Über schwierige Bibelstellen, Teil 4: Schöpfung, Urknall, Evolution, Sündenfall usw. – zur Bedeutung von Genesis 1-11

Ich habe mir im letzten Beitrag, zur Frage nach der Historizität der Bibel, die Frage nach den ersten 11 Kapiteln des Buches Genesis für einen eigenen Beitrag aufgehoben; die sind ein Sonderfall innerhalb der historischen Bücher der Bibel, sowohl in ihrem Stil als auch in ihrem Inhalt. Abraham und Mose kann man relativ genau in einen historischen Kontext einordnen; in ihren Geschichten werden Länder, Städte und Herrscher erwähnt, die man zuordnen kann, man kann abschätzen, wann sie ungefähr gelebt haben, und bei David, Ahab oder Judas dem Makkabäer ist es noch mal einfacher. Bei der Schöpfungsgeschichte, dem Sündenfall oder der Sintflut schaut es dagegen ein bisschen anders aus, und die Frage, ob und inwiefern diese Geschichten denn „wörtlich“ verstanden werden müssen / sollen, ist eine altbekannte und häufig angesprochene.

Und ja, ich weiß, dass die Frage „Sind die katholische Religion und die Wissenschaft vereinbar?“ schon so oft beantwortet wurde, dass mittlerweile jeder die Antwort kennen sollte, auch wenn man manchmal den Eindruck hat, dass manche Leute ihr Möglichstes tun, um sie nicht mitzubekommen, zum Beispiel Journalisten, die es ernsthaft als eine Neuigkeit bringen, wenn Papst Franziskus erwähnt, dass Religion und Wissenschaft vereinbar seien (eine passende Überschrift für einen solchen Bericht wäre vielleicht: PAPST SAGT DASSELBE, WAS SEINE VORGÄNGER AUCH SCHON HUNDERTMAL GESAGT HABEN; aber hierzu hat Eye of the Tiber damals schon den passenden Kommentar geliefert). Aber ich will sie doch der Vollständigkeit halber auch noch einmal beantworten; schließlich kann es sein, dass Menschen mitlesen, die in so heidnischen Gefilden wie der Mongolei oder Ostdeutschland aufgewachsen sind und sich daher mit den Aussagen der katholischen Kirche völlig schuldlos gar nicht auskennen können.

Aber in diesem Beitrag soll es nicht nur um die Sieben-Tage-Geschichte aus Genesis 1, sondern auch um die historische Wirklichkeit von Adam und Eva und dem Sündenfall gehen, ein Thema, über das nicht so oft geredet wird wie über ersteres, und das für viele Christen unklar ist, und um die restlichen Geschichten aus diesen ersten paar Kapiteln, mit Kain und Abel, der Sintflut, dem Turmbau zu Babel, und so weiter.

Ich denke, ein schöner Anfang für diesen Beitrag wäre ein Zitat von einem berühmten katholischen Theologen und Bischof. Die Übersetzung ist leider ein wenig holprig:

„Oft genug kommt es vor, dass auch ein Nichtchrist ein ganz sicheres Wissen durch Vernunft und Erfahrung erworben hat, mit dem er etwas über die Erde und den Himmel, über Lauf und Umlauf, Größe und Abstand der Gestirne, über bestimmte Sonnen- und Mondfinsternisse, über die Umläufe der Jahre und Zeiten, über die Naturen der Lebewesen, Sträucher, Steine und dergleichen zu sagen hat. Nichts ist nun peinlicher, gefährlicher und am schärfsten zu verwerfen, als wenn ein Christ mit Berufung auf die christlichen Schriften zu einem Ungläubigen über diese Dinge Behauptungen aufstellt, die falsch sind und, wie man sagt, den Himmel auf den Kopf stellen, so dass der andre kaum sein Lachen zurückhalten kann. Dass ein solcher Ignorant Spott erntet, ist nicht das Schlimmste, sondern dass von Draußenstehenden geglaubt wird, unsere Autoren hätten so etwas gedacht. Gerade sie, um deren Heil wir uns mühen, tragen den größten Schaden, wenn sie unsere Gottesmänner daraufhin als Ungelehrte verachten und zurückweisen. Denn wenn sie einen von uns Christen auf einem Gebiet, das sie genau kennen, bei einem Irrtum ertappen und merken, wie er seinen Unsinn mit unseren Büchern belegen will, wie sollen sie dann jemals diesen Büchern die Auferstehung der Toten, die Hoffnung auf das ewige Leben und das Himmelreich glauben, da sie das für falsch halten müssen, was diese Bücher geschrieben haben über Dinge, die sie selbst erfahren haben und als unzweifelhaft erkennen konnten? Es ist unbeschreiblich, wie viel Verdruss und Kummer einsichtigen Brüdern durch solche unbesonnenen Eiferer bereitet wird, die von Leuten, die nicht durch die Autorität unserer Bücher gestützt werden, in ihren verkehrten und falschen Ansichten verächtlich zurückgewiesen werden und dann beginnen, das zu verteidigen, was sie in ihrer leichtsinnigsten Verwegenheit offensichtlich falsch gesagt haben. Und dann wagen sie es auch noch, um sich zu beweisen, unsere heiligen Bücher anzuführen oder aus dem Gedächtnis alles mögliche daraus vorzubringen, von dem sie meinen, es nützte ihnen als Bestätigung, und verstehen doch weder, was sie sagen, noch die Dinge, die sie behaupten.“

Dieses Zitat stammt aus dem Buch „Über den Wortlaut der Genesis“ (Erstes Buch, Kapitel 39), verfasst vom heiligen Augustinus von Hippo (354-430 n. Chr.) Die Stelle ist hier nachzulesen.

(Augustinus von Hippo, Darstellung aus dem 6. Jahrhundert)

Wir alle kennen das Narrativ, dass die Menschen in den schlechten alten Zeiten naiv den Erzählungen der Bibel vertraut hätten, bis sich dann die glorreiche Wissenschaft gegen die diktatorische Kirche – Feindin jeder Art von Fortschritt – durchgesetzt und den Menschen über die Wahrheit aufgeklärt hätte, womit der Glaube endgültig seine Berechtigung verloren hätte. Oder so. Bei einem so falschen Bild weiß man gar nicht, wo man anfangen soll – vielleicht damit, den Kopf gegen die Tischplatte zu schlagen. Dann könnte man erwähnen, dass die moderne Wissenschaft ihren Ursprung im Mittelalter hat, dass es die Kirche war, die mit ihren Universitäten die Wissenschaft förderte (kein Mensch hätte im 14. oder 15. oder 16. oder 17. Jahrhundert daran gedacht, einen Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaft zu postulieren!), und dass in diesen früheren Zeiten etliche Wissenschaftler gleichzeitig Kleriker waren – zum Beispiel der Domherr und Astronom Nikolaus Kopernikus (1473-1543), der als erster die Theorie eines heliozentrischen Weltbildes aufstellte, der Jesuit, Mathematiker und Astronom Christophorus Clavius (1538-1612), der hauptverantwortlich für die Kalenderreform von Papst Gregor XIII. war (daher „Gregorianischer Kalender“), der Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher (1602-1680), der am Collegium Romanum lehrte und das Blut von Pestkranken unter dem Mikroskop untersuchte, der Augustinerabt Gregor Mendel (1822-1884), der die Wissenschaft der Genetik begründete, oder der Priester und Astrophysiker Georges Lemaître (1894-1966), der die Urknalltheorie aufstellte – ja, die Urknalltheorie wurde von einem katholischen Priester aufgestellt, und Papst Pius XII. war damals ganz begeistert davon, weil diese Theorie – im Unterschied zur damals noch unter Astrophysikern vorherrschenden Steady-State-Theorie – eindeutig einen zeitlichen Anfang des Universums belegte. (Auch die Steady-State-Theorie wäre mit dem katholischen Glauben vereinbar, denn Gott könnte das Universum in einem Zustand erschaffen haben, in dem es dann unverändert weiterexistiert, aber dass ein zeitlicher Anfang des Universums belegt werden kann, ist ganz schön für uns.)

Es ist jedenfalls im Katholizismus normal, die Beschreibungen des Schöpfungsberichts nicht vollkommen wörtlich, sondern im übertragenen Sinne zu verstehen; das war unter Kirchenvätern wie eben Augustinus oder z. B. auch Origenes schon üblich. Sie mussten die Bibel zum Beispiel gegen den Einwand verteidigen, dass Sonne und Mond, nach denen wir Tage messen, nach dem Bericht der Bibel erst am vierten Tag erschaffen wurden. Augustinus ging davon aus, dass die Welt auf einmal erschaffen wurde und die Unterteilung in Tage dazu da sei, verschiedene Aspekte der Schöpfung thematisch zusammenzustellen; er interpretiert auch die Zahlen symbolisch (z. B. ist die 6 die kleinste vollkommene Zahl – und Zahlensymbolik war in der Antike sehr beliebt).

Was nun Darwins Evolutionstheorie angeht: Die war tatsächlich, als sie aufkam, unter Christen erst einmal eher schief angesehen – vor allem wegen der verschiedenen Philosophien, die sich auf ihr begründeten: Die Ansicht, dass der Mensch nur ein höher entwickeltes Tier sei, natürlich, der Glaube, alles sei im Fluss und die Welt sei den blinden Gesetzen des Zufalls unterworfen, der blinde Fortschrittsglaube, die ganze Welt entwickle sich notwendig aus sich selbst heraus vom Schlechteren zum Besseren, und der für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert so typische rassistische Sozialdarwinismus – in dieser Zeit kam auch die Hypothese des Polygenismus zeitweise auf, d. h. die Hypothese, die verschiedenen menschlichen Rassen hätten sich an verschiedenen Orten unabhängig voneinander aus verschiedenen Populationen von Menschenaffen entwickelt, anstatt dass sie von gemeinsamen Stammeltern abstammten. Es gab auch damals schon Katholiken, die die wissenschaftliche Theorie der Evolution annahmen oder jedenfalls nicht für unannehmbar hielten – z. B. den sel. John Henry Kardinal Newman (1801-1890) –, und das Lehramt stellte ganz allgemein klar, dass es keinen wirklichen Widerspruch zwischen gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen und der katholischen Theologie geben konnte. (Hier ein Überblick über lehramtliche Aussagen von 1893 bis 1950.) Eine ausführliche päpstliche Äußerung zu dem Thema findet sich dann etwa bei Pius XII. im Jahr 1950, in der Enzyklika Humani Generis (hier findet sich der ganze Text inklusive Fußnoten) folgendes schreibt (Hervorhebungen im Text von mir):

  1. Aus diesem Grund verbietet das Lehramt der Kirche nicht, dass in Übereinstimmung mit dem augenblicklichen Stand der menschlichen Wissenschaften und der Theologie die Entwicklungslehre Gegenstand der Untersuchungen und Besprechungen der Fachleute beider Gebiete sei, insoweit sie Forschungen anstellt über den Ursprung des menschlichen Körpers aus einer bereits bestehenden, lebenden Materie, während der katholische Glaube uns verpflichtet, daran festzuhalten, dass die Seelen unmittelbar von Gott geschaffen sind. Es sollen diese Verhandlungen in der Weise geschehen, dass die Gründe für beide Ansichten, also dieser, die der Entwicklungslehre zustimmt, wie jener, die ihr entgegensteht, mit nötigen Ernst abgewogen und beurteilt, vorausgesetzt, dass alle bereit sind, das Urteil der Kirche anzunehmen, der Christus das Amt anvertraut hat, die Heilige Schrift authentisch zu erklären und die Grundsätze des Glaubens zu schützen. Einige überschreiten nun verwegen diese Freiheit der Meinungsäußerung, da sie so tun, als sei der Ursprung des menschlichen Körpers aus einer bereits bestehenden und lebenden Materie durch bis jetzt gefundene Hinweise und durch Schlussfolgerungen aus diesen bereits mit vollständiger Sicherheit bewiesen; ebenso tun sie, als ob aus den Quellen der Offenbarung kein Grund vorliege, der auf diesem Gebiet nicht die allergrößte Mäßigung und Vorsicht geböte.
  1. Wenn es sich aber um eine andere Hypothese handelt, den so genannten Polygenismus, lässt die Kirche nicht die gleiche Freiheit. Darum können Gläubige sich nicht der Meinung anschließen, nach der es entweder nach Adam hier auf Erden wirkliche Menschen gegeben habe, die nicht von ihm, als dem Stammvater aller auf natürliche Weise abstammen, oder dass Adam eine Menge von Stammvätern bezeichne, weil auf keine Weise klar wird, wie diese Ansicht in Übereinstimmung gebracht werden kann mit dem, was die Quellen der Offenbarung und die Akten des kirchlichen Lehramts über die Erbsünde sagen; diese geht hervor aus der wirklich begangenen Sünde Adams, die durch die Geburt auf alle überging und jedem einzelnen zu eigen ist.
  1. Wie in den biologischen und anthropologischen Wissenschaften, so missachten auch in der Geschichte einige kühn die von der Kirche vorsichtig gezogenen Grenzen. In besonderer Weise gibt ein System Anlass zur Trauer, das die geschichtlichen Bücher des Alten Testamentes mit allzu großer Freiheit erklärt. Um ihre Gründe zu verteidigen berufen sich die Vertreter dieses Systems auf ein Schreiben, das vor nicht langer Zeit von der Päpstlichen Bibelkommission an den Erzbischof von Paris gerichtet wurde. Es weist ausdrücklich darauf hin, dass die ersten elf Kapitel des Buches der Schöpfung doch in einem wahren Sinn, der von den Exegeten noch weiter zu erforschen und zu erklären ist, geschichtlich sind, wenn sie auch eigentlich nicht der Methode der Geschichtsschreibung entsprechen, die von den besten griechischen und lateinischen Autoren, auch von den Fachleuten unserer Zeit, angewandt wurde. Die gleichen Kapitel, so heißt es weiter, berichten in ihrer einfachen und bildhaften, der Denkart eines wenig gebildeten Volkes angepassten Sprache die Hauptwahrheiten, die für unser Heil von grundlegender Bedeutung sind; zugleich geben sie aber auch einen volkstümlichen Bericht vom Ursprung des Menschengeschlechtes und des auserwählten Volkes.
  1. Wenn auch die alten Verfasser der Heiligen Bücher einiges aus den volkstümlichen Erzählungen nahmen – was ruhig zugegeben werden kann –, so darf man doch nie vergessen, dass sie es unter dem Beistand göttlicher Eingebung taten, der sie bei der Wahl und der Wertung dieser Dokumente vor allem Irrtum bewahrte. Es können auch die der Heiligen Schrift eingefügten volkstümlichen Erzählungen in keiner Weise mit Mythologien oder dergleichen auf die gleiche Stufe gestellt werden, da diese mehr Frucht einer ausschweifenden Einbildungskraft sind als des Strebens nach Wahrheit und Einfachheit, das in den Büchern des Alten Testamentes sosehr hervorleuchtet; darum muss auch von seinen Verfassern gesagt werden, dass sie alle Profanschriftsteller deutlich übertreffen.

Die Evolutionslehre, die Pius XII. hier vorsichtig zu untersuchen erlaubt, ist inzwischen wohl so gut belegt, dass man von einer bewiesenen Theorie sprechen kann. Als Katholik darf man selbstverständlich auch Kurz-Zeit-Kreationist sein darf (da die Kirche sich nicht dazu äußert, welche von verschiedenen mit dem Glauben vereinbaren wissenschaftlichen Theorien richtig ist, das ist nicht ihre Aufgabe), aber man darf auch die rein wissenschaftliche Evolutionstheorie annehmen.

Fassen wir die Aussagen der Enzyklika genauer zusammen: Genesis 1-11 beschreibt grundsätzlich geschichtliche Vorgänge, aber doch in einer bildlichen Ausdrucksweise. Möglicherweise nahmen die biblischen Erzählungen auch bestimmte volkstümliche Erzählungen auf (bei der Frage nach der Sintflut komme ich darauf zurück), aber sie sind nicht gleichzusetzen mit Mythen; ihre grundsätzlichen Aussagen sind geschichtlich.

Fangen wir dabei an, was die Schöpfungserzählung (Genesis 1) eigentlich aussagt – hier kann man sie noch einmal nachlesen.

  1. Gott hat alles erschaffen, und zwar aus dem Nichts. („Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde.“) Das klingt banal, ist aber ein großer Unterschied zu heidnischen Schöpfungserzählungen, die eigentlich nur erzählen, wie etwas in einer bereits entstehenden Welt von irgendwelchen Göttern neu geformt wird, wie ein Gefäß aus Ton. Erschaffung aus dem Nichts ist etwas ganz Anderes. An späteren Stellen sieht man zwar auch, dass auch der Gott der Bibel aus zuerst erschaffenen Dingen anderes hervorgehen lässt (s. z. B. den Ausdruck „Die Erde bringe hervor“ oder die Erschaffung des Menschen aus dem Erdboden im zweiten Schöpfungsbericht in Genesis 2), aber zuerst einmal erschafft er die Welt an sich aus dem Nichts. Gott ist ein allmächtiger Gott (und zwar einer, nicht durch andere Götter beschränkt), der spricht, und es geschieht.
  2. Unterschiede zu den heidnischen Schöpfungserzählungen sieht man auch an anderen Stellen: Sonne, Mond und Sterne sind keine Götter, sondern nichts weiter als Lichter, die der eine Gott gemacht hat – ein typisches Beispiel biblischer Entmythologisierung. Die Menschen werden nicht zu irgendeinem Zweck erschaffen (zum Beispiel, um die Götter mit ihren Opfern zu ernähren), sondern einfach, um zu sein. Gott schafft sie als „sein Bild“ (Genesis 1,27) und übergibt ihnen die Erde. Er liebt sie, kurz gesagt.
  3. Was Gott erschafft, ist gut. Immer wieder wird wiederholt: „Gott sah, dass es gut war.“ Die Natur ist nicht selbst Gott, aber sie ist gut. Sie ist nicht schlecht, und keine bloße Illusion (wie der Hinduismus oder der Buddhismus meinen).
  4. Gott erschafft, indem er Dinge scheidet – Wasser und Land, Tag und Nacht – und ordnet. Die ganze Schöpfung ist geordnet, die verschiedenen unterschiedenen Dinge haben alle ihren Platz. Vielfalt ist gut; es muss nicht alles in einer Einheit aufgelöst werden. Der zuerst geschaffene Anfangszustand wird als Chaos (wörtlich im Hebräischen: Tohuwabohu) und Leere beschrieben. Gott ordnet dann das Chaos und „füllt leere Welten mit guten Geschöpfen“, um es mit C. S. Lewis’ Worten in „Perelandra“ auszudrücken.

Man könnte noch mehr in der Schöpfungsgeschichte lesen, wenn man will; tatsächlich könnten wir sie heute in einer Hinsicht wörtlicher interpretieren als noch zu Augustinus’ Zeiten. Zum Beispiel schafft Gott in Genesis 1 die Pflanzen vor den verschiedenen Tierarten, und die Tiere vor den Menschen, so wie es auch tatsächlich abgelaufen ist; man sieht hier auch eine Rangfolge der Geschöpfe, die alle ihren Platz haben. Wenn man dann noch den Vers „Dies eine aber, Geliebte, soll euch nicht verborgen bleiben, dass beim Herrn ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag sind.“ (2 Petrus 3,8) mit bedenken würde, schiene die ganze Sache sogar schon irgendwie ganz einfach auszusehen. Wieso sollte Gott für seine Schöpfung – in der ein Tag tausend Jahre (oder sehr viel mehr) sein können – nicht die natürliche Evolution benutzen? Stehen doch, wie gesagt, in Genesis 1 auch solche Ausdrücke wie „Die Erde bringe hervor“ oder „Die Erde lasse sprießen“ und das Verb für direktes Erschaffen (bara’) kommt nur drei Mal vor (in den Versen 1, 21 und 27). Eine Schwierigkeit allerdings, wenn man Genesis 1 als ziemlich wörtlichen, nur zeitlich ein bisschen gestrafften Bericht lesen will (Langzeitkreationismus), liegt dann aber natürlich darin, dass z. B. die Erschaffung der Himmelskörper nach der Erschaffung der Pflanzen kommt und der Himmel als „Gewölbe“ beschrieben wird. Aber wusste der Autor von Genesis 1 dennoch schon durch eine besondere Offenbarung, dass die Schöpfung in Etappen geschah und vom Niederen zum Höheren fortschritt? Kann man annehmen, wenn man will; vielleicht soll die Ordnung in Tage auch einfach die Ordnung und Rangfolge in der Schöpfung zeigen. In den ersten drei Tagen werden die verschiedenen Lebensräume (Himmel und Erde / Wasser und Land / die Vegetation) erschaffen, und in den nächsten drei werden sie sozusagen gefüllt (der Himmel mit Himmelskörpern / das Meer mit Meerestieren und die Luft mit Vögeln / das Land mit Landtieren und Menschen).

Man kann Genesis 1 einfach deshalb als weniger wörtlich lesen als bloß als zeitlich gestrafften Bericht, weil es kein naturwissenschaftlicher Bericht ist. Der Text berichtet ein tatsächliches Geschehen (Gott erschafft die Welt, er ordnet sie, alle seine Geschöpfe sind gut, der Zielpunkt dieser Schöpfung ist der Mensch (die Engel, höhere Geschöpfe als der Mensch, gehören ja, das nebenbei bemerkt, nicht zu unserer Erde)) unter Zuhilfenahme von Bildern, und beschreibt das ganze Geschehen eben im Rahmen des damaligen Weltbildes (flache Erde, Himmelsgewölbe, Wassermassen oberhalb des Gewölbes).

Man beachte hier, was ich in Teil 2 über Regel Nummer 2 zu Textaussagen gesagt habe. Wenn ich sage „Die Sonne geht auf“ will ich damit auch nicht aussagen, dass sich die Sonne um die Erde bewegt, und selbst wenn ich in einer Zeit gelebt hätte, in der man noch geozentrisch dachte, hätte ich auch damals mit dem Satz „Die Sonne geht auf“ trotzdem nicht Unrecht gehabt, auch wenn im Hintergrund in meiner Vorstellungswelt das Bild einer sich um die Erde drehenden Sonne gestanden hätte, weil ich nämlich auch dann mit diesem Satz einfach hätte aussagen wollen „Da hinten sehen wir jetzt die Sonne, es wird Tag“.

Man sollte hier vielleicht zwei Sprechweisen unterscheiden: In der Schöpfungsgeschichte kommen einerseits Bilder vor, die wohl auch die Autoren schon ganz bewusst als Bilder sahen, etwa dieses hier: „Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem.“ (Genesis 2,7). Auch im AT wusste man, dass Gott nicht körperlich ist, und der Autor dieses Textes wollte wohl nicht aussagen, dass Gott mit den Händen im Matsch geknetet hat – er wollte aussagen, dass der Mensch beseelte Materie ist („Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück“ (Genesis 3,19)), aus Materie geschaffen und dann mit einer Seele ausgestattet wurde. Auch wenn einer sich die Entstehung aus dem Staub des Erdbodens relativ wörtlich vorgestellt hätte, dann jedenfalls nicht als ein Formen mit Händen und Einblasen mit dem Mund, da Gott ja keine Hände und keinen Mund hat. Dann gibt es andererseits Dinge, die wohl noch zum tatsächlichen Vorstellungshintergrund der biblischen Autoren gehörten, wie etwa eine flache Erde mit einem Gewölbe oben drüber, die aber nicht die eigentliche Aussage betreffen. Jemand, der sagt „Die Sonne geht auf“ hat damit Recht oder Unrecht, unabhängig davon, ob er in seinem Kopf ein heliozentrisches oder ein geozentrisches Weltbild hat.

Nehmen wir eine Mutter, die nicht viel Ahnung von Biologie hat, und ihrem Kind die Schöpfung erklärt. Wenn sie sagt „Gott hat alle Tiere erschaffen, die Kühe, die Vögel, die Hunde und Katzen, und auch alle Fische im Meer – Karpfen, Lachse, Haie, Delfine und Walfische“, dann kann man sie gerne darauf hinweisen, dass Delfine und Wale keine Fische, sondern Säugetiere sind, aber das macht ihre eigentliche Aussage nicht zu einer falschen. Denn die war, dass Gott diese Tiere erschaffen hat.

Die biblischen Autoren hatten nicht unsere wissenschaftlichen Methoden, um herauszufinden, wie alt die Erde ist oder dass sie um die Sonne kreist. Daraus kann man ihnen kaum einen Vorwurf machen. Deshalb waren sie nicht blöd, auch wenn manche Leute das zu meinen scheinen, und deshalb waren sie auch nicht daran gehindert, überhaupt irgendwelche richtigen Aussagen über die Welt zu machen. Jemand, der Wale und Delfine nicht näher studieren kann und in einer Welt lebt, in der noch niemand Wale und Delfine näher studiert hat, kann auch keine Informationen über ihre biologische Klassifizierung haben; und wenn er dann Aussagen über sie macht, in denen er sie nebenher bei den Fischen einordnet, müssen diese Aussagen an sich noch nicht falsch sein. (Vor allem, wenn sein Begriff für Fische eher einfach nur „Meerestiere“ meint.)

Jetzt also: Wie ist das mit der Schöpfung tatsächlich genau abgelaufen? Und wie sieht es dann speziell mit der Erschaffung des Menschen und dem anschließenden Sündenfall aus?

Also, Gott hat wohl vor 14 oder 15 Milliarden Jahren das Universum aus dem Nichts erschaffen und erhält es seitdem im Dasein. Wir kennen das Konzept der creatio continua, d. h. Gott musste nicht nur an einer Stelle die Welt erschaffen und sie bleibt dann so, sondern sie hängt immer noch von Gott ab, wie eine Schaukel, die an einer Stange hängt, nicht nur einmal aufgehängt werden muss, sondern auch herunterfallen würde, wenn man das Seil durchschnitte, das sie mit der Stange verbindet; wenn Gott die Welt nicht mehr im Dasein erhalten wollte, würde sie ins Nichts zurücksinken.

Er hat das Universum offensichtlich so erschaffen, dass es zuerst auf engstem Raum konzentriert war und sich dann immer weiter ausdehnte, wodurch Sterne und Planeten entstanden, und schließlich auf einem Planeten die Bedingungen, unter denen organisches Leben, wie wir es kennen, möglich ist, erfüllt waren. Jetzt kommt der Punkt, wo das erste Lebewesen entsteht, in Darwins „kleinem warmen Teich“ oder „Ursuppe“.

Das ist einer der drei Punkte in der Geschichte der Welt, an denen etwas ganz und gar Neues ins Dasein tritt, ohne hinreichende Auslöser, die es zu einem Teil einer natürlichen Kettenreaktion gemacht hätten. Der erste Punkt ist natürlich der Urknall (oder, falls irgendetwas vor dem Urknall war, zum Beispiel ein sich immer wieder ausdehnendes und zusammenziehendes Universum, eben der Punkt, an dem dieses Universum erstmals entstand). Die Tatsache, dass da überhaupt Etwas ist, Materie ist, wo vorher Nichts war (Nichts im eigentlichen Sinne, nicht im Sinne eines Vakuums. d. h. kein Raum, keine Zeit, keine Naturgesetze); das ist etwas grundlegend Neues; der erste und wichtigste Punkt, an dem wir Gottes Finger sehen können. Der zweite Punkt ist dann eben die Entstehung von Leben. Reine Materie ist grundsätzlich, wesensmäßig unterschieden von Leben. Wasser bewegt sich im Wind, Teilchen ziehen sich gegenseitig an oder stoßen sich ab, brennendes Gestein bewegt sich, Sterne „sterben“ irgendwann, wenn ihr Brennstoff verbraucht ist, aber das alles ist kein Leben; das ist nur Materie, die sich entsprechend bestimmter Naturgesetze verhält, so wie Dominosteine umfallen, wenn man sie angestoßen hat. Ein Bakterium dagegen lebt. Es ist ein Stoffsystem mit einem eigenen Stoffwechsel, das sich selbst organisiert und reguliert (Homöostase), sich fortpflanzen kann, sich im Lauf seines Lebens entwickelt (d. h. es wächst zum Beispiel) und Reize aus seiner Umgebung aufnimmt. Das ist kein weiterer natürlicher Entwicklungsschritt in der Welt, sondern ein plötzlicher Sprung. (Disclaimer: Wenn ich hier bei der Entstehung der allerersten Lebewesen einen direkteren „Eingriff“ Gottes in die Welt annehme, dann ist das mehr oder weniger meine persönliche Spekulation angesichts der Tatsache, dass wir normalerweise kein Leben aus unbelebter Materie entstehen sehen. Wenn die Wissenschaft mal herausfinden sollte, dass Leben oder Vorstufen von Leben, wie wir es kennen, von selbst aus Materie entstehen kann, hätte ich kein Problem damit; Gott könnte prinzipiell schließlich auch an dieser Stelle durch indirekte Ursachen wirken.)

Nachdem es irgendwann einmal dieses erste Lebewesen oder diese ersten Lebewesen gab, entwickelten sie sich offenbar wiederum entsprechend der von Gott eingesetzten Naturgesetze weiter, und so entstanden die verschiedenen Pflanzen- und Tierarten. Dann, an einem dritten Punkt, entstand aus einer dieser Tierarten eine Gattung, die sich von allen bisherigen Gattungen unterschied; der Mensch. Ich meine damit nicht, dass er auf zwei Beinen ging – das tun auch Hühner – oder dass er Werkzeuge benutzte – das können sogar Raben lernen –, sondern dass er seine Toten bestattete und Bilder an die Wände von Höhlen malte.

Wir wissen, in welchen Dingen sich der heutige Mensch von den Tieren unterscheidet: Er kennt (u. a.) die Kategorien des Guten, des Wahren und des Schönen und macht sich Gedanken, die über sein Leben hinausreichen. Ein Tiger interessiert sich nicht dafür, ob es recht ist, andere Tiere zu töten. Ein Spatz fragt sich nicht, ob sein Nest schön geworden ist. Ein Affe will nicht wissen, ob es einen Gott gibt. Das sind Kategorien, die man entweder begreift oder nicht. Manche Menschen begreifen sie vielleicht besser als andere, aber diese Kategorien sind Menschen grundsätzlich nicht fremd. Ein Tier kennt gar nicht die Frage „Was soll ich tun?“ Ein Tier kennt kein Sollen, Menschen schon. Wenn jemand ein Sollen kennt, dann ist das ein großer Sprung von einem Wesen aus, das einfach nach seinen Instinkten handelt. Es gibt sicher viele Unterschiede zwischen den Tierarten; eine Ameise ist was ganz anderes als eine Katze. Auch Tiere sind lebendige Individuen, d. h. sie sind nicht nur Materie, sondern haben etwas in sich, das man am besten als Seele bezeichnet, aber es ist von anderer Art als eine menschliche Seele. Natürlich sind Steine, Hunde, Menschen und Engel einander immer noch wesentlich ähnlicher als sie Gott sind, denn sie sind alle Geschöpfe, während Er der ungeschaffene Schöpfer ist, aber es gibt doch einen wesentlichen Unterschied zwischen diesen vier Kategorien: Materie – körperliches Leben – rationales, körperliches Leben – rein geistiges, rationales Leben.

(Es gibt auch keinen evolutionären Grund, wieso sich z. B. das Konzept des Guten und Schönen entwickeln sollte. Moralische Skrupel hindern einen schließlich oft genug daran, seinen eigenen Vorteil zu suchen (und nein, Regelutilitarismus hat nichts mit Moral zu tun), und das Schöne ist für die Arterhaltung vollkommen nutzlos. Auch die Theorie der Sublimation macht keinen Sinn, denn sie erklärt gerade das nicht, was sie erklären soll. Wenn höher zivilisierte Triebe (z. B. der Drang, Kunst zu schaffen oder Philosophie zu betrieben) nur auf einer Verdrängung von Trieben wie dem Sexualtrieb beruhen – na ja, dann stellt sich doch die Frage, wieso sollte diese Sublimation überhaupt geschehen sein? Sublimieren Eichhörnchen, Raben oder Ameisenbären ihre Triebe in Kunstwerken oder metaphysischen Spekulationen? Aber diese Einwände gegen die Unterschiedenheit des Menschen von den Tieren sind eigentlich gar nicht so beachtenswert, finde ich. Allein schon die Tatsache, dass der Mensch z. B. die Kategorie eines Sollens überhaupt kennt, dass er weiß, was der Begriff des Sollens bedeutet, ist eigentlich Argument genug. Aber das führt jetzt hier alles ein bisschen weit, also zum nächsten Thema.)

Jetzt also zu diesen ersten Menschen, von denen Genesis 2 und 3 näher berichtet. Wie Pius XII. in Humani Generis schreibt, gehört es sehr wohl zur katholischen Lehre, dass die ersten Menschen tatsächlich existierende Personen waren und der Sündenfall ein historisches Ereignis. Letzteres ergibt sich schon rein logisch. Wenn man mit dem Begriff der Erbsünde nur sagen wollte, dass der Mensch sich eben in einem Zustand befindet, in der er sehr zum Schlechten neigt, dann würde das bedeuten, dass Gott den Menschen eben nicht am Anfang gut erschaffen hat.

„Die Erzählung vom Sündenfall in Genesis 3, wie die Erzählung der Schöpfung, ist in hochpoetische, symbolische Sprache gekleidet. Die sprechende Schlange und die beiden Bäume sind, nach jedem intelligenten literarischen Standard, dazu gedacht, symbolisch interpretiert zu werden, nicht buchstäblich und materiell. Aber was sie symbolisieren ist wirklich und buchstäblich. Das Ereignis des Sündenfalls muss zu irgendeinem Punkt in der realen Zeit passiert sein. Denn falls nicht, falls der Sündenfall bloß eine zeitlose Wahrheit über unsere Sündhaftigkeit ist, die in die Form einer Vorher-und-Nachher-Geschichte übertragen wurde, dann gab es nie eine Zeit der Unschuld; und in diesem Fall sind wir sündhaft, nicht weil wir frei wählten, uns dazu zu machen, sondern weil Gott uns von Anfang an so schuf. In diesem Fall ist Gott schuldig an der Sünde und wir sind aus dem Schneider.“ (Peter Kreeft, You can understand the Bible, S. 15; Übersetzung von mir)

(Zur Frage „Wieso werden wir für etwas bestraft, das Adam und Eva getan haben?“ in diesem Teil.)

Waren Adam und Eva jetzt also zwei konkrete, reale Personen? Erst einmal zur naturwissenschaftlichen Sicht auf die Ursprünge des Menschen. Inzwischen lautet die Mehrheitsmeinung, dass alle heutigen Menschen von einer Population von Frühmenschen abstammen, die sich von einem Kerngebiet aus über die Welt verbreitet haben, dass sie sich also nicht an verschiedenen Orten unabhängig voneinander aus verschiedenen Affenpopulationen entwickelt hätten. Ob diese Population aber an irgendeiner Stelle ihrer Geschichte nur aus zwei Menschen bestanden haben kann, dazu herrscht, soweit ich weiß, kein völliger Konsens; es gibt genetische Argumente, die dagegen sprechen, aber das alles ist relativ spekulativ.

Es ist eine deutliche Lehre der Kirche, dass Adam und Eva reale Personen waren (vgl. Humani Generis; hier wird schließlich auch deutlich gemacht, dass es zu dieser Zeit keine nicht an der Ursünde beteiligten, später nicht von der Erbsünde betroffenen „paradiesischen“ Menschen gab); sie werden sogar persönlich als Heilige verehrt.  Was, wenn die Genforschung nachweisen würde, dass die Population, von der wir abstammen, nie klein genug gewesen sein kann? Auch dafür gäbe es mögliche Erklärungen. Ich verlinke hier mal eine Übersetzung eines Auszugs aus dem Aufsatz eines Theologen, der sich mit genau diesem Problem befasst. (Hier lässt sich das Original herunterladen.) Allerdings ist nach dem jetzigen Forschungsstand die Abstammung von einem einzelnen Paar sehr wohl im Bereich des Möglichen.

Irgendwann einmal gab es also diese ersten Menschen. Sicher entwickelten sich zuerst die Menschenaffen, von denen wir abstammen, immer weiter, entwickelten ein größeres Gehirn, vielleicht auch schon eine aufrechte Gehweise und dergleichen, vielleicht unterschieden sie sich schon in einigen Dingen von den meisten anderen Tieren. Aber ein intelligentes Tier ist noch kein Mensch. Irgendwann aber schuf Gott dann die ersten menschlichen Seelen in zwei Nachkommen solcher intelligenter Tiere. Vielleicht unterschieden sie sich in Körperbau, Intelligenz etc. auch noch von den modernen Menschen (unter denen es ja ebenfalls große Unterschiede gibt), aber in ihrer Seele waren sie Menschen. Wann genau das war, ist egal; wenn ich raten müsste, würde ich mit meinen laienhaften Kenntnissen einfach auf den homo erectus als ersten Menschen tippen.

(Rekonstruktion eines Homo erectus)

Jetzt lesen wir in Genesis 2, dass diese ersten Menschen im Paradies lebten. Dass das Paradies keinen Ort, sondern mehr einen Zustand bezeichnet, kann man nach diesen Versen vermuten: „Dann pflanzte Gott, der HERR, in Eden, im Osten, einen Garten und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der HERR, ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und köstlich zu essen, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen. Der Name des ersten ist Pischon; er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt. Das Gold jenes Landes ist gut; dort gibt es Bdelliumharz und Karneolsteine. Der Name des zweiten Stromes ist Gihon; er ist es, der das ganze Land Kusch umfließt. Der Name des dritten Stromes ist Tigris; er ist es, der östlich an Assur vorbeifließt. Der vierte Strom ist der Eufrat.“ (Genesis 2,8-14) Einem modernen Leser fällt hier wohl nicht viel auf – einem antiken Leser eher. Nehmen wir die beiden Flüsse, die die meisten Leser noch kennen werden: Euphrat und Tigris. Anhand dieser beiden Flüsse müsste man den Garten Eden dann ungefähr im heutigen Irak lokalisieren. Nun ja – wenn nicht im vorigen Vers das Land Kusch erwähnt werden würde, das etwa dem heutigen Sudan mit Teilen des heutigen Äthiopien entspricht. Selbst wer sich in Geographie nicht so gut auskennt, wird zugeben, dass das nicht zusammenpasst. Und auch im eisenzeitlichen Kanaan wusste man sehr wohl, dass Afrika in einer anderen Himmelsrichtung liegt als das Zweistromland. Flüsse von verschiedenen Rändern der den Israeliten bekannten Welt werden zusammen erwähnt, vermutlich deshalb, weil der Garten Eden nicht an einem bestimmten Ort lag, sondern einen anderen Zustand der ganzen Welt meint. (Das ist freilich nicht die einzige Erklärung; vielleicht gab es auch ein anderes Land, das auch Kusch genannt wurde.)

Oder dass der Mensch außerhalb des Paradieses geschaffen und dann dort hinein gebracht wird: Das bedeutet, dass das, was das Paradies ausmacht (also z. B. kein Altern, keine Krankheiten, kein Tod, direkte Kommunikation mit Gott), „übernatürliche Gnadengaben“ Gottes sind, d. h. nichts, was natürlicherweise der Spezies Mensch zu eigen ist, sondern etwas, das über ihre Natur hinausgeht und ihnen zusätzlich zu ihrer Natur geschenkt wurde. In der Natur gab es auch vor dem menschlichen Sündenfall schon die Not, das Leid und den Tod der Tiere. (Wobei die Unvollkommenheit der natürlichen Welt auch wiederum mit dem noch vor ihrer Erschaffung liegenden Sündenfall eines Teils der Engel zusammenhängt – aber das führt jetzt zu weit.) Auch dass Gott zu Adam sagt: „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen“ (Genesis 2,16) wurde von den Theologen traditionellerweise symbolisch interpretiert, dahingehend, dass dem Menschen jede Kunst und Wissenschaft offen stand, mit der er sich beschäftigen mochte – eben bis auf die Sache mit der „Erkenntnis von Gut und Böse“ (Genesis 2,17); dazu gleich. Oder auch dass Adam und Eva „hörten, dass sich Gott, der HERR, beim Tagwind im Garten erging“ (Genesis 3,8) – da kann man wohl mit Fug und Recht annehmen, dass damit nicht gemeint ist, dass Gott im buchstäblichen Sinne in einem Garten spazieren ging, als sich die Menschen nach ihrer Sünde vor ihm zu verstecken versuchten; nein, in der damaligen Zeit hatten die Menschen einfach noch eine größere Nähe zu Gott, sie lebten praktisch mit Ihm zusammen im Paradies, und nach ihrer Sünde ertrugen sie diese Nähe nicht mehr.

Auch die Verschiedenheit der Schöpfungsberichte in Genesis 1 und 2 an sich ist schon interessant: In Genesis 1 werden Pflanzen und Tiere zuerst erschaffen und der Mensch (ausdrücklich als Mann und Frau) schließlich zuletzt als Krönung des Ganzen; in Genesis 2 dagegen wird zuerst der Mann erschaffen, dann macht Gott ihm mit sämtlichen Pflanzen einen Lebensraum, dann erschafft Er ihm zur Gesellschaft die Tiere – „Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen ebenbürtig war, fand er nicht.“ (Genesis 2,20) – und daraufhin dann schließlich die Frau aus der Rippe des Mannes – „Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie genannt werden; denn vom Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und hängt seiner Frau an und sie werden ein Fleisch.“ (Genesis 2,23-24). Diese Berichte passen auf der wörtlichen Ebene nicht ganz zusammen, und es ist anzunehmen, dass das den Autoren der Bibel, die diese beiden Texte zusammenstellten, nicht ganz entgangen sein kann; aber sie stellten sie trotzdem zusammen, um die verschiedenen Dinge zu verdeutlichen, die die beiden Berichte aussagen.

Wie soll man sich den paradiesischen Zustand vorstellen, in dem die ersten Menschen lebten? Wir können uns dem nur annähern. Ich möchte hier schon wieder C. S. Lewis zitieren:

Was genau geschah, als der Mensch fiel, wissen wir nicht. Aber wenn es erlaubt ist zu raten, dann biete ich folgendes Bild an – einen „Mythos“ im sokratischen Sinn (d. h. einen Bericht von dem, was ein historisches Ereignis gewesen sein kann; nicht zu verwechseln mit „Mythos“ in dem Sinn von Dr. Niebuhr, welcher darunter die symbolische Repräsentation einer nicht-historischen Wahrheit versteht), eine nicht unwahrscheinliche Geschichte.

 Durch lange Jahrhunderte vervollkommnete Gott die tierische Gestalt, die der Träger des Menschseins und das Ebenbild Seiner Selbst werden sollte. Er gab ihr Hände, deren Daumen jedem der Finger entgegengestellt werden konnte, sowie Kiefer, Zähne und Kehle zur Artikulation; ein Gehirn, differenziert genug, all jene Funktionen zu steuern, die vernünftiges Denken ausmachen. Das Geschöpf mag, ehe es Mensch wurde, schon während ganzer Epochen in diesem Zustand existiert haben; es mag sogar begabt genug gewesen sein, Dinge herzustellen, die ein moderner Anthropologe als Beweis dafür ansehen würde, dass es sich um einen Menschen handelte. Aber es war dennoch ein Tier, weil alle physischen und psychischen Abläufe auf rein materielle und naturhafte Ziele gerichtet waren. Dann – in der Fülle der Zeit – ließ Gott auf diesen Organismus, auf beides, Seele wie Leib, eine neue Art von Bewusstsein herabsteigen, welchen sagen konnte „Ich“ und „mich“; welches sich selber wie einen fremden Gegenstand betrachten konnte, welches von Gott wusste, welches über Wahrheit, Schönheit und Gutheit zu urteilen vermochte und welches so sehr über der Zeit stand, dass es ihr Verstreichen wahrnehmen konnte.

 Dieses neue Bewusstsein beherrschte und erleuchtete – jeden Winkel mit Licht durchflutend – den ganzen Organismus und war nicht wie unser Bewusstsein beschränkt auf einige wenige Regungen, wie sie in einem einzigen Teil des Organismus sich ereignen, im Gehirn. Der Mensch war damals ganz und gar Bewusstsein. Der Jogi unserer Tage nimmt zu Recht oder Unrecht für sich in Anspruch, er habe jene Funktionen wie Verdauung und Blutzirkulation unter seiner Kontrolle, die für uns schon fast ein Teil der Außenwelt sind. Diese Kraft besaß der erste Mensch in überragendem Maß. Seine organischen Abläufe gehorchten dem Gesetz seines Willens, nicht dem Gesetz der Natur. […] Da Verfall und Wiederherstellung in seinen Geweben ähnlich bewusst und gehorsam geschahen, mag es keine Phantasterei sein, anzunehmen, dass die Länge seines Lebens weithin in seinem eigenen Ermessen stand.

 Da er vollkommen über sich verfügte, verfügte er auch über alle niederen Lebewesen, mit denen er in Berührung kam. Noch heute begegnen wir seltenen Persönlichkeiten, die eine geheimnisvolle Macht besitzen, Tiere zu zähmen. Dieser Kraft erfreute sich der paradiesische Mensch in höchstem Maß. Die alten Bilder von den wilden Tieren, die Adam umspielen und umschmeicheln, sind vielleicht nicht ganz und gar symbolisch. […]

 Für einen solchen Menschen war Gott keine schlüpfrige, schiefe Ebene. Das neue Bewusstsein war erschaffen worden, damit es in seinem Schöpfer ruhe, und es ruhte in der Tat in Ihm. Wie reich und vielfältig auch die Erfahrung des Menschen mit seinen oder seinem Gefährten in Zuneigung und Freundschaft und geschlechtlicher Liebe war oder auch mit den Tieren oder mit der ihn umgebenden Welt, welche damals zum erstenmal als schön und schauererregend erkannt wurde – dennoch hatte in seiner Liebe und in seinem Denken Gott den ersten Platz. Dazu bedurfte es keiner schmerzhaften Anstrengung. In vollkommen geschlossenem Ring kamen Sein, Kraft und Freude von Gott aus auf den Menschen herab und kehrten vom Menschen zu Gott zurück in Gestalt gehorsamer Liebe und hingerissener Anbetung. Zumindest in dieser Hinsicht war der Mensch wahrhaftig Sohn Gottes, in Freude und Selbstvergessenheit alle jene Fähigkeiten und alle Sinne kindlich hinzugeben, so wie es der Herr im Todesleiden am Kreuz dann vollendet hat. […]

 Wir wissen weder, wie viele von diesen Geschöpfen Gott erschaffen hat, noch wie lange sie in dem paradiesischen Zustand verblieben. Aber früher oder später kamen sie zu Fall. Irgend jemand oder irgend etwas flüsterte: sie könnten wie Götter werden, sie könnten aufhören, ihr Leben auf ihren Schöpfer zu richten und all ihre Wonnen als ungeschuldete Gabe hinzunehmen, als buchstäblich „Zu-Gefallenes“, sich ereignend im Laufe eines Lebens, das bisher nicht jenen Entzückungen zugewandt war, sondern der Anbetung Gottes. […] Sie wollten, wie man sagt, „ihre Seele zu eigen haben“.

 Das aber heißt eine Lüge leben; denn unsere Seele ist tatsächlich nicht unser eigen. Sie wollten einen Winkel im Universum, von dem her sie zu Gott sprechen könnten: „Dies ist unsere Angelegenheit, nicht Deine.“ Solch einen Winkel aber gibt es nicht. […]

 Wir haben keine Vorstellung davon, in welchem Akt oder in welcher Aktfolge dieser in sich selbst widerspruchsvolle, unmögliche Wunsch zum Ausdruck gekommen ist. Soweit ich sehe, könnte es buchstäblich mit dem Essen einer Frucht zu tun gehabt haben; aber die Frage ist von geringerer Bedeutung. Dieser Akt des Eigenwillens von seiten des Geschöpfes, diese äußerste Verfälschung seiner wahren geschöpflichen Stellung ist die einzige Sünde, die als „Fall“ des Menschen gedacht werden kann. Die Schwierigkeit ist, dass die erste Sünde einerseits etwas sehr Hassenswertes gewesen sein muss (sonst könnten ihre Folgen nicht so schrecklich sein) und dennoch so begehrenswert, dass ein Wesen, welches frei war von den Versuchungen des gefallenen Menschen, sie begangen haben kann.

 Die Abwendung von Gott hin zum Selbst erfüllt beide Bedingungen. Sie ist eine Sünde, die auch dem paradiesischen Menschen möglich war; denn die bloße Tatsache eines Selbst, die bloße Tatsache, dass wir es „Ich“ nennen, birgt von Anfang an die Gefahr der Selbstvergötterung in sich. Nachdem ich ein Ich bin, muss ich – und sei er noch so winzig und noch so leicht – einen Akt der Selbst-Hingabe vollziehen, um mehr für Gott zu leben als für mich selbst. Dies ist, wenn du willst, der „schwache Punkt“ im Wesen der Schöpfung selbst; das Risiko, von dem aber Gott offenbar der Meinung ist, es lohne sich.

 Die Sünde war außerdem etwas sehr Hassenswertes, weil das Selbst, welches der paradiesische Mensch hinzugeben hatte, keinen natürlichen Widerstand gegen diese Hingabe in sich verspürte. […] Die Selbsthingabe, die er vor dem Sündenfall vollzog, war für den Menschen kein Kampf, sondern nur die köstliche Überwindung einer unendlich kleinen Selbstanhänglichkeit, deren Entzücken es war, überwunden zu werden – wovon wir noch jetzt ein blasses Abbild in der verzückten Selbsthingabe der Liebenden aneinander erkennen.

 Der paradiesische Mensch war also nicht in unserem Sinne „versucht“, das Selbst zu wählen. Es gab kein Verlangen und keine Neigung, die hartnäckig in diese Richtung gewiesen hätten; es gab nichts als die bloße Tatsache, dass er selbst ein Selbst war.

 Bis zu diesem Augenblick hatte der menschliche Geist die volle Kontrolle über den menschlichen Organismus gehabt. Zweifellos erwartete er, dass er diese Kontrolle behalten würde, auch als er aufgehört hatte, Gott zu gehorchen. Aber seine Vollmacht über den Organismus war eine übertragene Vollmacht, die er verlor, als er aufhörte, Gottes Bevollmächtigter zu sein. Indem der menschliche Geist sich, soweit er konnte, selbst abschnitt von der Quelle seines Seins, schnitt er sich ab von der Quelle der Kraft. Denn wenn wir von geschaffenen Dingen sagen, dass A über B herrscht, sagen wir damit eigentlich, dass Gott durch A über B herrscht.

 Ich frage mich, ob es für Gott innerlich möglich gewesen wäre, weiterhin durch den menschlichen Geist den Organismus zu regieren, nachdem der menschliche Geist gegen ihn revoltiert hatte. Jedenfalls tat Er es nicht. Er begann, den Organismus auf eine mehr äußerliche Weise zu regieren, nicht durch die Gesetze des Geistes, sondern durch die Naturgesetze. (Dies ist eine Weiterentwicklung aus Hookers Begriff des Gesetzes. Deinem Eigen-Gesetz – d. h. dem Gesetz, das Gott eigens für ein Wesen wie dich macht – nicht gehorchen, heißt: Du stellst fest, dass du einem der niederen Gesetze Gottes gehorchst. Wenn du z. B. auf einem schlüpfrigen Pflaster gehst und das Gesetz der Vorsicht außer acht lässt, merkst du plötzlich, dass du dem Gesetz der Schwerkraft gehorchst.) So gerieten die Organe, da sie nicht länger vom menschlichen Willen regiert wurden, unter die Kontrolle der gewöhnlichen biochemischen Gesetze und hatten hinzunehmen, was immer die Auswirkungen jener Gesetze mit sich brachten: Schmerz, Alter und Tod. Und die Begehrungen begannen hinaufzudringen in des Menschen Geist, nicht wie seine Vernunft sie wählte, sondern wie die biochemischen Gegebenheiten und die Umwelt sie gerade zufällig verursachten. Und der Geist selber geriet unter die psychologischen Gesetze der Assoziation und dergleichen, welche Gott gemacht hatte, das Seelenleben der höheren Anthropoiden zu regeln. Und der Wille, gefangen in der Gezeitenwoge des rein Naturhaften, hatte nun keine andere Möglichkeit mehr, als durch bloße Gewalt einige von den neuen Gedanken und Begierden zurückzutreiben. Und diese ungemütlichen Rebellen wurden „das Unbewusste“, wie wir es jetzt kennen.

 Das war, so meine ich, nicht ein bloßer Entartungsvorgang, wie er auch heute in einem menschlichen Individuum sich zutragen mag; es war ein Rangverlust für die ganze Spezies. Was der Mensch durch den Sündenfall verlor, war seine ursprüngliche spezifische Natur. […] Aber diese Einschränkung der Machtsphäre des Geistes war von geringerem Übel als der Verderb des Geistes selbst. Er hatte sich von Gott abgewendet und war zu seinem eigenen Idol geworden, so dass er sich zwar noch zu Gott zurückzuwenden vermochte, aber doch nur mit schmerzhafter Anstrengung; seine Neigung zielte „selbstwärts“. […] Stolz und Ehrgeiz; der Wunsch, liebenswert zu sein in seinen eigenen Augen und alle Rivalen zu unterdrücken und zu demütigen; Neid und ruheloses Suchen nach mehr und immer mehr Sicherheit – das war von nun an die Haltung, die ihm am leichtesten fiel. Er war nicht nur ein schwacher König über seine eigene Natur, sondern ein schlechter; er sandte in den psychologischen Organismus weit schlimmere Begierden hinab, als der Organismus zu ihm hinaufsandte.“ (C. S. Lewis, Über den Schmerz, S. 75-82)

Jetzt noch zur genaueren Ausdeutung der biblischen Geschichte vom Sündenfall. Was bedeutet zum Beispiel der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse? Wollte Gott einfach nicht, dass Adam und Eva über das Gute und das Böse Bescheid wissen?

Eine Deutung, die man häufig hört, ist, dass der Baum für den Wunsch steht, Gut und Böse selbst festsetzen zu wollen, selbst zu bestimmen, was gut ist und was böse. Eine andere, die ich persönlich mit Bezug auf den biblischen Sprachgebrauch auch ganz überzeugend finde, ist diese: „Übrigens bedeutet das Wort Erkenntnis hier ‚Erfahrung’. Gott wollte uns von der Erkenntnis von Gut-und-Böse fernhalten, die davon kommt, es zu erleben und zu schmecken (daher das Bild des Essens einer Frucht), nicht von der Erkenntnis, die es versteht. Dasselbe Wort wird in Genesis 4 für Geschlechtsverkehr gebraucht: Adam ‚erkannte’ Eva, und das Ergebnis war kein Buch, sondern ein Baby.“ (Peter Kreeft, You can understand the Bible, S. 13f., Übersetzung von mir) Die Menschen hatten Angst, dass ihnen etwas entginge, wenn sie das, was „böse“ genannt wurde, nicht selbst auch einmal ausprobierten, sie meinten, Gott enthalte ihnen etwas vor, wie die Schlange (ein Bild für den Teufel, den mächtigsten der gefallenen Engel) ihnen einreden wollte – man beachte die Frage, mit der die Schlange das Gespräch mit Eva beginnt: „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?“ (Genesis 3,1) Sie lenkt den Blick auf das, was verboten worden ist. Als Eva dann antwortet, dass Gott ihnen nur einen Baum verboten habe, facht die Schlange das Misstrauen gegen Gott weiter an: „Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.“ (Genesis 3,4f.) Bei der Erbsünde, hat Benedikt XVI. gesagt, muss man verstehen, „dass wir alle einen Tropfen des Giftes von jener Denkweise in uns tragen, wie sie in den Bildern aus dem Buch Genesis veranschaulicht wird. […] Der Mensch vertraut nicht auf Gott. Von den Worten der Schlange verführt, hegt er den Verdacht, dass […] Gott ein Konkurrent sei, der unsere Freiheit einschränke, und dass wir erst dann im Vollsinn Menschen sein würden, wenn wir Gott zurückgesetzt haben […] Der Mensch will seine Existenz und die Fülle seines Lebens nicht von Gott empfangen […] Und indem er das tut, vertraut er der Lüge statt der Wahrheit und stürzt so mit seinem Leben ins Leere, in den Tod.“ (Benedikt XVI., 08.12.05, zitiert nach „Youcat – Jugendkatechismus der katholischen Kirche“, S. 50).

Aber der Teufel ist ein Mörder von Anfang an und der Vater der Lüge (vgl. Johannes 8,44), und keine guten Folgen kamen für die Menschen aus der Ursünde. Sie empfinden Scham und Furcht, und als Gott sie konfrontiert, versuchen sie die Schuld von sich abzuschieben. „Der Mensch antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. So habe ich gegessen. Gott, der HERR, sprach zu der Frau: Was hast du getan? Die Frau antwortete: Die Schlange hat mich verführt. So habe ich gegessen.“ (Genesis 3,12f.) Man beachte auch Adams genaue Formulierung: Die Frau, die du mir beigesellt hast – im Endeffekt ist es ja Gottes Schuld!

Dann wurden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben. Auf das Wieso ist C. S. Lewis in dem oben zitierten Abschnitt schon etwas eingegangen, aber ich möchte noch ein paar Gedanken dazu hinzufügen: Gott wollte die Menschheit nach ihrem selbstverschuldeten Fall wieder retten, und er wusste, dass es ihr nun nicht mehr gut getan hätte, weiterhin im Paradies zu leben. Medizin schmeckt nicht immer angenehm. Arbeit, Schmerz und Tod, die Strafe für die Sünde, sollten zum Weg der Erlösung gehören – sie gehörten auch zu dem menschlichen Leben, das Gott selbst bei Seiner Menschwerdung auf sich nahm, um die Menschen zu erlösen. Würde es der Menschheit in ihrem heutigen moralischen Zustand denn wirklich gut tun, wenn sie Arbeit, Schmerz und Tod nicht kennen würde? Krankheiten und Schwierigkeiten sind auch Anreize zum gegenseitigen Mitgefühl und zur gegenseitigen Hilfe, und der Tod ist Anreiz dazu, auch mal an Gott zu denken und daran, dass man vielleicht auch mal für sein Leben Rechenschaft ablegen wird müssen, oder zumindest daran, dass man nur eine begrenzte Zeit auf Erden hat und sich überlegen sollte, was man mit dieser Zeit eigentlich anfangen will. Die gefallene Menschheit braucht solche Anreize vielleicht. Leider.

Hier könnte ich einen Vergleich mit dem – inzwischen leider verstorbenen – Kater meiner Familie anbringen: Der Arme bekam jedes Mal, wenn man ihn in seinen Korb sperrte, furchtbare Angst, weil er dann wusste, dass es wieder mal zum Tierarzt ging, und da erwarteten ihn solche scheußlichen Dinge wie Spritzen, Verbände und Halskrausen (er ließ immer furchtbar den Kopf hängen, wenn er ein paar Tage oder Wochen lang eine Halskrause tragen musste); aber wenn wir ihn nicht regelmäßig zum Tierarzt gebracht hätten, hätte er kein so langes Leben gehabt, wie er es letztlich hatte – so gern, wie er mit den Nachbarskatzen raufte, und so oft, wie sich seine Wunden dann auch noch entzündeten. (Das ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie etwas gleichzeitig Strafe für ein eigenes Fehlverhalten und Mittel zur Wiedergutmachung und Heilung sein kann. Hätte unser Kater nicht gerauft, hätte er auch nicht zum Tierarzt gemusst, aber wir haben ihn trotzdem nicht dahin gebracht, um ihn fürs Raufen zu bestrafen, sondern um ihn von den Folgen zu heilen. Wenn er aus dieser „Strafe“ fürs nächste Mal was lernte – was er wahrscheinlich nicht tat –, umso besser.)

Soweit meine Gedanken zur Schöpfung, zu Adam, Eva und dem Sündenfall.

[Bevor ich jetzt zu den restlichen acht Kapiteln komme, noch ein Exkurs zu einer speziellen Schwierigkeit: Wenn wir davon ausgehen, dass es am Anfang der Menschheitsgeschichte nur ein Menschenpaar gab, dann stellt sich automatisch das Problem, dass es dann in den ersten Generationen Inzest gegeben haben muss, sprich, dass Adams und Evas Söhne ihre eigenen Schwestern heirateten, und deren Kinder dann ihre Cousins und Cousinen. (Laut Genesis 5,4 hatten Adam und Eva noch mehr Kinder als bloß Kain, Abel und Set; das Problem fehlender Schwestern stellt sich also nicht.)

Dazu könnte man nun einfach ganz kurz sagen, dass Gott das eben in diesem Ausnahmefall erlaubte und später nicht mehr. Dazu müsste dann aber das Verbot der Geschwisterehe kein absolut unveränderliches naturrechtliches Verbot sein (wie z. B. das Verbot der Scheidung oder des Ehebruchs), sondern ein Verbot des positiven (gesetzten) göttlichen Rechts (also ein Gebot, das Gott einfach so eingesetzt hat, obwohl er die Frage auch anders hätte regeln können; wie das Gebot, am siebten Tag der Woche zu ruhen, oder Brot und Wein für die Eucharistie zu verwenden), oder sogar bloß ein Verbot des positiven kirchlichen Rechts (wie das Beichtgeheimnis, oder das Verbot, ohne bischöfliche Sondergenehmigung einen Ungetauften zu heiraten). Ich bin hier schon darauf eingegangen, dass „gut“ grundsätzlich nicht einfach das ist, was Gott willkürlich für „gut“ erklärt hat, sondern dass Gott seinem Wesen nach gut ist, also keine in sich (naturrechtlich gesehen) schlechten Dinge befehlen kann und wird. Wenn Er aber nun am Anfang nur ein Menschenpaar geschaffen hat und von diesen Menschen wollte, dass sie fruchtbar sind und sich vermehren (Genesis 1,28), dann müsste das notwendigerweise heißen, dass Ehen zwischen Geschwistern etwas sind, das nicht naturrechtlich gesehen absolut immer in sich schlecht ist – oder?

Dazu ist es vielleicht erst einmal notwendig, sich anzusehen, wieso wir Inzest schlecht finden. (Das ist vielleicht sowieso notwendig, da es ja Menschen geben soll, die das nicht mehr so sehen.) Dazu wäre natürlich auch erst einmal noch die Frage zu klären, welche Beziehungen als Inzest klassifiziert werden sollten.

Erst einmal ein paar Vorüberlegungen zur rechtlichen Seite, bevor wir zur moralischen kommen:

Im jetzigen staatlichen deutschen Recht sind Ehen zwischen Cousin und Cousine und auch zwischen Onkel und Nichte oder Tante und Neffe erlaubt und gelten nicht als Inzest, im kirchlichen Recht dagegen sind solche Ehen noch verboten (CIC Can. 1091, § 2). Aber wenn man wegen der geplanten Eheschließung mit seiner Cousine ins Pfarramt geht und der Pfarrer dann den obligatorischen Brief mit der Bitte um Dispens vom Ehehindernis der Blutsverwandtschaft im vierten Grad der Seitenlinie an den Bischof schreibt, wird man diesen Dispens in aller Regel auch bekommen. Als Dispensgrund wird dann in der Regel so etwas wie „Gefahr ungültiger Eheschließung“ angegeben; sprich, ehe die Kirche die Gefahr in kauf nimmt, dass die beiden sich nur standesamtlich trauen lassen und aus kirchlicher Sicht ungültig verheiratet zusammenleben, gibt man eben die Genehmigung – man will die Leute ja nicht zur Sünde treiben. Der Paragraph im Codex des Kanonischen Rechts (Codex Iuris Canonici, kurz CIC) ist wahrscheinlich eher so etwas wie eine erinnernde Mahnung „Wir sehen das nicht gern; bitte liebe Katholiken, lasst das mit Beziehungen zu euren Cousins und Cousinen am besten (aber wenn ihr unbedingt wollt, dann lieber noch eine gültige Heirat mit eurem Cousin oder eurer Cousine als eine wilde Ehe)“.

In früheren Zeiten war das Kirchenrecht strenger. Im frühen Mittelalter etwa konnte es durchaus mal vorkommen, dass sich ein Bischof mit einem Fürst anlegte, weil der unbedingt seine Großcousine heiraten wollte und das der Kirche noch als zu nahe Verwandtschaft galt (s. etwa hier).

Was Geschwister angeht (zweiter Grad der Seitenlinie), oder, noch schlimmer, direkte Vorfahren oder Nachkommen, also Kinder, Enkel etc. (gerade Linie), also Beziehungen, die in Deutschland auch durch staatliches Recht verboten sind, da heißt es in CIC Can. 1078 § 3 ganz klar: „Vom Hindernis der Blutsverwandtschaft in der geraden Linie oder im zweiten Grad der Seitenlinie gibt es niemals Dispens.“ Allerdings habe ich – in einem Seminar über Kirchenrecht, glaube ich – einmal von folgendem Fall aus den 70ern gehört (vor Inkrafttreten des jetzigen CIC, der aus dem Jahr 1983 stammt; aber überhaupt kann ein Papst ja Bestimmungen des CIC außer Kraft setzen, wenn er will; ich denke, im vorigen CIC von 1917 wird es grundsätzlich ähnliche Bestimmungen gegeben haben wie im jetzigen): Da war ein Ehepaar, jahrelang verheiratet, mehrere Kinder; durch Zufall kam heraus, dass die Ehepartner Halbgeschwister waren – folglich war die Ehe automatisch ungültig. Der sel. Papst Paul VI. gab in diesem Fall Dispens, damit die Ehe doch noch gültig geschlossen werden konnte. Aus diesem Fall kann man nun mehrere mögliche Folgerungen ziehen: a) Das war eine gute Entscheidung, und der Papst hatte das Recht dazu, und die Ehe war dann gültig. b) Das war zwar keine gute Entscheidung, aber der Papst hatte das Recht dazu, und die Ehe war dann gültig. c) Das war keine gute Entscheidung, und der Papst hatte auch nicht das Recht dazu, da das Verbot der Geschwisterehe positiven göttlichen Rechts ist und Gott dem Papst nicht die Vollmacht übertragen hat, davon zu dispensieren, also war die Ehe dann trotz Dispens nicht gültig. d) Das war keine gute Entscheidung, und der Papst hatte auch nicht das Recht dazu, da das Verbot der Geschwisterehe natürlichen Rechts ist und niemand davon dispensieren kann, auch Gott nicht, wenn er wollte, was er nicht will, weil es ja Naturrecht ist (logisch), also war die Ehe dann trotz Dispens nicht gültig. In Fall c) und d) wäre die päpstliche Unfehlbarkeit wohl nicht tangiert, da dieses Dogma ja nicht garantiert, dass der Papst in jedem praktischen Einzelfall richtig entscheidet, sondern nur, dass er in seiner lehramtlichen Funktion keinen Fehler machen kann. Dazu, wie ich das interpretieren würde, weiter unten; aber hier nur mal das als Beispiel, wie die Kirche im Lauf ihrer Geschichte mit solchen Fällen schon umgegangen ist.

Es ist auch noch wichtig, zu wissen, dass auch Ehen mit Adoptivkindern bzw. -geschwistern und mit (verwitweten) Schwiegerkindern kirchenrechtlich verboten sind. Früher waren auch noch Ehen mit Schwägern oder Taufpaten verboten; aber hier ist die Kirche heutzutage etwas liberaler. Wie es in diesen Fällen in der Praxis mit Dispensen gehandhabt wird, weiß ich nicht; möglich sind sie.

Im Alten Orient war man bei der Definition von Inzest oft nicht so streng wie heute im Kirchenrecht. Ehen zwischen Cousin und Cousine oder Stiefgeschwistern oder mit einer verwitweten Schwägerin waren normal; auch im AT wird es als sogar vorbildlich angesehen, innerhalb der eigenen Sippe zu heiraten (anstatt sich noch eine Frau aus irgendeinem fremden Volk zu holen), oder seine verwitwete Schwägerin zur Frau zu nehmen, damit sie versorgt war. Und während das Gesetz des Mose Ehen mit Halbgeschwistern untersagte, kam so etwas in früheren Zeiten durchaus noch vor; um eins der bekanntesten Ehepaare aus der Bibel zu nehmen, Abraham und Sara waren Halbgeschwister – wirklich, steht so in Genesis 20,12, „Übrigens ist sie wirklich meine Schwester, die Tochter meines Vaters, doch nicht die Tochter meiner Mutter; so konnte sie meine Frau werden.“. Selbst noch zu König Davids Zeiten waren Ehen zwischen Halbgeschwistern offenbar trotz des Verbots in der Tora für die Israeliten nicht grundsätzlich undenkbar (vgl. 2 Samuel 13,13).

Aber was die Israeliten irgendwann mal taten, muss nicht automatisch auch moralisch vorbildlich gewesen sein, also jetzt zur moralischen Seite der Frage: Wieso ist Inzest schlecht? Wegen der größeren Gefahr, dass behinderte Kinder geboren werden? Das könnte man als Eugeniker glauben, aber nicht als Christ; sonst müsste man schließlich auch Behinderten die Ehe verbieten, was die Kirche nicht tut. Es ist sicher an sich kein schlechtes Motiv, lieber eine Ehe mit einem Partner einzugehen, mit dem man mit größerer Wahrscheinlichkeit gesunde Kinder bekommen würde als mit einem, mit dem man eher schwerkranke oder behinderte bekommen würde, aber an sich ist es kein so großes Übel, behindert oder krank zu sein, dass man sagen müsste, Menschen, bei denen ein Risiko behinderten oder kranken Nachwuchses besteht, dürften moralisch gesehen keine Kinder zeugen; wenn man dieses Prinzip logisch auf die Spitze treiben würde, müsste man sagen, niemand dürfte mehr Kinder bekommen, denn alle Kinder tragen die Krankheit der Erbsünde in sich und werden irgendwann leiden und sterben, und einige von ihnen werden auch dann schwerkrank und behindert sein, wenn das Risiko dafür eigentlich niedrig ist. Das kann also nicht der Grund sein, wenn man die Sache durchdenkt. Der Grund, warum Inzest schlecht ist, muss ein anderer sein.

Und das ist der hier: Es gibt im Leben verschiedene Arten von Beziehungen: Beziehungen zu Mutter, Vater, Geschwistern, Onkeln und Tanten, Nachbarn, Spielkameraden, Verhandlungspartnern in der internationalen Diplomatie, Arbeitskollegen, guten Freunden, angeheirateten Verwandten, Stiefkindern, Ehepartner, und so weiter und so fort. Die Vermischung der Kategorien ist nicht unbedingt gut; was in der einen Beziehung gut ist, ist in der anderen nicht gut. Zum Beispiel ist gegenüber Geschäftspartnern größere Höflichkeit und Zurückhaltung am Platz als gegenüber Geschwistern; das ist ganz normal und dient dem Schutz beider spezifischer Arten von Beziehungen.

Das Ehekonzept der Kirche, auf dem sie vor allem in früheren Jahrhunderten relativ streng bestand, ist nun ein Konzept der Exogamie (im Gegensatz zur Endogamie, wie sie im Alten Orient noch stärker typisch war): Ehe und Blutsfamilie sind etwas Verschiedenes; man sucht sich seinen Ehepartner am besten nicht innerhalb der eigenen Blutsverwandtschaft, sondern außerhalb. Wenn man einen Ehepartner suchen will, muss man aus der eigenen Familie hinausschauen, eine neue Bindung eingehen und so eine eigene, neue Familie begründen. Das ist gegen eine Verschlossenheit einer Sippe in sich gewandt. Und damit ist die Kirche auch klar für die Unterschiedenheit der Kategorien Blutsverwandtschaft vs. Ehe. Ich sollte nicht mit einem Bruder, mit dem ich von klein auf aufgewachsen bin, jetzt auch noch eine Ehe eingehen. Diese Beziehungen haben unterschieden zu sein. Innerhalb einer Familie sollte man gar nicht an mögliche Liebesbeziehungen denken; diese Beziehungen sollten stabile Beziehungen nicht-sexueller Zuneigung und gegenseitiger Verantwortung sein, unabhängig von irgendwelchen amourösen Verwicklungen.

Aber ich denke mal, noch wesentlich deutlicher als bei einer Geschwisterbeziehung ist es bei einer anderen Art von Beziehung, wieso Inzest schlecht ist: Bei der Verwandtschaft in der geraden Linie, d. h. etwa bei einem Vater und seiner Tochter oder einer Mutter und ihrem Sohn. Ein Gedanke an eine sexuelle Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist ein geradezu ekelerregender. Um genauer auszuformulieren, wieso, auch wenn das vielleicht nicht unbedingt nötig ist: Ein Vater ist dazu da, sich um seine Tochter zu kümmern, sie großzuziehen, sie zu erziehen, ihr Dinge beizubringen; eine Vater-Tochter-Beziehung ist eine wesentlich asymmetrische – im Idealfall geprägt von Vertrauen und Respekt auf der einen und Fürsorge, Zuwendung und ggf. auch Strenge auf der anderen Seite; auf einer solchen Basis kann, selbst wenn beide Teile erwachsen sind, unmöglich eine gute Ehe – eine wesentlich partnerschaftliche Beziehung – aufgebaut werden. Und natürlich ist das Tabu einer sexuellen Beziehung zwischen Eltern und Kindern auch ein Schutz vor Missbrauch in der Kindheit. Schließlich sind Eltern hauptsächlich dafür da, ihre Kinder in deren Kindheit auf das weitere Leben vorzubereiten und leben nach der Kindheit nicht mehr automatisch mit ihnen zusammen. Die Gelegenheit für Inzest in der geraden Linie wäre also auch noch gerade da am größten, wo einer der beiden Beteiligten für keine Art von sexuellen Beziehungen reif ist. Eine Eltern-Kind-Beziehung hat keine sexuelle Beziehung zu sein, weder, wenn die Kinder minderjährig, noch wenn sie erwachsen sind. Ich denke, bis auf ein paar Hardcore-Inzest-Apologeten wird mir hier die ganze Menschheit ohne Probleme zustimmen können.

Hier wird auch deutlich, wieso auch Beziehungen mit Adoptivgeschwistern oder -kindern nicht gut und vom Kirchenrecht untersagt sind: Wenn eine familiäre Beziehung besteht, dann hat eine sexuelle da ganz einfach nichts zu suchen, auch wenn die familiäre Beziehung nicht auf Blutsverwandtschaft beruht. Hier könnte man dann natürlich in der entgegengesetzten Richtung argumentieren, dass dann ja Beziehungen zwischen Blutsverwandten, die nicht wussten, dass sie blutsverwandt sind und/oder nicht zusammen aufgewachsen sind (der bekannteste Fall wäre wohl der aus der griechischen Sage von Ödipus und seiner Mutter Iokaste), nicht schlecht sein könnten, weil das dann keine wirklichen familiären Beziehungen wären. Aber das stimmt einfach nicht. „Blut ist dicker als Wasser“, heißt es, und ich denke, das macht Sinn – man merkt es selber, sobald man erfährt, dass jemand, den man gerade kennenlernt, mit einem verwandt ist (und wenn nur ganz entfernt verwandt), behandelt man sich schon ganz anders. Blutsverwandtschaft sorgt für eine wirkliche Beziehung; auch, wenn man sich nicht wirklich kennt. Deshalb ist auch eine Liebesbeziehung zu, z. B. einem Adoptivbruder nicht so schlimm wie zu einem leiblichen und man kann theoretisch auch von der Kirche dafür Dispens bekommen; eine familiäre Beziehung zwischen Adoptivgeschwistern ist immer, zwangsläufig, – Entschuldigung an alle adoptierten Menschen, aber das wird immer so sein, auch wenn man es nicht will – eine etwas andere Beziehung als zwischen leiblichen Geschwistern. Natürlich kann es – etwa wenn es um die moralische Beurteilung einer Liebesbeziehung zwischen Adoptivgeschwistern geht, die sich entwickelt hat, auch wenn sie eigentlich nicht ideal ist und nicht da sein sollte – auch einen sehr großen Unterschied machen, ob man z. B. seine Adoptivgeschwister erst kennengelernt hat, als sie und man selber schon älter waren, oder ob man von Anfang an gemeinsam aufgewachsen ist.

Ich denke, es ist ziemlich klar, dass das Verbot des Inzests in der geraden Linie eindeutig in die Kategorie des Naturrechts fällt, also in die Kategorie des von Natur aus in sich Schlechten. Aber: Ich kann mir durchaus Gründe dafür denken, dass Geschwisterinzest in die Kategorie des Naturrechts-mit-Ausnahmen oder des positiven göttlichen Rechts oder sogar bloß des positiven kirchlichen Rechts fällt. Dazu möchte ich, damit ich hier nicht missverstanden werde, noch einmal auf zwei oben erwähnte Beispiele zurückgreifen.

Nehmen wir das Gebot der Sabbatruhe: Es ist nicht nur eine willkürliche Anordnung, sondern macht eindeutig auch (naturrechtlich) Sinn, einen bestimmten regelmäßigen Ruhetag zu haben, an dem alle Menschen sich von ihrer Arbeit ausruhen, durchatmen, und sich mehr als sonst auf Gott und auf ihre Familie konzentrieren. Dass das alle sieben Tage an genau diesem Tag sein soll, das ist zwar eine mehr oder weniger willkürliche (positive, d. h. vom Gesetzgeber einfach gesetzte) Anordnung, aber die Anordnung an sich macht sehr viel Sinn. Aber auch unabhängig von der Frage nach dem speziellen Tag ist Arbeit am Ruhetag nicht immer automatisch von Natur aus in sich schlecht. Es kann Ausnahmen geben, zum Beispiel, wenn man als Feuerwehrmann oder Ärztin arbeitet. Diese Ausnahmen sind auch eigentlich von vornherein in der Regel mit bedacht. Aber trotzdem sollte jeder, dem das irgendwie möglich ist, gewisse feste Ruhetage haben – wenn das, zum Beispiel wegen des Berufs, nicht immer der Sonntag sein kann, dann eben mal ein anderer Tag. Aber auch wenn jemand, dem zum Beispiel sein ausbeuterischer Arbeitgeber eine Sieben-Tage-Woche aufzwingt, aus diesem Grund überhaupt keinen regelmäßigen Ruhetag haben kann, dann sündigt dieser Mensch nicht automatisch dadurch, dass er sieben Tage die Woche arbeitet. Das Sabbatgebot wäre also insoweit eine Mischung aus Naturrecht-mit-Ausnahmen und positivem göttlichem Recht.

Zum Begriff Naturrecht-mit-Ausnahmen: Es gibt Dinge, die sind immer in sich schlecht (z. B. direkte Tötung eines unschuldigen Menschen) und Dinge, die sind in der Regel schlecht, aber in bestimmten Ausnahmen erlaubt (z. B. Tötung eines Menschen – Beispiel für eine Ausnahme: Notwehr gegen einen Menschen, der versucht, mich umzubringen, und den ich auf andere Weise nicht unschädlich machen kann; das ist dann ja kein unschuldiger Mensch). Diebstahl ist in der Regel schlecht, aber „Mundraub“ (d. h. Diebstahl von Essen, ohne das man verhungern, Diebstahl von Kleidung oder Kohlen, ohne die man erfrieren würde) kann erlaubt sein (es sei denn zum Beispiel, man bestiehlt Menschen, die ebenfalls am Verhungern oder Erfrieren sind).

Ich denke, in eine ähnliche Kategorie wie diese Beispiele fällt (anders als der Eltern-Kind-Inzest) wahrscheinlich auch der Geschwisterinzest. An sich macht es naturrechtlich sehr viel Sinn, ihn zu verbieten; es macht Sinn, zu sagen, Beziehungen zwischen Geschwistern sollten nicht dasselbe wie Beziehungen unter Ehepartnern sein, eine Familie ist absolut nicht der Ort für amouröse Verwicklungen und Liebesbeziehungen, die Möglichkeit sexueller Beziehungen zu Familienmitgliedern sollte von vornherein tabu sein, um diese Beziehungen zu schützen, seinen Ehepartner sollte man sich außerhalb der eigenen Sippe suchen; ich würde mal einfach spekulieren, dass das Verbot des Geschwisterinzests ins Naturrecht-mit-sehr-sehr-seltenen-Ausnahmen oder unters positive göttliche Recht fällt (oder in eine Mischkategorie, wie das Sabbatgebot), auch wenn der Papst von Gott die Vollmacht dazu erhalten hat, für Katholiken theoretisch davon dispensieren zu können, auch wenn er das normalerweise nie tut. (Vgl. den Fall aus den 70ern – so würde ich das interpretieren.)

Ich würde also sagen, es ist nicht undenkbar, dass es einmal in einer sehr, sehr seltenen Situation eine legitime Ausnahme davon gegeben haben kann, nämlich eben in der Situation, dass die ganze Menschheit aus einer einzigen Familie bestand und man sich seinen Ehepartner gar nicht außerhalb der Familie suchen konnte. (Hier versäumte man es also auch nicht, über seine eigene Familie hinauszuschauen und Verbindungen mit anderen Menschen anzuknüpfen.) Ebenso, wie es an sich besser ist, nicht seine Cousine zu heiraten, es aber auch für einen Katholiken nicht zwangsläufig in jeder Situation eine Sünde sein muss, eine Beziehung mit seiner Cousine anzufangen. Oder, wie es an sich besser ist, nicht einen Ungetauften zu heiraten (auch da braucht man wieder Dispens vom Bischof, von wegen Ehehindernis der Religionsverschiedenheit), es aber auch nicht in jeder Situation zwangsläufig eine Sünde für eine Katholikin sein muss, eine Beziehung mit einem Ungetauften anzufangen. So würde ich auch sagen: Geschwisterinzest ist absolut tabu, aber er wird offensichtlich vor langer Zeit einmal in einer Ausnahmesituation von Gott erlaubt worden sein.]

Die nächste Erzählung im Buch Genesis handelt von Kain und Abel, den beiden Söhnen Adams und Evas, von Kains Mord an Abel. Dann geht es um Kains Nachfahren, es kommt eine kurze Geschichte über seinen Nachfahren Lamech, dann kommen weitere Ahnenlisten, dann eine etwas rätselhafte Stelle, in der „Riesen“, „Gottessöhne“ und „Menschentöchter“ erwähnt werden, dann, über mehrere Kapitel ausgebreitet, die ganze Geschichte mit der Sintflut und Gottes Bund mit Noah und noch eine komische Geschichte mit Noahs Sohn Ham, dann wieder eine Ahnenliste, dann der Turmbau zu Babel, und gleich noch mal eine Ahnenliste.

Die erste Geschichte, die vom Zustand der Menschheit nach dem Sündenfall erzählt, handelt von einem Brudermord. Das ist bezeichnend. „Da redete Kain mit Abel, seinem Bruder. Als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder, und tötete ihn. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist Abel, dein Bruder? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? Der HERR sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders erhebt seine Stimme und schreit zu mir vom Erdboden.“ (Genesis 4,8-10) Kain und seine Nachfahren treiben Ackerbau, bauen Städte, züchten Vieh und lernen Eisen zu schmieden, kurz, sie sind die technologisch Fortschrittlichen – aber sie üben auch exzessive Blutrache und praktizieren die Polygamie. Der erste in der Bibel erwähnte Polygamist ist eben Kains Nachfahre Lamech, und sein „Lied des Lamech“, wahrscheinlich ein sehr alter Text, lautet folgendermaßen: „Lamech sagte zu seinen Frauen: Ada und Zilla, hört auf meine Stimme, ihr Frauen Lamechs, horcht meiner Rede! Ja, einen Mann erschlage ich für meine Wunde und ein Kind für meine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.“ (Genesis 4,23f.)

Als nächstes wird ein weiterer Sohn Adams in die Geschichte eingeführt: „Adam erkannte noch einmal seine Frau. Sie gebar einen Sohn und gab ihm den Namen Set, Setzling. Denn sie sagte: Gott setzte mir einen anderen Nachkommen anstelle Abels, weil Kain ihn getötet hat.“ (Genesis 4,25) Dessen Nachkommen – es folgt eine längere Ahnenliste, in der irgendwie alle mehrere hundert Jahre alt werden – schlugen einen anderen Weg ein als die Kains. Zu ihnen gehört u. a. Henoch, von dem es heißt „Henoch ging mit Gott, dann war er nicht mehr da; denn Gott hatte ihn aufgenommen.“ (Genesis 5,24) und dann Henochs Urenkel Noah.

Und da findet sich dann diese seltsame Stelle: „Als sich die Menschen auf Erden zu vermehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, sahen die Gottessöhne, wie schön die Menschentöchter waren, und sie nahmen sich von ihnen allen Frauen, die sie auswählten. Da sprach der HERR: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, weil er eben Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit hundertzwanzig Jahre betragen. In jenen Tagen gab es auf der Erde die Riesen, und auch später noch, nachdem sich die Gottessöhne mit den Menschentöchtern eingelassen und diese ihnen Kinder geboren hatten. Das sind die Helden der Vorzeit, die namhaften Männer. Der HERR sah, dass auf der Erde die Bosheit des Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war. Da reute es den HERRN, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh. Der HERR sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben. Nur Noach fand Gnade in den Augen des HERRN.“ (Genesis 6,1-8) Dann kommt Gottes Anweisung an Noah und seine Familie (er hat eine Frau, drei Söhne und drei Schwiegertöchter) für den Bau der Arche und die Mitnahme aller Tiere, dann kommt die Flut, dann geht die Flut wieder zurück, „Dann baute Noach dem HERRN einen Altar, nahm von allen reinen Tieren und von allen reinen Vögeln und brachte auf dem Altar Brandopfer dar. Der HERR roch den beruhigenden Duft und der HERR sprach in seinem Herzen: Ich werde den Erdboden wegen des Menschen nie mehr verfluchen; denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an. Ich werde niemals wieder alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe. Niemals, so lange die Erde besteht, werden Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht aufhören.“ (Genesis 8,20-22), dann kommt Gottes Bund mit Noah (mit dem Regenbogen als Bundeszeichen), dann kommt diese sehr seltsame Geschichte mit Noahs Söhnen und Noahs Segen über Sem und Jafet und dem Fluch über Ham und dessen Sohn Kanaan; dann kommt wieder eine Ahnenliste, in der die Abkunft sämtlicher Völker von den Söhnen Noahs geschildert wird.

Dann kommt in Kapitel 11 der Turmbau zu Babel, und noch eine weitere Ahnenliste, die bis zu Abraham geht, den Gott dann in Kapitel 12 auserwählt.

Was sollen wir jetzt von alldem halten? Soll das alles historisch sein, oder nicht?

Erst einmal: Einen neuen Blickwinkel u. a. auf die Ahnenlisten und auf die Sintflut geboten hat in jüngerer Zeit die Altorientalistik. Die langen Lebenszeiten, die in den Listen aufgeführt werden, scheinen doch ein bisschen seltsam auf den ersten Blick. Aber dasselbe Phänomen findet man z. B. auch in den sumerischen Königslisten. Den länger zurückliegenden, altehrwürdigen Königen in den Listen werden immer märchenhaft lange Lebenszeiten zugeschrieben; das war wohl einfach eine Art, die Bedeutung von alten Königen und Vorfahren darzustellen – so, wie auf mittelalterlichen Bildern bedeutende Fürsten immer größer gemalt wurden als Angehörige des gemeinen Volkes. Natürlich wussten die Maler damals, dass die Fürsten nicht zwei Köpfe größer waren als die Bauern, auch wenn sie das so malten; es war nur ein Stilmittel. Ich nehme an, dass es mit den Lebenszeiten in diesen Ahnenlisten dasselbe war. Vielleicht war es auch ein Stilmittel, um das große Alter des Volkes, der königlichen Dynastie, oder, im Fall der Bibel, der Menschheit als Ganzes darzustellen. Soviel mal dazu; zur Sintflut dann gleich noch, jetzt eine Geschichte nach der anderen.

Diese ersten Kapitel nach dem Sündenfall zeigen den Zustand der Menschheit, wie er von nun an immer sein sollte: Gegenseitige Feindschaft, Brudermord, und auch Trennung der Menschheit in die, die trotz Erbsünde doch noch mehr oder weniger „ihren Weg mit Gott gehen“ – in diesen Kapiteln erst einmal die Nachkommen Sets – und die, die das nicht tun – hier die Nachkommen Kains.

Das ist auch die logischste Bedeutung des Verses über „Gottessöhne“ und „Menschentöchter“: Mit den Gottessöhnen sind wahrscheinlich Nachkommen Sets gemeint, mit den Menschentöchtern Nachkommen Kains. Hier zeigt sich auch die Einstellung der Bibel gegenüber solchen „Mischehen“, die einen moralischen Kompromiss bedeuteten (man sieht es später wieder, wenn es z. B. darum geht, dass König Salomo heidnische Frauen heiratete und schließlich selbst begann, deren Götter zu verehren): Auch die Setiter, die eigentlich die „Guten“ waren, lassen sich jetzt mit den „Bösen“ ein. Was mit den „Riesen“ („Nephilim“ im Hebräischen), den aus solchen Mischehen geborenen Menschen, gemeint ist: Das ist eine gute Frage – vielleicht einfach besonders mächtige Männer? (Die Autoren der Bibel hätten bei dem Begriff „Nephilim“ nicht gleich unsere aus Grimms Märchen stammende Vorstellung von „Riesen“ im Kopf gehabt; sie hatten ihre eigene, die wir jetzt irgendwie zu rekonstruieren versuchen müssen. Zum Vergleich: Es gibt eine Stelle im Buch Ijob, in der ein Tier erwähnt wird, das in manchen alten Bibelübersetzungen (z. B. der englischen King James Bible aus dem 17. Jahrhundert) mit „Einhorn“ (bzw. im Englischen „unicorn“) übersetzt wurde – während in der Originalsprache wohl ein Nashorn damit gemeint war – auch ein Tier mit einem Horn, für das die europäischen Übersetzer vor ein paar hundert Jahren aber eben keinen Begriff hatten, bei dem sie nicht genau wussten, was gemeint war, und das sie dann einfach als „Einhorn“ betitelten, so wie „Nephilim“ mit „Riesen“ übersetzt wird.)

Eine wichtige Frage bei all diesen Kapiteln ist natürlich: Sind diese einzelnen Personen, die hier erwähnt werden, denn historische Personen? Es ist gut möglich, ich würde es für logisch halten. Die übermäßig langen Lebenszeiten, die für sie angegeben sind, müssen ihrer Historizität nicht widersprechen; einige der sumerischen Könige, für die in der Königsliste Lebenszeiten von 900 oder 600 Jahren angegeben sind, wurden als historische Personen nachgewiesen. Es gäbe andere Gründe, bei ihnen nicht von historischen Personen auszugehen, z. B. die viel zu kurze Zeit, die vom Anfang der Menschheit bis zu Abraham verstrichen wäre. Hier könnte man allerdings einwenden, dass in solchen Ahnenlisten auch mal ein paar Generationen ausgelassen werden konnten (in biblischen Zeiten hatte man keine Probleme damit, jemandes Enkel oder Urururururenkel als dessen „Sohn“ zu bezeichnen; auch Jesus beispielsweise wird ja „Sohn Davids“ genannt).

Ich würde jedenfalls sicher nicht von vornherein behaupten, dass an keiner dieser Gestalten etwas Historisches ist. Wieso sollte es keinen Brudermord gleich unter den ersten beiden Söhnen Adams und Evas gegeben haben? Über einige (z. B. Lamech oder Henoch) sind spezifische einzelne Verse überliefert, die in keinen besonderen Zusammenhang gehören und sehr alt sein können. (Zum Spezialfall Henoch: Wenn man den für eine historische Person halten will, das ist von der Logik her kein Problem: Da kann man einfach annehmen, dass er durch ein Wunder nicht starb, sondern direkt mit Leib und Seele von Gott aufgenommen wurde, wie wir das auch von zwei eindeutig historischen Heiligen (dem Propheten Elija und der Gottesmutter) glauben.)

Es ist einerseits sicher wichtig, zu sehen, was diese Kapitel über die Menschheitsgeschichte als Ganzes sagen. Ein Beispiel für den Zustand der Menschheit bietet der Turmbau zu Babel: Der Versuch der Menschen, sich aus eigener Leistung durch politische Einigkeit und große Leistungen „einen Namen zu machen“, einen Turm zu bauen, der bis zum Himmel reicht (und ironischerweise doch so klein ist, dass Gott erst „hinabsteigen“ muss, um ihn sich anzusehen), kurz, wieder der Versuchung Adams und Evas zu verfallen, ohne Gott sein zu wollen wie Gott. Das Resultat ist gegenseitiges Unverständnis und Wirrsal und Zerstreuung statt Einigkeit.

Andererseits wird man davon ausgehen können, dass die groben Ereignisse auf historischen Ereignissen beruhen. Es macht viel mehr Sinn, wenn man die Schilderung des Turmbaus zu Babel als bildlich ausgestaltete Schilderung einer realen Zerstreuung und Verwirrung ziemlich am Anfang ihrer Geschichte nimmt.

(Pieter Brueghel, Großer Turmbau zu Babel. Gemeinfrei.)

Diese Geschichte hat übrigens etwas mit der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies gemeinsam: Wenn man nur diese Geschichten liest, könnte man den Eindruck bekommen, Gott fürchte, dass die Menschheit sich, wenn er nicht eingreift, zu viel nehmen könnte („Dann sprach Gott, der HERR: Siehe, der Mensch ist wie einer von uns geworden, dass er Gut und Böse erkennt. Aber jetzt soll er nicht seine Hand ausstrecken, um auch noch vom Baum des Lebens zu nehmen, davon zu essen und ewig zu leben. Da schickte Gott, der HERR, ihn aus dem Garten Eden weg, damit er den Erdboden bearbeite, von dem er genommen war. Er vertrieb den Menschen und ließ östlich vom Garten Eden die Kerubim wohnen und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten.“ (Genesis 3,22-24); „Und der HERR sprach: Siehe, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, wenn sie es sich zu tun vornehmen. Auf, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht.“ (Genesis 11,6-7).) Das ist Blödsinn. Gottes Eingreifen ist erstens – immer – geleitet von Seinem Willen für das Beste der Menschen. Und zweitens meint die Bibel, wenn sie von einer Strafe Gottes spricht, oft wohl auch einfach den „Fluch der bösen Tat“, sprich, das natürliche Resultat von – zum Beispiel – Hochmut, wie es in der von Gott eingerichteten Welt zum Vorschein kommt.

Dass es Gott hier nicht darum geht, die Menschheit daran zu hindern, sich etwas zu nehmen, das Er für sich behalten will, sieht man dann auch wunderbar im Neuen Testament. Das Gegenbild zu Babel ist Pfingsten: „Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden.“ (Apostelgeschichte 2,4-6) Wo der Heilige Geist ist, werden Sprachunterschiede überwunden; wo der Geist der Hochmut ist, entsteht Wirrsal.

„Geliebte“, heißt es im 1. Johannesbrief (1 Johannes 3,2), „jetzt sind wir Kinder Gottes. Doch ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen, dass wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Und im Johannesevangelium heißt es sogar:  Jesus erwiderte ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter?“ (Johannes 10,34) Ja, wirklich, das steht da. Und ist ein Zitat aus Psalm 82,6. Das ist das Gegenbild zum Sündenfall: Wir werden Gott sehr wohl ähnlich gemacht werden, sein wie Gott – aber nicht in dem Sinne, wie Adam und Eva es verstanden, die sich einfach nur mehr Macht nehmen wollten, sondern in einem viel tieferen Sinn. Und es wird ein Geschenk sein, nichts, was wir uns selber nehmen oder machen könnten.

Das, was die Menschen am Anfang angerichtet haben, wird am Ende von Gott wieder gerichtet werden. Gott gibt den Menschen das, was sie sich am liebsten selber gleich genommen hätten, gerne; es muss nur alles auf die richtige Weise geschehen, damit sie wirklich glücklich damit werden.

Jetzt zuletzt noch zu Noah und der Sintflut. Wie oben schon erwähnt, auch auf diese Geschichte haben einige Entdeckungen von Schriften anderer, heidnischer Völker des Alten Orients neues Licht geworfen. Dort gibt es nämlich auch Fluterzählungen; z. B. das Gilgamesch-Epos oder das Atrahasis-Epos, die mindestens ins 18. Jahrhundert v. Chr., vielleicht auch schon in frühere Zeit datieren. Auch hier gibt es eine große Flut, von den Göttern ausgelöst, und einen Überlebenden, der, von einem Gott vorgewarnt, eine Arche für sich, seine Familie und die Tiere des Landes gebaut hatte. Aber einiges ist ganz anders: Im Atrahasis-Epos zum Beispiel sind die Götter, insbesondere der Gott Enlil, genervt, weil die Menschen zu viel Lärm machen und sie deshalb nicht schlafen können, und das ist letztlich der Grund für die Flut; der Gott Enki, der Atrahasis, den Helden der Geschichte warnt, stellt sich damit gegen die anderen Götter; und diese sind letztendlich dann doch ganz froh, dass ein paar Menschen überlebt haben, die ihnen opfern und sie so ernähren können – als Atrahasis nach der Flut ein Opfer darbringt, sammeln sich die Götter, die so lange hungern mussten, um den Rauch wie die Fliegen um den heißen Brei. Enlil ist trotzdem immer noch wütend auf Enki, aber schließlich besänftigt der ihn, indem er auch noch ein bisschen Not und Tod über die Menschheit bringt.

In der Bibel ist es anders. Der Gott der Bibel lässt die Flut nicht aus einer persönlichen Laune heraus über die Menschheit kommen, sondern weil er ein gerechter Gott ist, der das Unrecht bestraft, das die Menschen begangen haben; Noah wählt er wegen dessen Rechtschaffenheit aus. (Zur allgemeinen Frage nach göttlichen Gerichtstaten ausführlicher hier.) Er streitet sich nicht mit anderen Göttern herum, die mit ihm um die Macht konkurrieren. Er hat es auch nicht nötig, dass die Menschen ihn mit ihren Opfern ernähren. Er ist ein allmächtiger, gerechter Gott – kein launenhafter, kleinlicher Gott unter vielen Göttern, der einerseits auf die Menschen angewiesen ist, sich andererseits von ihnen stören lassen muss und sie auch nach Möglichkeit niederhalten will.

Es ist am logischsten, dass beide Erzählungen auf eine wirkliche Flut mit einem wirklichen Überlebenden zurückgehen; es gibt ja nicht nur hier, sondern auch in anderen Kulturen eine Überlieferung von einer großen Urflut. Wenn man davon ausgeht, dass sich die Menschheit zu dieser Zeit noch nicht sehr weit zerstreut hatte – wo auch immer die Wiege der Menschheit jetzt genau lag – muss es nicht einmal eine weltweite Flut gewesen sein, sondern es würde eine große lokale Flut reichen. Der Bericht könnte auch auf irgendeine andere große Katastrophe zurückgehen (in der Geschichte der Menschheit gab es ja durchaus sog. „Flaschenhals“-Situationen, wo die Menschheit fast ausgestorben wäre, und viele Arten von Naturkatastrophen).

Auch hier macht die Ansicht, die Erzählung nur als zeitlose Wahrheit zu interpretieren, nicht viel Sinn, auch wenn ich sie nicht für ketzerisch erklären will: Was will diese Geschichte denn aussagen, wenn nicht, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt ein göttliches Gericht über eine extrem böse gewordene Menschheit gab, und dann einen göttlichen Bund mit den wenigen Geretteten?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1e/Tissot_The_Dove_Returns_to_Noah.jpg

(James Tissot, The dove returns to Noah. Gemeinfrei.)

Im Ganzen – und das kann man sagen – zeigen die Kapitel 4-11 des Buches Genesis also eine Menschheit, die sich einerseits bald teilt in die Gottesfürchtigen (Abel, Setiter) und die Sünder (Kainiter). Aber auch die Gottesfürchtigen beginnen andererseits bald, Kompromisse mit der Sünde einzugehen und schließlich genauso viel Unrecht zu begehen wie die Sünder. Kurz vor der Sintflut ist von allen ursprünglich guten Setitern nur noch Noah samt Familie treu geblieben. Gott macht ein wenig reinen Tisch, lässt aber diese wenigen Menschen noch für einen neuen Anfang übrig, doch auch bei diesem Anfang stellt er fest: Die Menschen werden sich trotzdem nicht ändern; sie werden auch in Zukunft noch böse sein – aber trotzdem soll dann nie wieder ein solches Gericht über die Menschen kommen wie durch die Sintflut. „Ich werde den Erdboden wegen des Menschen nie mehr verfluchen; denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an.“ (Genesis 8,21)

Und dass das Trachten des Menschen böse ist von Jugend an, zeigt sich auch gleich darauf schon: Einer von Noahs Söhnen, Ham (der dann in der nächsten Ahnenliste als Ahnherr einiger Feinde Israels, u. a. von Kanaan und Ägypten, aufgeführt wird), begeht gleich nach der Flut ein Unrecht, das am logischsten als Inzest mit der eigenen Mutter zu identifizieren ist. (Im biblischen Hebräisch bedeutete der Ausdruck „die Blöße seines Vaters aufdecken“ Inzest mit dessen Frau, vgl. Levitikus 20,11 und Levitikus 18,7-8. Diese Interpretation würde auch erklären, wieso Noah dann vor allem Hams Sohn Kanaan verflucht, und nicht Ham selbst, wenn man annimmt, dass Kanaan durch diesen Inzest entstand. Zur genauen sprachlichen Analyse der Stelle, deren Andeutungen heutigen Lesern einfach völlig fremd sind, s. diesen Aufsatz hier.) Und selbst Noah ist kein absolutes Musterbeispiel an Tugend – in ebendieser Geschichte beispielsweise liegt er betrunken und nackt in seinem Zelt, was man entweder wörtlich oder im übertragenen Sinne verstehen kann.

Von anderen als mehr oder weniger ausschließlich „gut“ identifizierten Personen in diesen Kapiteln (Abel, Set, Henoch) wird kaum Näheres berichtet, aber es ist durchaus plausibel, anzunehmen, dass auch sie sich nicht immer in jedem Augenblick ihres Lebens untadelhaft verhielten. Und gleich die nächste Erzählung, in Genesis 11, in der gleich die ganze Menschheit wieder sündigt, ist eben die vom Turmbau zu Babel. Dann zerstreuen sich die Menschen über die Erde, und aus dieser Menschheit wird dann schließlich Abraham erwählt, und auch er zeigt sich in den folgenden Kapiteln keinesfalls immer als moralisches Vorbild.

Kurz gesagt, diese Kapitel zeigen Gottes Weg mit einer unbelehrbaren Menschheit, in der es zwar einerseits irgendwie Gute und Böse gibt (die Menschen haben immer noch den freien Willen, der ist durch die Erbsünde nicht ausgelöscht, und die einen entscheiden sich im Großen und Ganzen so, die anderen im Großen und Ganzen so), aber andererseits auch keine ausschließlich Guten (alle neigen zur Sünde, und alle entscheiden sich irgendwann in ihrem Leben einmal für die Sünde). Trotzdem kümmert Gott sich weiter um diese Menschheit; und schließlich, nach langer Zeit, beginnt sein Plan der Erlösung mit der Auserwählung einer einzelnen kleinen Familie, der Familie Abrahams.

Eine weitere wichtige Lehre aus diesen Kapiteln, insbesondere aus den uns so nutzlos und langweilig erscheinenden Stammbäumen, ist natürlich auch die Lehre von der Verbundenheit der Menschheit untereinander. Die ganze Menschheit hat gemeinsame Ahnen und bildet eine Familie; auch das auserwählte Volk schließlich ist keine isolierte Gemeinschaft, die einfach für sich besteht, sondern ist mit sämtlichen Völkern der Menschheit verwandt, es stammt aus dieser Völkerfamilie. Und noch eins: Vor dem Bund, den Gott speziell mit Abraham, Isaak und Jakob eingeht, hat Er schon einen Bund mit Noah geschlossen, mit der ganzen Menschheit und sogar mit der ganzen Tierwelt: „Ich bin es. Siehe, ich richte meinen Bund auf mit euch und mit euren Nachkommen nach euch und mit allen Lebewesen bei euch, mit den Vögeln, dem Vieh und allen Wildtieren der Erde bei euch, mit allen, die aus der Arche gekommen sind, mit allen Wildtieren der Erde überhaupt.“ (Genesis 9,9-10)

Ein Fazit aus der Betrachtung von Genesis 1-11 ist jedenfalls dieses: Regel Nummer 11: Die Bibel ist kein naturwissenschaftliches Lehrbuch.

In den Worten von Kardinal Cesare Baronio (1538-1607): „Die Bibel lehrt uns, wie man in den Himmel kommt, nicht, wie die Himmel gehen“ (ungefähr übersetzt aus der englischen Übersetzung des Zitates „The Bible teaches us how to go to Heaven, not how the heavens go“; das originale Zitat habe ich nicht gefunden).

Franz von Sales, Patron der Schriftsteller

Hier ein schöner Artikel bei The Cathwalk über den hl. Franz von Sales in seiner Bedeutung als Schriftsteller.

Aber, lieber Cathwalk, einen Einwand muss ich schon noch machen: Man braucht die Bedeutung des Heiligen für die Rekatholisierung des calvinistischen Chablais nun wirklich nicht auf den Einfluss einer einzigen Schrift beschränken. Nachdem Franz von Sales 1593 zum Priester geweiht und zum Dompropst des Bischofs von Genf ernannt worden war (der in Annecy residierte, weil in Genf die Calvinisten herrschten), wurde ihm – wenn ich mich recht erinnere, nach seiner enthusiastischen Predigt zu seinem Amtsantritt („Mit der Liebe müssen wir Genf erobern!“) – 1594 die Aufgabe übertragen, im Chablais, einer calvinistischen Region in der Nähe von Genf, die der katholische Herzog von Savoyen wieder erobert hatte, den katholischen Glauben zu predigen. Die Obrigkeiten dort verboten bei Strafe, seine Predigten anzuhören, und er war einige Male auch in Gefahr, überfallen und getötet zu werden, wenn er so als einsamer Missionar durchs Land zog. Da ihn niemand anhören durfte, druckte er seine Botschaften schließlich auf Flugblätter und heftete sie an die Türen. Er kannte sich gut mit dem Calvinismus aus, und er zeigte dessen Fehler, ohne in die damals übliche Polemik zu verfallen. Durch seine Flugblätter, seine Predigten (zu denen trotz Verbot dann schließlich doch immer mehr Leute kamen) und sein persönliches Beispiel bekehrte er innerhalb von wenigen Jahren schließlich zehntausende Menschen, fast die komplette Bevölkerung des Chablais – besonders, nachdem einige prominente Calvinisten durch seinen Einfluss zum katholischen Glauben übergetreten waren, hatte er Erfolg. Die Flugblätter wurden später gesammelt unter dem Titel „Kontroversen“ veröffentlicht, und aus mehreren Treffen mit dem calvinistischen Reformator Theodor von Beza im Jahr 1597 ging schließlich seine Schrift „Verteidigung der Fahne des heiligen Kreuzes“ (1600) hervor. So. Und auch später, als Bischof, war er nicht nur als Schriftsteller bedeutend, sondern auch als geistlicher Begleiter, in seinen üblichen bischöflichen Arbeiten – er besuchte sämtliche Pfarreien seiner Diözese, hielt selbst Katechesen für Kinder, kümmerte sich um die Priesterausbildung und eine Reform der Klöster usw. -, als Ordensgründer (er gründete zusammen mit Johanna Franziska von Chantal den Orden der Schwestern von der Heimsuchung Mariens), und und und.

Das so ziemlich nervigste Klischee über Frauen, das es gibt

Ich bekenne, dass ich nicht in die Köpfe sämtlicher weiblicher Wesen auf dieser Welt blicken kann. Es mag also Frauen geben, die auf die Frage „Sehe ich damit gut aus?“ tatsächlich keine andere Antwort als ein enthusiastisches „Absolut toll!“ hören wollen. Aber ich gehöre definitiv nicht dazu, und ich glaube auch nicht, dass ich damit ein absoluter Freak innerhalb meines Geschlechts bin.

Wenn man etwas fragt, dann normalerweise deshalb, weil man eine ehrliche Antwort hören will, die die objektive Wirklichkeit wiedergibt. Also, wenn die neue Hose dämlich aussieht, darf der Angesprochene auf die entsprechende Frage gerne antworten „Ich würde an deiner Stelle eher eine andere anziehen, die sieht nicht so gut aus“, oder wenn man weiß, dass es die entsprechende Frau nicht übel nimmt, auch gerne „Dämlich“. Klar soweit? Ja, liebe Männerwelt, auch Menschenwesen mit zwei X-Chromosomen sind fähig, ehrliche Antworten zu ertragen. Und sie wollen die vielleicht sogar, weil sie nicht unbedingt in einer dämlich aussehenden Hose aus dem Haus gehen wollen. Deshalb fragen sie vielleicht überhaupt erst.

Just sayin’.

(Ich halte die Wahrhaftigkeit übrigens für eine der wichtigsten und am meisten vernachlässigten Tugenden, die es überhaupt gibt. Dazu mal eigens noch.)

Ein kurzer Nachtrag zu der Sache mit Amoris Laetitia – Über Unbarmherzigkeit

Als ich den vorletzten Beitrag hier geschrieben habe – den zu Amoris Laetitia und dem Kommunionempfang für Wiederverheiratete -, habe ich an manchen Stellen ziemlich lange überlegt, wie ich etwas ausdrücken soll, und habe dann mehrmals noch etwas geändert bzw. am Ende des Artikels hinzugefügt. Ist das hier zu hart ausgedrückt? Wie würde ein Betroffener, der das liest, das wohl aufnehmen? Sollte ich auf das und das noch genauer eingehen?

Ist ein schwieriges Thema. Normalerweise schreibe ich ja weniger über Themen, die die Leute direkt konkret angehen und momentan hitzig diskutiert werden, und mehr über Sachen, die einfach interessant sind – die bevorstehende Heiligsprechung von Papst Paul VI., den Unterschied zwischen Denethor und Faramir aus „Der Herr der Ringe“, die Interpretation irgendwelcher Bibelstellen, Romane von Robert Hugh Benson, meine neu entdeckte Liebe zu Polen oder richtige Kommasetzung, solches Zeug eben.

Wahrscheinlich war es auch nicht wirklich nötig, dass ich mich jetzt auch noch in der Debatte um AL zu Wort gemeldet habe – aber, na ja, wenn man einen Blog betreibt, neigt man eben immer dazu, alle seine Gedanken darauf kundzutun, ob sie nun jemandem nützen oder nicht. Aber auch wenn schon viel dazu geschrieben wurde, ich finde das Thema schon irgendwie wichtig. Und einen Punkt dazu habe ich in meinem Beitrag noch nicht genauer erklärt, daher will ich ihn nun nachtragen, weil ich finde, dass er doch auch noch Beachtung verdient.

Wenn es um dieses ganze Thema geht, dann ist immer sehr schnell der Vorwurf an die Kirche (oder strenge Katholiken wie mich) bei der Hand, unbarmherzig zu sein, Menschen zu verurteilen, und so weiter. Dieser Vorwurf kommt natürlich hauptsächlich daher, dass die Menschen, die ihn vorbringen, einfach das katholische Eheverständnis nicht teilen, und es wahrscheinlich überhaupt nie erklärt bekommen haben, woran die derzeitige Verkündigung in der deutschen Kirche nicht so ganz unschuldig ist. (Hier übrigens noch einmal der Link zu meinem Artikel über einen Grund, aus dem die Ehe unauflöslich ist. Meine Argumentation in aller Kürze: Die Ehe ist ein Bund, der eine neue Familie begründet, und Familie ist unauflöslich und begründet die lebenslange Pflicht zu Liebe und Treue. So, wie die eigenen Kinder immer die eigenen Kinder bleiben werden, ist es auch mit dem Ehemann oder der Ehefrau – selbst, wenn man die Kinder aus irgendeinem Grund zu Pflegeeltern oder in irgendeine Einrichtung geben sollte, was man nur aus ganz besonders dringenden Gründen tun sollte, bleiben sie die eigenen Kinder. Trennungen reißen wirklich eine Familie auseinander.) Sie begreifen nicht, was an Ehebruch überhaupt so schlimm sein soll; sie sehen ihn gar nicht als Sünde, sondern als etwas vollkommen Akzeptables, das die Kirche gefälligst auch endlich akzeptieren soll; solange sie das nicht tut, ist sie natürlich unbarmherzig und böse.

Aber einher mit diesem Vorwurf geht bei solchen Kirchenkritikern paradoxerweise – meistens unbewusst, nehme ich an – auch oft eine Unbarmherzigkeit und ein Verurteilen gegenüber anderen Arten von Menschen. Zum Beispiel denen, die, aus Treue zu Gott, sich nach einer Trennung wieder mit ihrem Partner zusammengerauft haben und wieder einen gemeinsamen Weg gefunden haben, anstatt den einfachen Weg zu gehen, wegen ihrer Schwierigkeiten getrennt zu bleiben und zu sagen, ist doch nicht so schlimm so. Oder denen gegenüber, die vielleicht jetzt nicht mehr die Möglichkeit haben oder für die es keine vernünftige Lösung wäre, wieder in ihre eigentliche Ehe zurückzukehren, aber die sich keinen neuen Partner suchen oder mit ihrem zweiten Partner enthaltsam leben. Oder denen gegenüber, die zwar nichts davon tun, aber anerkennen, dass ihr Leben im Moment falsch läuft und daher akzeptieren, dass sie im Moment, wenn sie ehrlich gegenüber Gott sein wollen, nicht die Kommunion empfangen können. (Letzteres ist zwar noch nicht wirklich gut – man enthält sich hier selbst die Gemeinschaft mit Gott vor, von der man weiß, dass man sie braucht, und die man haben könnte, wenn man den Mut aufbringen würde, sein Verhalten zu ändern – aber es ist ein wichtiger erster Schritt.) Solchen Menschen bringen Menschen, die selbst nicht bereit sind, das zu tun, sondern die Lehre der Kirche als einfach nur „unbarmherzig“ aburteilen und ihre Änderung verlangen, oft kein Verständnis entgegen. Wieso macht die sich das Leben so schwer? Ihr Mann hat sie verlassen, na, wieso will sie dann partout keinen neuen Partner suchen – weil ihr das von dieser Kirche da eingeredet wurde oder wie? Will sie unbedingt unglücklich bleiben? Unbarmherzig, überheblich, hält sich wohl für was Besseres, was soll das. So, wie Menschen, die alle Religionen für gleich gültige Wege zu Gott halten und Mission als etwas ganz Schlimmes ansehen und stattdessen nur interreligiöse Zusammenarbeit verlangen, Konvertiten, die in ihrer neu angenommenen Religion glücklich sind, oft nur Unverständnis oder schlimmstenfalls Verachtung entgegenzubringen scheinen, so bringen Menschen, die die Änderung der kirchlichen Lehre und Praxis verlangen, denen, die sich daran halten wollen und diese Lehre und Praxis in ihrem Leben als gut und im Endeffekt heilbringend erkannt haben, oft anscheinend nur Unverständnis oder schlimmstenfalls Verachtung entgegen. Die stören. Die passen nicht ins Bild.

Man lese mal diesen Brief einer geschieden-wiederverheirateten Frau, die seit einiger Zeit bewusst nicht zur Kommunion geht, den Bischof Stefan Oster mit ihrem Einverständnis anonym veröffentlicht hat, und dann gleich darunter den ersten Leserkommentar. Aus dem Kommentar: „Armutszeugnis für die Kirche … immer und immer wieder suggeriert, dass sie schuldig ist – solange bis sie es selbst glaubt und sich kasteit.“ Usw. Die Ironie daran ist irgendwie, dass im Brief der Frau selbst schon solche Reaktionen beschrieben wurden, unter denen sie offenbar auch ein bisschen leidet: „Mein Gedanke dahinter: Wenn ich mir bewusst bin, dass ich gegen das Gebot: ‚Du sollst nicht ehebrechen‘ verstoße, ich daran nichts ändern kann und will, dann muss ich dieses Opfer bringen -aus Respekt vor dem hl. Sakrament der Ehe, und der Heiligkeit der Kommunion. Hinzu kommt, dass ich meinen Kinder vermitteln will: Das ‚Ja‘ zweier Menschen füreinander vor Gott ist heilig und endgültig. Ob es ankommt bei ihnen? Ich hoffe es! In der Praxis war und ist das ein ‚Spießrutenlauf‘. Es ist ja wie ein öffentliches Schuldeingeständnis. Von meinem Umfeld hör ich so Sätze wie: ‚Geh lass dich doch nicht einschüchtern von der Kirche!‘ ‚Du warst ja gar nicht schuld an der Scheidung!‘ ‚Das ist doch ein überholtes Verbot in der heutigen Zeit!‘ usw. Es fällt mir immer noch schwer, öffentlich dagegen zu argumentieren. Im Herzen weiß ich, dass die Enthaltsamkeit [von der Kommunion] richtig und heilsam für mich ist. Es ist wie Heilfasten: Es fällt am Anfang sehr schwer. Aber nach und nach gehen in Gedanken Türen auf. Es eröffnen sich mir Erkenntnisse die ich sicher noch mit einem Seelsorger aufarbeiten muss und ich hoffe auf die Barmherzigkeit Gottes, dass er mir  meine Schuld vergibt.“

Ein ehrlicher, selbstkritischer Blick auf sein eigenes Leben, Reue und das Bewusstsein, auch nicht immer alles richtig gemacht zu haben und nicht immer nur der Kirche die Schuld geben zu können, die Erkenntnis, dass Ehrlichkeit mit Gott einem persönlich größeren Frieden bringt und einen auf einen guten Weg führt, das ist denen, die gerne der Kirche an allem die Schuld geben wollen, ein Dorn im Auge. Und während man solchen Menschen wie der oben erwähnten Frau noch „mitleidsvoll“ eine Art von Stockholm-Syndrom unterstellen kann, kann man dagegen persönlich nicht betroffenen Katholiken / Kirchenmännern, die einfach die Lehre der Kirche verteidigen, weil sie ihnen wichtig ist und sie einen Sinn dahinter sehen, leicht als vollkommen unbarmherzige, kalte, regelfixierte Pharisäer aburteilen. Sorry, aber wenn man Kardinal XY als „unbarmherzig“ verurteilt, dann ist das eben auch eine Art von Verurteilung. Sollte man ihm nicht zuerst einmal unterstellen, dass er für seine Meinung auch andere Gründe haben könnte als kaltschnäuzige Selbstherrlichkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Wiederverheirateten?

Okay, ich weiß selber sehr gut, dass man es mit Selbstkritik und Reue auch übertreiben kann – ich habe hier auf diesem Blog nicht ohne Grund öfter über Skrupulosität geschrieben, eine geistliche Krankheit, die sich ja vor allem durch endlose und grundlose / überzogene Selbstvorwürfe auszeichnet. Aber das Gewissen kann nicht nur zu zart sein, sondern auch zu stumpf. Beides sind Extreme, die zu vermeiden sind. Und die Lehre der Kirche hat ihren Sinn, und es rächt sich, wenn man sie ignoriert, so wie es sich rächt, wenn man jahrelang nicht zum Zahnarzt gehen will. Ich weiß auch, dass man, wenn man die Lehre erklären will, vielleicht manchmal als verurteilend und unbarmherzig erscheinen kann (wenn das in diesem Artikel der Fall war, bitte ich dafür um Vergebung – das ist nicht meine Absicht), und dass einzelne konservativen Katholiken das tatsächlich nicht nur scheinen, sondern auch sein können. Das gibt es in allen Gruppen. Aber die Gebote Gottes an sich – und wenn man die Bibel ehrlich liest, wird man sehen, dass Gott da sehr klar ist (ich habe in meinem Artikel über die Ehe, den ich oben verlinkt habe, gleich am Anfang alle relevanten Stellen aufgeführt) – sind eben an sich nicht unbarmherzig, sondern der Weg zu Freiheit und Glück, auch wenn man das im Moment schwer sehen kann. Die Wahrheit wird euch frei machen, hat Christus gesagt. (Joh 8,32) Wunschdenken macht unfrei. Immer. Egal, wie schwierig die Situation ist; wenn man sich nicht an die Wahrheit hält, kommt man nicht weiter. Nur die Wahrheit wird frei machen.

Und hey: Es ist wirklich nicht so schlimm, sich einzugestehen, dass man Dinge falsch gemacht hat, dass man, um es auf Katholisch zu sagen, ein Sünder ist. Sind wir alle. Das klingt wie eine Binsenweisheit, aber Binsenweisheiten stimmen eben. Keiner tut immer sein Bestes, keiner ist immer ein guter Mensch, wir sind alle irgendwie kaputt und selbstsüchtig. Ich bin es, du bist es, dein Nachbar und meine Cousine dritten Grades sind es. Das dürfen wir uns ruhig eingestehen.

Ein paar Gedanken über die „liberale“ Auslegung von Amoris Laetitia

Die liberale Auslegung von Amoris Laetitia (wiederverheiratet Geschiedene können „in bestimmten Fällen“ die Kommunion empfangen, auch wenn sie nicht enthaltsam leben) ist unlogisch. Sie macht in sich keinen Sinn. Ob sie streng genommen häretisch ist (oder bloß „Häresie begüngstigend“, „nach Häresie schmeckend“, „Ärgernis erregend“ oder was auch immer, um in der Sprache der Lehrverurteilungen früherer Jahrhunderte zu reden), darüber kann man trefflich streiten (ich würde sie nicht streng genommen häretisch nennen – sie ist ja sowieso mehr pastoral als lehrmäßig). Aber sie ist unlogisch und auch pastoral gesehen nicht hilfreich.

Folgende Punkte sollten für jeden Katholiken außer Frage stehen:

  • Eine gültige, sakramentale, vollzogene Ehe ist unauflöslich. Hat Jesus so gesagt. Und hat das Konzil von Trient dogmatisch definiert. Isso.
  • Ehebruch, d. h. Geschlechtsverkehr mit einer anderen Person als dem eigenen Ehepartner, ist Sünde. Und zwar schwere Sünde, da direkt durch das 6. Gebot von Gott verboten. („Du sollst nicht die Ehe brechen.“) Ach ja, und die Zehn Gebote sind übrigens keine willkürlichen Anweisungen, sondern Gebote, die zum Leben führen, die mit Gottes Gnade erfüllbar sind, und von denen niemand, auch Gott selbst nicht, dispensieren könnte.
  • Wenn man eine schwere Sünde begangen hat, beichtet man sie erst, bevor man wieder zur Kommunion geht. Dazu gehört auch, sich vorzunehmen, sie in Zukunft nicht mehr zu begehen. Wenn man nicht vorhat, sein Leben in irgendeiner Weise zu ändern, ist offensichtlich keine Reue vorhanden, die Beichte also ungültig. (Das heißt nicht, dass es nicht sein kann, dass man, wenn man eine Sünde beichtet, trotzdem weiß, dass man sie früher oder später mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit wieder begehen wird. Manche Menschen neigen dazu, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen und zu prahlen, andere werden schnell ungeduldig und unfreundlich, andere vernachlässigen ständig das Gebet; und diese Fehler zu besiegen ist für einen eine langwierige, schwierige Angelegenheit. Ich beichte jedes Mal so ziemlich dasselbe, und das tun wohl die allermeisten Katholiken. Aber der Punkt ist: Solange man sich jedes Mal wieder vornimmt, es in Zukunft besser zu machen – d. h. solange man nach einem Fall wieder aufsteht, auch wenn man weiß, dass man gleich wieder fallen wird, anstatt einfach am Boden sitzen zu bleiben und sich zu sagen, es bringt eh nichts, Gott fordert eben zu viel –, ist das absolut in Ordnung. Gott will vor allem unser redliches Bemühen. Es kann auch einmal sein, dass es einem schwer fällt, schwere Sünden (wie Ehebruch) aufzugeben anstatt bloß lässliche (wie eine kleine gewohnheitsmäßige Prahlerei oder Unfreundlichkeit). Aber ehrlich versuchen muss man es trotzdem, und wenn es nicht geklappt hat, dann bereut man, beichtet, und versucht es nochmal. Der ehrliche Wille, eine Sünde aufzugeben, ist unerlässlich. Sicher kann es auch mal Situationen geben, in denen man ratlos ist und nicht weiß, wie man auf irgendeine Weise Sünde vermeiden kann (in der Moraltheologie nennt man so etwas ein „perplexes Gewissen“), aber in solchen Fällen gibt es immer mögliche Lösungen, auch wenn man sie vielleicht manchmal nicht sehen kann; Gott lässt uns nie nur die Wahl zwischen Sünde und Sünde.)
  • Die Regelung, dass nur die, die sich in einem zumindest einigermaßen objektiv richtigen Verhältnis mit Gott befinden, die Kommunion empfangen dürfen, besteht deshalb, weil es sich bei diesem Sakrament um die Vereinigung mit Jesus Christus handelt, Quelle und Höhepunkt des christlichen Lebens. Wie will man sich mit Christus vereinigen, wenn man beabsichtigt, weiterhin gegen Seinen Willen zu handeln? Kann ein Mafiosi die Kommunion empfangen, wenn er nicht vorhat, seine Geschäfte in Zukunft zu lassen? Oder ein Abtreibungsarzt? Oder jemand, der seine Frau verprügelt, seine Kinder vernachlässigt, seine Angestellten ausbeutet, oder seinen Lebensunterhalt durch professionelle Betrügereien verdient? Das ist ein Widerspruch in sich. Die Kommunion sollte ein Ausdruck der Liebe sein, und wenn man mit seinen Taten und seinem Willen zu Christus „Nein“ sagt, was ist das dann für eine Liebe zu Ihm?
  • Im Zweifelsfall, ob eine Ehe gültig ist, ist sie gültig. In einem Annullierungsverfahren ist das Eheband sozusagen der Angeklagte, und das Prinzip „Im Zweifelsfall für den Angeklagten“ gilt auch im Kirchenrecht. Das ist kein Dogma, aber trotzdem ein sinnvolles Prinzip des Kirchenrechts, an das man sich als Katholik einfach zu halten hat. Gehorsam und so. (In der Diskussion wird gelegentlich der konstruierte Fall erwähnt, dass Betroffene sich „sicher sind“, dass ihre erste Ehe ungültig war, das aber im Annullierungsverfahren nicht beweisen konnten. Mal abgesehen davon, dass eine subjektive Sicherheit nicht immer den Tatsachen entsprechen muss: Selbst wenn die erste Ehe tatsächlich ungültig war, ist die jetzige Beziehung immer noch eine Beziehung ohne kirchliche Trauung – also keine Ehe, also immer noch Sünde.)

Wie gesagt: Das alles sollte außer Frage stehen. Eigentlich. Tun wir mal so, als würden tatsächlich alle Katholiken diese grundlegenden Prinzipien akzeptieren, über die nicht diskutiert werden kann, und fragen wir uns dann, ob es Fälle geben kann, in denen man als „Wiederverheirateter“ guten Gewissens die Kommunion empfangen kann, wenn man nicht mit seinem jetzigen Partner enthaltsam lebt (also in seinem Tun anerkennt, dass diese Beziehung keine Ehe ist und man noch durch das Eheband an einen anderen Menschen gebunden ist).

Amoris Laetitia geht nun an dieser einen umstrittenen und unklaren Stelle offenbar auf die unbestrittene Tatsache ein, dass objektiv schwer sündhafte Taten nicht immer subjektiv schwer sündhaft sind (sie sind es z. B. nicht im Fall von Unwissenheit, Sucht, Handlungen unter Zwang etc., d. h. damit eine Tat tatsächlich schwer sündhaft ist, muss nicht nur die Tat selbst wirklich schlecht sein, sondern sie muss auch mit voller Zustimmung aus freiem Willen und in dem Wissen, dass sie wirklich schlecht ist, begangen werden). Das ist eine Binsenweisheit, die jeder Katholik kennen sollte. Bei Selbstmord zum Beispiel wird das in vielen Fällen der Fall sein (Einschränkung der Willensfreiheit durch psychische Erkrankungen, insbesondere Depressionen). Es kann auch in vielen Fällen bei wiederverheiratet Geschiedenen der Fall sein, die nie wirklich erklärt bekommen haben, wieso die Kirche an die Unauflöslichkeit der Ehe glaubt, und was so schlecht an Scheidung und einer neuen Heirat ist; wir sind alle geprägt von einer Kultur, die der ehelichen Treue oft genug völliges Unverständnis entgegenbringt. Aber: Was hat das mit dieser Situation zu tun?

Wenn, sagen wir mal, ein wiederverheiratet Geschiedener, der vielleicht seine erste Ehe nur kirchlich geschlossen hat, weil man das eben so machte und er eben von seiner Taufe als kleines Kind an Mitglied in dieser Kirche war, sich dann scheiden hat lassen und wieder standesamtlich geheiratet hat, und jetzt ernsthaft zu seinem Glauben gefunden hat und mit dem Pfarrer über seine Situation spricht, dann kann der Pfarrer ihn, wenn er sich darüber beunruhigt, schon damit beruhigen, dass sein bisheriges Leben vielleicht nicht unbedingt schwer sündhaft gewesen sein muss, weil er es ja nicht besser wusste. Aber soll er ihm dann auch sagen, er könne einfach so weiterleben wie bisher – er wisse es ja nicht besser? Tut mir leid, aber das macht keinen Sinn, denn jetzt weiß er es besser. Hier ist AL leider unklar und vage.

Ich möchte hier Pater Edmund Waldstein zitieren, der es besser ausgedrückt hat, als ich es kann, und als Priester die Sache auch konkreter von der pastoralen Seite her beurteilen kann (Übersetzung von mir):

Ja, es ist notwendig, die verschiedenen Grade der Schuld zu unterscheiden – besonders in Bezug auf konkrete Handlungen in der Vergangenheit, für die man jetzt eine Buße auftragen muss (zum Beispiel) – aber es ist höchst töricht und kontraproduktiv, einen geringen Grad subjektiver Schuld für objektiv schlechte Handlungen vorherzusagen, die jemand in der Zukunft begehen will. Wenn jemand zu mir in den Beichtstuhl kommt und sagt, dass er beabsichtigt, weiterhin objektiv ehebrecherische Handlungen zu begehen, dann ist es schlimmer als sinnlos, ihm zu sagen, dass er sich damit wahrscheinlich keiner Todsünde schuldig machen wird, dass mildernde Umstände wahrscheinlich das volle Wissen oder die freie Zustimmung verhindern werden. Was eine solche Person braucht, ist Klarheit, um ihr zu helfen, zur Reue zu finden.

Aber was sagt der Heilige Vater? An einer Stelle sagt er das Folgende: „Viele, welche die von der Kirche angebotene Möglichkeit, ‚wie Geschwister’ zusammenzuleben, kennen und akzeptieren, betonen, dass in diesen Situationen, wenn einige Ausdrucksformen der Intimität fehlen, ‚nicht selten die Treue in Gefahr geraten und das Kind in Mitleidenschaft gezogen werden [kann].’“ (AL, Fußnote 329). Das ist die Art von Entschuldigung, die ich oft im Beichtstuhl höre. Nach meiner Erfahrung ist die schlimmste Antwort auf solche Ausreden, Ausflüchte zu machen oder um den heißen Brei herumzureden. Was sie in aller Klarheit hören müssen, ist, dass man nie eine in sich schlechte Tat begehen kann, damit Gutes daraus entsteht. Vor kurzem brachte jemand genau diese Entschuldigung in der Beichte vor, und ich zögerte ein bisschen, bevor ich antwortete, aber als ich ihr mit ein bisschen Beklemmung eine klare Antwort gab, war sie sehr dankbar – es war wirklich ein Moment der Gnade. Der Heilige Vater stimmt der obigen Entschuldigung nicht ausdrücklich zu, aber sicherlich scheint der natürliche Eindruck, den man aus der Art, wie er sie zitiert, erhält, zu sein, dass er ihr zustimmt, und ich fürchte, dass es das ist, wie Menschen, die nach Entschuldigungen suchen, es aufnehmen werden.

An einer anderen Stelle schreibt er: „Ein Mensch kann, obwohl er die Norm genau kennt, große Schwierigkeiten haben ‚im Verstehen der Werte, um die es in der sittlichen Norm geht’, oder er kann sich in einer konkreten Lage befinden, die ihm nicht erlaubt, anders zu handeln und andere Entscheidungen zu treffen, ohne eine neue Schuld auf sich zu laden.“ (AL, 301) Wiederum, man kann das über bestimmte Handlungen in der Vergangenheit sagen, aber wenn jemand seine ganze zukünftige Lebensweise bedenkt, ist es sehr gefährlich, so etwas zu sagen. Wir wissen, dass es nie notwendig ist, eine Handlung zu begehen, die in sich schlecht ist; Gott gibt uns immer einen Ausweg. Natürlich kann man vorhersehen, dass es wahrscheinlich ist, dass man in einer bestimmten Situation in eine Sünde fallen wird, die zur Gewohnheit geworden ist, aber man kann niemals beabsichtigen, weiterhin Handlungen zu begehen, die objektiv schlecht sind. Wie ist es möglich für jemanden in einer solchen Situation, ehrlich Gott als sein letztes Ziel, höchstes Gut und größtes Glück zu suchen? Man muss diese Art der Argumentation nur auf andere Arten der Sünde anwenden, um zu sehen, wie absurd sie ist. Der Heilige Vater ist immer sehr beredt in seiner Verurteilung von Sünden gegen die Armen gewesen. Bedenken Sie den Fall eines Priesters, der zu einem Kapitalisten, der seinen Arbeitern den gerechten Lohn vorenthält, sagen würde „Sie sind wahrscheinlich im Stand der Gnade, da Sie, obwohl Sie die Forderungen des Evangeliums kennen, nicht fähig sind, ihre inneren Werte zu verstehen.“ Was würde der Heilige Vater zu einem solchen Priester sagen? Er wäre entsetzt, und sehr zu Recht. Ein solcher Priester sollte sagen, was der Heilige Vater selbst sagt: „dadurch, dass sie sich immer hermetischer vor Christus verschließen, der im Armen weiter an die Tür ihres Herzens klopft, [verurteilen sie sich] am Ende […] selbst dazu […], in jenem ewigen Abgrund der Einsamkeit zu versinken, den die Hölle darstellt.“ (Papst Franziskus, Botschaft zur Fastenzeit 2016) Das ist es, was auch Menschen, die beabsichtigen, ein Leben des kontinuierlichen Ehebruchs zu leben, hören müssen.

Also denke ich, zu sagen, dass Personen, die die Forderungen des Evangeliums kennen, beabsichtigen können, weiterhin Handlungen zu begehen, die ihm in schwerwiegender Weise entgehen stehen, bedeutet, solchen Personen ihre Würde als moralfähige Subjekte abzusprechen, die Kraft der synderesis [Gewissen] in ihren Herzen zu leugnen, und ihnen eine Ausrede an die Hand zu geben, um sich selbst in diesem Leben und dem kommenden unglücklich zu machen.

(Quelle hier. Pater Waldstein geht übrigens zuerst auch noch auf die sehr wichtige grundsätzliche Frage ein, in welchen Dingen man als Katholik anderer Meinung sein darf als der Papst.)

Es ist wirklich eine Entwürdigung der wiederverheiratet Geschiedenen, ihnen nicht zuzutrauen, um der Liebe zu Christus willen ihr Leben auf Ihn auszurichten.

Am lächerlichsten in der ganzen Diskussion finde ich es irgendwie immer, wenn angedeutet wird, „früher“ sei das ja alles schön und gut gewesen, aber „heute“ könnten die Menschen eine so strenge Moral einfach nicht mehr fassen, man müsse sich an die moralischen Fähigkeiten der Menschen anpassen und schauen, womit sie zurechtkämen, oder so.

Na ja. Mir wäre nicht bekannt, dass sich die hormonelle Verfasstheit des homo sapiens in den vergangenen paar Generationen dementsprechend verändert hätte, dass er „heute“ nicht mehr in der Lage ist, Triebe zu kontrollieren, mit denen er „früher“ noch spielend fertig wurde. Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber die Ehelehre der Kirche war zu allen Zeiten auch oft schon unbeliebt, wenn auch nicht immer so unbeliebt wie heute. Herodes Antipas heiratete seine Schwägerin Herodias, die sich von seinem Bruder Philippus getrennt hatte, Johannes der Täufer sagte zu ihm „Du hattest nicht das Recht, sie zur Frau zu nehmen“, und das Ergebnis war, dass Herodes Johannes auf Herodias’ Betreiben hin köpfen ließ. Papst Nikolaus der Große (Papst 858-867) musste dem Frankenkönig Lothar II. entgegentreten, der sich von seiner Frau Theutberga scheiden lassen und seine Mätresse Waldrada heiraten wollte. Der König brachte sogar ein Regionalkonzil in Metz dazu, sich auf seine Seite zu stellen – Nikolaus annullierte dessen Beschlüsse und exkommunizierte beteiligte Bischöfe, und Lothar ließ dann sogar Rom belagern; aber Nikolaus blieb fest. Heinrich VIII. erklärte sich selbst zum Oberhaupt der Kirche von England, weil die Kirche festgestellt hatte, dass seine Ehe mit Katharina von Aragon gültig war (während er selbst sich „sicher war“, dass sie ungültig war, und unbedingt Anne Boleyn heiraten wollte), und die Kirche gab dennoch nicht nach; sie gab lieber England verloren, als eine einzige Frau im Stich zu lassen. Auch im 18. und 19. Jahrhundert wurde die katholische Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe oft genug angegriffen. Das ist alles nichts Neues.

Ich erinnere mich, dass ich mich nicht lange nach Erscheinen von AL einmal mit einem Priester unterhalten habe, und das Gespräch dabei auf dieses Thema kam. Ich sagte etwas in der Art, dass es ja, wenn es keine anderen Lösungen für die Situation gäbe, immer noch theoretisch möglich sei, in der zweiten Beziehung enthaltsam zu leben, was ja niemandem unmöglich sei. Er gab mir so halb Recht, sagte aber dann irgendsoetwas wie, na ja, wir beide (er und ich) seien ja vielleicht nicht so triebgesteuert, aber andere Menschen täten sich da vielleicht schwerer – ich weiß den genauen Wortlaut wirklich nicht mehr, aber ich glaube, das Wort „triebgesteuert“ kam tatsächlich vor. Es war wirklich unfreiwillig komisch. Und unfreiwillig herablassend gegenüber den Menschen, um die es ging. Ich glaube schon, dass er es vollkommen ernst meinte; ich halte ihn für einen Priester, der selbst ganz selbstverständlich den Zölibat einhält, gleichzeitig aber besorgt um die „Barmherzigkeit“ gegenüber Menschen in „irregulären Situationen“ ist, und beides nicht unbedingt logisch zusammengebracht hat. Ich halte es nämlich für unwahrscheinlich, dass er oder ich fundamental andere „Triebe“ haben als andere Mitglieder unserer Spezies.

Es ist klar, dass es schwierige Situationen im Leben gibt. Das Leben ist voll von Dilemmata, Fehlern und imperfekten Alternativen. Es ist nur so, dass es die Sache nie besser macht, wenn man sich die Wirklichkeit anders zurechtlegt, als sie ist.

Ich mache mir keine soo furchtbaren Sorgen wegen der momentanen Streitereien um AL. Die Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe wird nicht geändert werden, da passt der Heilige Geist schon auf. Aber unkluge und unlogische pastorale Handhabungen von Situationen bestimmter Menschen, falsche oder wenig hilfreiche Äußerungen von Theologen, einzelnen Bischöfen und (vielleicht) sogar dem Papst, wenn er nicht unfehlbar spricht, könnte es trotzdem durchaus noch geben. Eine allgemeine Verwirrung zur Lehre der Kirche und zur Frage der pastoralen Handhabung könnte es geben – die ist ja wohl schon teilweise da. Irgendwann wird sich das dann schon wieder legen, aber die Situation im Moment ist tatsächlich nicht so gut – vor allem, seitdem Papst Franziskus auf die Dubia keine Antwort gegeben hat, wofür ich mir beim besten Willen keinen Grund vorstellen kann.

Ach ja, eins noch: Eigentlich klar sollte übrigens auch sein, dass man unklare Stellen in lehramtlichen Texten im Licht klarer Stellen in anderen lehramtlichen Texten interpretiert… also kann man auch einfach einen Blick in den Katechismus werfen, wenn man wissen will, wie irgendeine Sache aussieht, anstatt sich über die Interpretation einer bestimmten Fußnote in einem 300-seitigen Text (wieso werden päpstliche Schreiben eigentlich immer länger und länger?) zu streiten.

Über den „inneren Wert“ der Unauflöslichkeit der Ehe, soweit wie ich ihn so begriffen habe, habe ich übrigens auch hier schon etwas geschrieben. Ich denke irgendwie, die ganze Debatte geht auch ein bisschen in die falsche Richtung. Das grundlegende Problem ist ja, dass viele Menschen einfach nicht verstehen, was überhaupt so schlimm daran sein soll, wenn man sich trennt, wenn man sich nicht mehr versteht, und dann einen neuen Partner findet. Sprich, die Fokussierung auf den Kommunionempfang ist falsch; es geht darum, den Sinn, den Wert in lebenslanger Treue in guten wie in schlechten Tagen wieder erkennbar zu machen. Es geht um die Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe an sich. Da müssen wir als Katholiken wirklich wieder besser erkennbar machen, wieso wir eigentlich daran glauben, und wieso das so wichtig ist.

So, das waren soweit meine Gedanken zu Amoris Laetitia. Ich gehöre ja nicht zu denen, die pastorale Verantwortung tragen (zum Glück, könnte ich sagen), und so werde ich mich dann mal wieder interessanteren Themen zuwenden. Schwierigen Bibelstellen. St. Edmund Campion. Kinderbüchern. Guter Musik. Whatever.

Franz von Sales über geduldige Bekehrung

Hier mal wieder ein Tipp vom hl. Franz von Sales aus dem Kapitel über die Läuterung der Seele in der „Philothea“ (Hervorhebungen von mir):

 

Der hl. Paulus wurde in einem Augenblick und vollständig geläutert; ebenso die hl. Katharina von Genua, Magdalena, Pelagia und einige andere. Eine derart plötzliche Läuterung ist ein Wunder und in der Gnadenordnung so außergewöhnlich, wie etwa die Erweckung eines Toten in der Ordnung der Natur; wir dürfen sie also nicht anstreben. Gewöhnlich geschieht die Genesung des Leibes wie der Seele nur allmählich, Schritt für Schritt, von Stufe zu Stufe, mit großem Aufwand an Mühe und Zeit.

 Die Engel auf der Jakobsleiter haben Flügel, sie fliegen aber nicht, sondern steigen die Stufen auf und ab, eine nach der anderen. Eine Seele, die von der Sünde zur Frömmigkeit emporsteigt, wird mit der Morgenröte verglichen (Spr 4,18), die nicht plötzlich, sondern nur allmählich die Finsternis vertreibt. Eine Heilung, die nur langsam vor sich geht, bezeichnet der Volksmund als die sicherste. Die Krankheiten der Seele wie des Leibes kommen wie zu Pferd im Galopp, ziehen aber zu Fuß und im Schritt ab.

 Bei diesem Beginnen musst du also Mut und Geduld haben. Wie bedauernswert sind doch Menschen, die nach anfänglichem Bemühen um die Frömmigkeit merken, dass sie noch mit verschiedenen Unvollkommenheiten behaftet sind, darüber unruhig, verwirrt und mutlos werden und nahe daran sind, alles aufzugeben und sich wieder der Sünde zu überlassen!

 Andererseits ist für manche Menschen eine entgegengesetzte Versuchung gefährlich; sie reden sich selbst ein, dass sie schon vom ersten Tag an von allen Unvollkommenheiten frei seien; sie glauben fertig zu sein, ehe sie richtig angefangen haben; sie setzen zum Flug an, bevor ihnen Flügel gewachsen sind. In welcher Gefahr eines Rückfalls schweben doch solche Menschen, weil sie sich zu früh den Händen des Arztes entzogen haben! „Steh nicht auf, bevor es Tag geworden“, sagt der Prophet; „steh erst auf, nachdem du ausgeruht“ (Ps 127,2). Er hielt sich selbst daran; da er schon gewaschen und gereinigt war, betete er darum, es noch mehr zu werden (Ps 51,4).

 Das Bemühen um die Reinigung unserer Seele kann und soll nur mit unserem Leben ein Ende finden. Regen wir uns also nicht auf über unsere Unvollkommenheiten: unsere Vollkommenheit besteht eben darin, dass wir die Unvollkommenheiten bekämpfen. Wir können sie aber nicht bekämpfen, wenn wir sie nicht sehen; wir können sie nicht überwinden, wenn wir ihnen nicht begegnen. Unser Sieg besteht nicht darin, dass wir sie nicht wahrnehmen, sondern darin, dass wir uns ihnen nicht beugen. Der aber beugt sich ihnen nicht, der sie unangenehm empfindet. Zur Übung der Demut müssen wir wohl manchmal in diesem geistlichen Kampf verwundet werden; besiegt wären wir aber erst dann, wenn wir das Leben oder den Mut verloren hätten. Unvollkommenheiten und lässliche Sünden zerstören nicht das geistliche Leben; es geht nur durch die Todsünde verloren. Eines ist also notwendig: den Mut nicht verlieren! „Befreie mich, Herr, von Feigheit und Mutlosigkeit“ (Ps 55,17f), betete David. Es ist ein Glück für uns, dass wir in diesem Krieg immer Sieger sind, solange wir nur kämpfen wollen.

Über schwierige Bibelstellen, Teil 3: Über Historizität, Genres und „wörtlich gemeint“

[Dieser Teil wurde noch einmal überarbeitet. Alle Teile hier.]

(Ich habe die geplante Reihenfolge ein bisschen umgestellt: Hier also jetzt erst mal zu den historischen Fragen.)

Wenn man von dem Grundsatz „Die Aussageabsicht der biblischen Schriftsteller ist irrtumslos“ ausgeht, ist eine wichtige Frage bei der Interpretation von Bibelstellen natürlich immer: Ist das überhaupt so passiert? Ist das historisch? Ist das wörtlich gemeint? Ist das nicht nur eine bildliche, mythische Geschichte anstatt ein historisches Faktum?

Zunächst einmal ist „wörtlich“ nicht automatisch dasselbe wie „historisch“ – Anweisungen in einem Brief können sehr wörtlich gemeint sein, beschreiben aber keine historischen Ereignisse, auch wenn sie wiederum aus konkreten historischen Situationen resultieren und die Briefe selber historisch sind –, aber, um zum eigentlich Punkt zu kommen: Ja, wie ich bereits gesagt habe, in der Bibel geht es grundsätzlich um reale, historische Ereignisse. Der grobe Handlungsverlauf ist ein historischer, und er sieht folgendermaßen aus: Schöpfung, Sündenfall, Erlösung.

Gott erschafft die Welt und die Menschen (Genesis 1-2), die Menschen wenden sich von Gott ab und stürzen sich selbst ins Unglück (Genesis 3), Gott versucht, die Situation wieder geradezubiegen (Genesis 4 – Offenbarung 22). Der letzte Teil ist natürlich ein sehr langwieriges Unterfangen, und er beginnt damit, dass Gott sich aus allen Völkern ein Volk erwählt, die Israeliten, dieses Volk durch die Jahrhunderte hindurch führt und schützt und ihm immer wieder Propheten sendet. Das ist alles letztlich eine Vorbereitung für die direkteste Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus: Er wird zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte geboren, gekreuzigt und wieder auferweckt. Die von ihm auserwählten Apostel beginnen nun, das Evangelium, die Frohe Botschaft, allen Menschen, Juden wie Heiden, zu verkünden. Das alles müssen historische Fakten sein, oder das Christentum macht keinen Sinn.

Die Evangelien sind entweder historisch oder falsch. Sie sind keine Mythen, die irgendwelche zeitlosen Wahrheiten vermitteln. Ihr Genre ist übrigens das der antiken Biographie, in der von der Herkunft und Geburt, den wichtigen Taten, dem Tod und dem Nachleben berühmter Männer erzählt wird; ein Genre der Geschichtsschreibung. Dass die Evangelien Geschichtsschreibung zu sein beanspruchen, zeigt z. B. schon Lukas in seinem Vorwort: „Schon viele haben es unternommen, eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen, die sich unter uns erfüllt haben. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen bin, es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest.“ (Lk 1,1-4) Auch die Fortsetzung des Lukasevangeliums – die Apostelgeschichte – ist Geschichtsschreibung. Natürlich gibt es auch im Neuen Testament einige Bücher, die  an sich keine Geschichtsschreibung sind – die vielen Briefe, und die Offenbarung des Johannes. Aber auch in ihnen geht es um Geschichtliches. „Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben vom Wort des Lebens – das Leben ist erschienen und wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist – , was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt.“ (1 Johannes 1,1-3) Die Offenbarung des Johannes ist im NT das Buch, das am meisten Allegorien und Bilder enthält; aber auch diese beziehen sich auf Reales und bedeuten etwas.

Wenn wir ins Alte Testament schauen, bietet sich ein ähnliches, aber manchmal schwieriger zu deutendes Bild. Hier haben wir auch Geschichtsschreibung, z. B. die Bücher der Makkabäer, die Bücher der Chronik, oder die Bücher der Könige. Außerdem gibt es Bücher, die ganz deutlich keine Geschichtsschreibung sind, aber trotzdem natürlich in der Geschichte Israels wurzeln – die Psalmen, das Buch der Sprichwörter, das Buch der Weisheit. Diese Bücher fasst man unter dem Begriff der „Weisheitsliteratur“ zusammen, sie stehen zwischen den Geschichtsbüchern und den Prophetenbüchern.

Die Propheten befinden sich von ihrer Geschichtlichkeit her so irgendwo zwischen Geschichts- und Weisheitsbüchern. Sie befassen sich einerseits sehr wohl mit historischen Ereignissen, und gelegentlich gibt es auch Passagen, in denen konkrete Ereignisse erzählt werden. (Ein Beispiel: „In der Zeit, als Ahas, der Sohn Jotams, des Sohnes Usijas, König von Juda war, zogen Rezin, der König von Aram, und Pekach, der Sohn Remaljas, der König von Israel, gegen Jerusalem hinauf in den Krieg; aber man konnte den Krieg gegen es nicht führen. Als dem Haus David gemeldet wurde: Aram hat sich auf Efraim niedergelassen!, da zitterte sein Herz und das Herz seines Volkes, wie die Bäume des Waldes im Wind zittern. Der HERR aber sagte zu Jesaja: Geh hinaus, Ahas entgegen, du und dein Sohn Schear-Jaschub, zum Ende der Wasserleitung des oberen Teiches, zur Straße am Walkerfeld. Sag zu ihm: Hüte dich und verhalte dich still! Fürchte dich nicht und dein Herz sei nicht verzagt wegen dieser beiden rauchenden Holzscheitstummel, wegen des glühenden Zorns Rezins, Arams und des Sohnes Remaljas!“ (Jesaja 7,1-4)) Aber die Prophetenbücher enthalten eben nicht nur Erzählungen von Vergangenem, sondern auch Prophezeiungen über die Zukunft, und speziell oft über den Messias. Diese Prophezeiungen sind auch nicht an allen Stellen leicht zu deuten. Wie „wörtlich“ oder „bildlich“ sie gemeint sind, na, das hängt wohl davon ab, was der Prophet im Einzelfall sagen wollte. Wenn er sagt „Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht“ (Jesaja 11,1), dann kann man daraus logischerweise schließen, dass der Messias ein Nachfahre Isais (der der Vater Davids war) sein wird; dass hier nicht von Pflanzen die Rede ist, ist einsichtig. Andere Prophezeiungen – „Und sie werden auf mich blicken, auf ihn, den sie durchbohrt haben“ (Sacharja 12,10), „Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand“ (Psalm 22,19), etc. – haben sich letztlich als ziemlich wörtliche Vorausdeutungen erwiesen. Es gibt aber natürlich auch Beispiele schwieriger zu deutender Stellen als dieser hier. Propheten waren aber übrigens auch nicht ausschließlich dafür zuständig, die Zukunft anzukündigen, sondern oft gaben sie Ermahnungen für die Gegenwart (bei denen natürlich ständig auch auf Vergangenheit und Zukunft des Volkes Israel verwiesen wurde). Auch die sind oft sehr bildlich und nicht immer leicht zu verstehen, aber das heißt auch wiederum nicht, dass man sie einfach mit dem Kommentar „nicht wörtlich“ beiseite schieben kann.

Was mich angeht, ich liebe die Prophetenbücher übrigens, vor allem Jesaja, Hosea, Micha und Jeremia. Sie sind spannend und wunderbar zu lesen; ein bisschen verwirrend vielleicht am Anfang, wenn man noch nicht an ihren Stil gewöhnt ist, weil der Prophet ständig von Warnungen zu Verheißungen zu Gerichtsdrohungen zu historischen Rückblicken zu Verheißungen zu Gerichtsdrohungen zu Verheißungen übergeht. (Ein Beispiel gefällig? Aus dem ersten Kapitel bei Jesaja: „Wenn ihr eure Hände ausbreitet, verhülle ich meine Augen vor euch. Wenn ihr auch noch so viel betet, ich höre es nicht. Eure Hände sind voller Blut. Wascht euch, reinigt euch! Schafft mir eure bösen Taten aus den Augen! Hört auf, Böses zu tun! Lernt, Gutes zu tun! Sucht das Recht! Schreitet ein gegen den Unterdrücker! Verschafft den Waisen Recht, streitet für die Witwen! Kommt doch, wir wollen miteinander rechten, spricht der HERR. Sind eure Sünden wie Scharlach, weiß wie Schnee werden sie. Sind sie rot wie Purpur, wie Wolle werden sie. Wenn ihr willig seid und hört, werdet ihr das Beste des Landes essen.“ (Jesaja 1,15-19))

Jetzt noch zu den übrigen Büchern. Es gibt auch Bücher im AT, die für uns moderne Leser auf den ersten Blick den Eindruck einer historisch gemeinten Erzählung machen können, bei denen es aber Argumente gibt, sie für „bloße“ Beispielerzählungen zu halten, oder vielleicht für ausgeschmückte Geschichte: Gute Beispiele dafür sind Jona, Ijob und Judith. Wenn man wissen will, ob diese Bücher historisch sind, kann man sich ihre jeweiligen stilistischen Merkmale anschauen, und beginnt dabei am besten gleich am Anfang:

  • Jona beginnt mit: „Das Wort des HERRN erging an Jona, den Sohn Amittais: Mach dich auf den Weg und geh nach Ninive, der großen Stadt, und rufe über sie aus, dass ihre Schlechtigkeit zu mir heraufgedrungen ist.“ (Jona 1,1-2)
  • Ijob beginnt mit: „Im Lande Uz lebte ein Mann mit Namen Ijob. Dieser Mann war untadelig und rechtschaffen; er fürchtete Gott und mied das Böse.“ (Ijob 1,1)

Zum Vergleich dazu: 1 Makkabäer zum Beispiel beginnt mit einem Rückblick auf Alexander den Großen und seine Feldzüge („Und es geschah: Als der Mazedonier Alexander, Sohn des Philippus, damals vom Land der Kittäer ausgezogen war, besiegte er Darius, den König der Perser und Meder, und wurde als erster König von Griechenland sein Nachfolger“, 1 Makkabäer 1,1) und geht dann über zum „Jahr 137 der griechischen Herrschaft“ und dem Beginn der Herrschaft des Antiochus Epiphanes (1 Makkabäer 1,10). Die typischen Abschnitte des 2. Buches der Könige beginnen ungefähr so: „Im dreiundzwanzigsten Jahr des Joasch, des Sohnes Ahasjas, des Königs von Juda, wurde Joahas, der Sohn Jehus, König von Israel. Er regierte siebzehn Jahre in Samaria“ (2 Könige 13,1). Die historischen Bücher enthalten Ahnenlisten („Einst lebte ein Mann aus Ramatajim, ein Zufiter vom Gebirge Efraim. Er hieß Elkana und war ein Sohn Jerohams, des Sohnes Elihus, des Sohnes Tohus, des Sohnes Zufs, ein Efraimiter“, 1 Samuel 1,1), Bezüge zu den Regierungszeiten von verschiedenen Herrschern (z. B. der Könige von Juda, Israel, Edom, Aram, oder auch der ägyptischen Pharaonen oder der assyrischen oder persischen Großkönige), Bezüge zu bestimmten, meistens inzwischen archäologisch identifizierten Orten, und Erzählungen von Kriegen, Aufständen, Hungersnöten, Deportationen, höfischen Intrigen, großen Wallfahrten, Bauprojekten, Königsernennungen und so weiter; und diese ganze Handlung wird in einen historischen Rahmen eingeordnet und man kann auf der Karte relativ gut nachvollziehen, von wo aus wohin ein Feldzug geführt wurde oder eine Nomadengruppe zog.

Wenn man damit die spärlichen Informationen in Jona und Ijob vergleicht: „Jona, der Sohn Amittais“; das ist so, als würde man eine Figur namens „Hans Meier“ einführen, ohne zu erklären, wo und wann dieser „Hans Meier, der das und das tat“ lebte. Das ist etwas ganz anderes als ein „Hans Meier, geboren 1967 in München (Sohn des Papierfabrikanten Helmut Meier, der Jahre zuvor als Vertriebener aus Schlesien gekommen war), der in den Jahren nach 2010 das und das tat“. „In Amerika lebte ein Mann namens John“ – ungefähr so genau ist die Angabe im Buch Ijob. Das ist ein erstes Anzeichen dafür, dass dem Autor dieses Buches die historische Einordnung seiner Figur wohl nicht so wichtig war, und dass es somit auch möglich ist, dass es sich um gar keine historische Figur handelt; es kommt auf die Botschaft der Geschichte an, nicht darauf, ob sie genau so zu irgendeinem Zeitpunkt passiert ist.

Aber das ist nicht das einzige Kriterium: Nehmen wir jetzt das Buch Judith. Hier könnte man als moderner Leser auf den ersten Blick denken, na also, hier wird die Handlung ja wohl genau in die Regierungszeiten bedeutender Herrscher eingeordnet, also wird das wohl ein historisches Buch sein. Nun ja; nicht unbedingt.

Ich möchte hier Joe Heschmeyer zitieren (Übersetzung von mir; er argumentiert hier übrigens gegen Protestanten, die das Buch Judith nicht als Teil der Bibel anerkennen, nicht gegen Atheisten):

„Das Buch Judith beginnt so: ‚Es war im zwölften Jahr des Nebukadnezzar, der in der großen Stadt Ninive als König der Assyrer regierte. Zur gleichen Zeit regierte damals in Ekbatana Arphaxad als König der Meder.’ Warte mal, sagen die modernen Protestanten. Nebukadnezzar, König der Assyrer? Der Kerl war König der Babylonier.

Worauf der Autor von Judith sagen würde: ‚Offensichtlich.’ Ich meine, es ist eine Sache, wenn ein moderner Protestant denkt, dass ein gewöhnlicher Leser sich nicht erinnert, ob Nebukadnezzar König der Assyrer oder der Babylonier war, aber glaubt er ernsthaft, dass eine vorchristliche Leserschaft aus Diaspora-Juden diesen Fehler nicht bemerken würde… und zwar sofort? Die Babylonische und die Assyrische Gefangenschaft gehörten zu den wichtigsten und traumatischsten Ereignissen in der jüdischen Geschichte, und ein großer Teil des Alten Testaments, das sie studierten, behandelt diese zwei Ereignisse… als eigenständige Ereignisse. Im Wesentlichen eroberten die Assyrer das Nordreich Israel und die Babylonier eroberten das Südreich Juda. Von diesen beiden Eroberungen haben wir die ‚verlorenen Stämme Israels’, die Zerstörung des Ersten Tempels, und, ach ja, die Entstehung der Diasporagemeinden, die diese Texte als Heilige Schriften annahmen. Diese Ereignisse hatten einen massiven Einfluss.

Man musste nicht gebildet sein, um den Unterschied zwischen den Assyrern und den Babyloniern zu kennen, aber wahrscheinlich waren die Leser von Judith das auch. Halten es diese ‚Skeptiker’ tatsächlich für plausibel, dass weder der Autor, noch die Schreiber, noch die Leser auch nur die grundlegenden Fakten ihrer eigenen Geschichte kannten? Das ist das biblische Äquivalent zu dem berühmten Satz aus dem Film ‚War es vorbei, als die Deutschen Pearl Harbor bombardiert haben?’. Oder, um vielleicht die zwei traumatischsten Ereignisse im modernen Judentum zu nehmen, es wäre, wie wenn eine moderne jüdische Quelle begänne ‚Als in Moskau Hitler das Oberhaupt der Sowjetunion war…’, und niemand bemerkt es.

Glaubt irgendjemand, dass die Diasporajuden (oder irgendjemand) so dumm waren? Dass sie nicht nur ihre eigenen Heiligen Schriften nicht kannten, sondern nicht einmal ihre eigene Geschichte? Sicher, ein paar Leute würden es vielleicht übersehen, wie die Leute, die auf den alten ‚Wie viele Tiere hat Moses auf seine Arche mitgenommen?’-Trick hereinfallen. Aber wie gesagt, das war nicht nur die Heilige Schrift, es war Geschichte. Jüdische Geschichte war wie Moses und George Washington in einem, die Quelle ihrer nationalen, ethnischen und religiösen Identität. Man könnte genauso gut glauben, dass der Autor von Offenbarung 11,8 wirklich glaubte, dass Jesus in Sodom, Ägypten gekreuzigt wurde. [Offb 11,8 lautet: „Diese Stadt heißt, geistlich verstanden: Sodom und Ägypten; dort wurde auch ihr Herr gekreuzigt.“]

Also was ist hier los? Oder eine bessere Frage ist vielleicht: ‚Wieso würde eine jüdische Leserschaft, die schon ab dem ersten Vers des Buches wüsste, dass das keine traditionelle Geschichtsschreibung war, es als Heilige Schrift anerkennen?’ Na ja, ich denke, dass das, was hier vor sich geht, dasselbe ist, das im Buch der Offenbarung passiert: es gibt einen epischen historischen Kampf, der in einer Mischung aus historischer und metaphorischer Sprache dargelegt wird. Gliedern wir den ersten Vers auf, um einen Sinn dafür zu bekommen:

 ‚Es war im zwölften Jahr des Nebukadnezzar, der in der großen Stadt Ninive als König der Assyrer regierte. Zur gleichen Zeit regierte damals in Ekbatana Arphaxad als König der Meder.’

Also, die Akteure auf der Bühne sind: Nebukadnezzar, das Assyrische Reich (und speziell Ninive), und Arphaxad, der über die ‚Meder in Ekbatana’ herrschte. Es gibt weder zur Zeit des Babylonischen noch des Assyrischen Reiches einen medischen Herrscher namens Arphaxad, aber Arphaxad kommt tatsächlich anderswo in der Bibel vor. Er ist einer der Söhne von Noahs Sohn Sem, und die jüdische Tradition assoziierte die verschiedenen Völker des Mittleren Ostens mit jedem der Söhne und Enkel Noahs. Der jüdische Historiker Flavius Josephus aus dem ersten Jahrhundert hatte das hier in seinem ersten Buch über die Jüdischen Altertümer zu sagen:

Sem, der dritte Sohn Noahs, hatte fünf Söhne, die das Land bewohnten, das am Euphrat begann und zum Indischen Ozean reichte. Denn Elam hinterließ nach ihm die Elamiter, die Vorfahren der Perser. Assur lebte in der Stadt Ninive; und nannte seine Untertanen Assyerer, die zur am meisten vom Glück begünstigten Nation wurden, jenseits anderer. Von Arphaxad kommt der Name der Arphaxaditer, die nun Chaldäer genannt werden. (Buch 1, Kapitel 6).

Also haben wir nun Judith, deren Name einfach nur ‚Jüdin’“ bedeutet, die gegen die vereinten Gewalten der Babylonier, Assyrer, Meder und Chaldäer anzukämpfen hat. Die Geschichte geht in einem ähnlichen Stil weiter. Wenn man genau hinschaut, sieht man die Taten verschiedener realer jüdischer Frauen zusammengezogen in etwas, das anscheinend eine umfassende Erzählung über die Art und Weise ist, wie gläubige Jüdinnen gewaltige Hindernisse in einer korrupten Welt der Männer überwunden haben. In anderen Worten, dies ist Genesis 3,15, umgesetzt im Lauf der ganzen Geschichte, und in diesem Buch auf besonders schöne Weise zusammengebracht. [Genesis 3,15 ist eine Prophezeiung, die Gott nach dem Sündenfall zur Schlange spricht: „Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf und du triffst ihn an der Ferse.“ (Das Pronomen im zweiten Satz kann übrigens sowohl mit „er“ als auch mit „sie“ übersetzt werden.) Man bezeichnet diesen Vers auch als „Protoevangelium“, da er im Besonderen auf Maria und ihren Sohn Jesus Christus hindeutet: Satan trifft sozusagen Gottes Achillesferse mit der Kreuzigung, aber es ist Satans Kopf, der durch den Sohn der Frau zermalmt wird. Daher wird die Gottesmutter mit ihrem Sohn im Arm auch gerne mit einer Schlange unter ihrem Fuß dargestellt.] […]

Auch wenn wir Elemente früherer Frauen des Alten Testaments, wie Esther, Deborah und insbesondere Jael (aus Richter 4-5) in diesen Stellen sehen, sind sie über gläubige Frauen im Allgemeinen. Deshalb sagt Judith 15,12-13, dass, nachdem sie den bösen Befehlshaber Holofernes tötete, ‚[a]lle Frauen in Israel herbei [eilten], um Judit zu sehen, und ihr Lob [sangen]. Als sie sich ihr zu Ehren zu einem Festreigen aufstellten, nahm Judit belaubte Zweige in die Hand und gab auch den umstehenden Frauen davon. Sie und ihre Begleiterinnen setzten sich Kränze von Ölzweigen auf, und so ging sie vor dem ganzen Volk her und führte den Festreigen der Frauen an. Ihr folgten alle Männer von Israel in Waffen und mit Kränzen geschmückt. Von allen Lippen ertönten Loblieder.’

Mit anderen Worten, das ist ein Triumph aller gläubigen Frauen in Israel, und, wie an ihren ritterlichen Gefolgsmännern gesehen werden kann, auch aller gläubigen Männer.“

Man könnte das Buch Judith – und andere Bücher, die historisch auf den ersten Blick unsinnige Angaben enthalten, also z. B. mit einer Karikatur über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vergleichen, in der Hitler und Stalin gemeinsam am Kaffeetisch sitzen und sich einen Kuchen mit der Aufschrift „Polen“ teilen, während der britische Premier Chamberlain als Butler daneben steht, oder mit einer Karikatur über Christenverfolgung im Lauf der Geschichte, in der Nero, Robespierre und Kim Jong Un zusammen ein Kreuz aufrichten. Natürlich saßen Hitler und Stalin nie gemeinsam am Kaffeetisch, ebenso wenig wie Nero und Robespierre einander je getroffen haben, aber das ist eben auch gar nicht gemeint, sondern es geht um größere Zusammenhänge. Ein anderes Beispiel wäre das Buch Tobit. Generell macht es einen sehr historischen Eindruck und ist sicher auch historisch, nur ganz am Ende fällt etwas auf; da heißt es: „Vor seinem Tod hörte er [Tobias] noch vom Untergang Ninives, das von Nebukadnezzar und Xerxes erobert wurde“ (Tobit 14,15). Das assyrische Ninive wurde allerdings nur von dem Babylonier Nebukadnezzar erobert; der Perser Xerxes, der wiederum Babylonien eroberte, kam später; Tobias kann also nur von Nebukadnezzar gehört haben. Dieser letzte Satz stellt einfach dar, dass das Assyrischen Großreich durch das Reich der Babylonier und dann später der Perser abgelöst wurde (und macht damit auch deutlich dass auch die Reiche der Feinde des jüdischen Volkes sehr vergänglich sind).

Elemente scheinbar geschichtlicher Bücher, die vielleicht doch nicht so geschichtlich sind, sind also z. B. sehr vage oder gar keine historischen und geographischen Angaben (Jona, Ijob), wobei das die Geschichtlichkeit noch nicht ausschließt, oder eben historisch nachweislich unsinnige Angaben, die auch der damaligen Leserschaft sofort als unsinnig ins Auge gefallen wären (Judith). Auch das ist natürlich noch kein letztgültiger Beweis, dass an ihnen nichts Historisches ist. Sie könnten trotzdem auf tatsächlichen Personen und Begebenheiten beruhen. Wir wissen es nicht.

Okay, jetzt endlich genauer zur Frage nach der Historizität von Büchern wie den fünf Büchern Mose, Josua, Richter, den Samuelbüchern, den Büchern der Könige, den Büchern der Chronik, Esra oder Nehemia. Sind die Erzählungen darin historisch? Sind sie in allen Einzelheiten historisch? Sind sie es ihrer Absicht nach? Berichten sie nachgewiesenermaßen Wahres?

Wenn man rein säkular-archäologisch an die Sache herangeht, muss man manchmal sagen: Das können wir nicht wissen.

Von zentraler Bedeutung ist, denke ich: Manche historischen Angaben im Alten Testament können schwere durch andere Quellen gestützt werden, aber widerlegt sind sie nicht. Manche Leute behandeln eine biblische Geschichte als widerlegt, weil es nicht noch eine andere Quelle zu ihr gibt; das ist offensichtlich lächerlich.

In der Alten Geschichte, also z. B. der griechischen oder römischen, finde ich es immer wieder erstaunlich, wie wenig Quellen wir eigentlich haben; da kann eine neu entdeckte Inschrift oder ein Papyrus schon mal interessante neue Blickwinkel auf eine spezielle Frage eröffnen. Man kann die Quellen, die wir zu Cäsar oder Sokrates haben, einfach nicht mit den Quellen vergleichen, die wir über, sagen wir mal, Napoleon oder Hitler haben. Kein Historiker bricht in Begeisterungsstürme aus, wenn ein neues Tagebuch eines Weltkriegssoldaten entdeckt wird. Er kann sich vor für seine Doktorarbeit auszuwertenden Quellen zu diesem Krieg sowieso kaum retten. Ein Althistoriker dagegen, der eine Schrift eines Teilnehmers an irgendeinem griechischen Feldzug gegen die Perser entdeckte, könnte sein Glück vermutlich kaum fassen. Natürlich wissen wir trotzdem einiges über die antike Geschichte, die Quellen, die wir haben, geben schon etwas her, aber sehr vieles bleibt auch im Dunkeln, und viele Angaben in den Quellen können nicht überprüft werden, weil wir nur ein oder zwei Quellen zu genau dieser speziellen Frage haben.

In der altorientalischen Geschichte ist es noch einmal anders. Da kann eine neu entdeckte Inschrift schon mal ganze Theorien über die Geschichte eines Volkes umstürzen. Da haben wir manchmal so wenig Quellen, dass man nicht nur nicht so genau weiß, wie das Frauenbild der Israeliten zur Zeit des Königs David war oder wie die Kriege zwischen Israel und den Philistern abliefen, sondern dass es schon eine Sensation ist, wenn man eine Inschrift aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. entdeckt, in der die Worte „Haus Davids“ vorkommen, anhand derer man belegen kann, dass König David eine historische Person war.

Verantwortlich für diese extrem schlechte Quellenlage (die noch schlechter ist als die zur Zeit der Völkerwanderung) ist, abgesehen von den zusätzlichen Jahrhunderten, die seither vergangen sind, ein Ereignis, das leider ausgerechnet in die Anfänge der jüdischen Geschichte fällt, und das der Archäologe Eric H. Cline ganz passend als den „erste[n] Untergang der Zivilisation“ bezeichnet hat.

In der Spätbronzezeit gab es im östlichen Mittelmeerraum einige große, wohlhabende, gut miteinander vernetzte Zivilisationen – Ägypten, die Hethiter in Kleinasien, die Stadtstaaten in Kanaan, die entweder den Ägyptern oder den Hethitern hörig waren, die minoische Kultur auf Kreta, die mykenische auf dem griechischen Festland, usw. Aber eben grob in dem Zeitraum um 1200 v. Chr. (Ende der Bronze- und Anfang der Eisenzeit) brachen diese Zivilisationen teilweise völlig zusammen. Etliche Städte wurden in dieser Zeit zerstört und nicht mehr aufgebaut, die Überlebenden ließen sich vielerorts in kleinen Sippen auf dem Land nieder, der Handel brach zusammen, und in den folgenden Jahrhunderten – den „Dunklen Jahrhunderten“, wie man sie nennt – sah es mit Palästen, Kunstwerken oder auch bloß schriftlichen Aufzeichnungen relativ schlecht aus. Es war wirklich ein Zusammenbruch der Zivilisation, wie er höchstens noch mit dem durch die Völkerwanderung verursachten in Spätantike/Frühmittelalter in Westeuropa verglichen werden kann. Dieser Zusammenbruch hatte wahrscheinlich mehrere Ursachen – es ist belegt, dass sich das Klima veränderte und es Dürreperioden und damit Hungersnöte gab, und außerdem auch eine lange Reihe von Erdbeben. Ein nicht zu unterschätzender Faktor müssen außerdem die „Seevölker“ gewesen sein. Diese Seevölker, zu denen auch die Philister zählen, waren Völker, die (vielleicht wegen Hungersöten) irgendwo aus dem westlichen Mittelmeerraum auswanderten (evtl. aus Sardinien, Sizilien, o. Ä., oder vielleicht auch aus dem ägäischen Raum?), und in den östlichen Mittelmeerraum zogen und dabei offensichtlich auch nicht immer friedlich blieben. Allen, die sich mehr dafür interessieren, würde ich Clines Buch „1177 v. Chr. – Der erste Untergang der Zivilisation“ empfehlen. (1177 ist das Jahr einer Schlacht zwischen Pharao Ramses III. und den Seevölkern, die Cline als Markierungspunkt für diese Epochenwende nimmt. Die ägyptische Kultur überlebte übrigens, im Gegensatz etwa zur minoischen oder hethitischen, aber Ägypten wurde sehr geschwächt und konnte z. B. keine Kontrolle mehr über Kanaan ausüben wie bisher.) Der Exodus der Israeliten könnte etwa 1250 v. Chr. stattgefunden haben, und damit fallen die ersten Phasen der Geschichte des jüdischen Volkes eben in genau diese dunklen Jahrhunderte. Das hatte für Israel damals auch gewisse Vorteile – wie gesagt, die Großmächte verloren ihre Macht und damit konnten sich die kleineren Völker wie eben Israeliten, Philister oder Aramäer ihre eigenen Staaten aufbauen. Aber für die Quellenlage ist es eben schade.

Das eigentliche Problem beim AT ist, dass wir in vielen Fällen nicht wissen, wann die alttestamentlichen Bücher selbst geschrieben wurden: noch relativ nahe an den Ereignissen oder erst Jahrhunderte später? Wurden ältere Texte zu einem Text zusammengefügt? Wurden diese Texte dabei verändert? Usw. Diese Fragen versuchen hauptsächlich Exegeten zu beantworten, indem sie den Stil der Texte studieren; aber solange wir keine Originaltexte aus dem Jahr 500 oder 700 oder 1000 v. Chr. finden, bleiben alle Theorien von Exegeten – und z. B. zur Entstehung der fünf Bücher Mose gibt es wahrscheinlich so viele Theorien wie Exegeten – reine Spekulation ohne viele Grundlagen. Im Grund genommen ist diese Art des Bibelstudiums eine Pseudowissenschaft.

Beim NT ist das alles nicht so schwer. Wir haben sehr viele antike Manuskripte, und selbst die Spätdatierer unter den Exegeten datieren heutzutage kein einziges unter den neutestamentlichen Büchern später als 120 n. Chr., und erkennen auch an, dass einige der Paulusbriefe auch schon von ungefähr 50 n. Chr. sind. (Früher gab es wildere Spekulationen. Aber z. B. die Idee, das Johannesevangelium stamme aus dem Ende des 2. Jahrhunderts, hatte sich spätestens dann erledigt, als man in Ägypten einen Schnipsel eines Manuskripts des Johannesevangeliums fand, der sich auf 100-125 n. Chr. datieren ließ.) Wir wissen auch aus anderen Quellen, von wann bis wann Pontius Pilatus Statthalter in Judäa war, haben einige Informationen über Herodes den Großen (den mit dem Kindermord in Bethlehem) und seinen Sohn Herodes Antipas (den, der Johannes den Täufer köpfen ließ), wissen, wie und bei welchen Verbrechen die Römer Kreuzigungen durchzuführen pflegten, und so weiter und so fort. Das ist alles nicht so schwer.

Hier nun im Vergleich dazu die wichtigsten frühen außerbiblischen Schriftquellen zu im AT erwähnten Personen und Ereignissen:

  • Es gibt eine Inschrift von Pharao Merenptah aus dem Jahr 1208 v. Chr., die als „Israelstele“ bekannt ist, weil sich dort die erste bisher bekannte Erwähnung eines Volkes namens Israel findet, das unter anderen im Gebiet von Kanaan lebenden Völkern genannt wird. (Merenptah prahlte mit einem Sieg über diese Völker.)
  • Eine ins 9. Jahrhundert datierte Stele aus Nordisrael enthält, wie erwähnt, die Worte „Haus Davids“.
  • Eine Inschrift von Pharao Scheschonk von 925 v. Chr. passt mit einem Bericht in 1 Könige 14,25 über einen Angriff von Pharao „Schischak“ zusammen.
  • Eine Inschrift des assyrischen Königs Salmanassar III. aus dem Jahr 853 v. Chr. bestätigt die Existenz des israelischen Königs Ahab. Von Salmanassar gibt es auch eine Inschrift von 841 v. Chr., in der König Jehu erwähnt wird.
  • Eine andere Inschrift aus dem 9. Jahrhundert (die Mescha-Stele) erwähnt König Omri.
  • Aus dem 6. oder vielleicht 7. Jahrhundert wurden silberne Amulette mit Segenssprüchen gefunden, die große Ähnlichkeit mit dem Priestersegen in Numeri 6,24-26 haben.

(Merenptah-Stele. Bildquelle: Wikimedia Commons, eingestellt von Nutzer Webscribe.)

Hier erkennt man vielleicht schon ein Muster: Spätere Ereignisse sind wesentlich besser belegt als frühere. Die Belagerung Jerusalems durch Sanherib im Jahr 701 v. Chr. ist durch biblische und durch assyrische Quellen gut belegt und der assyrische Feldzug wurde auch durch Ausgrabungen in Lachisch bestätigt, und z. B. für das Babylonische Exil (586-538) ist die Quellenlage auch ganz gut („gut“ für Ereignisse der altorientalischen Geschichte). „In keinem Fall ist die biblische Darstellung eines Ereignisses aus dem frühen 1. Jahrtausend v. Chr. bisher von einer außerbiblischen Inschrift komplett widerlegt worden.“*

Bei früheren Ereignissen sieht es allerdings wieder schwieriger aus. Wie gesagt: Es ist klar erwiesen, dass im Jahr 1208 v. Chr. bereits ein Volk namens „Israel“ im Gebiet von Kanaan lebte. Aber ansonsten ist vieles über den Exodus, die Wüstenwanderung der Israeliten, die Landnahme und die Richterzeit einfach nicht zu belegen, und über die Patriarchenzeit erst recht nicht. Die Hauptschwierigkeit besteht eben darin, dass man nicht weiß, wann die biblischen Texte über diese Ereignisse geschrieben wurden. Erhielt der Pentateuch seine Endfassung erst in der Perserzeit oder wurde er zum Großteil schon von Moses selbst verfasst, um die beiden Extrempositionen darzustellen? Viele Exegeten gehen davon aus, dass die Erzählungen über Abraham, Moses, Josua usw. erst mündlich überliefert und dann nach und nach aufgeschrieben und zusammengefügt wurden, aber auch das ist Spekulation. Selbst dann würden noch viele Fragen offen bleiben: Wie genau war eine mündliche Überlieferung? Wurde sie immer weitergesponnen oder wortwörtlich tradiert? Letzteres wäre durchaus möglich; in der islamischen Welt gibt es Menschen, die den ganzen Koran auswendig können, und auch zur Zeit Jesu lernten jüdische Jungen in der Synagoge das ganze AT auswendig. Und die wichtigste Frage ist natürlich: Wann wurde der Text dann aufgeschrieben und wurde er danach noch verändert?

Für die Annahme, dass die frühen historischen Bücher (Pentateuch, Josua, Richter) noch nicht so früh aufgeschrieben wurden, wird manchmal z. B. auf die Ausgrabungen in Jericho verwiesen: Die Stadt, die laut Bibel von Josua erobert wurde, sei zu seiner Zeit entweder gar nicht oder nur von wenigen Menschen bewohnt gewesen. Das lässt natürlich immer noch die Möglichkeit offen, dass es von wenigen Menschen bewohnt war und die Eroberung dieses kleinen Grenzortes von hauptsächlich symbolischem Wert für die Israeliten war – oder es war sehr wohl bewohnt und jetzt sind keine Mauern mehr übrig, weil seine Ruinen irgendwann nach der Eroberung durch Josua und vor dem Wiederaufbau vollständig abgetragen wurden, wir wissen ja auch in anderen Fällen, dass von großen Bauwerken nicht einmal mehr eine Ruine übrig ist. Andere archäologische Funde, z. B. in Hazor, das im 13. Jahrhundert v. Chr. nachweislich niedergebrannt wurde, passen ins Bild, das die Bibel bietet.

Beim Exodus und allem, was davor geschah, ist wahrscheinlich außerdem das Problem, dass es schwer belegt – oder auch widerlegt – werden kann. „Andererseits: Welche Artefakte soll man schon noch finden können, von einem Volk, das 40 Jahre lang in der Wüste campierte, und das vor mehr als 3000 Jahren? Falls sie tatsächlich umherzogen und keine festen Gebäude besaßen, benutzten sie sicherlich Zelte mit Pfosten, für die sie Löcher gruben, genau wie die heutigen Beduinen. Folglich werden Archäologen, die nach sichtbaren Belegen für den Exodus suchen, wahrscheinlich keine Überreste dauerhafter Strukturen finden, und die Löcher für Zeltpfosten sind natürlich längst verschwunden.“**

Man muss auch nicht erwarten, ägyptische Quellen über den Exodus zu finden; erstens ist die Quellensituation zu allen Ereignissen von vor 3200 Jahren eh eher suboptimal, wie schon gesagt, und zweitens war Geschichtsschreibung damals weder in Ägypten noch sonst wo etwas Objektives, Neutrales, das vollkommen unpolitische, unabhängige Gelehrte erledigt hätten – nicht, dass sie das heute wäre, aber damals auch nicht. Man braucht nicht unbedingt zu erwarten, dass ägyptische Chroniken die Flucht von einer Menge Sklaven aufgezeichnet hätten. Bei den Patriarchen macht es noch weniger Sinn, zu erwarten, archäologische Beweise für ihr Leben zu finden. Abraham war das Oberhaupt einer kleinen nomadischen Sippe, die mit ihren Zelten und Viehherden im Alten Orient umherzog, und zwar vor etwa 3700 oder 3800 Jahren. Welche Spuren sollte man davon jetzt noch finden können?

Ein paar verwertbare Anhaltspunkte gibt es allerdings auch für diese Zeit. Es gibt mehrere Städte im Zweistromland, die den Namen „Ur“ tragen und damit evtl. das „Ur in Chaldäa“ sein könnten, aus dem Abraham ausgewandert sein soll. Aus dem 14. Jahrhundert v. Chr. ist in Ägypten das Grab eines Mannes mit dem semitischen Namen Aper-El entdeckt worden, der unter zwei Pharaonen Wesir war; wir wissen also, dass es, wie es von Joseph berichtet wird, zumindest möglich war, dass Ausländer einen hohen Rang am Hof der Pharaonen einnehmen konnten. „Mose“ ist ein ägyptischer Name (vgl. z. B. „Thutmose“), und es gibt aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. ägyptische Darstellungen von semitischen und nubischen Zwangsarbeitern, die unter Aufsicht Bau- oder Feldarbeiten verrichten, und es sind auch Fälle belegt, in denen solche Arbeiter ein bestimmtes Soll an Ziegeln zu liefern hatten, wie in Exodus 5 beschrieben. „Während einige Archäologen meinen, dass die Einzelheiten der Patriarchengeschichten mit ihren Wanderungen gut in die Lebensbedingungen, Sitten und Gebräuche des frühen 2. Jahrtausends v. Chr. passen, argumentieren andere, dass die Geschichten und ihre Hauptpersonen ebensogut erst Jahrhunderte später, im 1. Jahrtausend v. Chr., erfunden worden sein könnten.“***

Wie gesagt, soweit allein die säkular-historische Herangehensweise.

Ein damit verbundenes Problem für uns Christen ist natürlich, dass wir nicht genau wissen, wie historisch manche Geschichten gemeint waren: Eben Jericho zum Beispiel. Oder, um ein Beispiel aus einer anderen Kultur zu nehmen: Romulus und Remus. Erzählten die antiken Menschen diese Geschichten wie Geschichten, von denen man weiß bzw. annimmt, dass sie wahr sind, z. B. wie die Geschichte von Hitlers Angriff auf Polen oder der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus? Oder wie Anekdoten, von denen man weiß, dass sie gut in die historischen Ereignisse passen, aber vielleicht nicht so ganz in ihren Einzelheiten stimmen, wie die von dem Apfel, der Newton auf den Kopf fiel, oder von Luthers Thesenanschlag? Oder wie Gründungsmythen, von denen man weiß, dass sie nur Mythen und nichts als Mythen sind, wenn auch schöne Mythen, die man bewusst weitergibt, wie die von Kaiser Friedrich, der im Kyffhäuser schlafen soll?

Ich denke, es ist relativ offensichtlich, dass die Israeliten diese Erzählungen nicht als bloße Mythen sahen. Der Exodus war eine unglaublich prägende geschichtliche Tatsache für die Geschichte ihres Volkes; er begründete ihre ganze Identität als Jahwes auserwähltes Volk, von ihm in das Gelobte Land geführt, wo sie eigentlich Fremdlinge waren, ihr Bewusstsein, „aus dem Sklavenhaus“ befreit worden zu sein, sich von den anderen Völkern im Land zu unterscheiden usw. Auch die Patriarchen wurden nicht als mythische Figuren betrachtet – auch von Jesus übrigens nicht. Zu den Sadduzäern, die nicht an die Auferstehung der Toten glaubten, sagte Er: „Habt ihr im Übrigen nicht gelesen, was Gott euch über die Auferstehung der Toten mit den Worten gesagt hat: Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? Er ist nicht der Gott von Toten, sondern von Lebenden.“ (Mt 22,31f.) D. h., Er geht ganz selbstverständlich davon aus, dass Abraham, Isaak und Jakob konkrete Personen sind, die leben. Aber man könnte durchaus argumentieren, dass einige Erzählungen im Lauf der Zeit ausgeschmückt und ausgedeutet wurden. Das stellt nicht gleich den Charakter dieser Bücher als Geschichtsschreibung in Frage. Die Aussageabsicht der Autoren – s. Teil 2 – muss nicht zwangsläufig gewesen sein „Jede der handelnden Personen hat genau diese Worte gesprochen und ganz genau in allen Einzelheiten das getan, was hier aufgeschrieben ist, dessen bin ich mir vollkommen sicher“. Die Geschichtsschreiber können durchaus anekdotenhafte Erzählungen weitergegeben haben, wie wir das auch noch tun. Vielleicht mal als interessanten Einblick in die Maßstäbe vormoderner Geschichtsschreibung ein Ausschnitt aus Jane Austens Roman „Northanger Abbey“, aus einer Unterhaltung zwischen der Hauptfigur Catherine Morland und ihrer Bekannten Miss Tilney, die eben erzählt hat, dass sie Geschichtsbücher sehr mag:

„Ich wollte, ich tät es auch. Ich hab ein bisschen gelesen, weil ich musste, aber es sagt mir nichts, was mich nicht entweder ärgert oder langweilt. Die Streitigkeiten von Päpsten und Königen, und auf jeder Seite Krieg oder Pest; die Männer taugen alle nichts, und Frauen kommen fast überhaupt nicht vor – das ist sehr ermüdend, und ich denke oft, es ist sonderbar, dass das alles tatsächlich so öde ist, denn ein großer Teil davon muss doch erdichtet sein. All die Reden, die den Helden in den Mund gelegt werden, ihre Gedanken und Pläne: das meiste davon muss doch erdichtet sein, und das Erdichtete ist’s, was mich an andern Büchern entzückt.“

 „Sie meinen“, sagte Miss Tilney, „dass die Historiker bei ihren Phantasieflügen nicht glücklich sind. Sie entfalten Einbildungskraft, ohne Teilnahme zu erregen. Ich liebe die Geschichtsschreibung und lasse mir ganz zufrieden Erfundenes und Wahres zusammen auftischen. Für die Haupttatsachen hat sie ihre Quellen in älteren Geschichtswerken und Berichten, auf die man sich vermutlich genauso weit verlassen kann wie auf alles, das man nicht wirklich mit eigenen Augen sieht. Und was die kleinen Verzierungen betrifft, von denen Sie sprechen, das sind eben Verzierungen, und als solche mag ich sie. Wenn eine Rede gut ist, dann lese ich sie mit Vergnügen, ganz gleich, wer sie verfasst hat, und wahrscheinlich bietet sie mir mehr, wenn sie das Werk von Mr. Hume oder Mr. Robertson ist, als wenn sich’s um echte Worte von Caractacus, Agricola oder Alfred dem Großen handelte.“

Mancherorts wird man den Autoren der Bibel größere Genauigkeit unterstellen wollen – z. B. bei der Widergabe der Worte Jesu. Aber es ist zumindest möglich, davon auszugehen, dass manche Geschichten in der Bibel eher ausgeschmückte Anekdoten sind.

Man muss aber auch nicht davon ausgehen. Solange man nicht nachweisen kann, wie genau die Geschichte mit Jakob und seinem Bruder Esau abgelaufen ist, kann man sie auch einfach mal so stehen lassen, wie sie dasteht. Wer weiß, vielleicht hat der Heilige Geist auch den Schriftsteller Jahrhunderte später so angeleitet, dass er die Einzelheiten nicht nur so aufschrieb, dass sie einen tieferen Sinn haben und die Gesamtaussage stimmt, sondern auch so, dass sie wortwörtlich in den Details passen.

Meiner Meinung nach ist es übrigens auch ganz interessant, dass einige Dinge, die man vor hundert oder hundertfünfzig Jahren noch im Reich der Legenden verortet hätte, inzwischen wieder als zumindest in ihrem Kern historisch gelten – der Trojanische Krieg, die Existenz Homers, manche Erzählungen über die römische Königszeit, v. a. über die letzten drei Könige (die Etruskerkönige).

Bei der Frage „Ist das historisch?“ muss man im Allgemeinen auf mehrere Dinge aufpassen:

  • Es ist Unsinn, biblische Erzählungen nur dann als historisch anzunehmen, wenn sie auch von anderen Quellen bestätigt werden. Es gibt viele Ereignisse in der Antike, über die wir nur eine Quelle haben. Würden wir Cäsars „Gallischen Krieg“ als Quelle ablehnen, weil es keine gallischen Quellen zum selben Krieg gibt, die die andere Seite zu Wort kommen lassen? Also: Regel Nummer 7: Es macht nichts, wenn die Bibel die einzige Quelle zu einem Ereignis ist.
  • Es ist ebenfalls Unsinn, außerbiblische Quellen grundsätzlich als höherwertig zu bewerten – als ob es darunter keine Propaganda oder Fehlinformationen gäbe.
  • Es gibt auch noch andere blödsinnige Argumente gegen die Historizität bestimmter Bibelstellen; zum Beispiel die Behauptung, die Geschichte von der Aussetzung Moses’ am Nil und seiner Auffindung durch die Tochter des Pharao sei nur von der ähnlichen Geschichte über den akkadischen Sagenheld Sargon abgekupfert worden. Das ist Blödsinn aus zwei Gründen: Erstens einmal gibt es aus früheren Zeiten vielleicht einfach deshalb mehrere Geschichten über ausgesetzte Kinder, weil es damals öfter einmal vorkam, dass Kinder ausgesetzt wurden. Diese Behauptung liest sich beinahe so, als wollte man allen modernen Romanen über Menschen, die an Krebs erkranken, unterstellen, von einem ursprünglichen Roman abgeschrieben worden zu sein. Zweitens haben die Geschichten nicht einmal besonders große Ähnlichkeit. Moses wurde am Flussufer ausgesetzt, damit er nicht von den Soldaten des Pharao getötet wurde, und seine Schwester blieb in der Nähe stehen, um zu sehen, ob ihn jemand fände. Sargon dagegen wurde von seiner Mutter, die eine Priesterin war, die eigentlich jungfräulich bleiben sollte (wie die römischen Vestalinnen) und ihr Kind offensichtlich loswerden wollte, damit nicht bekannt wurde, dass sie wohl keine Jungfrau mehr war, in einem Körbchen in den Fluss gesetzt, wo er vermutlich ertrunken wäre, wenn ihn nicht ein Wasserträger namens Akki herausgezogen hätte. Aber selbst wenn es größere Ähnlichkeiten gäbe: Von Ähnlichkeiten zwischen zwei Geschichten auf gegenseitige Abhängigkeit zu schließen, ist einfach ein logischer Fehlschluss. Regel Nummer 8: Argumente gegen die Historizität bestimmter Stellen erst einmal genau prüfen.
  • Regel Nummer 9: Unterschiedliche Beschreibungen eines historischen Ereignisses sind nicht dasselbe wie widersprüchliche Beschreibungen. Ein einfaches Beispiel: Lukas erwähnt in seiner Weihnachtsgeschichte die Hirten, die Weisen aus dem Morgenland dagegen nicht, Matthäus erwähnt die Weisen aus dem Morgenland, aber nicht die Hirten. Lukas schreibt mehr aus Marias Perspektive, Matthäus aus Josefs. Ein unterschiedlicher Fokus; kein Widerspruch. Das hat man auch, wenn man zwei verschiedene Personen fragt, wie das Festival am Wochenende war, das sie gemeinsam besucht haben.
  • Für die moralische oder philosophische Interpretation einer Geschichte ist es nicht immer wichtig, zu wissen, ob es sich um einen historischen Text oder eine Beispielerzählung handelt. Das Buch Jona übermittelt dieselbe Botschaft, egal, wie man es in dieser Hinsicht deutet. In manchen Fällen ist die Sache vielleicht ein bisschen komplizierter – ich werde noch darauf zurückkommen –, aber meistens brauchen wir für den Hausgebrauch der biblischen Lehren nicht so genau zu wissen, ob Abraham das und das genau so gesagt hat oder ob die dynastischen Angaben im Buch Judith stimmen.
  • Damit bin ich auch schon beim nächsten Punkt. Regel Nummer 10: „Bildlich“ und „historisch“ schließen einander auch nicht aus. Auch geschichtliche Ereignisse können eine tiefere Bedeutung haben – wir kennen nicht ohne Grund den Begriff „Heilsgeschichte“. Was Gott in der Geschichte wirkt, hat immer eine tiefere Bedeutung, als man auf den ersten Blick sehen kann. Die Kirchenväter haben sehr viele Geschichten im AT als Vorausdeutungen auf Christus gesehen.

So, das war jetzt mal das Wichtigste zur Historizität der Bibel; ich hoffe, ich habe nichts vergessen. Im nächsten Beitrag werde ich auf einen Sonderfall dazu, nämlich die ersten elf Kapitel des Buches Genesis, eingehen.

* Eric H. Cline, Biblische Archäologie, S. 107.

** Eric H. Cline, 1177 v. Chr. – Der erste Untergang der Zivilisation, S. 140f.

*** Eric H. Cline, Biblische Archäologie, S. 91f.