Ein Buchtipp für alle, die ein gutes Buch über Märtyrer lesen möchten (Leseproben inklusive!)

Da ich ja im letzten Post zum zweiten Mal an einer Darstellung des Martyriums in einem historischen Roman herumkritisiert habe, aber auch nicht die ganze Zeit nur kritisieren will, hier jetzt mal ein empfehlenswerter historischer Roman über eine Zeit der Märtyrer: „Come Rack! Come Rope!“ von Robert Hugh Benson.

Es gibt eine ziemlich große Menge an Schriftstellern, die zu ihrer Lebzeit sehr bekannt waren, heute aber nahezu vergessen sind; manche davon verdienter-, andere aber unverdientermaßen. Zu der ersten Sorte könnte man z. B. eine Mrs. Radcliffe zählen, zu deren Schauerromanen Jane Austen in „Northanger Abbey“ eine brillante Satire geliefert hat; zur zweiten dagegen Autoren wie Benson. (Anbei: Ich glaube und hoffe, dass Schriftstellern wie Iny Lorentz, Rosamunde Pilcher, Dan Brown, George R. R. Martin und E. L. James in nicht allzu ferner Zukunft das gleiche Schicksal beschieden sein wird wie den genannten Autoren.) Benson jedenfalls war meiner Ansicht nach ein sehr, sehr talentierter Schriftsteller, und auch relativ produktiv, vor allem, wenn man seine eher kurze Lebenszeit bedenkt (1871-1914; er schrieb alle seine Bücher zwischen 1903 und 1914).

Er war der jüngste Sohn des anglikanischen Erzbischofs von Canterbury Edward White Benson (1829-1896) und wurde selbst zuerst anglikanischer Geistlicher, neigte aber schon bald mehr dem Anglo-Katholizismus zu und lebte von 1898 bis 1903 in einer Art von anglikanischer Ordensgemeinschaft. Schon ab 1896 begann er Zweifel an der Autorität der Kirche von England zu hegen; ich habe hier schon einmal eine kurze Stelle aus seinen „Confessions of a convert“ zitiert, in denen er die Gründe für seine Konversion darlegte – 1903 trat er in die katholische Kirche ein, und 1904 wurde er in Rom zum Priester geweiht. Das war in einer Zeit, in der England noch antikatholischer war als heute, und da war die Konversion eines Mannes aus einer solchen Familie ein so großer Skandal wie die des berühmten John Henry Newman ein paar Jahrzehnte früher. (Das heißt, sie war ein wirklich großer Skandal.) Hier findet sich übrigens noch eine kurze Biographie über Monsignore Benson, für alle, die interessiert sein sollten. Neben seiner Arbeit als Priester veröffentlichte er in den folgenden Jahren zahlreiche Romane, Kinderbücher, Predigten und theologische Werke. Sein bekanntestes Buch ist „Lord of the world“ (von dem es auch eine deutsche Übersetzung mit dem Titel „Der Herr der Welt“ gibt); was kein Wunder ist, Dystopien interessieren die Leute irgendwie immer. Das Buch ist auch wirklich gut, aber er selber hielt wohl seinen historischen Roman „The History of Richard Raynal, Solitary“, der im Mittelalter spielt, für sein gelungenstes Werk. Den habe ich noch nicht gelesen, aber von dem, was ich bis jetzt von ihm gelesen habe, mochte ich tatsächlich „Come Rack! Come Rope!“ am liebsten. (Auch davon gab es mal eine deutsche Übersetzung, aber die ist von 1926, und ich bezweifle, dass man sie noch irgendwo her bekommt. Sie trägt den Titel „Trotz Folter und Strick“.) Man findet den Roman im englischen Original online hier (es gibt einige von Bensons Werken bei Project Gutenberg); es müsste aber auch gedruckte Versionen im Internet zu kaufen geben.

Wem Monty Pythons Spanische Inquisition geläufig ist, der wird sich ja erinnern, dass „rack“ auf Englisch nicht nur so etwas wie „Gestell“, „Kistchen“ oder „Rahmen“ bedeuten kann, sondern auch „Streckbank“ (was bei den Inquisitoren ja zu einer gewissen Verwirrung geführt hat). Monsignore Bensons Roman nun spielt zwischen 1579 und 1588 in England und das übergreifende Thema ist, kurz gesagt, die damalige Verfolgung der Katholiken, insbesondere der Priester. Wir reden hier von einer Zeit, in der man zwar privat noch irgendwie Katholik sein konnte, aber Strafe dafür zu zahlen hatte, wenn man nicht den anglikanischen Gottesdienst besuchte, und in der Priester und solche, die Priestern halfen, nicht selten „hanged, drawn and quartered“ (eine eher unangenehme Hinrichtungsmethode) oder, im Fall von St. Margaret Clitherow, auch mal zu Tode gequetscht wurden. Im Vorwort schreibt der Autor über den historischen Hintergrund und den Titel:

„Very nearly the whole of this book is sober historical fact; and by far the greater number of the personages named in it once lived and acted in the manner in which I have presented them. My hero and my heroine are fictitious; so also are the parents of my heroine, the father of my hero, one lawyer, one woman, two servants, a farmer and his wife, the landlord of an inn, and a few other entirely negligible characters. But the family of the FitzHerberts passed precisely through the fortunes which I have described; they had their confessors and their one traitor (as I have said). Mr. Anthony Babington plotted, and fell, in the manner that is related; Mary languished in Chartley under Sir Amyas Paulet; was assisted by Mr. Bourgoign; was betrayed by her secretary and Mr. Gifford, and died at Fotheringay; Mr. Garlick and Mr. Ludlam and Mr. Simpson received their vocations, passed through their adventures; were captured at Padley, and died in Derby. Father Campion (from whose speech after torture the title of the book is taken) suffered on the rack and was executed at Tyburn. Mr. Topcliffe tormented the Catholics that fell into his hands; plotted with Mr. Thomas FitzHerbert, and bargained for Padley (which he subsequently lost again) on the terms here drawn out. My Lord Shrewsbury rode about Derbyshire, directed the search for recusants and presided at their deaths; priests of all kinds came and went in disguise; Mr. Owen went about constructing hiding-holes; Mr. Bassett lived defiantly at Langleys, and dabbled a little (I am afraid) in occultism; Mr. Fenton was often to be found in Hathersage—all these things took place as nearly as I have had the power of relating them. “

Was ich an diesem Buch so mag, sind (abgesehen von der Tatsache, dass ich historische Romane, vor allem solche, deren Autoren sich die Mühe gemacht haben, historische Fakten zu recherchieren, generell gerne mag), ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die folgenden Dinge:

  • Die lebendige und realistische Charakterzeichnung: Zuerst einmal ist es keineswegs so, dass die Katholiken alle „die Guten“ und die Protestanten alle „die Bösen“ wären; dann ist es vor allem auch so, dass die guten, die schlechten und die irgendwo dazwischen stehenden Charaktere alle ihre jeweiligen speziellen Eigenarten haben und als gerundete, real wirkende Personen herüberkommen.
  • Der Schreibstil: Monsignore Benson neigt in „Lord of the world“ und anderswo gelegentlich zu Weitschweifigkeit (ein Fehler, den ich selber sehr gut kenne), fand ich, aber hier weniger; und er schreibt trotzdem im Großen und Ganzen einfach nur wunderbar; er besitzt die Fähigkeit, die einen guten Autor ausmacht, das was er schildert, lebendig zu machen, Stimmungen und Hintergründe einzufangen; und es liegen immer wieder ein gewisser Humor und eine feine Ironie in seinen Schilderungen, die das Buch so angenehm zu lesen machen.
  • Ich mag auch dieses ein bisschen altmodische Englisch, an das man sich teilweise erst gewöhnen muss. (Z. B. ist mir beim ersten Lesen erst nach ein bisschen Nachdenken aufgegangen, dass „her Grace“ einfach die Königin bezeichnet („ihre Gnaden“).)
  • Einerseits gibt es sehr spannende Stellen und die Handlung ist wirklich fesselnd (der Autor selbst erwähnt im Vorwort einen Ansatzpunkt möglicher Kritik seiner Zeitgenossen: „If the book is too sensational, it is no more sensational than life itself was to Derbyshire folk between 1579 and 1588“), andererseits ist es aber eben keine Geschichte, die bloß aus aufeinanderfolgenden Szenen von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, spektakulären Schwertkämpfen, Fluchten auf galoppierenden Pferden durch die dunkle Nacht, Folterungen, Morden und dergleichen bestehen würde. Die spektakulären Schwertkämpfe (und anderes von dem erwähnten Zeug) kommen sogar überhaupt nicht vor. Es gibt auch längere Gespräche und ruhige Szenen, in denen äußerlich nicht viel passiert, und es wird auch Zeit für die Schilderung von Orten, Gedanken und Gefühlen aufgewandt. Trotzdem kann man das Buch einfach nicht aus der Hand legen; man will unbedingt wissen, wie es weitergeht (und Monsignore Bensons schöne Sprache genießen).
  • Es ist alles in allem einfach eine schöne Geschichte. Der Autor schildert teilweise grauslige (ja, in meinem Dialekt ist das ein Wort, das man verwenden darf, auch wenn mein Rechtschreibprogramm das anders sehen mag) Begebenheiten – wie der Titel andeutet, auch Folter, Gefangenschaft und Hinrichtungen –, wenn auch nicht immer auf besonders explizite Weise, aber es ist trotzdem keine düstere, sondern eine hoffnungsvolle, helle Geschichte, in der nie das Böse ganz das letzte Wort behält. Und sie hat ein gutes Ende.

Worum es also genau geht:

Die beiden Hauptpersonen sind Robin Audrey und Marjorie Manners, im ersten Teil des Buches beide siebzehn Jahre alt, Robin der Sohn eines niederen Adligen und Marjorie die Tochter eines Anwalts aus dem ländlichen Nordengland; sie sind beide katholisch und, als das Buch beginnt, ein Liebespaar und seit kurzem verlobt. Das erste Kapitel setzt ein, als Robin zu Marjorie reitet, um mit ihr ein Problem zu besprechen, das vor ihm aufgetaucht ist:

„Robin Audrey was no more religious than a boy of seventeen should be. Yet he had had as few doubts about the matter as if he had been a monk. His mother had taught him well, up to the time of her death ten years ago; and he had learned from her, as well as from his father when that professor spoke of it at all, that there were two kinds of religion in the world, the true and the false—that is to say, the Catholic religion and the other one. Certainly there were shades of differences in the other one; the Turk did not believe precisely as the ancient Roman, nor yet as the modern Protestant—yet these distinctions were subtle and negligible; they were all swallowed up in an unity of falsehood. Next he had learned that the Catholic religion was at present blown upon by many persons in high position; that pains and penalties lay upon all who adhered to it. Sir Thomas FitzHerbert, for instance, lay now in the Fleet in London on that very account. His own father, too, three or four times in the year, was under necessity of paying over heavy sums for the privilege of not attending Protestant worship; and, indeed, had been forced last year to sell a piece of land over on Lees Moor for this very purpose. Priests came and went at their peril… […] There was still the memory of the descent of the Commissioners a year or two after his birth; he had been brought up on the stories of riding and counter-riding, and the hiding away of altar-plate and beads and vestments. But all this was in his bones and blood; it was as natural that professors of the false religion should seek to injure and distress professors of the true, as that the foxes should attack the poultry-yard. One took one’s precautions, one hoped for the best; and one was quite sure that one day the happy ancient times his mother had told him of would come back, and Christ’s cause be vindicated.

 And now the foundations of the earth were moved and heaven reeled above him; for his father, after a month or two of brooding, had announced, on St. Stephen’s Day, that he could tolerate it no longer; that God’s demands were unreasonable; that, after all, the Protestant religion was the religion of her Grace, that men must learn to move with the times, and that he had paid his last fine. At Easter, he observed, he would take the bread and wine in Matstead Church, and Robin would take them too.“

Der Konflikt mit Robins Vater, der beschlossen hat, zur anglikanischen Kirche überzugehen, ist der zentrale Konflikt, der die ganze weitere Handlung in Gang setzt. Als Robin das Ganze mit Marjorie bespricht, ist es für sie ohne weiteres klar, dass er seinem Vater hier nicht gehorchen kann; für sie ist die Frage höchstens, wie er sich nun verhalten soll.

Meantime Robin thought too. He was as wax in the hands of this girl, and knew it, and loved that it should be so. Yet he could not help his dismay while he waited for her seal to come down on him and stamp him to her model. For he foresaw more clearly than ever now the hundred inconveniences that must follow, now that it was evident that to Marjorie’s mind (and therefore to God Almighty’s) there must be no tampering with the old religion. He had known that it must be so; yet he had thought, on the way here, of a dozen families he knew who, in his own memory, had changed from allegiance to the Pope of Rome to that of her Grace, without seeming one penny the worse. There were the Martins, down there in Derby; the Squire and his lady of Ashenden Hall; the Conways of Matlock; and the rest—these had all changed; and though he did not respect them for it, yet the truth was that they were not yet stricken by thunderbolts or eaten by the plague. He had wondered whether there were not a way to do as they had done, yet without the disgrace of it…. However, this was plainly not to be so with him. He must put up with the inconveniences as well as he could, and he just waited to hear from Marjorie how this must be done. […]

 These two, as will have been seen, were as simple as children, and as serious. Children are not gay and light-hearted, except now and then (just as men and women are not serious except now and then). They are grave and considering: all that they lack is experience. These two, then, were real children; they were grave and serious because a great thing had disclosed itself to them in which two or three large principles were present, and no more. There was that love of one another, whose consummation seemed imperilled, for how could these two ever wed if Robin were to quarrel with his father? There was the Religion which was in their bones and blood—the Religion for which already they had suffered and their fathers before them. There was the honour and loyalty which this new and more personal suffering demanded now louder than ever; and in Marjorie at least, as will be seen more plainly later, there was a strong love of Jesus Christ and His Mother, whom she knew, from her hidden crucifix and her beads, and her Jesus Psalter—which she used every day—as well as in her own soul—to be wandering together once more among the hills of Derbyshire, sheltering, at peril of Their lives, in stables and barns and little secret chambers, because there was no room for Them in Their own places. It was this last consideration, as Robin had begun to guess, that stood strongest in the girl; it was this, too, as again he had begun to guess, that made her all that she was to him, that gave her that strange serious air of innocency and sweetness, and drew from him a love that was nine-tenths reverence and adoration. […] They did not speak much of her Grace, nor of her Grace’s religion, nor of her counsellors and affairs of state: these things were but toys and vanities compared with matters of love and faith; neither did they speak much of the Commissioners that had been to Derbyshire once and would come again, or of the alarms and the dangers and the priest hunters, since those things did not at present touch them very closely. It was rather of Robin’s father, and whether and when the maid should tell her parents, and how this new trouble would conflict with their love. They spoke, that is to say, of their own business and of God’s; and of nothing else. The frosty sunshine crept down the painted wainscot and lay at last at their feet, reddening to rosiness…“

(Nebenbei: Einer der Sätze aus dem Buch, die ich am liebsten mag, ist der folgende, der am Beginn des Treffens der beiden steht: „Then he took the girl who awaited him there in both his arms, and kissed her twice—first her hands and then her lips, for respect should come first and ardour second.“)

Na ja, ich will hier jetzt nicht alle Einzelheiten des weiteren Fortgangs verraten, das würde hier auch ein bisschen zu lang dauern. Kurz gesagt, die Handlung nimmt eine unerwartete Wendung, und der erste Teil endet damit, dass – wer keinen Spoiler will, bitte hier zu lesen aufhören und einfach gleich das Buch selbst bei Project Gutenberg weiter lesen – Robin beschließt, nach Rheims zu gehen, um Priester zu werden, und dann, wie üblich, heimlich nach England zurückzukehren, um den Katholiken dort zu dienen. Marjorie ist tatsächlich die, der zuerst der Gedanke kommt (der ihr zuerst Angst macht), dass Gott Robin zum Priestertum berufen könnte; und sie unterstützt ihn in seinem Entschluss. Der zweite Teil setzt dann zwei Jahre später ein, als Marjorie von einer befreundeten, ebenfalls katholischen Familie, Anthony Babington und seiner Schwester Alice, zu einer Reise nach London eingeladen wird, wo sie auch einige Priester treffen soll. In diesen zwei Jahren ist sie ein fester Teil des Netzwerks von Personen geworden, die Priester bei sich verstecken; ihr Vater ist inzwischen tot und ihre Mutter bettlägerig, also ist sie mehr oder weniger für das Familienanwesen verantwortlich. Den Teil des Buches, der in London spielt, mag ich auch seeehr gern, da tritt nämlich St. Edmund Campion auf; einer der großen englischen Märtyrer. Hier noch eine schöne Szene, als Marjorie und ihre Begleiter sich mit Pater Campion in einem Gasthaus treffen:

„They talked for a few minutes in this manner. Father Campion spoke of the high duty that lay on all country ladies to make themselves acquainted with the sights of the town; and spoke of three or four of these. Her Grace, of course, must be seen; that was the greatest sight of all. They must make an opportunity for that; and there would surely be no difficulty, since her Grace liked nothing better than to be looked at. And they must go up the river by water, if the weather allowed, from the Tower to Westminster; not from Westminster to the Tower, since that was the way that traitors came, and no good Catholic could, even in appearance, be a traitor. And, if they pleased, he would himself be their guide for a part of their adventures. He was to lie hid, he told them; and he knew no better way to do that than to flaunt as boldly as possible in the open ways.

 „If I lay in my room,“ said he, „with a bolt drawn, I would soon have some busy fellow knocking on the door to know what I did there. But if I could but dine with her Grace, or take an hour with Mr. Topcliffe, I should be secure for ever.“

 Marjorie glanced shyly towards Alice, as if to ask a question. (She was listening, it seemed to her, with every nerve in her tired body.) The priest saw the glance.

 „Mr. Topcliffe, madam? Well; let us say he is a dear friend of the Lieutenant of the Tower, and has, I think, lodgings there just now. And he is even a friend of Catholics, too—to such, at least, as desire a heavenly crown.“

 „He is an informer and a tormentor!“ broke in Anthony harshly.

 „Well, sir; let us say that he is very loyal to the letter of the law; and that he presides over our Protestant bed of Procrustes.“

 „The—“ began Marjorie, emboldened by the kindness of the priest’s voice.

 „The bed of Procrustes, madam, was a bed to which all who lay upon it had to be conformed. Those that were too long were made short; and those that were too short were made long. It is a pleasant classical name for the rack.““

(Man achte auf den an dieser Stelle nur angedeuteten Gegensatz zwischen Pater Campion und Anthony Babington – letzterer spielt ebenfalls noch eine nicht zu unterschätzende Rolle für die weitere Handlung, und wer Schillers „Maria Stuart“ aus dem Deutschunterricht noch einigermaßen im Kopf hat, dem wird sein Name vielleicht schon etwas sagen – denn ja, wir reden hier auch von einer Zeit, in der es so etwas wie katholische Terroristen gab (Anthony Babington, Guy Fawkes, Jacques Clément, Francois Ravaillac usw.).)

Bei dieser Reise nach London trifft Marjorie auch Robin wieder, der zwar noch kein Priester ist, aber mit einigen Priestern und anderen Seminaristen auf eine Art vorbereitende Reise nach England gekommen ist:

„Robin bowed to her very carefully, and stood upright again.

 She had seen in an instant how changed he was, in that swift instant in which her eyes had singled him out from the little crowd of men that had come into the room with Anthony at their head. It was a change which she could scarcely have put into words, unless she had said that it was the conception of the Levite within his soul. He was dressed soberly and richly, with a sword at his side, in great riding-boots splashed to the knees with mud, with his cloak thrown back; and he carried his great brimmed hat in his hand. All this was as it might have been in Derby, though, perhaps, his dress was a shade more dignified than that in which she had ever seen him. But the change was in his face and bearing; he bore himself like a man, and a restrained man; and there was besides that subtle air which her woman’s eyes could see, but which even her woman’s wit could not properly describe.

 […]

 „You look very well,“ she said, with an admirable composure.

 His eyes twinkled.

 „I am as weary as a man can be,“ he said. „We have ridden since before dawn…. And you, and your good works?“

 Marjorie explained, describing to him something of the system by which priests were safeguarded now in the north—the districts into which the county was divided, and the apportioning of the responsibilities among the faithful houses. It was her business, she said, to receive messages and to pass them on; she had entertained perhaps a dozen priests since the summer; perhaps she would entertain him, too, one day, she said.

 The ordeal was far lighter than she had feared it would be. There was a strong undercurrent of excitement in her heart, flushing her cheeks and sparkling in her eyes; yet never for one moment was she even tempted to forget that he was now vowed to God. It seemed to her as if she talked with him in the spirit of that place where there is neither marrying nor giving in marriage. Those two years of quiet in the north, occupied, even more than she recognised, in the rearranging of her relations with the memory of this young man, had done their work. She still kindled at his presence; but it was at the presence of one who had undertaken an adventure that destroyed altogether her old relations with him… She was enkindled even more by the sense of her own security; and, as she looked at him, by the sense of his security too. Robin was gone; here, instead, was young Mr. Audrey, seminary student, who even in a court of law could swear before God that he was not a priest, nor had been „ordained beyond the seas.“

 So they sat and exchanged news. She told him of the rumours of his father that had come to her from time to time; he would be a magistrate yet, it was said, so hot was his loyalty. Even her Grace, it was reported, had vowed she wished she had a thousand such country gentlemen on whose faithfulness she could depend. And Robin gave her news of the seminary, of the hours of rising and sleeping, of the sports there; of the confessors for the faith who came and went; of Dr. Allen. He told her, too, of Mr. Garlick and Mr. Ludlam; he often had talked with them of Derbyshire, he said. It was very peaceful and very stirring, too, to sit here in the lighted parlour, and hear and give the news; while the company, gathered round Anthony and Father Campion, talked in low voices, and Mistress Babington, placid, watched them and listened. He showed her, too, Mr. Maine’s beads which she had given him so long ago, hung in a little packet round his neck.“

Tja, ich will jetzt nicht mehr viel verraten; der dritte und vierte Teil des Buches jedenfalls spielen ein paar Jahre später, als Robin dann tatsächlich als Priester nach England zurückgekehrt ist; er und Marjorie begegnen sich auch dann wieder, Babingtons Verschwörung kommt noch vor und auch Mary Stuart hat noch eine Rolle zu spielen, und ein paar andere Personen; dann auch Robins Vater, der inzwischen tatsächlich ein Magistrat der Queen geworden ist und unter anderem zuständig für die Suche nach katholischen Priestern…

Wie gesagt: Das Buch geht gut aus. Ich verrate nicht, wie, aber es geht gut aus.

„Schweigen“, die zweite

Ich habe hier ja schon einmal meine Kritik an Shusaku Endos Roman „Schweigen“, der von Martin Scorsese verfilmt worden ist, deutlich und sehr ausführlich zum Ausdruck gebracht. Deshalb habe ich mich auch gefreut, eine Filmkritik von Bischof Robert Barron gefunden zu haben, der so ziemlich derselben Meinung ist wie ich. Das, was er in seinem Artikel noch betrachtet, ist wirklich lesenswert. Und nachdem ich gelesen habe, wie der Film das Buch inszeniert (ziemlich werkgetreu übrigens), wiederhole ich mein ursprüngliches Verdikt: Es lohnt sich nicht, ihn zu sehen, wenn er in Deutschland herauskommt.

[Update: Hier noch ein paar Informationen über den tatsächlichen historischen Hintergrund des Films.]

Über schwierige Bibelstellen, Exkurs: Etwas Grundsätzliches über Gottes Gutheit

Bevor ich mit der Erklärung verschiedener Bibelstellen weitermache, sollte ich vielleicht noch ganz kurz auf einen Einwand eingehen, der nicht von atheistischer, sondern von calvinistischer Seite gemacht werden könnte, nämlich diesen: Ist es überhaupt nötig, Rechtfertigungen und Erklärungen für Gottes Handeln in der Bibel zu suchen? Wenn Gott etwas tut – zum Beispiel die Landnahme befiehlt –, sollte uns dann nicht einfach genügen, dass es ein Befehl Gottes ist, und folglich gut? Gott steht unsagbar hoch über uns Menschen; wenn uns etwas, das Gott tut, als schlecht erscheint, dann sind wir es, die irren, und nicht Gott. Wir haben einfach Gott zu gehorchen. Was maßen wir uns an, darüber zu urteilen, was Er tun darf und was nicht?

Ich möchte auf diesen möglichen Einwand mit einem schönen Zitat von C. S. Lewis antworten:

 

In jeder Betrachtung der Gutheit Gottes droht sogleich folgendes Dilemma: Wenn einerseits Gott weiser ist als wir, so muss sein Urteil über viele Dinge sich von dem unsern unterscheiden, nicht zuletzt das über Gut und Böse. Was uns gut erscheint, muss deshalb nicht auch in Seinen Augen gut sein, und was uns böse erscheint, nicht böse. – Anderseits, wenn Gottes Urteil über das Gute sich von dem unsern so sehr unterscheidet, dass unser „Schwarz“ für Ihn „Weiß“ sein kann, dann kann es auch keinen Sinn haben, dass wir Ihn gut nennen. Denn nachdem wir doch sagen, Seine Gutheit sei völlig anders als die unsere, hat der Satz „Gott ist gut“ tatsächlich keinen andern Sinn als „Gott ist – wir wissen nicht, was“. Und eine uns völlig unbekannte Eigenschaft Gottes kann uns nicht dazu bewegen, Ihn zu lieben oder Ihm zu gehorchen. Wenn Er nicht (in unserm Sinn) „gut“ ist, so werden wir, wenn überhaupt, nur aus Furcht gehorchen und würden gleichermaßen bereit sein, einem allmächtigen Widersacher zu gehorchen. Sobald die Konsequenz lautet, dass – da wir gänzlich verderbt sind [wie der Calvinismus lehrt, Anmerkung von mir] – unsere Vorstellung vom Guten einfach nichts wert ist – könnte es geschehen, dass sich das Christentum auf Grund der Lehre von der „totalen Verderbtheit“ in eine Art Teufelsanbetung verkehrt.

 Ein Ausweg aus diesem Dilemma zeigt sich, wenn wir bedenken, was im Bereich menschlicher Beziehungen geschieht, wenn ein Mensch von niederem moralischen Niveau in die Gesellschaft von Leuten kommt, die besser und weiser sind als er, und nun allmählich lernt, ihre Maßstäbe anzuerkennen – ein Vorgang, den ich zufällig ziemlich genau beschreiben kann, da er mir widerfahren ist. Als ich zur Universität kam, hatte ich fast keine moralischen Begriffe, so wenig wie ein junger Bursche nur haben konnte. Eine milde Abneigung gegen Grausamkeit und gegen Unanständigkeit in Geldsachen waren das Äußerste; über Keuschheit, Wahrhaftigkeit und Selbstverleugnung dachte ich wie ein Pavian über klassische Musik. Durch Gottes Barmherzigkeit geriet ich in eine Gruppe junger Männer (von denen übrigens, nebenbei gesagt, keiner Christ war), die mir durch Geist und Phantasie so verwandt waren, dass sofort eine nähere Beziehung entstand. Sie nun kannten das Sittengesetz und versuchten, es zu beobachten. So war ihr Urteil über Gut und Böse sehr verschieden von dem meinen.

 Was nun in solch einem Fall geschieht, ist nicht im geringsten so etwas wie eine Aufforderung, als „weiß“ anzusehen, was man bis dahin „schwarz“ genannt hatte. Die neuen moralischen Urteile dringen in die Seele niemals als bloße Umkehrungen früherer Urteile ein (obgleich sie diese tatsächlich umkehren), sondern „als Herren, die man offenbar erwartet hatte“. Du kannst gar nicht im Zweifel darüber sein, welches die Richtung deiner Wandlung ist: Die neuen Urteile sehen dem Guten eher ähnlich als die kleinen Fetzen des Guten, die du bereits hattest: dennoch stehen sie in gewissem Sinn untereinander in Zusammenhang. Aber das eigentliche Kriterium ist, dass die Anerkennung der neuen Maßstäbe begleitet ist von dem Gefühl der Scham und der Schuld: Man hat das Gefühl, in eine Gesellschaft hineingestolpert zu sein, in die man nicht passt.

 […] Die göttliche „Gutheit“ unterscheidet sich von der unseren, aber nicht völlig; es ist nicht ein Unterschied wie der von Weiß und Schwarz, sondern wie der zwischen einem vollkommenen Kreis und dem ersten Versuch eines Kindes, ein Rad zu zeichnen. Wenn aber das Kind zeichnen gelernt hat, wird es wissen, dass der Kreis, den es nun macht, eben das ist, was es von Anfang an zu machen versucht hat.

 Diese Lehre ist auch in der Heiligen Schrift enthalten. Christus ruft die Menschen zur Buße – ein sinnloser Ruf, wäre Gottes Maßstab ganz und gar verschieden von dem, den sie bereits kannten, von dem sie aber in ihrem Tun abgewichen waren. Er beruft sich auf unser tatsächliches sittliches Urteil: „Warum denn seht ihr nicht selbst, was Recht ist?“ (Luk. 12,57). Gott weist die Menschen im Alten Testament zurecht auf Grund ihrer eigenen Vorstellungen von Dankbarkeit, Treue und Gerechtigkeit; Er stellt Sich Selber sozusagen vor den Richterstuhl Seiner eigenen Geschöpfe: „Was für eine Ungerechtigkeit haben eure Väter an Mir gefunden, dass sie Mich verlassen haben?“ (Jer. 2,5).

 

(C. S. Lewis, Über den Schmerz, S. 35-37.)

 

Also ja, wir sollten ggf. einmal prüfen, ob unsere Urteile über Gut und Böse richtig sind (oder vielleicht durch in unserer jeweiligen Kultur verbreitete Fehlurteile verfälscht), aber nein, wir glauben nicht daran, dass das Gute einfach das ist, was Gott willkürlich befiehlt. Gott befiehlt, was gut ist, weil Er gut ist; und im Licht dieses Prinzips müssen wir die Bibel auslegen.

Über die Konsequenzen aus dem Anschlag

Halten wir folgende Punkte fest:

  • Ein Terrorist tötet zwölf Menschen und verletzt noch einige mehr, indem er mit einem LKW in einen Weihnachtsmarkt rast.
  • Der Täter ist noch auf der Flucht.
  • Der Täter ist ins Land gekommen, obwohl er bereits ein bekannter Straftäter war.
  • Der Täter war schon einmal in Abschiebehaft, wurde aber nicht abgeschoben, sondern wieder freigelassen.
  • Der Täter war den Behörden als islamistischer Gefährder bekannt.
  • Die Leute warnen vor „einfachen Antworten“ und „Generalverdacht“. Und natürlich davor, den Anschlag „politisch auszuschlachten“.

Preisfrage: Ist in Deutschland irgendetwas nicht in Ordnung?

Es gibt so Zeiten, da bin ich froh, in Bayern zu leben. Zum Beispiel dann, wenn bald eine Wahl ansteht. In diesem Bundesland kann man nämlich tatsächlich eine Partei wählen, die dafür ist, und auch schon vor der Kölner Silvesternacht und den Anschlägen von Würzburg und Ansbach dafür war, Kriminelle und Terroristen nicht unkontrolliert ins Land zu lassen und in unserem Land unsere Gesetze durchzusetzen.

Ich habe Frau Merkel schon länger nicht für eine besonders vorbildliche Christin gehalten, aber ich tue es jetzt noch weniger. Sie weiß – jeder weiß es -, dass sie letztes Jahr dafür gesorgt hat, dass Deutschland jetzt – wie soll man es am besten ausdrücken? – weniger sicher ist. Ich weiß nicht, aus welchem Motiv heraus. Um als die Humanität in Person dazustehen? Ich weiß es nicht, und ich habe nicht über die Seele eines anderen Menschen zu urteilen. Aber ich denke, dass es ihr – jedenfalls für den Fall, dass sie sich als Christin verstehen sollte – in jedem Fall, auch im Fall eines ehrlichen Irrtums (denn sie als Regierungschefin hätte es besser wissen müssen), besser anstünde, zu sagen, „Ich habe einen folgenschweren Fehler begangen und erbitte die Verzeihung der Bürger, die ich schlecht vertreten habe. Ich verspreche, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um meinen Fehler wieder gutzumachen“, als so zu reden, wie sie es zurzeit tut. Ja, ja, sie hat auf Druck der CSU ihre Politik in der Praxis schon etwas zurechtgerückt, und ja, eine Regierung unter ihr ist immer noch eine um Welten bessere Wahl als eine rot-rot-grüne Regierung es wäre (nebenbei: hält es eigentlich niemand sonst für ein Problem, wenn eine der Regierungsparteien lieber mit einer Partei regieren will, die vor dreißig Jahren noch in einer Diktatur herrschte, als mit ihrem derzeitigen Koalitionspartner?), und wenn ich in einem anderen Bundesland leben würde, würde ich notgedrungen CDU wählen, aber: sie hat nie auch nur offen zugegeben, zumindest im Irrtum gewesen zu sein. Das lässt bei mir einfach nur den Eindruck zurück, dass sie die Tugenden der Einsicht und der Demut nicht besitzt. Sorry, aber ist so. Ist es so viel verlangt, diese Tugenden von seinen (einer dem Namen nach christlichen Partei angehörenden) Volksvertretern zu erwarten? Sünde lässt sich vergeben. Unbußfertigkeit macht einen nur wütend.

Habe ich Angst? Ja, natürlich habe ich gelegentlich Angst. Ja, ich bin seit letztem Januar vorsichtiger dabei, im Dunkeln allein nach draußen zu gehen. Ja, ich habe Angst, wenn ich lese, was der IS den Christen, den Jesiden und anderen Gruppen im Nahen Osten antut. Ich habe Angst, wenn ich daran denke, was Mohammed zu seinen Lebzeiten so alles getan hat. Vor einer Bedrohung Angst zu haben, ist manchmal aber auch nicht immer das Allerdümmste.

Ich möchte unserer Kanzlerin einen Vorschlag für ihre nächste Rede machen. Liebe Frau Merkel, von „Betroffenheit“ haben wir irgendwann genug. Und von „tiefer Trauer“ ebenso. Wie wäre es mit: „Wir werden die bekämpfen, die unschuldige Menschen bedrohen und töten. Wir werden alles tun, um unsere Bürger vor weiteren solchen Verbrechen zu schützen, wie sie in Würzburg, in Ansbach und in Berlin vor der Gedächtniskirche geschehen sind. Wir rufen alle friedliebenden Muslime dazu auf, in unserem Kampf gegen diese terroristischen Verbrecher an unserer Seite zu stehen. Wir rufen alle Sympathisanten und Helfer des Terrors selbst auf, zu überdenken, auf welchem Weg sie sich befinden, und zu bereuen, was sie getan haben oder zu tun planen. Wir sagen allen, die meinen, ihrem Gott zu dienen, indem sie Gottes Geschöpfe abschlachten, hiermit: Wir werden nicht vor ihnen kapitulieren, egal, was uns dieser Kampf kosten wird.“ Einverstanden, Frau Merkel?

[Ach ja: Gute Kommentare zu dem Thema hat meiner Meinung nach auch Marco Gallina hier und hier.]

Über schwierige Bibelstellen, Nachträge zu Teil 2

[Dieser Teil wurde noch einmal überarbeitet. Alle Teile hier.]

 

Wie das eben so passiert, wenn man Blogartikel zu hastig verfasst, habe ich bei Teil 2 meiner Reihe zu den schwierigen Bibelstellen ein paar Dinge zu erwähnen bzw. genauer zu erläutern vergessen. Hier also noch ein paar gesammelte Nachträge:

1) Regel Nummer 6 für das Bibellesen lautet: Gott spricht nicht nur zu, sondern, wie es Dei Verbum 12 sagt, auch durch Menschen. Die Muslime glauben, dass der Koran wortwörtlich vom Himmel herab diktiert wurde. Die Katholiken glauben das von der Bibel nicht. In Dei Verbum 11 heißt es: Zur Abfassung der Heiligen Bücher hat Gott Menschen erwählt, die ihm durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollten (2), all das und nur das, was er – in ihnen und durch sie wirksam (3) – geschrieben haben wollte, als echte Verfasser schriftlich zu überliefern (4). Gott spricht durch das, was diese Menschen schrieben, aber sie schrieben dennoch eigene Texte, nicht einfach, was ihnen eine himmlische Stimme diktierte.

2) Die katholische Ansicht, dass eine autoritative Instanz zur Auslegung der Bibel nötig ist und sie sich nicht selbst erklärt, wird übrigens auch von der Bibel selbst sehr gut belegt. Ein paar Stellen wären beispielsweise:

  • Bereits im Alten Testament, im Buch Nehemia, findet sich folgende Szene: „Das ganze Volk versammelte sich geschlossen auf dem Platz vor dem Wassertor und bat den Schriftgelehrten Esra, das Buch mit der Weisung des Mose zu holen, die der HERR den Israeliten geboten hat. Am ersten Tag des siebten Monats brachte der Priester Esra die Weisung vor die Versammlung, Männer und Frauen und überhaupt alle, die schon mit Verstand zuhören konnten. Vom frühen Morgen bis zum Mittag las Esra auf dem Platz vor dem Wassertor den Männern und Frauen und denen, die es verstehen konnten, daraus vor. Das ganze Volk lauschte auf das Buch der Weisung. Der Schriftgelehrte Esra stand auf einer Kanzel aus Holz, die man eigens dafür errichtet hatte. Neben ihm standen rechts Mattitja, Schema, Anaja, Urija, Hilkija und Maaseja und links Pedaja, Mischaël, Malkija, Haschum, Haschbaddana, Secharja und Meschullam. Esra öffnete das Buch vor aller Augen; denn er stand höher als das versammelte Volk. Als er das Buch aufschlug, erhoben sich alle. Dann pries Esra den HERRN, den großen Gott; darauf antworteten alle mit erhobenen Händen: Amen, amen! Sie verneigten sich, warfen sich vor dem HERRN nieder, mit dem Gesicht zur Erde. Jeschua, Bani, Scherebja, Jamin, Akkub, Schabbetai, Hodija, Maaseja, Kelita, Asarja, Josabad, Hanan und Pelaja, die Leviten, erklärten dem Volk die Weisung; die Leute blieben auf ihrem Platz. Man las aus dem Buch, der Weisung Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, sodass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten. (Neh 8,1-8) Das heißt, zur Zeit des zweiten Tempels ist es im Volk Gottes völlig normal, dass es eine Priesterschaft gibt – die levitische –, die dafür zuständig ist, dem Volk die Schrift zu erklären, damit es sie verstehen kann.
  • Schauen wir dann ins Neue Testament. In der Apostelgeschichte findet sich folgende Geschichte: „Ein Engel des Herrn sagte zu Philippus: Steh auf und geh nach Süden auf der Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt! Sie führt durch eine einsame Gegend. Und er stand auf und ging. Und siehe, da war ein Äthiopier, ein Kämmerer, Hofbeamter der Kandake, der Königin der Äthiopier, der über ihrer ganzen Schatzkammer stand. Dieser war gekommen, um in Jerusalem anzubeten, und fuhr jetzt heimwärts. Er saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. Und der Geist sagte zu Philippus: Geh und folge diesem Wagen! Philippus lief hin und hörte ihn den Propheten Jesaja lesen. Da sagte er: Verstehst du auch, was du liest? Jener antwortete: Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet? Und er bat den Philippus, einzusteigen und neben ihm Platz zu nehmen. Der Abschnitt der Schrift, den er las, lautete: Wie ein Schaf wurde er zum Schlachten geführt; und wie ein Lamm, das verstummt, wenn man es schert, so tat er seinen Mund nicht auf. In der Erniedrigung wurde seine Verurteilung aufgehoben. Seine Nachkommen, wer wird von ihnen berichten? Denn sein Leben wurde von der Erde fortgenommen. Der Kämmerer wandte sich an Philippus und sagte: Ich bitte dich, von wem sagt der Prophet das? Von sich selbst oder von einem anderen? Da tat Philippus seinen Mund auf und ausgehend von diesem Schriftwort verkündete er ihm das Evangelium von Jesus. Als sie nun weiterzogen, kamen sie zu einer Wasserstelle. Da sagte der Kämmerer: Siehe, hier ist Wasser. Was steht meiner Taufe noch im Weg? Er ließ den Wagen halten und beide, Philippus und der Kämmerer, stiegen in das Wasser hinab und er taufte ihn.“ (Apg 8,26-38)
  • Kommen wir jetzt von diesen Geschichten zu konkreten Anweisungen eines Apostels: „Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Prophetie der Schrift wird durch eigenmächtige Auslegung wirksam; denn niemals wurde eine Prophetie durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet.“ Das schreibt Petrus in seinem zweiten Brief. (2 Petr 1,20-21). Und es geht an späterer Stelle noch weiter: „Und die Geduld unseres Herrn betrachtet als eure Rettung. Das hat euch auch unser geliebter Bruder Paulus mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben; es steht in allen seinen Briefen, in denen er davon spricht. In ihnen ist einiges schwer zu verstehen und die Unwissenden, die noch nicht gefestigt sind, werden diese Stellen ebenso verdrehen wie die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben. (2 Petr 3,15-16)
  • Zuletzt noch eine sehr interessante Stelle: Die Versuchung Jesu. Auf den ersten Versuch Satans – „Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird“ (Mt 4,3) – reagiert Jesus, indem er die Bibel zitiert. „Er aber antwortete: In der Schrift heißt es: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.“ (Mt 4,4) Aber der Teufel ist lernfähig. In der zweiten Versuchung probiert er selbst, das Gleiche zu tun: „Darauf nahm ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt, stellte ihn oben auf den Tempel und sagte zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er um deinetwillen, und: Sie werden dich auf ihren Händen tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt. (Mt 4,5-6) Der Teufel selbst kann – laut der Schrift – die Schrift zitieren und als Theologe auftreten.

3) Jesus reagiert übrigens auf die zweite Versuchung mit der Antwort: „In der Schrift heißt es auch: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.“ (Mt 4,7) Man könnte (wenn man es so langweilig formulieren will) sagen, er weist Satan darauf hin, in welchem Sinn dessen Bibelzitat zu verstehen ist, wenn man den Kontext der ganzen Bibel in Betracht zieht.

Dasselbe muss man allgemein bei Stellen tun, die einem zunächst gegensätzlich erscheinen. Ein Beispiel: Wird das Tun des Guten von Gott belohnt werden, oder hat man, wenn man sich immer richtig verhält, eher mit dem Martyrium zu rechnen? In der Schrift lassen sich für beide Ansichten Belege finden. Einerseits: „Wenn du auf die Stimme des HERRN, deines Gottes, hörst, indem du alle seine Gebote, auf die ich dich heute verpflichte, bewahrst und sie hältst, wird dich der HERR, dein Gott, über alle Völker der Erde erheben. Alle diese Segnungen werden über dich kommen und dich erreichen, wenn du auf die Stimme des HERRN, deines Gottes, hörst: Gesegnet bist du in der Stadt, gesegnet bist du auf dem Land. Gesegnet ist die Frucht deines Leibes, die Frucht deines Ackers und die Frucht deines Viehs, der Wurf deiner Rinder und der Zuwachs an Lämmern und Zicklein. Gesegnet ist dein Korb und dein Backtrog. Gesegnet bist du, wenn du heimkehrst, gesegnet bist du, wenn du ausziehst.“ (Deuteronomium 28,1-6; die Verheißungen gehen noch ein ganzes Stück weiter.) Aber dann auch: „Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel. So wurden nämlich schon vor euch die Propheten verfolgt.“ (Mt 5,10-12) Und: „Nehmt euch aber vor den Menschen in Acht! Denn sie werden euch an die Gerichte ausliefern und in ihren Synagogen auspeitschen. Ihr werdet um meinetwillen vor Statthalter und Könige geführt werden, ihnen und den Heiden zum Zeugnis. […] Der Bruder wird den Bruder dem Tod ausliefern und der Vater das Kind und Kinder werden sich gegen die Eltern auflehnen und sie in den Tod schicken. Und ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden; wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet. […] Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert. Wer das Leben findet, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.“ (Mt 10,17-18.21-22.34-39)

Die Lösung des Problems ist hier ganz einfach: Man muss ein bisschen gesunden Menschenverstand benutzen und die Passagen ordentlich lesen mit der Frage, was damit wohl gemeint ist und was nicht.

Die simple Antwort lautet: Deuteronomium beschreibt, was dann geschehen würde, wenn alle Menschen sich an Gottes Gebote halten würden. Denn Gott ist gut und befiehlt den Menschen das, was für sie selbst gut ist und ihrer Natur entspricht – Ihn und sich gegenseitig zu lieben, sich um ihre Familien zu kümmern, einander zu achten, die Wahrheit zu sagen, für Arme zu sorgen, und dergleichen mehr – und wenn alle Menschen sich daran halten würden, hätten wir in kürzester Zeit das Paradies auf Erden; das ist der Segen, der in Deuteronomium für das Halten der Gebote verheißen ist. Er ist nicht nur irgendeine äußerliche Belohnung (wenn du deine Hausaufgaben machst und Lesen übst, kriegst du von mir ein Stück Schokolade.), sondern die innere, logische Folge dieses Handelns (wenn du deine Hausaufgaben machst und Lesen übst, kannst du irgendwann spannende Bücher lesen).

Allerdings – jetzt kommt’s – halten sich die Menschen leider nicht immer an Gottes Gebote. Keiner tut immer das Richtige; und oft kann man es dann, wenn man es nicht tut, nicht leiden, wenn andere es eben doch tun. Das Buch der Weisheit beschreibt die Gedanken der „Gottlosen“ auf folgende Weise: „Lasst uns den Gerechten unterdrücken, der in Armut lebt, die Witwe nicht schonen und das graue Haar des betagten Greises nicht scheuen! Unsere Stärke soll bestimmen, was Gerechtigkeit ist; denn das Schwache erweist sich als unnütz. Lasst uns dem Gerechten auflauern! Er ist uns unbequem und steht unserem Tun im Weg. Er wirft uns Vergehen gegen das Gesetz vor und beschuldigt uns des Verrats an unserer Erziehung. Er rühmt sich, die Erkenntnis Gottes zu besitzen, und nennt sich einen Knecht des Herrn. Er ist unserer Gesinnung ein Vorwurf, schon sein Anblick ist uns lästig; denn er führt ein Leben, das dem der andern nicht gleicht, und seine Wege sind grundverschieden.“ (Weish 2,10-15) Und da sich die Menschen gelegentlich so verhalten, ist es leider so, dass, auch wenn das Tun des Guten an sich zum Glück führen würde, es in der Praxis auch dazu führen kann, dass man verleumdet oder verfolgt wird. Es hat sich leider als richtig erwiesen, was Sokrates ein paar Jahrhunderte vor Christus einmal gesagt hat: Dass ein vollkommen guter Mensch in dieser Welt wohl gekreuzigt werden würde. Genau das ist mit einem vollkommen guten Menschen geschehen.

Aber das liegt am gefallenen Zustand der Welt; in ihrem ursprünglichen Wesen liegt es, dass das Gute zum Glück führt. (Aber der gefallene Zustand wird am Ende ja auch überwunden werden – es heißt in den oben genannten Stellen zum Martyrium ja auch noch „Euer Lohn wird groß sein im Himmel“. Während man also nicht immer mit irdischem Lohn zu rechnen hat, kann man sich durchaus auf den himmlischen freuen, und es bleibt weiterhin eine Tatsache, dass es sich auch auf Erden konkret lohnen kann, gut zu sein – erstens mal fanden die Heiligen und Märtyrer größeres Glück in der Liebe zu Gott als in irgendetwas anderem (man kann sagen, sie lebten schon halb im Himmel), zweitens mal lohnt es sich auch im ganz und gar weltlichen Sinn gelegentlich, vorurteilsfrei, mutig oder verlässlich zu sein. („Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“ usw.)) (Im Kontext dieses ganzen Themas müsste man natürlich auch noch das Thema des Buches Ijob erläutern, sprich, dass nicht nur Verfolgung, sondern auch Dinge wie Krankheit, Armut, Verlust etc. auch gute Menschen treffen können, aber das würde hier jetzt doch alles zu viel Platz in Anspruch nehmen.)

Jedenfalls behalten sowohl Deuteronomium als auch Matthäus ihre Gültigkeit: Wenn es sich nicht lohnt, gut zu sein, dann ist das mehr oder weniger ein der Sünde oder deren Folgen geschuldeter Unfall, und das muss man dann halt in Kauf nehmen.

Eine derartige Auflösung von Widersprüchen ist keineswegs etwas Besonderes, das nur für die Bibel gelten würde; bloß machen sich bei ihr die Leute mehr Mühe, Widersprüche zu konstruieren. Auch ein x-beliebiger Journalist kann gleichzeitig schreiben „Freiheitsrechte sind wichtig“ und „Man darf nicht nur auf Freiheitsrechte schauen“. Das muss sich nicht zwangsläufig widersprechen (auch wenn es das manchmal tun kann). Die eine Aussage beleuchtet die eine Hälfte der Medaille, die andere die andere. Und das ist eben auch bei den Zitaten Seinen Engeln befiehlt er um deinetwillen, und: Sie werden dich auf ihren Händen tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt“ und Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen“ der Fall.

Ersteres will überhaupt nicht sagen, dass man sich ruhig in Gefahr begeben soll, Gott wird schon dafür sorgen, dass einem nichts passiert. Wenn man ein bisschen darüber nachdenkt, wird einem klar werden, dass der Psalmist wohl klug genug gewesen sein könnte, so einen Unsinn nicht zu behaupten. Er will einfach sagen, dass wir uns Gottes Beistand immer sicher sein können; es ist geistlich gemeint und hat denselben Sinn wie Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können“ (Mt 10,28) oder „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht: Um deinetwillen sind wir den ganzen Tag dem Tod ausgesetzt; wir werden behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat. Doch in alldem tragen wir einen glänzenden Sieg davon durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Römer 8,35-39)

4) Ich habe immer wieder die Autorität der Kirche betont. Aber: Die Kirche hat kein Verzeichnis angelegt, wie genau jeder einzelne Vers der Bibel zu verstehen ist. Sie hat ein gewisses System von Lehren festgelegt (das sich in Credo und Katechismus findet) und Bibelinterpretationen, die dem widersprechen, sind unzulässig. Ansonsten kann man in jede Passage hineinlesen, was einem gefällt (solange man auch nicht das Dogma der Irrtumslosigkeit der Bibel außer Acht lässt). Die Kirchenväter haben sich oft ziemlich elaborierte allegorische Interpretationen zum Alten Testament einfallen lassen, die einem vielleicht manchmal an den Haaren herbeigezogen vorkommen können, aber an sich vollkommen legitim sind. (Natürlich zusätzlich zu den wörtlichen. Die Kirchenväter lehrten nicht, dass diese Texte keinen wörtlichen Sinn hätten, sondern dass Gott noch einen zusätzlichen, tieferen Sinn in sie hineingelegt hatte.) Deshalb werde ich auch an manchen Stellen dieser Reihe verschiedene mögliche Interpretationen schwieriger Stellen erläutern und erklären, wieso ich persönlich welche vorziehe.

 

Zuletzt, nachdem so ziemlich alles Grundsätzliche zum katholischen Schriftverständnis geklärt sein müsste, noch ein paar praktische Tipps für den Fall, dass man sich als Christ in Diskussionen über schwierige Bibelstellen wiederfindet:

a) Die Beweislast liegt hier bei dem Bibelkritker. Wenn wir jemandem beweisen wollen, dass die Bibel überhaupt erst göttlich inspiriert ist, dann liegt die Beweislast bei uns. Aber wenn ein Gegner des Christentums uns beweisen will, dass es in sich widersprüchlich sei, an die Inspiration der Bibel zu glauben (weil Gott sich in der Bibel mal so zeige und mal so, zum Beispiel), dann liegt die Beweislast bei ihm. Wir müssen dann im Grunde höchstens eine Möglichkeit zeigen, wie sich die verschiedenen Bibelstellen versöhnen lassen könnten, während der Kritiker zeigen muss, dass es überhaupt keine solche Möglichkeit gibt.

b) Die Stelle, die einem an den Kopf geworfen wird, erst einmal selbst nachlesen. Manchmal kann es nämlich vorkommen, dass man, wenn man das tut, sich dann erst einmal an den Kopf fassen muss und sich denkt: „Wollen die mich eigentlich verarschen?“ Ich bin tatsächlich schon einmal auf die Behauptung eines Atheisten gestoßen, Deuteronomium 22,23-27 sehe die Steinigung für vergewaltigte Mädchen vor. Das macht in etwa so viel Sinn, wie wenn man Donald Trump moralischen Rigorismus oder der AfD naive Multi-Kulti-Begeisterung vorwerfen würde. Lesen wir mal diese Stelle also mal: „Wenn ein unberührtes Mädchen mit einem Mann verlobt ist und ein anderer Mann ihr in der Stadt begegnet und sich mit ihr hinlegt, dann sollt ihr beide zum Tor dieser Stadt führen. Ihr sollt sie steinigen und sie sollen sterben, das Mädchen, weil es in der Stadt nicht um Hilfe geschrien hat, und der Mann, weil er sich die Frau eines andern gefügig gemacht hat. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Wenn der Mann dem verlobten Mädchen aber auf freiem Feld begegnet, sie festhält und sich mit ihr hinlegt, dann soll nur der Mann sterben, der bei ihr gelegen hat, dem Mädchen aber sollst du nichts tun. Bei dem Mädchen handelt es sich nicht um ein Verbrechen, auf das der Tod steht; denn dieser Fall ist so zu beurteilen, wie wenn ein Mann einen andern überfällt und ihn tötet. Auf freiem Feld ist er ihr begegnet, das verlobte Mädchen mag um Hilfe geschrien haben, aber es ist kein Helfer dagewesen. Hier geht es gerade ausdrücklich darum, dass Vergewaltigungsopfer eben nicht zu bestrafen sind. Es gilt sogar „Im Zweifelsfall für die Angeklagte“; natürlich könnte ein Mädchen auch draußen vor der Stadt freiwillig mit einem Mann geschlafen haben, aber dieses Gesetz sagt: Wenn es sein könnte, dass es eine Vergewaltigung war (weil niemand da war, der sie hätte schreien hören können), gehen wir mal lieber davon aus, dass es eine war, als dass wir eine Unschuldige bestrafen; also wird nur der Mann bestraft. Aufgrund der dicht gedrängten Lebensverhältnisse innerhalb der Stadtmauern einer altorientalischen Stadt ging man davon aus, dass, wenn ein Mädchen dort geschrieen hätte, sie jemand hätte hören müssen, dass es also keine Vergewaltigung gewesen sein könne, wenn das nicht der Fall war. Dieses Gesetz sieht dann durchaus die Todesstrafe vor (zur Frage nach der Tora und deren Strafen in einem eigenen Beitrag mehr) – aber eben nur für konsensualen Ehebruch, ausdrücklich nicht für Vergewaltigung, und legt einfach eine – wenn auch nicht ideale – Faustregel zur Beweisfindung vor. (Ich sage „Ehebruch“, weil die jüdische Eheschließung aus zwei Teilen bestand: Abschluss des Ehevertrags und Heimholung der Braut in das Haus des Bräutigams. Ersteres wird in der Bibel oft mit „Verlobung“ übersetzt, was aber den Sachverhalt nicht wirklich trifft, da „verlobte“ Mädchen rechtlich schon als mit ihrem Bräutigam verheiratet galten. Daher heißt es ja z. B. auch in der Einheitsübersetzung in Matthäus 1,18, dass Maria mit Josef „verlobt“ war, gleich darauf in Vers 19 aber, dass er „ihr Mann“ war.)

c) Damit bin ich auch schon beim letzten Punkt: Die Stelle in der Originalsprache nachschauen, wenn man sie beherrscht, oder zumindest verschiedene Übersetzungen vergleichen, oder eine kommentierte Bibelausgabe heranziehen, in der Anmerkungen zum originalen Wortlaut stehen. Das macht zwar oft keinen großen Unterschied, aber manchmal kann es doch nötig sein, um eine Bibelstelle richtig zu verstehen.

Keine Übersetzung ist perfekt. Die Einheitsübersetzung von 1980 beispielsweise ist eine relativ schlechte; ihr größtes Manko ist, dass sie zu viel Wert auf „Verständlichkeit“ und zu wenig auf Wörtlichkeit gelegt hat; die neue Version von 2016 ist etwas besser, aber hat auch ihre Tücken (z. B. wird, wo Paulus „Brüder schreibt, einfach dreist „Brüder und Schwestern“ übersetzt). Solche Übersetzungen haben erstens die feierlichen Formulierungen des Originals oft in eine vergleichsweise langweilige Alltagssprache übertragen, und zweitens verlieren sie an manchen Stellen mit ihrer mangelnden Wortgetreue gewisse Bedeutungsnuancen.

Nehmen wir Matthäus 16,18. Da sagt Jesus – laut der 1980er EÜ – zu Petrus: „Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“. „Mächte der Unterwelt“ heißt im griechischen Original „pylai hadou“ und wurde in älteren Übersetzungen mit „Pforten der Hölle“ wiedergegeben. Bei „hades“ (Genitiv „hadou“) kann man sich nun darum streiten, ob es besser mit „Hölle“ oder mit „Unterwelt“ (oder mit einem anderen ähnlichen Begriff) zu übersetzen ist, aber „pylai“ heißt einfach „Pforten“ oder „Tore“ und nicht „Mächte“. In der 2016er EÜ ist es immerhin zu „Pforten der Unterwelt“ korrigiert.

Oder nehmen wir eine Stelle aus dem Brief an Philemon. Situation: Paulus, der im Gefängnis sitzt, hat einen jungen Mann namens Onesimus kennengelernt, der ein Sklave und seinem Herrn Philemon weggelaufen ist. Philemon ist ein Christ und Paulus kennt ihn. Er schickt Onesimus zu Philemon zurück und gibt ihm einen Brief an seinen Herrn mit, in dem er für Onesimus Fürsprache einlegt und um seine Freilassung bittet. In diesem Brief heißt es an einer Stelle (EÜ von 1980): „Denn vielleicht wurde er nur deshalb eine Weile von dir getrennt, damit du ihn für ewig zurückerhältst, nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder. Das ist er jedenfalls für mich, um wie viel mehr dann für dich, als Mensch und auch vor dem Herrn.“ (Phlm 15-16) In der neuen EÜ wurde das fast genau so beibehalten: „Denn vielleicht wurde er deshalb eine Weile von dir getrennt, damit du ihn für ewig zurückerhältst, nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder. Das ist er jedenfalls für mich, um wie viel mehr dann für dich, als Mensch und auch vor dem Herrn.“ Was hier mit „als Mensch“ übersetzt wird, heißt im Original allerdings „im Fleisch“. Die Übersetzer haben sich hier offenbar gedacht, mit dem einen sei ja wohl das andere gemeint. Das muss aber nicht so sein. Bei einer wortgetreuen Übersetzung könnte man auch spekulieren, ob Philemon und Onesimus möglicherweise tatsächlich leibliche Brüder gewesen sein könnten (d. h. Halbbrüder, Söhne desselben Vaters, der eine von einer Sklavin, der andere von einer legitimen Ehefrau; eine Konstellation, die im Römischen Reich nicht ungewöhnlich gewesen wäre). Diese Interpretationsmöglichkeit geht in der EÜ verloren.

Hinzu kommt bei ihr (v. a. bei der alten Version), dass sie sich oft bemüht hat, ein bisschen abwechslungsreich zu sein und – vor allem im AT – oft ein und dasselbe Wort unterschiedlich übersetzt hat. Es hat aber eine große Bedeutung, wenn die Autoren der Bibel immer wieder in zehn Versen hintereinander dasselbe Wort verwenden, oder wenn sie dasselbe Wort verwenden, das vor ihnen schon andere Propheten in einem gewissen Zusammenhang verwendet haben. Es stellt Zusammenhänge her. Und die gehen verloren, wenn man das Wort jedes Mal anders übersetzt.

Meine beiden Beispiele klingen vielleicht ein bisschen nach Luxusproblemen, mit denen sich eigentlich bloß Professoren für Exegese an den Theologischen Fakultäten beschäftigen müssten, und es gibt tatsächlich meines Wissens nach auch keine absichtlich verfälschende Bibelübersetzung außer der von Martin Luther (Luther fügte, abgesehen davon, dass er mehrere Bücher aus der Bibel schmiss, das Wort „allein“ in Römer 3,28 ein (der Mensch werde gerecht durch den „Glauben allein“), obwohl es da nicht steht – hier kann man seine Begründung lesen, wieso er das tat, falls es jemanden interessiert), aber es gibt auch andere Stellen als die oben erwähnten Beispiele, bei denen es einem, wenn man das Original nicht kennt, wirklich so vorkommen kann, als ob sie irgendwie keinen Sinn ergeben, vor allem dann, wenn sie bestimmte Wörter oder Redewendungen gebrauchen, die uns einfach nicht mehr geläufig und daher auf Deutsch oder in anderen modernen Sprachen schwer wiederzugeben sind.

Ein Beispiel: Die seltsame Geschichte in Genesis 9,18-27 um Noah und seinen Sohn Ham macht auf einmal Sinn, wenn man biblisches Hebräisch kennt und Genesis 9,22 mit Levitikus 20,11 und Levitikus 18,7-8 in Verbindung setzt. (Hier eine Interpretation eines Exegeten dazu, in der diese Passage genauer erklärt wird.)

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, wo der Originaltext neue Interpretationsmöglichkeiten eröffnet: Die Zahlenangaben in der Exodusgeschichte. „Sowohl das Buch Exodus als auch die Volkszählung in Numeri 1 scheinen zu bezeugen, dass ‚die Israeliten von Ramses nach Sukkot [zogen], etwa sechshunderttausend Mann zu Fuß, nicht gezählt die Frauen und Kinder’ (Ex 12,37). Letzteres Detail hätte die Gesamtzahl der Israeliten wahrscheinlich auf über eine Million erhöht. Kritiker haben nicht ganz Unrecht damit, dass diese Zahl von Menschen wahrscheinlich einige archäologische Belege ihrer Aktivitäten hinterlassen hätte. Selbst wenn nicht [wegen ihres nomadischen Lebensstils, wie im Absatz vorher erklärt wird], hätte eine so große Gruppe jederzeit in der Lage sein sollen, Ägypten nach Belieben zu verlassen, da sie größer gewesen wäre als jede Armee zu dieser Zeit. Angesichts dieser Faktoren ist es möglich, dass die Zahlen, die in diesen Texten angegeben werden, entweder, basierend auf dem literarischen Genre der Zeit, übertrieben sind [in altorientalischen Texten werden z. B. bei der Größe von Armeen praktisch immer weit übertriebene Angaben gemacht, zudem werden Zahlen damals oft symbolisch verwendet; im Absatz danach erklärt] oder dass sie falsch übersetzt sind. Die letztere Annahme ist plausibel, da das hebräische Wort in diesen Passagen, das als ‚tausend’ übersetzt wird, elep, auch ‚Klan’ oder ‚Militäreinheit’ meinen kann. Zum Beispiel spricht Gideon von seinem elep (oder Klan) als dem schwächsten in Israel (Richter 6,15) und David überreichte dem Befehlshaber von Israels elep ein Geschenk (1 Samuel 17,18). Also könnten anstatt 600.000 ‚Mann zu Fuß’ auch bloß 600 Familien oder 600 Gruppen von kampffähigen Männern Ägypten verlassen haben.“ (Trent Horn, Hard Sayings. A Catholic approach to answering Bible difficulties, S. 84, Übersetzung von mir.)

Noch kurz zum Thema „absichtlich verfälschend“: Alle Übersetzungen sind natürlich zwangsläufig auch theologisch geprägt – generell neigen deutsche Protestanten zum Beispiel dazu, „Gemeinde“ zu übersetzen, wenn Katholiken das Wort „Kirche“ nehmen (englischsprachige Protestanten haben dagegen, soweit ich das sehe, mit „church“ kein so großes Problem). Das würde ich jetzt nicht wirklich als absichtliche Verfälschung bezeichnen, weil man sich zwangsläufig für eins der Worte entscheiden muss – anders als im obengenannten Beispiel mit Luther, der sein „allein“ auch einfach hätte weglassen können – und die Wahl, die man trifft, zwangsläufig durch die eigenen Vorannahmen geprägt sein wird, da kann man gar nicht anders. Man muss sich als Leser der Übersetzungen nur dieser Vorannahmen bewusst sein.

Ich verwende für die Zitate hier übrigens in der Regel trotzdem die Einheitsübersetzung (in der überarbeiteten Fassung habe ich auch die überarbeitete Form der EÜ genommen; in der alten Fassung war es noch die alte), auch wenn ich weiß, dass sie eigentlich nicht so gut ist. Ich bin sie nun mal gewöhnt, sie ist im Moment die Standardübersetzung für deutschsprachige Katholiken, und Übersetzungsprobleme muss man eben ansprechen. Ich beherrsche grundlegendes Altgriechisch, aber leider kein Hebräisch; ich werde also darauf schauen, hier für meine Reihe Kommentare zum Wortlaut der Bibel und zur genauen damaligen Bedeutung von Wörtern heranzuziehen, wenn möglich und nötig.

Ach ja: Hier (falls man die Seite noch nicht kennt) noch ein Link zum leichteren Nachsehen der Bibelstellen. Das ist eine protestantische Seite, deren Standardeinstellung leider die Lutherbibel 2017 ist, aber sie hat auch die Einheitsübersetzung und andere, hauptsächlich protestantische, Übersetzungen.

Das Märchen von den drei Brüdern

Hatte ich schon mal erwähnt, dass ich Harry-Potter-Fan bin?

Jedenfalls wollte ich eine so gelungene musikalische Interpretation des Märchens von den drei Brüdern wie diese hier nicht unerwähnt lassen, wenn ich schon mal so etwas finde und einen eigenen Blog besitze:

Die Versuchung, den Tod besiegen zu wollen, ist in den Harry-Potter-Büchern eine, der sogar Albus Dumbledore vor langer Zeit einmal erlegen ist – mit nicht so guten Folgen für ihn. Und auch in J. K. Rowlings Zaubererwelt funktionieren die verschiedenen Versuche dazu im Endeffekt nie. Oder, um es mit Dumbledores eigenen späteren Worten in seinen Anmerkungen zu den Märchen von Beedle dem Barden auszudrücken: „Wie der berühmte Zaubereiphilosoph Bertrand de Pensées-Profondes in seinem gefeierten Werk Eine Studie über die Möglichkeit einer Umkehr der konkreten und metaphysischen Auswirkungen des natürlichen Todes, mit besonderer Berücksichtigung der Reintegration von Wesen und Materie schreibt: ‚Lasst es bleiben. Es wird nie klappen.'“.*

Ich musste beim Anschauen des Videos auf einmal auch an die Szene in Band 7 denken, als Harry und Hermine am Heiligabend auf dem Friedhof von Godric’s Hollow vor dem Grab von Harrys Eltern stehen:

„Der Grabstein stand nur zwei Reihen hinter dem von Kendra und Ariana. Er war aus weißem Marmor, genau wie Dumbledores Grabmal, und so war er leicht zu lesen, denn er schien in der Dunkelheit zu leuchten. Harry musste sich nicht hinknien und nicht einmal ganz nahe herantreten, um die Worte zu erkennen, die darin eingemeißelt waren:

James Potter

geboren am 27. März 1960, gestorben am 31. Oktober 1981

Lily Potter

geboren am 30. Januar 1960, gestorben am 31. Oktober 1981

Der letzte Feind, der zerstört werden wird, ist der Tod.

Harry las die Inschrift langsam, als ob er nur eine einzige Gelegenheit hätte, ihren Sinn zu begreifen, und er las die letzten Worte laut.

Der letzte Feind, der zerstört werden wird, ist der Tod…‚ Ein schrecklicher Gedanke kam ihm, in einem Anflug von Panik. ‚Ist das nicht eine Vorstellung von den Todessern? Was hat das hier zu suchen?‘

‚Es bedeutet nicht, dass der Tod so besiegt wird, wie die Todesser es meinen, Harry‘, sagte Hermine mit sanfter Stimme. ‚Es bedeutet… du weißt schon… über den Tod hinaus leben. Leben nach dem Tod.'“**

„Der letzte Feind, der zerstört werden wird, ist der Tod“ (im engl. Original: „The last enemy that shall be destroyed is death“) – das ist ein Zitat aus der Bibel. 1 Korinther 15,26.

* J. K. Rowling: Die Märchen von Beedle dem Barden, S. 78. (Sehr empfehlenswertes Buch, wenn ich hier mal ein bisschen Werbung machen darf.)

** J. K. Rowling: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, S. 336f.

Über schwierige Bibelstellen, Teil 2: Das katholische Schriftverständnis

[Dieser Teil wurde noch einmal überarbeitet. Alle Teile hier.]

Die Antwort auf die Frage vom letzten Mal lautet natürlich: Die Protestanten. D. h., die Ansicht, die Schrift habe jederzeit für jeden Christen, der sie aufschlage, gefälligst verständlich zu sein, der Sinn ihrer Wort liege natürlich klar zutage und alle Christen müssten sich eigentlich darauf einigen können, was sie aussagt, wenn sie sie nur ehrlich lesen würden, ist nichts als eine Irrlehre, die eineinhalb Jahrtausende nach Christus auftauchte, und deren Erfinder und weitere Vertreter seitdem in sehr erheiternder Weise wieder und wieder das Gegenteil bewiesen haben (wie viele Tausend protestantische Kirchen, die sich nicht darauf einigen können, was Taufe, Abendmahl, Erlösung und so weiter eigentlich bedeuten, gibt es noch gleich auf der Welt?).

Die Kirchenväter und die mittelalterlichen Theologen hatten dagegen kein Problem damit, zuzugeben, dass es „dunkle“, schwer verständliche Stellen in der Heiligen Schrift gibt. Und die katholische Kirche hat es bis heute nicht. Wenn man sich also bei Christen über die Unverständlichkeit der Bibel beschweren will, muss man zu den Lutherischen gehen. Bei der heiligen Mutter Kirche rennt man offene Türen ein.

Regel Nummer 1 für das Lesen der Schrift lautet: Gott kann sich nicht widersprechen. Also können auch die Lehren der Bibel und die Dogmen der Kirche einander nicht widersprechen – denn beide sind vom Heiligen Geist inspiriert.

Tatsächlich war die Kirche sogar vor der Bibel da; Jesus Christus hat Apostel ausgewählt und eine Kirche auf sie gegründet, keine Texte verteilt. Die ersten Christen hatten noch kein Neues Testament, denn ihre Bischöfe schrieben gerade erst daran. Die Bibel ist aus der Kirche hervorgegangen, nicht umgekehrt, und die Kirche entschied später auch in strittigen Fällen darüber, welche Schriften als kanonisch zu gelten hatten. (Z. B. wurden die Didache, der 1. Clemensbrief und der „Hirt des Hermas“ nicht aufgenommen; alles drei sind Schriften aus dem späten 1. oder frühen 2. Jahrhundert, die keine Häresien enthalten und sich auf jeden Fall zu lesen lohnen (sie sind im Internet zu finden), aber sie wurden eben, da nicht apostolischen Ursprungs, schließlich als nicht inspirierte Schriften nicht in die Bibel aufgenommen. Umgekehrt war z. B. die Offenbarung des Johannes ein bisschen umstritten, aber die antiken Bischöfe erklärten schließlich, dass sie kanonisch war.) Folglich: Immer wenn es so aussieht, als würde die Bibel einer klar definierten kirchlichen Lehre widersprechen, missverstehen wir die Bibel. (Ich sehe schon die Empörung auf den Gesichtern der Protestanten über diese das klare Wort der Heiligen Schrift verfälschende römische Kirche. Dann sollen sie mir aber mal bitte sagen, wie sie „Ihr seht, dass der Mensch aus Werken gerechtfertigt wird und nicht aus Glauben allein“ (Jakobus 2,24) mit ihrer Römerbriefauslegung in eins bringen, oder wie sie „Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise und mein Blut ist wahrhaft ein Trank“ (Johannes 6,55) lesen? Welche Seite verfälscht hier die Bibel?) Meine Schlussfolgerung ist zwangsläufig, sobald man – aus Gründen, die unabhängig von den hier diskutierten exegetischen Fragen sind – zu dem Schluss gekommen ist, dass Jesus der Sohn Gottes und die katholische Kirche Seine Kirche ist.

Denn Gott kann sich selbst nicht widersprechen. Meine Regel noch einmal anders ausgedrückt: Wenn verschiedene Bibelstellen widersprüchlich oder unklar sind, brauchen wir eine weitere Instanz zu ihrer Auslegung, und das ist die Kirche.

Zu diesem Punkt – Gott kann sich nicht widersprechen – gehört übrigens auch, dass man einzelne Stellen im Kontext der gesamten Schrift lesen muss. Hierzu später mehr.

Ja, schön, könnte man jetzt einwenden, aber ihr Katholiken glaubt doch trotzdem an die Irrtumslosigkeit der Schrift, oder? Ihr könnt also auch nicht einfach missliebige Stellen, die sich nicht in euer Gesamtbild von Gott fügen, einfach ignorieren, quasi aus eurer Bibel streichen. Heißt es nicht auch bei eurem 2. Vatikanischen Konzil in der Dogmatischen Konstitution Dei Verbum unter Punkt 11:

11. Das von Gott Geoffenbarte, das in der Heiligen Schrift enthalten ist und vorliegt, ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden; denn aufgrund apostolischen Glaubens gelten unserer heiligen Mutter, der Kirche, die Bücher des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Ganzheit mit allen ihren Teilen als heilig und kanonisch, weil sie, unter der Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben (vgl. Joh 20,31; 2 Tim 3,16; 2 Petr 1,19-21; 3,15-16), Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche übergeben sind (1). Zur Abfassung der Heiligen Bücher hat Gott Menschen erwählt, die ihm durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollten (2), all das und nur das, was er – in ihnen und durch sie wirksam (3) – geschrieben haben wollte, als echte Verfasser schriftlich zu überliefern (4).

 Da also alles, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt zu gelten hat, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, daß sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte (5). Daher „ist jede Schrift, von Gott eingegeben, auch nützlich zur Belehrung, zur Beweisführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Gott gehörige Mensch bereit sei, wohlgerüstet zu jedem guten Werk“ (2 Tim 3,16-17 griech.).

Das ist doch unlogisch, könnte man argumentieren, einerseits haltet ihr alle Teile der Schrift für göttlich inspiriert und irrtumslos, andererseits aber erklärt ihr manche Texte für praktisch doch ein bisschen irrig – oder etwa nicht?

Nein, tun wir nicht. Die Bibel ist göttlich inspiriert und vom Heiligen Geist vor Irrtum bewahrt, d. h. alles, was in ihr steht, ist unfehlbar; die Frage ist nur, wie man verschiedene schwer verständliche Stellen miteinander in Einklang bringt. Sog. „missliebige“ oder „schwierige“ Stellen gehören alle dazu und für alle kann man irgendeine Erklärung finden und sollte sie nicht einfach ignorieren. Und manchmal kann es einem tatsächlich passieren, dass sich Schwierigkeiten von selbst auflösen, wenn man von ein paar säkularen Vorurteilen weggekommen ist.

Aber man muss Dei Verbum 11 auch genau lesen. Was wir Katholiken unter der Irrtumslosigkeit der Schrift verstehen, wird vielleicht auch im folgenden Punkt der Konstitution noch etwas deutlicher. Da heißt es nämlich:

12. Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat (6), muß der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte. Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten. Denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrückt in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. Weiterhin hat der Erklärer nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend – mit Hilfe der damals üblichen literarischen Gattungen – hat ausdrücken wollen und wirklich zum Ausdruck gebracht hat (7). Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muß man schließlich genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren (8).

 Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde (9), erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, daß man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens. Aufgabe der Exegeten ist es, nach diesen Regeln auf eine tiefere Erfassung und Auslegung des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit so gleichsam auf Grund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reift. Alles, was die Art der Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche, deren gottergebener Auftrag und Dienst es ist, das Wort Gottes zu bewahren und auszulegen (10).

13. In der Heiligen Schrift also offenbart sich, unbeschadet der Wahrheit und Heiligkeit Gottes, eine wunderbare Herablassung der ewigen Weisheit, „damit wir die unsagbare Menschenfreundlichkeit Gottes kennenlernen und erfahren, wie sehr er sich aus Sorge für unser Geschlecht in seinem Wort herabgelassen hat“ (11). Denn Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters Wort durch die Annahme menschlich-schwachen Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist.

Es gibt mehrere Dinge, die wir hier festhalten müssen:

Regel Nummer 2 In Nummer 11 der Dogmatischen Konstitution heißt es in der deutschen Übersetzung: „Da also alles, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen…“ Im lateinischen Originaltext lautet dieser Satz: „Cum ergo omne id, quod auctores inspirati seu hagiographi asserunt…“ Das wichtige Wort ist hier das Verb „asserunt“ (Grundform asserere), das im deutschen Text mit „aussagen“ wiedergegeben wird. Man könnte es auch mit beanspruchen, behaupten, schützen, sicherstellen, versichern, bestätigen, bejahen übersetzen. Es entspricht dem englischen „to assert“, das ebenfalls im Sinne von behaupten, beteuern, versichern, erklären gebraucht wird. Das heißt: Nicht alles, was in der Bibel steht, sondern was in der Bibel behauptet, explizit ausgesagt wird – das ist irrtumslos (wie in Dei Verbum 12 dann genauer erläutert wird.

Regel Nummer 3 Gott spricht zu Menschen. Das heißt, alles was in der Bibel steht, auch das gesamte Neue Testament, auch die Worte Jesu selber, ist immer noch bruchstückhafte und extrem vereinfachte Information. Wir sind Menschen; das heißt, wir werden Gott nie ganz verstehen können, und zwar erst recht nicht in diesem Leben. Trotzdem wollte Er mit uns reden; also musste er es entsprechend vereinfachen. Man könnte einen Vergleich ziehen mit Eltern, die ihren kleinen Kindern etwas erklären. Eine Mutter könnte zum Beispiel versuchen, ihrem fünfjährigen Sohn beizubringen, dass man die Zimmerpflanzen regelmäßig gießen muss, indem sie ihm sagt, dass die sonst furchtbar Durst bekommen. Nun haben Pflanzen keine Nerven wie wir und empfinden sicher nicht dasselbe Durstgefühl wie Menschen. Aber das hat die Mutter auch nicht ausgesagt (im Sinne von asserere). Sie hat ausgesagt, dass es Pflanzen schadet, wenn sie kein Wasser bekommen. Wir können nur in Analogien und Vergleichen aus unserer Welt von Gott reden; wenn wir ihn unseren Vater nennen, dann ist das eine solche Redeweise. Deshalb erzählt Jesus so oft Gleichnisse. Weil Er das Wesen Gottes, so wie Er in sich ist, in keiner menschlichen Sprache irgendwie akkurat ausdrücken könnte. Es ist einfach nicht möglich. Und deshalb ist in der Bibel auch manchmal davon die Rede, dass Gott zornig oder eifersüchtig (auf Israels Götzen) ist. Das ist, wie wenn man zu seinem dreijährigen Kind sagt: „Wenn du auf die heiße Herdplatte fasst, werde ich aber böse!“

Regel Nummer 4 Die Bibel ist als Ganzes irrtumslos; die Lehre, dass sie nur in Fragen des Glaubens und der Moral irrtumslos wäre, und nicht auch in historischen Fragen u. Ä., wurde von mehreren Päpsten deutlich abgelehnt. Aber: die historischen Bücher sind nicht zwangsläufig irrtumslos in Bezug auf jedes kleine Detail, zum Beispiel, aus wie vielen Soldaten die assyrische Armee bestand oder in welchem Monat Esra nach Jerusalem kam. Der Grund dafür ist ganz einfach, dass solche Detailgenauigkeit nicht automatisch der Aussageabsicht dieser Schriftsteller entsprochen haben muss. In der antiken Geschichtsschreibung war Wahrhaftigkeit zwar im Groben erwartet, aber kleine Ausschmückungen bei den Details absolut üblich (insbesondere z. B. bei Reden der Protagonisten).

In Büchern, die parallel über dieselben Ereignisse berichten, beispielsweise in den Evangelien, gibt es, wie in allen Chroniken oder Zeugenberichten über dasselbe Geschehen, kleine Widersprüche, oder Dinge werden einfach anders geschildert. Aber ob die Frauen am Sonntagmorgen am leeren Grab einen oder zwei Engel antrafen, ist relativ egal. Tatsache – und Textaussage – bleibt, dass das Grab am Sonntagmorgen leer war. Die Evangelisten geben die Worte Jesu oft mit geringen Abweichungen wieder – man vergleiche z. B. die Seligpreisungen in Matthäus 5 mit denen in Lukas 6. Aber grundsätzlich wird dasselbe ausgesagt; und zudem haben übrigens beide Formulierungen ihren tieferen Sinn und sind Heilige Schrift, egal, welche jetzt die Worte Jesu am wortgetreuesten wiedergibt.

Und noch etwas ist zu beachten:

Regel Nummer 5 Die Bibel ist keine systematische Zusammenstellung aller christlichen Glaubenslehren. So etwas nennt sich Katechismus (und findet sich hier). Eine ähnliche Systematik wie im Katechismus findet man auch in den Glaubensbekenntnissen. Die Bibel dagegen ist anders. Sie enthält heilige Texte, die von der Geschichte Gottes mit seinem Volk erzählen; darunter Gebete, Hymnen, Sprichwörter, Ahnenlisten, Geschichten über Kriege und über Wunder, persönliche Briefe, Prophetensprüche, Visionen. Sie besteht außerdem aus vielen verschiedenen Büchern aus vielen verschiedenen Zeiten; darin unterscheidet sie sich etwa vom Koran, der nur ein Buch ist. Und wenn ich z. B. nur mit dem Buch Numeri oder dem Buch Kohelet oder dem Brief an Philemon dastehen würde, würde mir das sicher kein schlüssiges Gesamtbild von Gott geben. Sie ist ein vielstimmiger Chor, kein Lehrbuch. Und auch wenn ich die ganze Bibel hätte und keine anderen Informationen von Christen über den christlichen Gott bekäme, die die biblischen Aussagen ordneten und zusammenfassten, hätte ich wohl Schwierigkeiten, diesen Glauben genau zu erfassen und zu verstehen.

Über schwierige Bibelstellen, Teil 1: Die Problemstellung

Immer wieder tauchen sie auf – in Diskussionen mit Atheisten (im Internet oder in der Welt da draußen), im Religionsunterricht, im Theologiestudium – und manchmal bereiten sie einem selber Kopfschmerzen: die „schwierigen“ Bibelstellen. Ob jetzt Achtjährige, denen man von Mose erzählt hat, wissen wollen, wieso denn Gott auch die ganzen erstgeborenen Kinder der Ägypter umgebracht hat, wo doch nur der Pharao so stur war; oder Atheisten ihre Ablehnung des Christentums damit begründen, der Gott der Bibel erlaube die Sklaverei und befehle Steinigungen und Völkermorde; oder man bei der abendlichen Bibellektüre nichtsahnend auf so erbauliche Stellen wie etwa Exodus 32,26-29 stößt:

„Mose trat in das Lagertor und sagte: Wer für den HERRN ist, her zu mir! Da sammelten sich alle Leviten um ihn. Er sagte zu ihnen: So spricht der HERR, der Gott Israels: Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nachbarn. Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte. Vom Volk fielen an jenem Tag gegen dreitausend Mann. Dann sagte Mose: Füllt heute eure Hände für den HERRN! Denn jeder ist gegen seinen Sohn und seinen Bruder vorgegangen, damit Segen auf euch komme.“

Ähm, ja, hm. (Während Mose vierzig Tage auf dem Berg gewesen war, um mit Gott zu sprechen, hatten die Israeliten sich das goldene Kalb gegossen und es angebetet. Als er wieder heruntergekommen war, war er so wütend geworden, dass er erst einmal die Tafeln mit den zehn Geboten zerschmettert, das Kalb zerstört und seinen Bruder Aaron, der es hergestellt hatte, zur Rede gestellt hatte. Dann passierte das eben Geschilderte, was in der durchschnittlichen Kinderbibel eher ausgelassen wird.)

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(Holzschnitt von Julius Schnorr von Carolsfeld, zwischen 1851 und 1860. Gemeinfrei.)

Ich denke, die Frage nach den schwierigen Bibelstellen ist eine Frage, die man ernst nehmen sollte, denn sie ist eine wirkliche ernste Frage für manche Menschen, und kein so lächerliches Argument wie manche Argumente von einer gewissen Sorte von Internet-Religionskritikern („Die Religion ist für die Gewalt in der Welt verantwortlich“) es sind. Nein, es handelt sich um eine wirkliche, ehrliche Schwierigkeit. Und leider wird die katholische Antwort darauf viel zu selten deutlich vermittelt.

Ich neige sicher nicht dazu, diese Schwierigkeit kleinzureden, ich hatte sie nämlich selber mal. Hier will ich jetzt ein bisschen von meiner eigenen Entwicklung reden. Ich bin ja in einer katholischen, aber nicht besonders streng katholischen, Familie aufgewachsen; man war ab und zu mal in der Kirche; viel Wissen über den Glauben wurde nicht vermittelt, jedenfalls nicht über die Gründe, zu glauben.

Im Alter von ungefähr acht oder neun Jahren habe ich eine Zeitlang immer wieder relativ enthusiastisch in der Kinderbibel gelesen, die bei uns daheim stand; aber schon damals hat es mir ein bisschen Kopfzerbrechen bereitet, dass es doch zum Beispiel bei der Eroberung Jerusalems durch König David doch auch recht gewaltsam zugegangen sein muss. Den Gedanken habe ich dann nicht mehr viel weiter verfolgt und der Enthusiasmus ist dann irgendwann nach meiner Erstkommunion von selber wieder abgeebbt. So im Alter von ungefähr zehn Jahren begann dann allerdings gewissermaßen meine „religionskritische Phase“, in der ich mich z. B. gefragt habe, wie Glaube und Wissenschaft zusammengehen. (Ich habe nicht in einem kreationistischen Umfeld gelebt, aber auch in keinem sehr theologisch gebildeten.) Ich war nie in meinem Leben Atheistin, es war damals eher so ein unentschlossenes, rebellisch aufgelegtes „Die Katholische Kirche ist doof“-Ding. Mit zwölf Jahren, immer noch in einer solchen Einstellung, habe ich dann wieder einmal begonnen, in der Bibel zu lesen, und zwar der richtigen Bibel, nicht der – wenn wir ehrlich sind – viele Geschichten ziemlich verharmlosenden Kinderbibel. Und da bin ich auf die ersten Kapitel des Buches Josua gestoßen, genauer gesagt, auf die Erzählung von der Eroberung Jerichos, und fand sie, kurz gesagt, grauenvoll. „Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel.“ (Jos 6,21, zitiert nach der alten Einheitsübersetzung, die ich damals hatte.) Wie konnte das der Wille Gottes sein, ein solches Massaker? Wie konnte so etwas in der Bibel stehen! Ich sah auch irgendwo einen Widerspruch zum Neuen Testament, und ich fand das auf jeden Fall alles ganz scheußlich.

Eins sollte ich aus dieser meiner bibelkritischen Zeit wohl noch erwähnen: Ich hatte ab der Jericho-Geschichte die feste Überzeugung gefasst, dass das Alte Testament böse sein müsse, und blätterte dann, zur Recherche und aus Neugier, noch durch die fünf Bücher Mose, besonders die darin enthaltenen Gesetzestexte. Meine Gedanken dabei lassen sich in etwa so wiedergeben: Ja, gut, ein Gesetz über Schutzgeländer an Dachterrassen hat schon irgendwo seinen Sinn, aber irgendwie ist es auch komisch, solche kleinkarierten Details unter einem angeblich göttlichen Gesetz stehen zu haben… da! Wieso um alles in der Welt verbietet dieses dämliche Buch jetzt Kleidung aus Mischgewebe? Okay, das Gesetz da klingt ganz sinnvoll… okay, das da auch… die alttestamentlichen Israeliten kannten schon das Konzept der Feindesliebe und das Verbot der Sippenhaft? Die Stelle hier klingt irgendwie richtig schön… aber hier! Schon wieder Steinigung! Das Alte Testament ist grausam und barbarisch! Kurz: im Rückblick kann ich sagen, dass ich eine Art von confirmation bias in Aktion erlebte. Ich konzentrierte mich auf das, was ich ablehnen konnte.

Drei Jahre später (ungefähr 2011) bin ich dann zur Erzkatholikin mutiert; ich stieß auf einige Quellen zur katholischen Glaubenslehre, beschloss, mich mal etwas schlauer zu machen, was die Kirche denn eigentlich überhaupt lehrt, besorgte mir den neu erschienenen Youcat, und informierte mich noch anderswo. Schließlich kam ich zum Schluss, dass Jesus von Nazareth tatsächlich der Sohn Gottes sein musste; die Berichte über Seine Auferstehung waren historisch glaubwürdig, sie ließen sich nicht anders als durch Seine tatsächliche Auferstehung erklären, und die bestätigte wiederum Seine Göttlichkeit, deren Glaubwürdigkeit für mich überhaupt von allen Seiten her zunahm. Auch die Ansicht, Er habe die katholische Kirche ins Leben gerufen und der Unterstützung des Heiligen Geistes versichert, stellte sich als sinnvoll, logisch und durch die Geschichte bestätigt heraus.

Ich kam, kurz gesagt, zu der Überzeugung, dass die katholische Kirche tatsächlich den wahren Glauben verkündete, und dass dann auch alle Bibelstellen irgendwie erklärbar sein müssten. Aber wie genau diese schwierigen Bibelstellen sich mit meinem Glauben harmonisieren ließen, das war für mich noch eine Zeit lang ein ungelöstes – aber auch eher untergeordnetes – Problem. Ich suchte immer mal wieder, wenn ich daran dachte, nach konkreten Antworten und war oft erstaunt, wie wenig ich dazu fand. Nach und nach stieß ich aber durch Zufall auf einige Dinge: etwa einen Essay von C. S. Lewis über die Psalmen, die mir manchmal rachsüchtig und selbstgerecht vorgekommen waren, vereinzelte Bemerkungen bei verschiedenen Schriftstellern oder auf verschiedenen Internetseiten und schließlich auch ein Buch, das dieses Thema ganz systematisch anging, „Hard Sayings. A Catholic Approach to Answering Bible Difficulties“ von Trent Horn (das ich nur empfehlen kann); kurz gesagt, ich stellte fest, dass es da sehr wohl Antworten gibt, und weil diese viel zu wenig kommuniziert werden, möchte ich das Thema hier jetzt auch systematisch angehen. Ich werde mich dabei auch in vielem an Horn orientieren.

Man kann die Schwierigkeiten mit der Bibel in drei Gruppen einteilen:

  • Naturwissenschaftliche Schwierigkeiten
  • Historische Schwierigkeiten
  • Moralische/philosophische Schwierigkeiten

In die erste Kategorie gehört die Schöpfungsgeschichte, und vielleicht kann man auch das ganze Thema Wunder noch hier einordnen. Die zweite Kategorie betrifft einfach die Frage „Ist das denn alles überhaupt so passiert?“ Diese beiden Kategorien sind relativ einfach abzuhandeln, deshalb will ich mich in dieser Reihe hauptsächlich auf die dritte Kategorie konzentrieren, aber ohne die ersten zwei ganz zu ignorieren. Mit moralischen und philosophischen Schwierigkeiten meine ich solche Schwierigkeiten, wie ich sie oben geschildert habe. Befiehlt ein guter Gott den Israeliten die Ausrottung der Kanaaniter? Tötet ein guter Gott einfach die ägyptischen Erstgeborenen? Wieso wird Gott als ein „eifersüchtiger Gott“ oder als ein Gott, der seine Meinung ändert und den sogar etwas „reut“, beschrieben? Das sind die eigentlich wichtigen Fragen hier, die man beantworten muss.

Es gibt ein paar Standardantworten, die Christen oft geben, wenn sie auf die schwierigen Bibelstellen angesprochen werden, und die oft (nicht immer) an sich richtig sind. (Dinge, die an sich richtig sind – das ist so eine Kategorie für sich.) Dazu zählen:

  • Das darf man nicht wörtlich nehmen!
  • Das muss man im Kontext lesen! (Gegebenenfalls in den Varianten: im Kontext des Abschnitts / im historischen Kontext)
  • Gelegentlich auch: Das steht im Alten Testament!

Hier muss man aufpassen. Gut aufpassen. Diese Sätze sind zwar oft ein guter Ansatzpunkt, aber es gibt da auch einige Dinge zu beachten.

Erstens sollten sie nicht zu einer raschen Ausrede werden, sondern auch genauer begründet werden.

Zweitens sollte man damit nicht einfach versuchen, etwas auf eine Art und Weise wegzuerklären, mit der man auch jede andere Bibelstelle wegerklären könnte. Das merken Diskussionspartner nämlich.

Drittens: „Das ist nicht wörtlich gemeint“ stimmt zwar gelegentlich, aber das heißt auch nicht einfach, dass es überhaupt nicht gemeint ist; „ es ist nicht wörtlich gemeint“ heißt nicht „das kann man ignorieren“. Wenn etwa Christus in seinen Gleichnissen die Hölle als einen Ort mit „Heulen und Zähneknirschen“ und in Begriffen wie Ausgeschlossensein, Dunkelheit und Feuer beschreibt, dann kann man durchaus davon ausgehen, dass das nicht im materiellen Sinne gemeint ist (wie gesagt: es sind Gleichnisse), aber die Aussage dieser Gleichnisse, dass die Hölle existiert und kein besonders schöner Ort ist, die bleibt trotzdem da stehen. Ausgeschlossensein, Dunkelheit und Feuer sind auch im übertragenen Sinne nicht so toll. C. S. Lewis hat einmal diesen Vergleich gebraucht: Wenn man sagt, „Mein Herz ist gebrochen“ meint man das nicht wörtlich im anatomischen Sinn, aber man will damit auch nicht sagen „Ich fühle mich sehr heiter“.

Ein anderer Fehler, der mit diesem Satz gemacht werden kann: Man sollte nicht einfach bei jeder unliebsamen Stelle gleich mit „Das ist doch gar nicht wörtlich gemeint!“ herausplatzen. Es gibt nämlich einerseits sehr schöne Stellen, die nicht wörtlich gemeint sind (z. B. gibt es gute Gründe, das Buch Jona als Lehrerzählung anstatt als historische Schilderung zu betrachten; und die Barmherzigkeit Gottes, die uns hier vor Augen geführt wird, ist wirklich sehr schön – zumindest solange man dem Konzept der Feindesliebe nicht derart ablehnend wie Jona selbst gegenübersteht –, aber die Geschichte ist trotzdem möglicherweise nicht historisch, sondern bildlich), und andererseits aber Stellen, die einem eher sauer aufstoßen können, die aber vonseiten der Verfasser sehr wohl vollkommen wörtlich und historisch gemeint sind. Ein Beispiel wäre diese Stelle im 1. Buch der Makkabäer, das eindeutig ein historisches Buch wie etwa die Evangelien ist: „Als Mattatias das sah, packte ihn der Eifer; seine Nieren erzitterten und er ließ seinem gerechten Zorn freien Lauf: Er sprang vor und erstach den Abtrünnigen über dem Altar. Zusammen mit ihm erschlug er auch den königlichen Beamten, der sie zum Opfer zwingen wollte, und riss den Altar nieder; der Eifer für das Gesetz hatte ihn gepackt und er tat, was einst Pinhas mit Simri, dem Sohn des Salu, gemacht hatte.“ (1 Makkabäer 2,24-26) (Zu dieser Stelle und ähnlichen in einem späteren Beitrag in dieser Reihe ausführlich.)

Viertens: Kontext. Gute Idee. Ja. Aber dann muss man auch sagen, welcher Kontext, was der bedeutet, und was die fragliche Stelle in diesem Kontext dann trotzdem noch bedeutet, denn sie steht ja trotzdem noch da.

Fünftens: Ja, das Alte Testament ist so eine Sache. Wenn einem das Fortschreiten der göttlichen Offenbarung vom Alten zum Neuen Bund klar ist, sieht man tatsächlich so einiges in der Bibel klarer. Aber: Das heißt auch nicht, dass das AT einfach irrelevant geworden wäre. Es ist immer noch Heilige Schrift, und seine Aussagen sind wahr.

Wie immer braucht es hier zwei Dinge: Ehrlichkeit und genaue Unterscheidung.

In den nächsten Beiträgen zu dieser Reihe will ich erst einmal auf das katholische Schriftverständnis und das Thema „Irrtumslosigkeit der Schrift“ eingehen, dann auf die (sehr, sehr, sehr wichtige) Unterscheidung „Was in der Bibel steht“ vs. „Was die Bibel lehrt“, dann auf den Alten und den Neuen Bund und die Konsequenzen aus dieser Unterscheidung für die Bibelinterpretation, und dann nach und nach auf verschiedene konkrete Beispiele vor allem aus dem Alten Testament zur Anwendung der Prinzipien – die Tora, die Landnahme, ähnlich brutale Geschichten, usw. Zuletzt kommt dann noch alles „Sonstige“: Die Frage nach der Vereinbarkeit der Bibel mit Naturwissenschaft und historischer Forschung, die Frage nach bestimmten einzelnen Stellen, auch einigen im Neuen Testament (das Lästern des Heiligen Geistes, „Das Weib schweige in der Kirche“, und lauter solche Dinge), bei denen es in vielen Fällen bloß darauf ankommt, einfach zu wissen, was mit bestimmten Begriffen und Redewendungen im Original gemeint ist. Das alles wird wahrscheinlich so einige Beiträge abgeben, und hiermit spreche ich eine offizielle Einladung an alle meine Leser aus: Wenn es eine bestimmte Bibelstelle gibt, die ihr schon immer total komisch und unverständlich fandet, dann hiermit eine herzliche Einladung, mich darauf hinzuweisen, und ich werde mich bemühen, etwas zu ihrer Interpretation zu finden und im Lauf der Reihe darauf einzugehen.

Zuletzt eine Frage für den nächsten Beitrag: Wer hat eigentlich behauptet, dass die Heiligen Schriften völlig klar, offen und verständlich für jedermann sein müssten?