könnten wir nur resignierend mit Hamlet sagen: ‚Weh, daß zur Welt ich kam, sie einzurichten.’

Es wird heute vielfach von den Medien, von politischen und religiösen Predigern eine Verantwortung dieser Art suggeriert. Angesichts der Unmöglichkeit, sie wahrzunehmen, kann das nur zur Resignation und zur Abstumpfung des Gewissens gegenüber den wirklichen Verantwortlichkeiten führen. Die Alternative zu solcher Resignation ist der ideologische Fanatismus, der glaubt, einen Schlüssel für das Verständnis aller Übel der Welt in der Hand zu haben. Es genügt dann, sich auf der richtigen Seite politisch zu engagieren, um das gute Gewissen wiederzugewinnen. Man tut ja alles, was man kann, um die Welt in Ordnung zu bringen, weil man alle Übel an ihrer gemeinsamen Wurzel faßt. Die große Suggestion radikaler politischer Bewegungen für eine große Zahl junger Menschen folgt aus dieser konsequentialistischen Denkweise. Bei den meisten endet sie allerdings dann wiederum in Resignation.

In Wirklichkeit besteht aber zu einer ethischen Resignation niemals Anlaß. Sittliches Handeln ist heute so gut möglich wie eh und je. Es besteht nämlich gar nicht primär in einer solchen Optimierungsstrategie, und es ist auch falsch, das Gute in jeder Situation mit dem Bestmöglichen gleichzusetzen.

Die Forderung, immer das Beste zu tun, läuft auf jenen unerträglichen Rigorismus hinaus, für den das Wort gemacht ist: ‚Das Bessere ist der Feind des Guten.’ Das konsequentialistische Ethikverständnis, das sich selbst als verantwortungsethisch versteht, zerstört den Begriff der sittlichen Verantwortung durch Überdehnung. Die konkrete Verantwortung handelnder Menschen wird zu einer bloß instrumentellen Funktion im Rahmen einer stets fiktiv bleibenden Gesamtverantwortung.

[…] Das sittliche Gewissen des einzelnen wird dem Urteil von Wohlfahrtsstrategen untergeordnet, die ihn erst darüber belehren, welche Handlungsweisen er im Interesse des Gesamtwohls zu wählen hat.

Die Bereitschaft zu solcher Abdankung wurde erschütternd deutlich bei jenem Experiment, das vor Jahren in Nachahmung des amerikanischen Milgram-Experiments der Bayerische Rundfunk veranstaltete. Beliebige, von der Straße geholte Versuchspersonen zeigten sich damals, wenn auch nach einigem Widerstreben, bereit, einer anderen Versuchsperson Stromstöße bis an die Tödlichkeitsgrenze zu erteilen. Man hatte ihnen erklärt, daß dies von großer Bedeutung für die Entwicklung eines globalen lerntheoretischen Programms sei. Man kann sich sogar ausmalen, daß eine solche Verbesserung im Endeffekt schließlich zur Rettung von Menschenleben, zur Verringerung von Leiden usw beitragen würde. ‚Teleologische’, konsequentialistische Rechtfertigungsgründe für dieses Experiment lassen sich beliebig beibringen. Was die Leute übersahen, war: es gehörte gar nicht zu ihren Pflichten, sich für die Verbesserung der Lernerfolge auf der Welt einzusetzen. Verantwortung hatten sie in diesem Falle dagegen für eine bestimmte Person, nämlich jene, die ihrem experimentellen Zugriff ausgeliefert war. Diese war ihr ‚Nächster’ im Sinne des Gebotes der Bibel. […]

Ich mache darauf aufmerksam, daß das konsequentialistische Ethos einen Widerspruch enthält. Es verhindert unter Umständen gerade die wohltätigen Folgen, die es intendiert. Diese Einsicht hat gelegentlich zu einer Modifikation des Konsequentialismus geführt. Man sagt nun: Eben weil eine solche individuelle Optimierungsorientierung letzten Endes mehr Schaden als Nutzen bringt, sollte der einzelne nicht versuchen, sich unmittelbar bei jeder Handlung an einer persönlichen Vorstellung von irgendeinem Gesamtnutzen zu orientieren. Er sollte vielmehr einer vernünftigen Regel folgen, deren allgemeine Befolgung schließlich den größten Nutzen verspricht. […]

Man spricht in diesem Zusammenhang auch von ‚Regelutilitarismus’ im Unterschied zum ‚Handlungsutilitarismus’. Aber der sogenannte Regelutilitarismus verschleiert nur das Problem. Entweder er meint, man sollte immer die regelverstärkenden oder -schwächenden Wirkungen der eigenen Handlung mit bedenken. So verstanden ist der Regelutiliarismus nur eine verfeinerte Form des Handlungsutilitarismus. Er würde eine Abweichung von der Regel immer dann erlauben, wenn die Abweichung verborgen bliebe und deshalb keine Folgen für die Weitergeltung der Regel hätte. Oder aber die Meinung ist, man müsse einer Regel, die im allgemeinen nützlich ist, immer folgen, also auch dann, wenn das im Einzelfall eher schädlich, für die Geltung der Regel selbst aber folgenlos wäre. Dann haben wir es gar nicht mehr mit Utilitarismus, sondern mit einem besonderen, rigorosen Fall von Deontologie zu tun.

Aber gerade an diesem Falle kann man sich die Unfähigkeit des Konsequentialismus verdeutlichen, das sittliche Phänomen angemessen zu interpretieren. Der Regelutilitarismus kann nämlich den prinzipiellen Unterschied nicht sehen zwischen der Regel, bei Rot die Straße nicht zu überqueren, und zum Beispiel der Regel, ein Versprechen zu halten, das man einem Verstorbenen gegeben hat. Die erste Regel dient dem Schutz von Leben und Gesundheit und ist genauso lange sinnvoll, wie sie diese Funktion erfüllt. Natürlich werde ich bei Nacht, wenn kein Auto in Sicht ist und kein Kind zuschaut, bei Rot über die Straße gehen. Aber werde ich ebenso ungerührt mein Versprechen brechen, wenn der einzige Zeuge, der Verstorbene, verschwunden ist und niemandes Wohlbefinden durch den Bruch beeinträchtigt würde, mein eigenes Wohlbefinden aber sehr wohl durch die Einlösung? Wird hier nicht der Gesamtwert der Welt durch den Bruch des Versprechens vermehrt, nämlich um mein eigenes Wohlbefinden? Aber rührt sich hier nicht das Gewissen? Und warum? Weil das Sittliche sich eben nicht reduzieren läßt auf die innere Bereitschaft, die Maximierung außersittlicher Güter oder Werte zu befördern. Eine solche Verantwortungsethik enthüllt sich als das, was sie nicht sein will, als pure Gesinnungsethik. Sie entleert nämlich die Wirklichkeit aller sittlichen Qualitäten und verlegt das Sittliche ausschließlich in die Absicht eines Individuums, seine Verantwortung im Rahmen eines Optimierungsprogramms wahrzunehmen.

 Das normale sittliche Bewußtsein versteht sich ganz anders. Die Pflicht, ein Versprechen zu halten, ergibt sich gar nicht als Funktion eines Gesamtnutzens, also etwa der Erhaltung jener Annehmlichkeit, die sich aus dem allgemeinen Vertrauen unter Menschen ergibt. Es handelt sich gar nicht primär um die Pflicht gegen eine unbekannte Zahl unbekannter Personen, die irgendwo von einer Vertrauensverletzung mitbetroffen wären, sondern um eine Verantwortung, die sich aus diesem konkreten sittlichen Verhältnis ergibt, in das ich mich begeben habe, als ich ein Versprechen gab. Dieses Verhältnis zieht seinem Wesen nach ein Engagement nach sich: das Einlösen des Versprechens.

 Verantwortung ergibt sich stets aus Situationen, in denen wir uns befinden, aus sittlichen Verhältnissen. Sittliche Verhältnisse sind: Freundschaft, Ehe, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, zwischen Arzt und Patient, zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Berufskollegen usw., usw. Erst in solchen Verhältnissen entfaltet sich die sittliche Natur des Menschen. Sittliche Handlungen sind nicht Mittel zur Maximierung außersittlicher Güter, das Zweck-Mittel-Schema ist hier ganz unpassend.

[…]

Hier liegt nun folgender Einwand nahe. Es ist doch offensichtlich, daß es Fälle gibt, in denen man vom Halten eines Versprechens entbunden ist, weil sich eine vordringlichere Pflicht aufdrängt. Ist das nicht ein Beweis für die Richtigkeit des Konsequentialismus? Ein höheres Gut steht auf dem Spiel und verdrängt das niedrigere. Eine Güterabwägung scheint stattzufinden. Aber diese Interpretation trifft den Sachverhalt nicht. Es ist ja keineswegs so, daß ich vom Halten eines Versprechens immer dann dispensiert wäre, wenn mir einfällt, daß ich zur Verbesserung der Welt doch etwas viel Wirksameres beitragen könnte. Wenn es so wäre, dann stünde jedes Versprechen unter dem Vorbehalt: ‚Es sei denn, mir fällt inzwischen etwas Nützlicheres ein.’ Versprechen stehen wirklich meistens unter einem Vorbehalt, aber dieser stillschweigende Vorbehalt lautet: ‚Es sei denn, ich gerate in eine Situation, in der sich eine vordringliche Verantwortung ergibt.’ Zum Beispiel die Situation, der Nächste eines Menschen zu sein, dessen Leben in Gefahr steht.

Hier muß ich in der Tat zwei Verantwortungen gegeneinander abwägen, und in diesem Falle liegt das Resultat der Abwägung sogar auf der Hand. Aber die Pflicht zu dieser Abwägung ergibt sich aus einer ganz bestimmten Situation, einem bestimmten sittlichen Verhältnis, in das ich geraten bin. Es resultiert nicht aus so etwas wie einer allgemeinen Optimierungspflicht. Im übrigen gibt es Versprechen, die solche Situationen legitimer Verdrängung ausschließen, weil sie die Identität der Person selbst und damit auch ihre möglichen Verantwortlichkeiten überhaupt erst definieren. Das gilt vor allem für das Eheversprechen. Ein Mann hat nicht die Verantwortung für das Leben einer fremden Frau, die er vor dem Suizid nur dadurch retten könnte, daß er mit ihr schliefe. Die Pflicht zur Güterabwägung ergibt sich aus konkreten Verantwortlichkeiten, sie begründet diese nicht.

Nun befinden wir uns in einer Vielzahl sittlicher Verhältnisse, aus denen Verantwortungen resultieren und die zueinander in Konflikt treten können. Ich kann hier nicht versuchen, die Theorie einer Rangordnung solcher Verantwortlichkeit zu entwickeln. Es kam mir nur darauf an, zu zeigen, daß man eine solche Rangordnung – die übrigens tragische Konflikte nicht ausschließen muß – nicht ersetzen kann durch eine Art unmittelbarer Universalverantwortung eines jeden für alles und daß die Wahrnehmung sittlicher Verantwortung nicht dasselbe ist wie die Teilnahme an einer Strategie der Optimierung des Universums.

 Zwei Fragen bleiben zu stellen. Erstens: Gibt es nicht so etwas wie eine gestufte Verantwortung, ein Mehr oder Weniger an Verantwortung beziehungsweise eine Verantwortung, der wir mehr durch Handeln, und eine andere, der wir nur durch Unterlassen gerecht werden können? Zweitens: Gibt es Handlungsweisen, die ohne Ansehen der Umstände immer gut oder immer verwerflich sind? Wir können die Frage auch so stellen: Gibt es Verantwortlichkeiten, denen wir nur durch eine ‚deontologische’ Praxis gerecht werden können? Wir werden sehen, daß beide Fragen etwas miteinander zu tun haben.

Der Gedanke einer gestuften Verantwortung ist für jede konkrete Ethik unerläßlich. So haben Eltern in der Regel die positive Verantwortung für das Wohl und die Erziehung ihrer Kinder. Die subsidiäre Verantwortung des Staates bezieht sich – wie das Bundesverfassungsgericht neulich bekräftigt hat – nicht darauf, das Wohl und die Erziehung des Kindes zu optimieren, das heißt, sie den Eltern immer dann aus der Hand zu nehmen, wenn die Erziehung nach Auffassung der Behörden bei anderen Personen besser wäre als bei den Eltern. Fast allen Eltern müßten dann die Kinder weggenommen werden, denn wer erzieht schon seine Kinder so, daß jemand anders sie nicht vielleicht besser erzöge?

Aufgabe des Staates kann es nur sein, die Unterschreitung bestimmter Minimalforderungen, die sich aus der Menschenwürde des Kindes ergeben, zu verhindern und tätig zu werden, wenn diese gefährdet sind. Umgekehrt hat nicht jeder Bürger jede Handlung unmittelbar am Gemeinwohl zu orientieren; sein Beitrag zum Gemeinwohl besteht erstens darin, daß er die ihm eigenen spezifischen Verantwortlichkeiten wahrnimmt, und im übrigen besteht sie in einem Rechtsstaat vor allem im Gehorsam gegen die Gesetze sowie, falls es sich um einen mächtigen Staatsbürger handelt, um Verzicht darauf, den Gesetzgeber zu korrumpieren, das heißt in einer gemeinwohlwidrigen Weise zu beeinflussen. […]

Wir müssen, so sagte ich, menschliche Verantwortung als eine abgestufte verstehen. Es gibt dabei nach oben und nach unten hin eine Grenze, jenseits derer wir unsere Verantwortung nur noch negativ, durch Unterlassen wahrnehmen können, dies allerdings dann auch müssen, und zwar mit einer Eindeutigkeit und Striktheit, die bei der aktiven Verantwortlichkeit fast nie gegeben ist. Die Obergrenze liegt dort, wo das Ganze des Universums beziehungsweise der Welt und der Menschheit ins Spiel kommt, die untere Grenze dort, wo die Würde der einzelnen Person tangiert wird.

Was die Welt als Ganze betrifft, so ist der Gedanke einer Verantwortung für sie neu. Für die Alten hatte ausschließlich Gott das bonum universi zu besorgen. Wir sind in einer anderen Lage. Die Dimensionen menschlicher Aktivität haben eine Reichweite erlangt, daß zumindest ihre unbeabsichtigten Nebenfolgen die Erde als Ganze in Mitleidenschaft ziehen. Die Interdependenzen der verschiedenen Handlungsbereiche nehmen zu. Wir wachsen in eine Epoche hinein, in der Begriffe wie ‚Menschheit’, ‚Kosmos’, ‚Natur’, ‚Geschichte’ beginnen, so etwas wie ein sittliches Verhältnis zu bezeichnen, aus dem sittliche Verantwortlichkeiten folgen.

[…] Soviel kann generell gesagt werden: Verantwortung wächst mit der Macht. So hat ein Unternehmer in normaler Situation nicht die Verantwortung für alle ökologischen Folgen, die sich aus dem Zusammentreffen seiner legalen Tätigkeit mit der vieler anderer ergibt. Es ist die Verantwortung des Staates, diese Nebenwirkungen durch gesetzliche Rahmenbedingungen in Grenzen zu halten. Anders dort, wo mächtige Konzerne schwachen oder korrupten Regierungen in armen Ländern gegenüberstehen. […] Daß man sich allerdings mit der Übernahme von Verantwortung auch übernehmen kann, zeigt das deutsche Asylrecht. Die Zahl der Menschen auf der Welt, die aufgrund echter Gefahr für Leib und Leben dieses Recht in Anspruch nehmen könnten, ist so groß, daß dies den Zusammenbruch unseres Staatswesens zur Folge haben könnte, wenn auch nur ein erheblicher Prozentsatz von ihnen dies täte. Hier gilt zweifellos der Satz des Evangeliums, daß der, der einen Turm bauen will, gut daran tut, zuvor die Kosten zu berechnen. Menschenrechte auf bestimmte Leistungen anderer Menschen können immer nur bedingte Rechte sein, denn die Erfüllung setzt erstens immer voraus, daß es Subjekte entsprechender Pflichten gibt, die diese Leistungen zu erbringen auch imstande sind, und es setzt voraus, daß diese Subjekte nicht vielleicht durch vordringlichere Pflichten an der Erfüllung dieser Ansprüche gehindert sind. Abwehrrechte hingegen, die andere nur dazu verpflichten, bestimmte Handlungen zu unterlassen, sind jederzeit erfüllbar. Sie sind daher strikter als jene. Es ist sehr folgenreich, wenn man – wie es die Marxisten tun – diese Rangordnung umkehrt und die elementaren Freiheitsrechte des Menschen seinen Ansprüchen auf soziale Leistungsgarantien unterordnet.

Die Verantwortung gegenüber Geschichte und Natur ebenso wie gegenüber der Würde des Menschen ist vor allem negativer Art. Wir können nicht die Probleme kommender Generationen im voraus lösen. Wir können ihnen nicht ihre Lebensweise vorschreiben und dürfen es nicht. Wir haben keine Verantwortung für das, was sie aus ihrem Leben machen. Verantwortung haben wir dafür, wie wir ihnen die Welt hinterlassen. Wir haben einerseits nicht das Recht, sie durch technische Transformationen unumkehrbarer Art auf eine Lebensweise zu verpflichten, die sie nicht wünschen. Vor allem aber haben wir die Pflicht, ihnen das in Jahrmillionen entstandene natürliche Erbe als ein Kapital zu übergeben, von dessen Zinsen wir gelebt, das wir selbst aber nicht angegriffen haben. […] Die Verantwortung für Planung und Organisation solcher Unterlassungen ist in erster Linie eine solche des Staates. Denn es ist ja nicht das Handeln des einzelnen, das die irreversiblen Schäden verursacht. Diese sind vielmehr Nebenfolgen des Handelns vieler Bürger. Diese aber zu neutralisieren ist Aufgabe des Staates.

Anders ist es mit jener Verantwortung, die jeder Mensch jedem einzelnen Menschen gegenüber hat. Verantwortung gründet in sittlichen Verhältnissen, in denen wir miteinander stehen. Auch mit dem fremdesten Menschen kann ich ohne mein Zutun in ein Verhältnis der Nähe geraten, wo seine oder meine Existenz davon abhängt, daß der eine den ‚anderen liebt wie sich selbst’. Abhängigkeit begründet Verantwortlichkeit. Aber die Situation einer unmittelbar geforderten aktiven Nächstenliebe ist nur die situationsbedingte Aktivierung eines fundamentalen sittlichen Verhältnisses, das uns mit jedem Menschen verbindet. Die Verantwortung, die sich aus diesem Verhältnis generell ergibt, hat Kant mit der Formel ausgedrückt: ‚Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.’

 Es ist gegen diese Forderung eingewandt worden, daß sie nicht operationalisierbar sei. Wir machen, so sagt man, einander doch ständig zu Mitteln für unsere Zwecke, und die Kantische Formel setze dem ebensowenig eine eindeutige Grenze wie der Begriff der Menschenwürde. Das stimmt jedoch nicht. Erstens verbietet die Formel nicht, den anderen zum Mittel zu machen, sondern sie setzt der Instrumentalisierung Grenzen. Die Grenze besteht darin, daß der andere nicht auf eine solche Weise Mittel und Objekt für mich werden darf, daß dabei sein Status als Subjekt eigener Zwecke, in deren Verfolgung wiederum auch ich als Mittel zu fungieren habe, vernichtet wird. Daraus folgt zum Beispiel die Unsittlichkeit eines Sklavenstatus, der den Untergebenen aller Rechte beraubt und seine ganze Lebenszeit zur Disposition seines Herrn stellt. […]

 Schon Aristoteles und ihm folgend die gesamte europäische Tradition kennt daher Handlungen, die kontextunabhängig immer als verwerflich gelten. ‚Kontextunabhängig’ ist aber hier das falsche Wort. Jeder Mensch ist schon für sich selbst ein ‚Kontext’, ein Sinnganzes. Vermittelt durch seine organische Natur, ist er durch ein bestimmtes Selbstverhältnis definiert, aufgrund dessen wir von Subjektivität oder Personalität sprechen.

Dieses Selbstverhältnis ist die Voraussetzung dafür, daß der Mensch überhaupt in vielerlei andere sittliche Verhältnisse eintreten kann. Dieses Selbstverhältnis ist kein Sachverhalt, den wir herstellen können; wir können seine Entstehung nur begünstigen. Und Handlungen, die dies tun, nennen wir ‚gut’. Man kann jedoch nicht ein für allemal unabhängig vom übrigen Lebenskontext sagen, welche Handlungen das sind. Wohl aber kann man bestimmte Handlungsweisen nennen, die dieses Verhältnis, das heißt die Menschenwürde, immer verletzen. Diese merkwürdige Asymmetrie bringt der alte scholastische Satz zum Ausdruck: ‚bonum ex integra causa, malum ex aliquo defectu.’ Es gibt, so schreibt Thomas von Aquin, keine Handlung, die adäquat und unsimulierbar immer Liebe ausdrückt und die von der Liebe immer und überall gefordert ist. Wohl aber gibt es Handlungen, die immer und überall mit der menschlichen Verantwortung gegen sich und seinesgleichen, das heißt also auch, die immer mit der Liebe unvereinbar sind.

Wenn wir den traditionellen Kanon solcher stets verwerflichen Handlungsweisen durchgehen, so finden wir, ohne daß das bisher in der philosophischen und theologischen Tradition ausdrücklich reflektiert worden wäre, darin eine bestimmte Struktur personaler Selbstdarstellung sehr genau abgebildet, einer Darstellung, die nicht in der Verfügung des Menschen steht, sondern die den Namen ‚natürlich’ verdient. Es sind drei Sphären, in denen sich die Personalität unmittelbar ausdrückt und zu denen sie sich deshalb nicht rein instrumentell verhalten kann, ohne die eigene oder die Würde anderer zu verletzen: das organische Leben, die Sprache und die Sexualität.

 Dem entspricht, daß in der klassischen philosophischen und theologischen Tradition die absichtliche und die direkte Tötung unschuldiger und wehrloser Menschen, die absichtliche Täuschung des Vertrauens durch unwahre Rede und die Herauslösung der Sexualität aus ihrem integralen humanen Kontext jeder weiteren Güterabwägung entzogen und für jederzeit unverantwortlich erklärt wurde. Lediglich mit Bezug auf die Lüge gab es unter den theologischen Moralisten gewisse Meinungsverschiedenheiten, die mit einem ungenügenden Begriff von Sprache zusammenhingen. Es gehört nämlich zur menschlichen Rede nicht nur ein Sprecher und dessen Wort, sondern auch ein Adressat und dessen Weise, das Wort aufzufassen. Das Erzählen von Märchen ist keine Lüge. Zum Vollsinn einer wahrheitsbezogenen Rede gehört, daß sie vom Adressaten als eine solche aufgefaßt wird. Der Kriegsgegner, der polizeiliche Fahnder, der fragt, ob ich einen Menschen versteckt habe, befindet sich zum Sprecher gar nicht in jenem sittlichen Verhältnis des Vertrauens, das eine wahrhaftige Rede erforderlich macht. Bekanntlich kann man ja jemanden, der ohnehin davon ausgeht, daß ich lüge, gerade dadurch in die Irre führen, daß man ihm die Wahrheit sagt. Wo aber ein solches Vertrauensverhältnis existiert, wo der Fragende – zum Beispiel der Patient oder der Ehepartner oder der Freund – zu der Erwartung berechtigt ist, daß ihm vom Arzt, vom Ehepartner oder vom Freund die Wahrheit gesagt wird, da verstößt es in der Tat gegen die Menschenwürde, aus irgendeiner noch so menschenfreundlichen Erwägung heraus die Unwahrheit zu sagen, sich selbst als Person hinter seiner Rede zum Verschwinden zu bringen und den anderen zum bloßen Objekt – und sei es auch der Fürsorge – zu degradieren, während er glaubt, Partner in einem Kommunikationsverhältnis zu sein. Die Lüge, so sagt Kant, ist in erster Linie eine Verletzung der Verantwortung gegen sich selbst, weil sie die konstitutive Identität von Innen und Außen zerstört, die das sittliche Selbstverhältnis ausmacht.

Eine zweite Dimension der Personalität und Menschenwürde ist die Sexualität. Sie engagiert die Person als Ganze auf solche Weise, daß ihre zweckrationale Instrumentalisierung im Dienste der Maximierung irgendwelcher Werte oder Güter dem Selbstzweckcharakter jedes einzelnen Menschen widerspricht. Das moderne Bewußtsein hat hiermit besondere Schwierigkeiten. Die Sexualmoral der klassisch-europäischen Tradition, zu der auch noch die Aufklärungsphilosophen Rousseau, Leibniz, Wolff, Kant und Fichte zählen, beruht auf zwei Voraussetzungen, die dem sogenannten modernen Bewußtsein entgegengesetzt sind. Die erste Voraussetzung ist die: Die Menschenwürde gründet in der Fähigkeit des Menschen zur vernünftigen Selbstbestimmung, also in einem Selbstverhältnis, das sich nicht von selbst herstellt, sondern dessen reine Realisierung – ‚Wo Es war, soll Ich werden’, sagt Freud – selten gelingt. […]

Offensichtlich endet jede Güterabwägung dort, wo es sich um die direkte Tötung eines wehrlosen und unschuldigen Menschen handelt. Sie ist immer unverantwortlich. Ihre Verhinderung muß in der Güterabwägung des Staates einen höheren Rang einnehmen als die positive Ermöglichung dieser oder jener Formen freier Persönlichkeitsentfaltung. Aber wie alle aktiven Handlungspflichten im Unterschied zu Unterlassungspflichten der Güterabwägung unterliegen, so auch die Pflicht der aktiven Verhinderung von Tötungsdelikten. Solange die richtige Rangordnung der Güter gewahrt ist, bleibt hier immer ein verantwortungsethischer Spielraum im Weberschen Sinne.

Anders dort, wo es um das Unterlassen einer in sich schlechten Handlungsweise selbst geht. Eine solche Unterlassung ist immer Pflicht, und der Staat, wenn er sie auch nicht immer und unter allen Umständen verhindern muß, darf sie doch nie anordnen, finanzieren oder begünstigen. Die Verhinderung unterliegt der Güterabwägung, die Ausführung oder deren Veranlassung nicht. Aus dem Gesagten ergeben sich unschwer Anwendungen für die Abtreibung einerseits, für die Abtreibungsgesetzgebung andererseits.

Es ergeben sich aber auch Konsequenzen für die Kriegführung. Die Verteidigung eines Landes – aus Gründen der Kostenersparnis oder zur Kompensation mangelnder Verteidigungs- und Opferbereitschaft der Bürger – auf technische Massenvernichtungsmittel zu gründen, die überwiegend die Zivilbevölkerung treffen, ist schlechthin unsittlich. Es gibt eindeutig sittliche Grenzen einer Abschreckungsstrategie. Abschreckung ist ja nur glaubhaft, wenn sie die wirkliche Bereitschaft zum Einsatz der entsprechenden Waffen wenigstens bei den Soldaten einschließt. Der Bischof Clemens August von Galen verurteilte während des letzten Krieges sogenannte Vergeltungsangriffe gegen die Zivilbevölkerung durch die deutsche Luftwaffe in England. Natürlich hielt er auch die Zerstörung deutscher Städte für kriminell. […]

Wer daran festhält, daß es Dinge gibt, die man nicht tun darf, der muß natürlich zugestehen, daß niemand für die Folgen der Unterlassung solcher Dinge die Verantwortung zu tragen hat. Eine atheistische Zivilisation neigt schon deshalb zum totalen Konsequentialismus in der Moral, weil dort, wo Gott nicht als Herr der Geschichte verstanden wird, Menschen versucht sind, die Totalverantwortung für das, was geschieht, zu übernehmen und so die Differenz zwischen Moral und Geschichtsphilosophie aufzuheben.

Die Entlastung von der Verantwortung für die Folgen der Unterlassung einer schlechten Handlung hatte der Gesetzgeber des alten Rom so formuliert: ‚Was gegen die Ehrfurcht, die Pietät, die guten Sitten ist, muß so betrachtet werden, als ob es unmöglich wäre.’ Der Sinn des Textes ist klar. Die Folgen der Unterlassung von physisch Unmöglichem hat bekanntlich niemand zu verantworten. Es gibt aber auch moralisch Unmögliches; und der Gesetzgeber verlangte, daß dies wie etwas physisch Unmögliches angesehen wird.

Jener Polizist, dem befohlen wurde, ein 12jähriges Judenmädchen zu erschießen, das ihn um sein Leben anflehte, hat wirklich geschossen. Sein sadistischer Vorgesetzter hatte ihm eine Alternative vor Augen gestellt: die Erschießung von 12 anderen unschuldigen und wehrlosen Personen. Der Polizist schoß und wurde wahnsinnig. Er tat, was er nicht mußte, weil er es nicht hätte können müssen. Jeder Mensch muß einmal sterben. Den Tod jener 12 Menschen hätte der Polizist sowenig zu verantworten gehabt, als wenn er keine Hände gehabt hätte. Hätte er nicht auch im Besitz von Händen sagen können: ‚Ich kann nicht’?

Wir haben eben wirklich keine Hände, keine Zunge und kein Geschlecht zu beliebigem Gebrauch, wobei es jedesmal nur auf die gute Endabsicht ankäme. Die überdehnte Verantwortungsethik führt in Wirklichkeit in die Unverantwortlichkeit reiner Gesinnungsethik. Es gibt eine Verantwortung für uns selbst. Was sich aus ihr ergibt, ist u. a. vorgezeichnet durch die natürliche Struktur der menschlichen Person. Diese Verantwortung setzt jeder anderen Verantwortung ihre Grenze. Je ähnlicher diese moralische Grenze einer physischen Grenze ist, je mehr sie sich dem Nicht-Können annähert, um so besser. Wir sprechen dann von Charakter. Der Charakter begrenzt unsere Disponibilität. Nur Menschen, die zu vielem bereit, aber nicht zu allem fähig sind, verdienen es, daß man ihnen Verantwortung anvertraut.“

Ich finde, das trifft es einfach auf den Punkt.

Das wirklich Zentrale ist das, was Spaemann über den Wert des einzelnen Menschen schreibt, der nie ausschließlich Mittel zum Zweck sein darf. Jeder Mensch ist gleich viel wert; also darf kein Mensch ausschließlich für andere Menschen oder den Fortschritt oder was auch immer ausgenutzt werden – wie es z. B. in der Embryonenforschung geschieht – sondern er hat einen Wert in sich, der respektiert werden muss. Aber man muss hier genau hinsehen: Was verletzt die Menschenwürde wirklich – und was eben nicht.

Ziemlich aufgeregt hat mich hinterher in der anschließenden Diskussion in „hart aber fair“ übrigens eine Teilnehmerin, die evangelische Theologin Petra Bahr. Sie behauptete nämlich, dass man aushalten müsse, dass man in dieser Situation nicht anders könne, als schuldig zu werden. Das ist vollkommener Unsinn. Schuld kann nur dann bestehen, wenn man eine Entscheidung zwischen richtig und falsch treffen kann. Manchmal ist es sehr schwierig, die richtige Entscheidung zu treffen bzw. festzustellen, was die richtige Entscheidung ist. Aber man wird nie zwangsläufig schuldig. Schuldig geworden sein heißt, dass man nicht hätte schuldig werden müssen und es trotzdem geworden ist.

Wobei ich damit auch nicht sagen will, dass es zwangsläufig Schuld bedeutet hätte, wenn Koch nicht geschossen hätte. Angenommen, er hätte vermutet, dass das Olympiastadion hoffentlich schon geräumt sein würde (was die Behörden am Boden versäumt hatten), und dass vielleicht die Passagiere noch etwas ausrichten könnten oder der Pilot das Flugzeug im letzten Moment hochreißen würde, hätte man ihm nicht einfach die Verantwortung (juristisch, moralisch) für den Tod der Menschen im Olympiastadion aufhalsen können. Ich bin nicht der Ansicht, dass er durch Schießen schuldig wurde, aber ich bin der Ansicht, dass man keinen Soldaten dafür bestrafen könnte, wenn er entgegen einem anderslautenden Befehl in einer solchen Situation nicht geschossen hätte. Unterlassungspflichten haben generell Vorrang vor Handlungspflichten, und es braucht den Respekt vor dem Gewissen des einzelnen. Dennoch halte ich Kochs Gewissensentscheidung in diesem Fall für richtig.

Was ich auch etwas bescheuert fand, war, dass die, die für „schuldig“ plädierten, immer mit „Aber unser Grundgesetz! Aber unser Grundgesetz!“ kamen. Das ist keine ausreichende Begründung. Unser Grundgesetz schützt die Menschenwürde, aber die Menschenwürde ist nicht bloß ein Verfassungsprinzip, sondern ein moralisches Prinzip, und das wird durch das indirekte Töten von unschuldigen Menschen nicht automatisch außer Kraft gesetzt. Und Moral steht sowieso über Verfassung. Wie der Herr von der Luftwaffe später in der Diskussion sagte: Ist Artikel 1 GG vom lieben Gott in Fels gemeißelt worden? Daran krankt die Argumentation der Staatsanwältin total. Sie behauptet, wir müssten uns auf das Grundgesetz verlassen, weil unser Gewissen und unsere Moral fehlbar seien. Ja, und woher haben wir bitte schön das Grundgesetz? Sollten wir nicht vielmehr mit unserem Gewissen erkennen, dass die vom Grundgesetz – einem menschlichen Gesetz – geschützte Menschenwürde richtig ist? Sie gräbt dem Grundgesetz das Wasser ab, indem sie es auf diesen Sockel hebt. An den Vertretern dieser Position fiel mir auch etwas negativ ihre Verachtung gegenüber dem „gemeinen Volk“ auf – da kamen dann solche Behauptungen wie, 87 Prozent der Menschen hätten gegen unser Grundgesetz gestimmt. Nun ist eine solche Aussage ja nicht automatisch elitär und überheblich und auch ich behaupte nicht, dass die Mehrheit immer recht ist, aber, na ja, in diesem Fall liegt die Mehrheit der Leute meiner Meinung nach nicht ganz so daneben.

Teilweise klang übrigens an, der Film appelliere zu sehr an die Gefühle der Zuschauer und stelle Koch zu positiv dar (er erinnere z. B. schon rein optisch an Stauffenberg; was stimmt, und man findet ihn wirklich sympathisch). Allerdings kam z. B. auch die Witwe eines Opfers des Abschusses als Nebenklägerin ausführlich zu Wort, man hatte wirklich Mitgefühl mit ihr, und die Staatsanwältin kam einem oftmals sympathischer vor als Kochs Anwalt; unausgewogen war der Film sicher nicht. Hier klang dann natürlich in der Diskussion auch der Vorbehalt gegenüber einer Art von Volksjustiz an, als ob es im Film um einen reellen Fall und nicht um eine Art Meinungsumfrage zu einem umstrittenen Thema ginge – da sollte man, denke ich, gelassen bleiben können.

Positiv ist mir aufgefallen, dass am Ende noch ein paar Zitate von einigen bekannten Persönlichkeiten zu diesem Thema eingeblendet wurden, darunter auch Bischof Mixa, der einen Abschuss für möglicherweise gerechtfertigt hielt. Wenigstens kam die katholische Position noch ganz kurz vor, wenn auch ohne ihre ausführliche Begründung. Auch sehr interessant fand ich, dass sich ein Mann aus dem Publikum meldete und berichtete, dass seine Lebensgefährtin Flugbegleiterin sei und die klare Meinung vertrete, auch wenn sie in einem entführten Flugzeug sei, solle man es abschießen.

Dabei musste ich auch an etwas denken, was Koch in der Verhandlung sagt. Er spricht von seinem Soldateneid, davon, dass er als Soldat auch bereit sein müsste, sein Leben für die Verteidigung seines Landes zu opfern. Hier erfasst er auch etwas sehr genau: Wenn eine Regierung ihre Soldaten in einem Krieg (angenommen, es ist ein gerechter Krieg, etwa ein Verteidigungskrieg) opfert, ebenso, wie wenn ein Pilot in einer wirklich ausweglosen Situation in Kauf nimmt, dass bei einem Angriff Zivilisten sterben, die auch sonst sterben würden (wie es hier ja der Fall ist; die Insassen des Flugzeugs hätten mit ziemlicher Sicherheit sowieso nicht überlebt), dann sind die Regierung und der Pilot nicht an deren Tod schuld – sondern die Angreifer, die Terroristen. Sie benutzen diese unschuldigen Menschen als Waffe.

Ich glaube, das ist auch einer der Gründe, warum man Major Koch, diesen aufrechten Soldaten in seiner Uniform, so sympathisch findet. Er drückt etwas aus, was man hierzulande lange vergessen hat: Den Geist des Opfers. Er verkörpert die Realisierung, dass es tragische Dinge im Leben gibt, die man nicht verhindern kann, die man auf sich nehmen muss und vor denen man auch andere Menschen nicht immer bewahren kann, auch wenn man es noch so gern möchte – und sicher, da kann man so einfach aus dem Sessel heraus darüber reden, da will ich gar nicht leugnen, dass es sich für die Leute im Flugzeug noch einmal anders anfühlen würde, aber es ist trotzdem so. Major Koch ist der exemplarische Soldat, der zu Opfern bereit ist – wenn es auch eine totale Verdrehung wäre, zu behaupten, er opfere sein Gewissen und werde um eines höheren Zweckes schuldig, wie Frau Bahr es anklingen ließ. Er wurde nicht schuldig; zumindest subjektiv handelte er richtig. (Was nicht heißt, dass es kein Opfer darstellt, so etwas tun zu müssen, was er getan hat, dass es einen nicht psychisch sehr belasten kann.) Natürlich stellt sich immer die Frage, wie es geregelt sein sollte, wer über einen Abschuss entscheiden dürfte, etc., aber das, was hier im Film beschrieben wird, war kein Mord.

13 Gedanken zu “Leben retten, Leben nehmen

  1. Was meines Erachtens in diesem hypothetischen Fall zu wenig in Betracht gezogen wird ist die Frage des Gehorsams. Wie weit geht die Gehorsamspflicht eines Soldaten/Offiziers? Wann darf oder muss er den Gehorsam verweigern? Oder wann ist ein solcher Ungehorsam nicht einfach Besserwisserei, wann müsste er sich nicht sagen, dass seine Vorgesetzten ebenfalls sehr gute Gründe haben könnten, welche zu einer anderen Einschätzung der Lage führen?
    Gerade heute hat der Gehorsam – meines Erachtens zu Unrecht – oftmals einen schlechten Ruf, auch innerhalb unserer Kirche. Jeder der glaubt es besser zu wissen als seine Vorgesetzten fühlt sich „in seinem Gewissen verpflichtet“ nicht zu gehorchen. Dass das Gewissen auch einmal daran erinnern könnte, dass, hätte Christus dem Vater den Gehorsam verweigert, wir nicht erlöst worden wären, das wollen wir meist nicht wahr haben . Man sieht, menschliches Denken und Urteilen ist immer in Gefahr, einzelne Aspekte des Ganzen auszuklammern.

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    1. Da haben Sie recht, um die Frage ging es mir vordergründig einfach nicht, sondern mehr um die grundsätzliche Zulässigkeit, unabhängig von der Frage, wer die Entscheidungskompetenz hat. Ich finde die momentane Rechtslage, wo nicht ganz klar ist, was von wem befohlen und gemacht werden darf, eh nicht gut. Die Frage des militärischen Gehorsams ist in solchen Fällen meiner Meinung nach relativ kompliziert (und wohl noch mal deutlich komplizierter als die Frage des religiösen Gehorsams), und ich wollte den Artikel jetzt nicht noch länger machen, als er eh schon war, aber Sie haben schon recht, dass man das in der Praxis auch noch beachten müsste…

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      1. Wobei – einmal ganz grundsätzlich – alles in der Welt von heute (und auch der Kirche) meines Erachtens gerade deshalb so kompliziert ist, weil man einen grossen Bogen um die Frage des Gehorsams macht. Wo jeder Häuptling sein will und niemand mehr Indianer fällt der ganze Stamm auseinander. Wo jeder Gott sein will und niemand mehr Geschöpf wird sicher eine andere Welt entstehen, aber keine bessere.

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    2. Die Sache mit dem Gehorsam ist allerdings relativ banal einfach, das lernt man in der ersten Woche Grundausbildung:

      Ein Befehl ist auszuführen, wenn er von einem Vorgesetzten kommt, als Befehl gemeint ist und nicht gegen das Völkerrecht, die Strafgesetze oder die Menschenwürde verstößt oder unzumutbar ist.

      Das war’s schon. Schwieriger isses nicht.

      [Okay, man muß dann noch die einzelnen Vorgesetzten auswendiglernen.]

      (Er *darf* dann trotzdem ausgeführt werden, wenn er „nur unzumutbar“ ist oder nur gegen die eigene Menschenwürde des Soldaten selber verstößt.)

      Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts von 2005 (mag sie auch auf einer falschen Interpretation beruht haben, weil das Bundesverfassungsgericht ebenfalls der Ansicht war, auf das Doppelwirkungsprinzip keine Rücksicht nehmen zu müssen*) ist klar: ein solcher Befehl darf in Deutschland nicht gegeben werden**. (Selbst wenn man argumentieren wollte, er verstoße ja gar nicht gegen Strafgesetze und Menschenwürde, auch wenn das Verfassungsgericht das so sieht: es ist zweifellos unzumutbar für einen Soldaten, sich unter Mordanklage vor ein Gericht stellen lassen zu müssen, wo es nur von einer strittigen Rechtsinterpretation abhängt, ob es nun Mord ist oder nicht.)

      Wenn der Verteidigungsminister oder der General Flugsicherung oder wer da sonst zuständig ist ihn dennoch gibt, wird er vernünftigerweise darauf hinweisen; der Soldat führt das dann in eigener Verantwortung aus.

      [* Übrigens geht das vermutlich auf eine etwas perverse Ansicht des Verfassungsgerichts zurück: nicht daß diese Flugzeuge nicht abgeschossen werden sollten; aber wer sie abschösse, solle wenigstens den verschissenen Anstand haben, das dann nicht auch noch für Rechtens zu halten; er solle sagen „ich konnte in dieser Situation nur falsch handeln, und so bin ich jetzt ein Mörder“. Dieser möglicherweise preußisch-protestantischen Einstellung – der Spruch „Könige müssen mehr sündigen als andere Menschen“, wird auf Friedrich Wilhelm den Soldatenkönig zurückgeführt und steht als Motto in Jochen Kleppers Biographie von ihm – täte natürlich eine gründliche katholische Prise „Non detur perplexitas“ ganz gut.

      ** Außer, vermutlich, wenn man vorher in gültiger Weise den Verteidigungsfall ausgerufen hat. Dann ist die „Abwägung Leben gegen Leben“, wie die Juristen das nennen, richtiger wäre zu sagen: das Handeln mit Doppelwirkung, nämlich erlaubt.]

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      1. Bei der Gehorsamsfrage wäre aber natürlich auch noch die Frage da: Was, wenn ein General oder Verteidigungsminister *keinen* Befehl zum Abschuss gibt – darf der Pilot das Flugzeug dann trotzdem abschießen?

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      2. Wenn er *keinen* Befehl gegeben hat, dann ist die Situation die exakt gleiche, wie wenn er den Befehl zum Abschuß gegeben hat, letzteres ist nämlich ein sogenannter „Nichtbefehl“.

        Wenn er (naturgemäß ein etwas niedrigerer Dienstgrad) den Befehl gegeben hat, sagen wir, „Dienstplan 7:00-11:30 anfallende Wartungsarbeiten am Flugzeug“, dann ist die Situation auch die exakt gleiche, weil bei außergewöhnlicher Lageänderung darf und muß der Soldat von dem in anderer Lage gegebenen Befehl zweckmäßig abweichen und statt das Flugzeug einmal gründlich zu reinigen damit starten und das gekaperte Flugzeug jagen. (Wir gehen einmal vereinfachend davon aus, daß er starten kann, ohne daß sich jemand weigert, den Start auszuführen).

        *Anders* sieht der Fall aus, wenn der Minister oder sonstwer ausdrücklich befohlen hat „Abschuß ist untersagt“. Dann käme zu dem, was strittigerweise Mord ist, nämlich noch eine ziemlich unstrittige Befehlsverweigerung (und *dieser* Befehl *darf* gegeben werden)- was vielleicht dem Soldaten, der militärischen Gehorsam und Kameradschaft verinnerlicht hat, auch persönlich unangenehm ist.

        Praktisch sehe ich hier folgende Möglichkeiten:
        1. Verteidigungsminister persönlich verbietet den Abschuß und tritt anschließend zurück.
        2. Verteidigungsminister persönlich bittet um den Abschuß, preferably mit dem Hinweis darauf, daß er das nicht befehlen kann. Abschuß geschieht; Soldat und Verteidigungsminister kommen vors Gericht, letzterer muß außerdem zurücktreten.
        3. Verteidigungsminister hält sich da persönlich raus. Da so eine Situation derart extrem ist, heißt das, er hat sich *bewußt* rausgehalten, heißt, er will den Abschuß, aber nicht die Verantwortung übernehmen. Zurücktreten muß er auch so, ums Gericht dürfte er herumkommen. Die Empörung der Soldaten darüber, mit der Verantwortung unkameradschaftlich alleinegelassen zu sein, dürfte aber nicht unberechtigt sein.

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  2. Töten schuldiger Menschen in Notwehr, oder indirektes Töten unschuldiger Menschen, kann allerdings in bestimmten seltenen Situationen nötig und richtig sein.

    Zu ergänzen: und
    * Töten schuldiger Menschen auf Grund eines rechtsstaatlich gefällten Todesurteils (unbeschadet der Überlegung, daß es vielleicht nicht unbedingt gut ist, wenn ein Staat diese Strafe vorsieht)
    * Töten unschuldiger Menschen, die im Krieg Kombattanten auf der Gegenseite sind

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    1. Die Todesstrafe ebenso wie den gerechten Krieg (der Kombattant ist ja gewissermaßen nicht unschuldig, wenn er gegen einen kämpft, auch wenn er das vielleicht nur tut, weil er zu seiner Armee eingezogen wurde) hätte ich jetzt unter dem Begriff „Notwehr“ eingeordnet; es handelt sich eben um kollektive Notwehr.

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      1. Das war mir mehr oder weniger klar, ich hatte das deswegen erwähnt, weil Du es wohl für Notwehr halten magst, es aber keine ist^^

        Die Todesstrafe ist ebensowenig Notwehr wie die Gefängnisstrafe; beiden geht es nicht darum, einen Angriff zurückzuweisen, sondern eine böse Tat zu vergelten.

        Und der gegnerische Kombattant ist erstmal durchaus unschuldig (oder gutmöglicherweise unschuldig) und wird zweitens ja nicht nur dann bekämpft, wenn er gerade gegen einen kämpft, sondern eventuell auch, wenn er gerade aus der vordersten Reihe abgelöst worden ist und sich an der Gulaschkanone bedient.

        – Übrigens, wenn in deinem Beispiel oben die Engländer eine Fabrik bombardieren, die Kochgeschirr für die Wehrmacht herstellt, dann ist das durchaus zulässig, denn ohne Mampf kein Kampf, und das Kochgeschirr ist ebenso Kriegsgerät, wie es Waffen und Munition wären. Wenn sie Wohnsiedlungen bombardieren, um Terror auszulösen, ist das in der Tat falsch; wenn sie aber Wohnsiedlungen bombardieren, nicht um Terror auszulösen, sondern weil in der Siedlung viele Rüstungs- und auch Eisenbahnarbeiter wohnen (man unterschätze nicht die wesentliche Bedeutung des Nachschubs fürs Militär), dann wäre ich auch schon vorsichtig, ob das wirklich an und für sich moralisch falsch sein muß, wobei das ex lege positiva (Haager Landkriegsordnung sinngemäß angewendet?) meines Wissens zu mindest jetzt (die Genfer Konventionen gab es aber erst nach dem II. Weltkrieg) verboten ist.

        (Und sorry fürs Herumstöbern in alten Artikeln^^)

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      2. Ich hab eigentlich nichts dagegen, wenn auch meine alten Artikel gelesen werden 🙂

        Der gegnerische Kombattant ist nicht wirklich unschuldig; bei einem Angriff geht es zuerst mal nicht darum, wieso jemand angreift. Auch jemand, der psychisch absolut nicht bei sich ist, ist vielleicht moralisch gesehen nicht schuldfähig (oder zumindest eingeschränkt schuldfähig), wenn er einen angreift, aber Notwehr gegen ihn wäre trotzdem Notwehr. Und auch wenn der Soldat gerade nicht kämpft, würde er später wieder kämpfen, und er ist eine Bedrohung des eigenen Landes. Wenn ein Amokläufer gerade eine Pause beim Schießen macht, ist er doch auch immer noch gefährlich.

        Die Todesstrafe wäre schon was anderes; aber ist es nicht eigentlich katholische Lehre, dass sie nur gerechtfertigt ist, wenn eine Gesellschaft sie braucht, um sich gegen einen gefährlichen Täter zu verteidigen? Oder habe ich da was falsch verstanden?

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  3. Falsch verstanden nicht unbedingt, weil (habe ich beim Nachschlagen festgestellt) so liest es sich auch im Katechismus. Dennoch geht der Katechismus ein wenig daran vorbei, was eigentlich eine Strafe ist. (Keine Angst, ich werde ihm nicht direkt widersprechen. Der Meinung des gegenwärtigen Papstes allerdings tendenziell eher schon.)

    >>2266 Der Schutz des Gemeinwohls der Gesellschaft erfordert, daß der Angreifer außerstande gesetzt wird schaden. Aus diesem Grund hat die überlieferte Lehre der Kirche die Rechtmäßigkeit des Rechtes und der Pflicht der gesetzmäßigen öffentlichen Gewalt anerkannt, der Schwere des Verbrechens angemessene Strafen zu verhängen […]

    Genau. Aber der Angreifer ist hier als ein Abstraktum zu verstehen, den man nicht nur, wenn er ein konkreter Angreifer wird, persönlich in den Weg tritt – und *das* wäre die Notwehr -, sondern auch dazu bringen will, gar nicht erst anzugreifen, indem er, wenn er doch angreift, eben eine bestimmte Strafe bekommt (Generalprävention).

    Ist damit einmal der Anlaß der Strafe gegeben, so gilt natürlich (und dem stimme ich nun wirklich auch im Tonfall völlig zu) der zweite Teil dieser Katechismusstelle:

    >>Die Strafe soll in erster Linie die durch das Vergehen herbeigeführte Unordnung wiedergutmachen [durch adäquate Beantwortung des Rechtsbrechers = Vergeltung]. Wird sie vom Schuldigen willig angenommen, gilt sie als Sühne [Sühne]. Zudem hat die Strafe die Wirkung, die öffentliche Ordnung [Generalprävention again] und die Sicherheit der Personen [also vor diesem Täter: Spezialprävention; das ist ein Aspekt, aber nur einer]zu schützen. Schließlich hat die Strafe auch eine heilende Wirkung: sie soll möglichst dazu beitragen, daß sich der Schuldige bessert [Resozialisation].

    All das gilt übrigens für die Todesstrafe gerade ebenso wie für die Gefängnis- oder sonst irgendeine Strafe.

    Unter Notwehr verstehe ich und versteht, denke ich, auch der Sprachgebrauch allenfalls eine gewisse Form von Spezialprävention, und das ist nur ein Aspekt und nicht der wichtigste.

    — Beim Soldaten: ja okay. Aber man muß ein bißchen drumherumkonstruieren, daß es ja auch theoretisch einen gerechten Angriffskrieg geben kann (da Angriffskriege offiziell verboten sind, wird das dann mit wieder ein paar Konstruktionen als Verteidigungskrieg gedeutet) und daß man dem gegnerischen Soldaten ja unterstellt, daß er im guten Glauben handelt, daher ist die Situation etwas anders.

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