Über schwierige Bibelstellen, Teil 7: Ein Beispiel – die rachsüchtigen und selbstgerechten Psalmen

[Dieser Teil wurde noch einmal überarbeitet.]

 

In der ersten Version dieses Artikels habe ich einfach nur den unten folgenden Essay von C. S. Lewis über die Fluchpsalmen für sich stehen lassen; in der neuen möchte ich einige Anmerkungen anbringen. Ich lasse Lewis‘ Text hier zwar mal noch stehen, weil einige sehr gute Einsichten darin sind, und er mir vor einigen Jahren geholfen hat, erstmals manche Dinge nachzuvollziehen; aber trotzdem könnte ich manche Dinge, die er sagt, nicht mehr unterschreiben.

Zunächst: Lewis behandelt das Alte Testament teilweise wie etwas, das nicht so ganz Heilige Schrift ist, jedenfalls nicht wie das Neue; und dabei redet er teilweise von den alttestamentlichen Israeliten wie von Wilden, die man nicht ganz für voll nehmen kann (trotz der im Allgemeinen antikolonialistischen und antirassistischen Einstellung, die er hatte). Er redet von den Psalmen an manchen Stellen wie von etwas, das einem etwas über diese Beter beibringen soll, das man sich aber nicht selbst als eigenes Gebet zu eigen machen kann. Dabei müssen wir im Stundengebet genau das; und das können wir auch.

Hier sind, denke ich, drei Dinge wichtig:

1) Die Psalmen sind Gebete: weniger Aussprüche Gottes, sondern eher an Gott gerichtete Aussprüche, freilich aufgeschrieben von von Gott inspirierten Verfassern, denen Gott die Einsicht gab, welche Gebete er annimmt, welche Gebete ihm gefallen. Und beim Beten lässt Gott uns, wie uns die Psalmen offenbaren, sogar schlechte Gefühle, die wir nicht ganz willentlich bejahen dürfen, vor ihn bringen; Gefühle der fast völligen Verzweiflung und einen Wunsch nach übermäßiger Vergeltung beispielsweise.

2) Lewis ist hier trotz allem ein wenig beeinflusst von der gleichzeitig pessimistischen und übermäßig idealistischen protestantischen Ansicht, dass alle Menschen eigentlich von Grund auf nicht nur schlecht, sondern alle gleich schlecht seien, und man sich nie wirklich mal ganz und gar im Recht fühlen dürfe, und deshalb auch nie nach Vergeltung gegen andere verlangen dürfe, auch nicht nach maßvoller, gerechter, wenn einem Schlimmes angetan worden ist; Vergeltung wäre immer böse. Dabei darf man das. Der Wunsch, dass die, die einen gequält, tyrannisiert, gefoltert, verhöhnt, im Stich gelassen, verraten, vergewaltigt (oder was auch immer) haben, ihre gerechte Strafe bekommen ist ein gerechter, den auch Gott bejaht. Es gibt wirklich Menschen, die aus freiem Willen anderen Böses antun, weil es ihnen Spaß macht, weil andere sie nicht kümmern, und die das nicht bereuen, und die am Ende ihre Strafe verdienen.

3) Wir sollen uns, wie gesagt, die Psalmen im Gebet zu eigen machen, und das gilt auch für die Stellen, an denen die Feinde verflucht werden, selbst wenn wir selber gerade gar keine menschlichen Feinde haben, und sogar für die, an denen die Feinde nach dem wörtlichen Sinn unmäßig verflucht werden. Denn: Gott hat noch einen tieferen Sinn in die Psalmen gelegt als den, der den Psalmisten vielleicht bewusst war (wobei man nicht ausschließen kann, dass den Psalmisten dieser tiefere Sinn auch bewusst war). Was wir hier vor allem hassen und verfluchen sollen, wenn wir uns diese Gebete zu eigen machen, sind die Sünde und die Dämonen, die uns zur Sünde bringen und in die Hölle herabziehen und quälen wollen. Die Sünde ist der eigentliche Feind, viel mehr als irgendein menschlicher Sünder. Ich habe beispielsweise einmal gehört, dass ein Kirchenvater Psalm 137,9, den Vers, in dem es darum geht, dass Babylons Kinder am Felsen zerschmettert werden sollen (die neue Version der Einheitsübersetzung hat: „Selig, wer ergreift und zerschlägt am Felsen deine Nachkommen!“) so interpretiert hat, dass die Kinder Babylons die sündigen Gedanken sind, die am Fels des Glaubens zerschlagen werden müssen, bevor sie groß werden und zu Taten werden können. (In diesem Psalm geht es generell um die Babylonische Gefangenschaft, und auch wir befinden uns ja alle seit dem Sündenfall in einer Art Babylonischen Gefangenschaft, gefangen im Reich der Sünde und des Todes, fern vom Gelobten Land, und erbitten von Gott die Zerstörung dieses „Babylonischen“ Reiches mit allem, was zu ihm gehört.)

Nun aber Lewis‘ Text*:

 

Die Psalmen

I.

Ein Merkmal der Psalmen, das mir beim Lesen besonders in die Augen springt, ist ihre Altertümlichkeit. Mir ist, als blickte ich hinab in einen tiefen Abgrund der Zeit, jedoch als schaute ich dabei durch ein Fernrohr, das die Gestalten, die dort in der Tiefe wohnen, meinem Auge nahe bringt. So nah herangeholt, sind sie mir geradezu schockierend fremd; unbeherrschte Kreaturen, die in Selbstmitleid schwelgen, schluchzen, fluchen, lautes Triumphgeschrei ausstoßen, mit ungeschlachten Waffen klirren oder zum ohrenbetäubenden Lärm fremdartiger Musikinstrumente tanzen. Doch Seite an Seite mit diesem Bild steht mir noch ein anderes vor Augen: Anglikanische Chöre, blendendweiße Chorhemden, frischgewaschene Knabengesichter, Kniekissen, eine Orgel, Gebetsbücher und vielleicht der Geruch von frischgemähtem Friedhofsgras, der mit dem Sonnenlicht durch eine offene Türe kommt. Manchmal verblasst der eine, dann wieder der andere Eindruck, doch keiner von beiden verschwindet wohl jemals ganz. Die Ironie erreicht ihren Höhepunkt, wenn einer der Chorknaben mit diesem von aller persönlichen Anteilnahme so wunderbar freien Sopran die Worte singt, mit denen einstige Krieger sich in rasende Wut gegen ihre Feinde hineinsteigerten; und singt das im Dienst des Gottes der Liebe und denkt dabei selber vielleicht weder an diesen Gott noch an einstige Kriege, sondern an Pfefferminzbonbons und Comics. Diese Ironie, diese doppelte oder dreifache Vision, gehört zum Lesevergnügen. Ich beginne zu ahnen, dass sie auch zum Gewinn gehört.

 In seinen meisten Äußerungen ist mir der Geist der Psalmen fremder als jener der ältesten griechischen Literatur. Doch das ist nicht eine Frage der Epoche. Unterschiede in der Geisteshaltung decken sich nicht immer mit zeitlichen Unterschieden. Den meisten von uns, vielleicht uns allen (außer wir wären entweder sehr ungebildet oder sehr heilig oder womöglich beides) ist die Kultur, die von den Griechen und Römern herkommt, vertrauter, geistesverwandter, als das, was wir vom alten Israel haben. Schon die Bezeichnungen und Begriffe, die wir in Wissenschaft, Philosophie, Kritik, Staatsführung, Grammatik gebrauchen, sind durchweg graeko-romanisch. Dieser Einfluss, und nicht der jüdische, hat uns im landläufigen Sinne „kultiviert“. Doch kein Christ kann die Bibel lesen, ohne zu entdecken, dass ihm diese alten, uns für gewöhnlich so fern stehenden Hebräer jederzeit auf eine Weise Brüder sein können, wie kein Grieche oder Römer es je gewesen ist. Welch eine langweilige, vage Sache scheint uns beispielsweise auf den ersten Blick das Buch der Sprüche: Bärtige Orientalen, die endlose Binsenwahrheiten von sich geben, als wollten sie Tausendundeine Nacht parodieren. Verglichen mit Plato oder Aristoteles – verglichen selbst mit Xenophon – ist das überhaupt kein Denken. Dann, plötzlich, wenn wir drauf und dran sind aufzugeben, fällt unser Blick auf die Worte: „Wenn deinen Feind hungert, so speise ihn mit Brot, und wenn ihn dürstet, so gib ihm Wasser zu trinken“ (Spr 25,21). Wir reiben uns die Augen. So etwas war damals schon sprichwörtlich! Sie kannten das schon so lange, bevor Christus kam! Es gibt nichts Entsprechendes im Griechentum und, wenn ich mich recht erinnere, auch nicht bei Konfuzius. Und solche Überraschungen können wir in den Psalmen oft erleben. Diese sonderbaren, fremden Gestalten können uns jeden beliebigen Augenblick beweisen, dass hinsichtlich der geistlichen Abstammung (im Unterschied zur kulturellen) letztlich sie unsere Ahnen sind und die Völker des Klassischen Altertums Fremde. Umgekehrt erleben wir beim Lesen der Klassiker manchmal die entgegengesetzte Überraschung. Diese geliebten, so gebildeten, toleranten, humanen und aufgeklärten Schriftsteller geben da und dort plötzlich zu erkennen, dass uns ein Abgrund von ihnen trennt. Daher das ständige verschmitzte Gekicher Platos über die Knabenliebe oder die elitäre Haltung, die Aristoteles’ Ethik fast lächerlich macht. Wir beginnen zu zweifeln, ob auch nur einer von ihnen (und wäre es selbst Vergil), wenn wir sie von den Toten zurückrufen könnten, nicht schon in der ersten Stunde des Gesprächs etwas von sich gäbe, was uns zutiefst befremden würde.

 Ich meine keineswegs, dass die Hebräer einfach „besser“ waren als die Griechen und die Römer. Im Gegenteil, wir finden in den Psalmen Äußerungen einer Grausamkeit, die rachedurstiger, und einer Selbstgerechtigkeit, die totaler ist als irgend etwas bei den Klassikern. Wenn wir diese Abschnitte übergehen und nur ein paar ausgesuchte Lieblingspsalmen lesen, verpassen wir das Entscheidende. Denn das Entscheidende ist genau dies: dass ausgerechnet diese fanatischen und mordlustigen Hebräer, und nicht die aufgeklärteren Völker, geistlich immer wieder – für kurze Augenblicke – ein christliches Niveau erreichen; nicht dass sie besser oder schlechter wären als die Heiden, sondern dass sie besser oder schlechter zugleich sind. Wir müssen wohl oder übel anerkennen, dass diese uns so fremden Dichter, zumindest in einer Hinsicht, unsere Vorfahren waren, und zwar die einzigen Vorfahren, die wir in der ganzen antiken Welt finden können. Sie haben etwas, was die Heiden nicht haben. Sie wissen etwas, das Sokrates nicht wusste. Dieses Etwas wächst offenbar durchaus nicht natürlicherweise aus dem hervor, was wir sonst von ihrem Charakter zu sehen bekommen. Es sieht aus wie etwas, das ihnen von außen geschenkt worden ist; tatsächlich wie das, wofür es sich ausgibt: eine Offenbarung. Ihre Behauptung, das „auserwählte Volk“ zu sein, hat Hand und Fuß.

 Wir können über diese Auserwählung freilich erstaunt sein. Wenn wir die Welt hätten sehen können, wie sie, sagen wir, im fünfzehnten Jahrhundert vor Christus war, und wenn wir hätten raten müssen, welchem von den damaligen Volksstämmen einst das Wissen von Gott und die Fortpflanzung jenes Blutes, das eines Tages einen Leib für die Menschwerdung Gottes hervorbringen sollte, anvertraut würde – ich glaube nicht, dass viele von uns richtig geraten hätten. (Ich denke, meine Auserwählten wären die Ägypter gewesen.)

 […]

 Unter diesem Gesichtspunkt gibt es als Einstieg keinen besseren Psalm als Nummer 109. Er endet mit einem Vers, den jeder Christ sofort für sich in Anspruch nehmen kann: „Denn er steht dem Armen zur Rechten, um ihn zu retten vor denen, die ihn verdammen.“ Das ist eine charakteristische Tonart in den Psalmen und eine der Seiten, um derentwillen wir sie lieben. Es ist ein Vorgeschmack auf die Grundstimmung im Magnificat. Sie findet kaum eine Parallele in der heidnischen Literatur (die griechischen Götter waren zwar tatkräftig dabei, Stolze niederzuwerfen, aber selten, Niedrige zu erhöhen). Sie wird sogar einen gutgesinnten modernen Ungläubigen ansprechen; vielleicht bezeichnet er es als Wunschdenken, aber er wird den Wunsch achten. Kurz, wenn wir nur den letzten Vers läsen, wären wir in vollem Einvernehmen mit dem Psalmisten. Im Augenblick aber, wo wir zurückblicken auf das, was diesem Vers vorausgeht, merken wir, dass uns Welten von ihm trennen, oder schlimmer noch, dass er uns widerwärtig nahe verwandt ist in dem, was auszumerzen die Hauptbeschäftigung unseres Lebens ist. Psalm 109 ist ein Hasslied, wie es hemmungsloser nie geschrieben wurde. Der Dichter legt ein detailliertes Programm gegen seinen Feind vor, von dem er hofft, dass Gott es ausführen wird. Der Feind soll vor „frevelhafte Richter“ gebracht werden. „Ein Ankläger“ soll ihm dauernd zur Rechten stehen, sei es ein böser Geist, sei es bloß ein menschlicher Ankläger – ein Spion, ein agent provocateur, ein Mitglied der Geheimpolizei (V. 6). Falls dem Feind noch etwas am Glauben liegt, soll ihn das, weit davon entfernt, seine Lage zu verbessern, nur noch schlechter machen: „Sogar sein Gebet soll ihm als Sünde gelten.“ (V. 7). Und nach seinem Tode – der bitte recht bald erfolgen möge – sollen seine Witwe und seine Kinder und Kindeskinder in niemals endendem Elend leben (V. 8-13). Was uns, mehr noch als der ungezähmte Rachedurst, das Blut in den Adern stocken lässt, ist das ruhige Gewissen des Schreibers. Er hat keine Bedenken, keine Skrupel oder Vorbehalte; keine Scham. Er lässt dem Hass freien Lauf, peitscht ihn auf, feuert ihn an – in einer Art unglaublicher Naivität. Er bringt diese Gefühle, so wie sie sind, Gott dar, keine Sekunde zweifelnd, dass sie Annahme finden werden; indem er von seinen Verwünschungen unvermittelt zu den Worten findet: „Du aber, Herr, mein Gott, tritt für mich ein um deines Namens willen! Weil deine Gnade köstlich ist, errette mich“ (V. 21).**

 Gewiss, dieser Mensch selber hat vor sehr langer Zeit gelebt. Das ihm widerfahrene Unrecht war vielleicht, menschlich gesprochen, unerträglich. Er war zweifellos ein heißblütiger Barbar und glich mehr einem Kind als einem Manne unserer Zeit. Und wenn wir auch glauben (und es sogar aus dem letzten Vers sehen können), dass seinem Geschlecht eine gewisse Erkenntnis des wahren Gottes zuteil geworden war, so hat er doch in der kalten Jahreszeit, im Vorfrühling der Offenbarung, gelebt, und diese ersten Lichtblicke der Erkenntnis waren wie Schneeglöckchen im Frost. Für ihn mag es daher eine Entschuldigung gegeben haben. Wir aber – was kann es uns nützen, solches Zeug zu lesen?

 Eines auf alle Fälle: Wir haben hier einen elementaren Ausdruck jener Gefühle, die von Unterdrückung und Ungerechtigkeit natürlicherweise hervorgerufen werden. Der Psalm ist ein Portrait, unter dem geschrieben stehen sollte: „Das machst du aus einem Menschen, wenn du ihn schlecht behandelst.“ Bei einem modernen Kind oder Primitiven könnten die Reaktionen genau dieselben sein. Bei einem heutigen westeuropäischen Erwachsenen – besonders, wenn er sich zum Christentum bekennt – wären sie gesitteter; als uneigennützige Gerechtigkeitsliebe getarnt, der es angeblich ums Allgemeinwohl geht. Doch hinter der Fassade und um so schlimmer in den Augen Gottes sind die Gefühle wohl immer noch da. (Ich denke hier an eine mir völlig unbekannte Frau, die mir, weil sie es „für ihre Pflicht“ hielt, wie sie sagte, einen Brief weitergab, in dem eine andere mir völlig Unbekannte mich ihr gegenüber angeschwärzt hatte.) In einem Fall nun, den wir im landläufigen Sinn als „Verführung“ bezeichnen (nämlich dem der sexuellen Verführung) fänden wir es ungeheuerlich, auf der Schuld des einen Beteiligten zu beharren, welcher der Versuchung erlegen ist, und über die des anderen, der ihn versucht hat, hinwegzugehen. Doch genau so ist jedes Unrecht und jede Unterdrückung eine Versuchung, eine Versuchung zum Hass, und ist in diesem Sinne eine Verführung. Mit jedem Unrecht, das wir einem Mitmenschen angetan haben, haben wir ihn in die Versuchung geführt, solch ein Mensch zu sein wie der, der Psalm 109 geschrieben hat. Wir haben vielleicht über unser Unrecht Buße getan; aber ob auch er über seinen Hass Buße getan hat, das wissen wir oft nicht. Wie steht unsere Rechnung heute, falls er es nicht getan hat?

 Ich weiß keine Antwort auf diese Frage. Aber ich würde meinen, wir sollten uns lieber genau ansehen, was wir angerichtet haben; wie junge Hunde sollte man uns mit der Nase hineinstoßen. Ein Mann, auch wenn er darüber Buße getan hat, dass er einmal ein Mädchen verführt und es dann sitzengelassen und aus dem Blickfeld verloren hat, sollte seine Augen nicht einfach vor der rauen Wirklichkeit verschließen, in der sie heute vielleicht lebt. Genau darum sollten wir die Psalmen lesen, die den Unterdrücker verfluchen; sollten sie lesen mit Furcht. Wer weiß, ob nicht ähnliche Verwünschungen auch schon gegen uns ausgestoßen worden sind? Was für Gebete schwarze Menschen und rote und braune und gelbe gegen uns zu ihren Göttern oder manchmal zu Gott selbst emporgeschickt haben. Von der ganzen Erde „stinkt“ das Unrecht des Weißen Mannes zum Himmel; es stinkt nach Massakern, nach Vertragsbruch, Diebstahl, Menschenraub, Sklaverei, Deportation, Auspeitschungen, Lynchmord, Überfällen, Vergewaltigung, Raub, Beschimpfung, Hohn und widerlicher Heuchelei. Aber die Sache geht uns noch näher an. Diejenigen von uns, die wenig Macht haben, wenig Leute, die in ihrer Hand sind, können dankbar sein. Wie aber, wenn man Offizier ist (oder, vielleicht noch schlimmer, Unteroffizier)? Oberin in einem Krankenhaus? Regierungsbeamter? Gefängniswärter? Schulvorsteher? Gewerkschaftssekretär? Vorgesetzter irgendeiner Art? Kurz jemand, dem keiner „zurückgeben“ kann? Es ist, auch mit dem besten Willen, schwer genug, gerecht zu sein. Es ist schwer, unter dem Druck von Zeitnot, Unbehagen, schlechter Laune, Selbstzufriedenheit und Eitelkeit auch nur schon immer gerecht sein zu wollen. Macht verdirbt den Menschen; die „Amtsroutine“ schleicht sich ein. Wir sehen sie so deutlich bei unseren Vorgesetzten; ist es dann unwahrscheinlich, dass unsere Untergebenen sie bei uns sehen? Wie viele von denen, die über uns sind, haben nicht schon manchmal (vielleicht oft) unsere Vergebung nötig gehabt? Seien sie sicher, dass wir genauso die Vergebung derer nötig haben, die unter uns stehen.

 Sie wird uns aber nicht immer zuteil. Vielleicht sind unsere Untergebenen gar nicht gläubig. Vielleicht sind sie noch nicht weit genug gekommen auf dem Weg, dieses schwere Werk des Vergebens, das wir ihnen auferlegt haben, zu bewältigen. Vielleicht schwelt gegen uns, erfolglos bekämpft oder auch nicht, bitterer, chronischer Groll; der Geist von Psalm 109.

 Ich meine nicht, dass Gott auf Gebete, wie sie dieser Psalmist vorgebracht hat, hört und sie gutheißt. Sie sind böse. Er verurteilt sie. Alle Rachsucht ist Sünde. Wir können auch hoffen, dass das, was unsere Untergebenen uns nachtragen, in Wirklichkeit nicht halb so schlimm war, wie sie sich einbilden. Die Schroffheit war unbeabsichtigt; das anmaßende Benehmen bei Gericht hatte seinen Grund in Unwissenheit und dem unangenehmen Gefühl der eigenen Ohnmacht; die scheinbar ungerechte Verteilung der Arbeit war nicht wirklich ungerecht oder war es nicht absichtlich; die unerklärliche persönliche Abneigung gegen einen bestimmten Untergebenen, für ihn und einige seiner Kameraden so offensichtlich, ist etwas, dessen wir uns überhaupt nicht bewusst sind (sie erscheint in unserem bewussten Denken als „erziehen“ oder als die Notwendigkeit, „ein Exempel zu statuieren“). Wie dem auch sei, es ist sehr böse von ihnen, uns zu hassen. Ja, aber das Törichte ist, dass wir uns einbilden, Gott sähe ihre Bosheit losgelöst von unserer Bosheit, die den Anlass dazu gegeben hat. Sie sündigen durch ihren Hass, weil wir sie dazu versucht haben. Wir haben sie, in diesem Sinne, verführt, verdorben. Sie sind gleichsam die Mütter dieses Hasses; wir sind die Väter.

 Unter diesem Gesichtspunkt nun ist der Lobpreis der Maria erschreckend. […] Die Ähnlichkeit zwischen dem Lobgesang und der überlieferten hebräischen Dichtung der Psalmen beschränkt sich nicht auf literarische Eigentümlichkeiten. Natürlich gibt es einen Unterschied. Bei Maria finden sich keine Verwünschungen, kein Hass, keine Selbstgerechtigkeit. Statt dessen stellt sie einfach fest: Er hat die Hoffärtigen zerstreut, die Machthaber gestürzt, Reiche leer ausgehen lassen. Ich habe vorhin vom ironischen Kontrast zwischen dem wutentbrannten Psalmisten und dem Sopran des Chorknaben gesprochen. Diesen Kontrast finden wir hier auf einer höheren Ebene wieder. Einmal mehr haben wir die Sopranstimme, eine Mädchenstimme, und sie verkündet ohne Sünde, dass die sündigen Gebete ihrer Vorfahren nicht ganz unerhört bleiben; und tut das nicht etwa in wildem Triumph, sondern – wer könnte es überhören? – in ruhiger und furchtbarer Freude.***

 Hier bin ich versucht, für einen Moment abzuschweifen auf eine Spekulation, die uns in einer Hinsicht vielleicht etwas beruhigt, während sie uns in einer anderen erschreckt. Die Christen sind sich leider nicht darüber einig, auf welche Weise die Mutter Gottes verehrt werden sollte, doch es gibt eine Wahrheit, an der wohl niemand zweifeln kann. Wenn wir an die Jungfrauengeburt glauben und wenn wir an die menschliche Natur unseres Herrn glauben (denn es ist ketzerisch, sich ihn als einen Menschen vorzustellen, in dessen Körper statt einer menschlichen Seele die zweite Person der Dreieinigkeit wohnte), dann müssen wir für diese Menschennatur auch an eine menschliche Vererbung glauben. Für diese gibt es nur eine Quelle (wiewohl in dieser Quelle das ganze wahre Israel vertreten ist). Wenn in Jesus ein eiserner Zug ist – dürfen wir nicht, ohne unehrerbietig zu sein, mutmaßen, woher er stammt? Sagten wohl die Nachbarn in seiner Kindheit von ihm: „Er ist ganz der Sohn seiner Mutter?“ Das könnte die Härte mancher Dinge, die er zu oder von seiner Mutter gesagt hat, in ein neues und weniger schmerzliches Licht rücken. Wir dürfen annehmen, dass sie das sehr gut verstand.****

 Ich habe dies einen Exkurs genannt, doch ich bin nicht sicher, dass es einer ist. Zweierlei leitet von den Psalmen hinüber zu uns. Das eine ist der Lobpreis der Maria, das andere sind die wiederholten Zitate, die unser Herr gebrauchte, wenn auch – das stimmt – nicht solche wie Psalm 109. Wir können ein Buch, von dem sein Denken so durchdrungen war, nicht aus unserem Denken verbannen. Die Kirche selbst ist ihm nachgefolgt und hat auch unser Denken durch dieses Buch geprägt.

 Mit einem Wort, die Psalmisten und wir gehören beide zur Kirche. Als einzelne mögen sie – gleich wie wir – manchmal sehr schlechte Glieder dieser Kirche sein; Unkraut – aber Unkraut, das auszureißen wir nicht befugt sind. Sie – wie wir – mögen oft nicht wissen (wenn auch vielleicht anders als wir) wes Geistes Kinder sie sind. Aber die Zugehörigkeit zur Kirche können weder wir ihnen noch sie uns absprechen.

 Ich meine keineswegs (obwohl Sie, wenn Sie sich umsehen, sicher einen Kritiker finden werden, der sagt, ich meine es), dass wir ihre Grausamkeit in irgendeiner Weise gutheißen sollen. Aber wir können lernen, das Gute zu sehen, das sich in diese Grausamkeit mischt. Durch all ihre Exzesse hindurch zieht sich ein leidenschaftliches Sehnen nach Gerechtigkeit. Man ist zuerst versucht zu sagen, dass dieses Sehnen, da sie ja zu den Unterdrückten gehören, kein besonderes Verdienst ist; dass auch die schlechtesten Menschen noch aufbegehren und nach Fairness schreien, wenn ihnen unfaires Spiel geboten wird. Doch leider ist das nicht wahr. Vielmehr ist der Geist, der nach Gerechtigkeit schreit, vielleicht gerade jetzt am Aussterben.

 Dazu ein alarmierendes Beispiel: Ich hatte einen Schüler, der bestimmt Sozialist, wahrscheinlich sogar Marxist war. Für ihn war das „Kollektiv“, der Staat, alles, der einzelne nichts; Freiheit ein bourgeoiser Wahn. Er schloss dann sein Studium ab und wurde Lehrer. Ein paar Jahre später besucht er mich, als er in Oxford vorbeikam. Er sagte, er hätte den Sozialismus aufgegeben. Er war restlos enttäuscht vom totalitären Staat. Die Einmischungen des Erziehungsministeriums in die Angelegenheiten von Schule und Lehrerschaft waren, das hatte er erlebt, arrogant, inkompetent und unausstehlich; die reinste Tyrannei. Ich konnte ihn gut verstehen, und das Gespräch nahm vergnügt seinen Lauf. Dann, plötzlich, rückte er mit dem wahren Grund seines Kommens heraus: Er hatte es „so gründlich satt“, dass er den Lehrerberuf aufgeben wollte; und – könnte ich wohl – läge es wohl in meiner Macht – würde ich wohl ein paar Drähte ziehen, um ihm einen Posten zu verschaffen – im Erziehungsministerium?

 So ist der moderne Mensch. Er kann hassen, aber er dürstet nicht, wie die Psalmisten, nach Gerechtigkeit. Wenn er findet, dass er unterdrückt wird, fragt er sofort: „Wie kann ich mich auf die Seite der Unterdrücker schlagen?“ Er hat nichts gegen eine Welt, die in Tyrannen und Opfer gespalten ist; es kommt nur darauf an, zu welcher von diesen beiden Gruppen man selber gehört. (Die Moral der Geschichte bleibt dieselbe, ob Sie seine Ansichten über das Erziehungsministerium teilen oder nicht.)

 So mischt sich also in den Hass der Psalmisten ein Funke, der angefacht, nicht ausgetreten werden sollte. Diesen Funken hat Gott gesehen und angefacht, bis er im Lobpreis der Maria hell brannte. Der Schrei nach dem „Gericht“ musste erhört werden. Doch die alte jüdische Vorstellung vom „Gericht“ wird ein Essay für sich nötig machen.

 

II.

Das Jüngste Gericht ist uns Christen ein sehr vertrauter und sehr schrecklicher Gedanke. „In Zeiten der Drangsal, in Zeiten des Wohlergehens, in der Stunde des Todes und am Tage des Gerichts rette uns, Herr, unser Gott.“ Wenn es eine Vorstellung gibt, die durch kein Bitten und Flehen aus der Lehre unseres Herrn weggebetet werden kann, dann ist es die von der großen Scheidung: Schafe und Böcke, der breite und der schmale Weg, das Unkraut und der Weizen, die Worfschaufel, die klugen und die törichten Jungfrauen, die guten und die schlechten Fische, die verschlossene Türe bei der Hochzeit, wo manche drinnen, andere draußen in der Finsternis sind. Wir können zu hoffen wagen – manche wagen es zu hoffen –, dass das nicht die ganze Geschichte ist, dass, wie Juliana von Norwich gesagt hat, „es allen wohlergehen und mit allen Dingen zum Besten stehen wird“. Doch aus den Worten unseres Herrn selbst müssen wir diese Hoffnung nicht nehmen wollen. Von Paulus bekommen wir Andeutungen; von Jesus keine Spur. Es sind seine eigenen Worte, die das Bild vom Jüngsten Gericht ins Christentum gebracht haben.

 Eine Folge davon ist, dass wir beim Wort „Gericht“ im Zusammenhang mit dem Glauben immer gleich an ein Strafgericht denken: den Richter auf dem  Richterstuhl, der Angeklagte auf der Anklagebank, Hoffnung auf Freispruch und Angst vor dem Schuldurteil. Doch die alten Hebräer verbanden mit dem Wort „Gericht“ für gewöhnlich ganz andere Vorstellungen.

 In den Psalmen ist das Gericht nicht etwas, wovor der von Gewissensbissen verfolgte Gläubige Angst hat, sondern etwas, worauf der in den Staub getretene Gläubige hofft. Gott „wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit“ und ist „eine Burg den Bedrückten“ (9,9.10). „Schaffe mir Recht nach deiner Gerechtigkeit, Herr“, ruft der Dichter (35,24). Noch mehr überrascht uns Psalm 67, wo selbst „die Nationen“, die Heiden, „sich freuen“ und „jubeln“ sollen, weil Gott „die Völker gerecht richtet“ (V. 5). (Genau das ist doch unsere Angst, dass das Gericht vielleicht sehr viel gerechter sein wird, als wir es ertragen können.) Im Freudenpsalm 96 sollen sich sogar Himmel und Erde „freuen“, die Flur soll „jauchzen“ und alle Bäume des Waldes „frohlocken vor dem Herrn“, denn „er kommt, die Erde zu richten“. Die Aussicht auf dieses von uns so gefürchtete Gericht löst einen Jubel aus, wie ein heidnischer Dichter ihn allenfalls gebraucht hätte, um das Kommen des Dionysos anzukündigen.

 So sehr unser Herr selbst uns, wie gesagt, die heutige christliche Vorstellung vom Jüngsten Tag eingeprägt hat, so illustrieren seine Worte doch an anderen Stellen die alte hebräische Vorstellung. Ich denke an den ungerechten Richter im Gleichnis. In den meisten von uns – es sei denn wir hätten dies Gleichnis direkt vor Augen – weckt die Erwähnung eines bösen Richters auf der Stelle das Bild eines Menschen wie Richter Jeffreys: eines brüllenden, ständig unterbrechenden, blutrünstigen Rohlings, der Geschworene und Zeugen einschüchtert, fest entschlossen, den Gefangenen hängen zu sehen. Wir können nur hoffen, nicht von ihm gerichtet zu werden. Die Rolle des „ungerechten Richters“ bei Jesus ist eine ganz andere. Man will von ihm gerichtet werden, man liegt ihm in den Ohren, dass er einen richte. Die einzige Schwierigkeit ist, sich bei ihm Gehör zu verschaffen. Was unser Herr im Auge hat, ist offensichtlich gar kein Strafgericht, sondern ein Schlichtungsgericht. Nicht aus dem Blickwinkel eines Gefangenen sehen wir die Gerechtigkeit, sondern aus dem eines Antragstellers; eines Antragstellers, der eindeutig im Recht ist – wenn es ihm nur gelänge, den Angeklagten vor den Richterstuhl zu bringen.

 Dieses Bild ist uns nur darum fremd, weil wir uns in unserem Land einer ungewöhnlich guten Rechtspflege erfreuen. Wir betrachten es als selbstverständlich, dass man Richter nicht bestechen muss und nicht bestechen kann. Das ist jedoch kein Naturrecht, sondern eine hohe Errungenschaft; auch wir könnten sie einmal verlieren (und werden sie sicher verlieren, wenn wir uns nicht um ihre Erhaltung bemühen); sie geht nicht automatisch mit dem Gebrauch der englischen Sprache einher. In vielen Teilen der Welt und zu vielen Zeiten bestand die Schwierigkeit für arme und unbedeutende Leute nicht nur darin, zu erreichen, dass man ihr Anliegen unvoreingenommen anhörte, sondern darin, dass man sie überhaupt anhörte. Ihre Stimmen sind es, die aus der unentwegten Hoffnung der Hebräer auf das Gericht sprechen, dieser Hoffnung, dass irgendwann, irgendwie einmal, das Recht wiederhergestellt sein wird.

 Doch die Vorstellung kommt nicht nur aus dem Gerichtswesen. Die „Richter“, nach denen ein höchst interessantes Geschichtsbuch im Alten Testament genannt ist, hießen nämlich nicht nur deshalb so, weil sie manchmal etwas taten, was wir als Ausübung richterlicher Funktionen betrachten würden. Das Buch hat tatsächlich über das „Richten“ in diesem Sinne sehr wenig zu sagen. Seine „Richter“ sind in erster Linie Helden, Kämpfer, die Israel von fremden Tyrannen befreien: Riesentöter. Das Substantiv, das wir als „Richter“ übersetzen, ist offensichtlich mit einem Verb verwandt, das heißt: verteidigen, rächen, das Recht wiederherstellen. Man könnte sie genausogut Vorkämpfer, Rächer nennen. Der fahrende Ritter im mittelalterlichen Roman, der seine Tage damit zubrachte, bedrängte Edelfräulein zu retten und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, wäre bei den Hebräern so etwas wie ein „Richter“ gewesen.

 Ein solcher Richter – Er, der uns endlich Gerechtigkeit widerfahren lässt, der Retter, der Beschützer, der Tyrannenbezwinger – ist es, dessen Bild in den Psalmen dominiert. Es gibt tatsächlich ein paar wenige Stellen, wo der Psalmist mit Zittern ans Gericht denkt: „Geh nicht ins Gericht mit deinem Knecht! Denn vor dir ist kein Lebender gerecht“ (143,2); oder: „Wenn du, Herr, Sünden anrechnen willst, o Herr, wer kann bestehen?“ (130,3). Doch die gegenteilige Haltung ist sehr viel geläufiger: „Höre, o Herr, die gerechte Sache“ (17,1); „Schaffe mir Recht, o Herr“ (26,1); „Streite, Herr, mit denen, die mich bestreiten“ (35,1); „Führe meinen Rechtsstreit“ (43,1); „Erhebe dich, Richter der Erde“ (94,2). Gerechtigkeit ist es, Gehör vor dem Richter, worum die Psalmisten ungleich häufiger beten als um Vergebung.

 Verallgemeinernd kommen wir damit zu einer sehr paradoxen Überlegung. Für gewöhnlich, und selbstverständlich zu Recht, werden Judentum und Christentum, die Herrschaft Moses und die Herrschaft Jesu, einander gegenübergestellt als Gesetz gegen Gnade, Gerechtigkeit gegen Barmherzigkeit, Härte gegen Milde. Aber offenbar hoffen die, welche unter der unerbittlicheren Verkündigung stehen, auf Gottes Gericht, während die, welche unter der milderen Botschaft leben, Angst davor haben. Woher kommt das? Die Antwort wird jedem in etwa klar sein, der die Psalmen aufmerksam gelesen hat. Die Psalmisten, mit wenigen Ausnahmen, blicken dem Gericht sehnsüchtig entgegen, weil sie glauben, dass sie völlig im Recht sind. Andere haben gegen sie gesündigt; ihr eigenes Verhalten war (wie sie uns oft genug beteuern) untadelig. Sie flehen die göttliche Untersuchung inständig herbei, gewiss, dass sie siegreich daraus hervorgehen werden. Der Gegner mag alles mögliche zu verbergen haben, aber sie nicht. Je mehr Gott ihre Sache untersucht, um so mehr wird sie sich als einwandfrei erweisen. Der Christ andererseits zittert, weil er weiß, dass er ein Sünder ist.

 Man könnte also in gewissem Sinne sagen, dass die jüdische Zuversicht im Hinblick auf das Gericht eine Begleiterscheinung der jüdischen Selbstgerechtigkeit sei. Aber das ist viel zu verallgemeinernd. Wir müssen die ganze Erfahrung mit in Betracht ziehen, aus der diese selbstgerechten Äußerungen herauswachsen; und zweitens, was diese Äußerungen, auf einer tieferen Stufe, wirklich bedeuten.

 Diese Erfahrung ist dunkel und schrecklich. Wir dürfen sie nicht „die Große Trübsal der Seele“ nennen, denn diese Bezeichnung wird schon für eine andere Trübsal und für einen anderen Schrecken gebraucht, denen wir auf einer ungleich höheren Ebene begegnen, als sie irgendeiner der Psalmisten (vermute ich) je erreicht hat. Aber wir können sie „die Große Trübsal des Fleisches“ nennen, wobei wir unter „Fleisch“ den natürlichen Menschen verstehen. […]

 Zugegeben, wir können, wenn wir wollen, all die Stellen, welche diese Trübsal schildern, als Anzeichen einer Neurose betrachten. Wenn wir unbedingt behaupten wollen, dass einige Psalmisten in einer Nervenkrise oder am Rande eines Nervenzusammenbruchs geschrieben haben, dann werden wir für unsere Theorie genug Bestätigung finden. Das heißt, die Psalmisten versuchen in genau den Dingen auf ihrem Recht zu beharren, von denen auch ein Patient in einem bestimmten neurotischen Zustand zu Unrecht meint, dass sie auf seine Situation zuträfen. Für unser Anliegen ist das im Moment jedoch nicht wichtig. Neurosen kommen vor; vielleicht sind wir selber schon durch dieses Tal hindurchgegangen oder müssen einmal hindurchgehen. Es kann uns nicht gleichgültig sein, wie gewisse an Gott gläubige Menschen vor uns sich darin verhalten haben. Und letzten Endes ist „Neurose“ ein relativer Begriff. Wer kann sagen, dass er ihr nie nahegekommen ist? Selbst wenn die Psalmen von Neurotikern geschrieben worden wären, so würden sie uns noch etwas angehen.

 Doch natürlich können wir keineswegs sicher sein, dass sie das sind. Der Neurotiker glaubt fälschlicherweise, dass er von gewissen Übeln bedroht werde. Ein anderer Mensch (oder der Neurotiker selbst zu einem anderen Zeitpunkt) kann jedoch tatsächlich von genau diesen Übeln bedroht sein. Es sind vielleicht nur die Nerven des Patienten, die ihm so überzeugend einreden, dass er Krebs hat oder finanziell ruiniert ist oder in die Hölle kommt; doch das beweist nicht, dass es so etwas wie Krebs oder Bankrott oder Verdammnis nicht gibt. Die Vermutung, dass die in gewissen Psalmen geschilderten Zustände Einbildung sein müssen, scheint mir auf reinem Wunschdenken zu beruhen. Es gibt diese Zustände im wirklichen Leben. Falls jemand das bezweifelt, möge er sich, während ich versuche diese Trübsal des Fleisches darzustellen, überlegen, wie leicht sie für irgendeine der folgenden Personen nicht subjektives Empfinden, sondern konkrete Wirklichkeit sein dürfte.

1. Für einen kleinen, hässlichen, unsportlichen, unbeliebten Jungen in der zweiten Klasse einer hundsmiserablen englischen Volksschule. 2. Für einen unbeliebten Rekruten in einer Militärbaracke. 3. Für einen Juden in Hitlerdeutschland. 4. Für einen Mann in einer schlechten Firma oder Staatsstelle, den eine Gruppe von Rivalen hinauszuekeln versucht. 5. Für einen Papstanhänger im England des sechzehnten Jahrhunderts. 6. Für einen Protestanten im Spanien des sechzehnten Jahrhunderts. 7. Für einen Afrikaner unter Malan. 8. Für einen amerikanischen Sozialisten in der Hand von Senator McCarthy oder einen Zulu während einer der alten, wilden Hexenverfolgungen.

 Die Finsternis des Fleisches kann objektive Tatsache sein; sie ist nicht einmal besonders selten.

 Man ist allein. Der Mit-Rekrut, der  einem am ersten Tag ein Freund zu sein schien, die Jungen, die einem in der letzten Klasse Freunde waren, die Nachbarn, mit denen man befreundet war, bevor die Judenhetze losging (oder bevor man Senator McCarthys Aufmerksamkeit auf sich zog) und sogar die eigenen Bekannten und Verwandten haben angefangen, einem aus dem Wege zu gehen. Niemand will gerne mit einem gesehen werden. Wenn man auf der Straße Bekannten begegnet, blicken sie zufällig immer auf die andere Seite. „Von meinen Nachbarn bin ich gemieden und ein Schrecken für meine Bekannten: Wer mich sieht auf der Straße, flieht scheu vor mir“ (31,12). „Meine Freunde und Genossen, … meine nächsten Verwandten halten sich fern“ (38,11). „Ein Fremdling bin ich meinen Brüdern geworden“ (69,9). „Meine Bekannten hast du mir entfremdet, hast mich ihnen zum Abscheu gemacht“ (88,9). „Blick ich nach rechts und halte Umschau: ach, da ist keiner, der mich versteht. Verschlossen ist mir jede Zuflucht“ (142,5).

 Manchmal macht nicht ein einzelner diese Erfahrung, sondern eine Gruppe (ein religiöser Orden oder sogar ein ganzes Volk). Mitglieder fallen ab; Verbündete fliehen; der gewaltige Zusammenschluss gegen uns wächst und festigt sich von Tag zu Tag. Schwerer noch als unsere schwindenden Zahlen und die zunehmende Isolation sind die wachsenden Anzeichen dafür zu ertragen, dass „unsere Seite“ nichts ausrichtet. Die Welt wird von schlechten Menschen auf den Kopf gestellt, und „was kann da der Gerechte noch leisten?“ (11,3), wo bleiben unsere Gegenmaßnahmen? „Wir sind ein Spott und Hohn“ geworden (79,4). Einst sprach so vieles zu unseren Gunsten, und große Führer waren auf unserer Seite. Doch diese Zeiten sind vorbei: „Unsere Zeichen sehen wir nicht mehr, kein Prophet ist mehr da“ (74,9). So fühlen wir Christen uns oft im heutigen Europa.

 Und rings um den vereinsamten Menschen sind tagaus, tagein die Ungläubigen. Sie wissen sehr wohl, was wir glauben oder zu glauben versuchen („hilf meinem Unglauben!“), und achten das für eine totale Illusion. „Gar viele sagen von mir: ‚Es gibt keine Rettung für ihn bei Gott’!“ (3,2). Als hätte Gott, falls es ihn gibt, nichts weiter zu tun, als sich um uns zu kümmern! (10,13); aber überhaupt: „Es gibt keinen Gott“ (14,1). Wenn es den Gott des Leidenden wirklich gibt, dann „möge er ihn retten“ (22,9), und zwar jetzt! „Wo ist nun dein Gott?“ (42,4)

 Der Mensch in der Trübsal des Fleisches ist in den Augen aller anderen äußerst komisch; die Witzfigur einer ganzen Schule oder Militärbaracke oder Arbeitsstelle. Sie können ihn nicht ansehen, ohne zu lachen; sie schneiden ihm Grimassen (22,8). Zechbrüder verulken ihn in ihren Liedern (69,13). Er wird „sprichwörtlich“ (44,15). Zu allem Unglück ist dieses ganze Gelächter keineswegs ein ehrliches, spontanes Gelächter, keines, das ein Mensch mit einer irgendwie komischen Stimme oder einem kauzigen Aussehen lernen könnte zu ertragen und in das er schließlich sogar miteinstimmen könnte. Diese Spötter lachen nicht, obwohl es ihn verletzt, und nicht einmal, ohne zu fragen, ob es ihn vielleicht verletzt; sie lachen, weil es ihn verletzt. Jede Demütigung und jedes Missgeschick, die er erleidet, ist ihnen wie Honig; sie zeigen ihm ihre Überlegenheit, wenn er am Boden liegt. „Ich spreche: Dass sie sich nur nicht freuen über mich, die wider mich grosstun, wenn mein Fuß wankt“ (38,17).

 Wenn man eine gewisse Art von aristokratischem oder stoischem Stolz hätte, so könnte man vielleicht Spott mit Spott vergelten oder sogar frohlocken, wie Coventry Patmore darüber frohlockte, dass er „in der Hochgebirgsluft öffentlichen Verrufs“ lebte. Wenn man das könnte, so wäre man der Trübsal nicht ganz preisgegeben. Aber was auch geschehe, so ist der Leidende nicht – oder nicht mehr, falls er es früher einmal war. Er ist den unaufhörlichen Neckereien, Verächtlichkeiten und Demütigungen (durch die Blume oder grausam verhohlen, je nach Milieu) wehrlos ausgeliefert, sie gehen ihm unter die Haut. Auch in seinen eigenen Augen ist er das, wozu sie ihn gemacht haben. Er kann nicht noch einmal von vorne anfangen. „Beschämung bedeckt sein Antlitz“ (69,8). Er könnte genauso gut stumm sein; in seinem Mund ist keine Widerrede (38,15). Er ist „ein Wurm und kein Mensch“ (22,7).

 

* Dieser Essay findet sich in: C. S. Lewis, „Gedankengänge. Essays zu Christentum, Kunst und Kultur“, Brunnen-Verlag, Basel 1986, S. 151-168. Lewis hat auch ein kleines Buch über die Psalmen geschrieben (Titel der dt. Übersetzung: „Gespräch mit Gott. Gedanken zu den Psalmen“) – ebenfalls sehr empfehlenswert.

** Der vollständige Text von Psalm 109 lautet nach der Einheitsübersetzung: „Für den Chormeister. Ein Psalm Davids. Gott meines Lobes, schweig doch nicht! Denn ein Mund voll Frevel, ein Lügenmaul hat sich gegen mich aufgetan. Sie reden zu mir mit falscher Zunge, umgeben mich mit Worten des Hasses und bekämpfen mich grundlos. Sie klagen mich an für meine Liebe, ich aber bete. Sie vergelten mir Gutes mit Bösem, mit Hass meine Liebe: Einen Frevler bestelle gegen ihn als Zeugen, ein Ankläger trete zu seiner Rechten. Als Verurteilter gehe er aus dem Gericht hervor und sein Gebet erweise sich als Sünde. Nur gering noch sei die Zahl seiner Tage, sein Amt erhalte ein anderer. Zu Waisen sollen werden seine Kinder und seine Frau zur Witwe. Unstet sollen seine Kinder umherziehen und betteln, aus den Trümmern des Hauses vertrieben. All seinen Besitz reiße an sich ein Gläubiger, Fremde sollen plündern, was er erworben hat. Niemand sei da, der ihm Huld bewahrt, keiner, der sich seiner Waisen erbarmt. Seine Nachkommen soll man vernichten, im nächsten Geschlecht schon erlösche ihr Name. Der Schuld seiner Väter werde beim HERRN gedacht, ungetilgt bleibe die Sünde seiner Mutter. Ihre Schuld stehe dem HERRN allzeit vor Augen, ihr Andenken lösche er aus auf Erden. Denn dieser Mensch dachte nie daran, Huld zu üben; er verfolgte den Gebeugten und den Armen und wollte den Verzagten töten. Er liebte den Fluch – der komme über ihn; er verschmähte den Segen – der bleibe ihm fern. Er zog den Fluch an wie ein Gewand; der dringe in seinen Leib wie Wasser und wie Öl in seine Knochen. Er werde für ihn wie das Kleid, in das er sich hüllt, wie der Gürtel, mit dem er sich allzeit umgürtet. So treiben es die, die mich anklagen mit Berufung auf den HERRN, die Böses gegen mein Leben reden. Du aber, GOTT und Herr, handle an mir, wie es deinem Namen entspricht! Ja, gut ist deine Huld, befreie mich! Denn ich bin gebeugt und arm, mein Herz ist durchbohrt in meinem Innern. Wie ein flüchtiger Schatten schwinde ich dahin, wie eine Heuschrecke schüttelt man mich ab. Mir wanken die Knie vom Fasten, mein Fleisch nimmt ab und wird mager. Ja, ich wurde ihnen zum Spott, sie schütteln den Kopf, wenn sie mich sehen. Hilf mir, HERR, mein Gott, in deiner Huld errette mich! Sie sollen erkennen, dass dies deine Hand vollbracht hat, dass du, HERR, es getan hast. Mögen sie fluchen – du wirst segnen. Sie haben sich erhoben, aber sie werden zuschanden, doch dein Knecht wird sich freuen. Meine Ankläger müssen sich mit Schmach bekleiden, wie in einen Mantel sich in Schande hüllen. Ich will dem HERRN danken mit lauter Stimme, inmitten der Menge will ich ihn loben. Denn er steht zur Rechten des Armen, um sein Leben vor bösen Richtern zu retten.“

*** Das Magnificat lautet in der Einheitsübersetzung: „Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.“ (Lukas 1,46-55)

**** Lewis meint hier wohl diese Stellen:

„Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem. Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach. Nachdem die Festtage zu Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der Knabe Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten. Sie meinten, er sei in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten nach ihm. Da geschah es, nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten. Als seine Eltern ihn sahen, waren sie voll Staunen und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? Doch sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen gesagt hatte. Dann kehrte er mit ihnen nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam. Seine Mutter bewahrte all die Worte in ihrem Herzen.“ (Lukas 2,41-51)

„Als Jesus noch mit den Leuten redete, siehe, da standen seine Mutter und seine Brüder draußen und wollten mit ihm sprechen. Da sagte jemand zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir sprechen. Dem, der ihm das gesagt hatte, erwiderte er: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: Siehe, meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ (Matthäus 12,46-50)

„Am dritten Tag fand in Kana in Galiläa eine Hochzeit statt und die Mutter Jesu war dabei. Auch Jesus und seine Jünger waren zur Hochzeit eingeladen. Als der Wein ausging, sagte die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. Jesus erwiderte ihr: Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Seine Mutter sagte zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut! Es standen dort sechs steinerne Wasserkrüge, wie es der Reinigungssitte der Juden entsprach; jeder fasste ungefähr hundert Liter. Jesus sagte zu den Dienern: Füllt die Krüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis zum Rand. Er sagte zu ihnen: Schöpft jetzt und bringt es dem, der für das Festmahl verantwortlich ist! Sie brachten es ihm. Dieser kostete das Wasser, das zu Wein geworden war. Er wusste nicht, woher der Wein kam; die Diener aber, die das Wasser geschöpft hatten, wussten es. Da ließ er den Bräutigam rufen und sagte zu ihm: Jeder setzt zuerst den guten Wein vor und erst, wenn die Gäste zu viel getrunken haben, den weniger guten. Du jedoch hast den guten Wein bis jetzt aufbewahrt. So tat Jesus sein erstes Zeichen, in Kana in Galiläa, und offenbarte seine Herrlichkeit und seine Jünger glaubten an ihn.“ (Johannes 2,1-11)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c4/Tissot_The_Songs_of_Joy.jpg

(James Tissot, The Songs of Joy. Gemeinfrei.)

15 Gedanken zu “Über schwierige Bibelstellen, Teil 7: Ein Beispiel – die rachsüchtigen und selbstgerechten Psalmen

  1. >>Wie aber, wenn man Offizier ist (oder, vielleicht noch schlimmer, Unteroffizier)?

    Okay, Lewis hat wirklich Ahnung.

    – That said, es stimmt zwar, daß der Mensch „keine Rachsucht“ haben darf, aber nur, weil Rache per definitionem Vergeltung im Übermaß ist. Einen maßvollen Wunsch nach Vergeltung ihm tatsächlich angetanen Unrechts *darf* er haben. Sonst wäre es auch nicht so viel wert, wenn er darauf verzichtet.

    (Frau und Kinder des Feindes verwünschen? Eher unmaßvoll.)

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    1. Darf man wirklich einen Wunsch nach Vergeltung haben? Ich meine, würde das nicht der Bergpredigt widersprechen? (Ich rede nicht davon, dass ein Wunsch nach Vergeltung verständlich ist, oder dass man in der Gesellschaft Gerechtigkeit auch mit Strafen durchsetzen muss.)

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      1. Die Bergpredigt? Wüßte nicht, wo die das verbietet. Wenn Du jetzt „Gleichnis von den zwei Schuldnern“ gesagt hätte, aber das ist nicht in der Bergpredigt.

        Aber, nun ja, es gibt dazu einen Abschnitt bei St. Thomas, „Vergeltung“ (Nebentugend (!) der Gerechtigkeit), der geht so:

        Ist Vergeltung rechtmäßig?

        ES SCHEINT, DASS Vergeltung nicht rechtmäßig sei. Der wenn sich anmaßt, was Gottes ist, der sündigt. Aber Vergeltung gehört allein Gott, denn es steht geschrieben „Mein ist die Vergeltung“ (Dtn 32,35; öm 12,19). Daher ist jede Vergeltung ungesetzlich.

        Außerdem verträgt sich niemand, der an jemandem Vergeltung übt, mit diesem. Aber wir sollen uns mit den Bösen vertragen, denn eine Glosse über Hld 2,2, „wie eine Lilie unter den Disteln“, sagt, „das ist kein guter Mensch, der sich mit einem Bösen nicht vertragen kann.“ Daher sollen wir an den Bösen keine Vergeltung üben.

        Außerdem übt man Vergeltung, indem man Strafe zufügt, welche die Ursache für knechtische Furcht ist. Aber das Neue Gesetz ist kein Gesetz der Furcht, sondern der Liebe, wie Augustinus sagt (Contra Adamant. xvii). Daher ist wenigstens unter dem Neuen Bund alle Vergeltung unrechtmäßoig.

        Außerdem heißt es von einem Menschen dann, daß er Vergeltung übt, wenn wenn sich für Unrecht, das man ihm angetan hat, rächt. Aber es scheint, daß es sogar für einen Richter falsch ist, die zu strafen, die ihm Unrecht angetan haben: denn Chrysostomus sagt [Opus Imperfectum, Hom. v. in Matth., fälschlich zugeschrieben]: „Lasset uns lernen, nach dem Beispiel Christi das uns angetane Unrecht mit Großmut zu tragen, aber es nicht dulden, daß man Gott Unrecht antut, nicht einmal, indem wir solchem Gerede zuhören“. Daher scheint Vergeltung nicht rechtmäßig zu sein.

        Außerdem ist eine Sünde der Masse schädlicher als die Sünde eines Einzelnen, denn es steht geschrieben (Sir 26,5-7): „Vor drei Dingen hat mein Herz Angst bekommen: die Anklage einer Stadt, die Versammlung des Volkes, und einer falschen Verleumdung.“ Aber man soll die Sünde einer Menge nicht vergelten, denn eine Glosse zu Mt 13,29-30, „damit ihr nicht zusammen mit dem Unkraut den Weizen entwurzelt […] duldet, daß beides wächst“, sagt, „eine Masse sollte nicht exkommuniziert werden, und ein Souverän auch nicht“. [?, Anm. von mir^^] Daher ist auch keine andere Vergeltung rechtmäßig.

        ANDERERSEITS sollen wir nichts von Gott erhoffen, was gut und rechtmäßig ist. Aber wir *sollen* von Gott die Vergeltung an seinen Feinden erhoffen, denn es steht geschrieben (Lk 18,7) „Wird Gott nicht seine Erwählten rächen, die Tag und Nacht zu ihm schreien?“ [in der EÜ anders, Anm.], gemeint: „Das wird er in der Tat“. Daher ist Vergeltung nicht im Wesen böse und unrechtmäßig.

        ICH ANTWORTE, DASS die Vergeltung in der Zufügung eines Straf-Übels an einen, der gesündigt hat, besteht. Folglich müssen wir, was die Vergeltung angeht, die Gesinnung des Vergeltenden betrachten.

        Ist seine Absicht in der Hauptsache auf das Übel der Person, an der er Vergeltung übt, gerichtet, und bleibt sie dort, dann ist seine Vergeltung ganz unrechtmäßig, denn an dem Übel eines anderen [gemeint: an und für sich] sich erfreuen, gehört dem Hasse an, welcher der Liebe, mit der wir alle Menschen lieben müssen, entgegensteht. Es ist [gemeint: in dem Zusammenhang] auch keine Entschuldigung, daß er das Übel bei einem beabsicht, der ihm unrechtermaßen Übel zugefügt hat, denn ein Mensch ist auch nicht entschuldigt, daß er einen haßt, wenn der ihn hast: denn ein Mensch darf nicht gegen einen anderen sündigen, weil der letztere schon gegen ihn gesündigt hat, denn ist hieße, vom Bösen überwunden zu werden, was der Apostel verboten hat, der sagt (Röm 12,21): „Laßt euch nicht vom Bösen überwinden, sondern überwindet das Böse durch das Gute.“

        Richtet sich hingegen die Absicht des Vergeltenden hauptsächlich auf ein Gut, das mittels der Bestrafung der Person, die gesündigt hat, erworben wird (z. B. daß der Sünder sich bessere, oder wenigstens daß er im Zaum gehalten und andere in Ruhe gelassen werden, [Anm.: aber nicht nur, sondern Thomas erwähnt im folgenden auch ausdrücklich:] daß die Gerechtigkeit aufrecht erhalten, und daß Gott geehrt werde), dann kann Vergeltung gesetzmäßig sein, vorausgesetzt, daß das beachtet wird, was sich aus den übrigen Umständen ergibt.

        Zu 1. Wer an den Bösen Vergeltung übt im Einklang mit seinem Rang und seiner Stellung, maßt sich nicht an, was Gott gehört, sondern gebraucht die Macht, die Gott ihm gewährt hat. Denn es ist geschrieben (Röm 13,4) von dem irdischen Fürsten, daß „er ist Gottes Minister, ein Vergelter, um den Zorn über den auszuüben, der Böses tut“. Wer hingegen außerhalb der göttlichen Ordnung Vergeltung übt, maßt sich an, was Gott gehört, und sündigt.

        [heißt: der Fürst *darf* Vergeltung üben – aber der Staatsbürger darf es *auch*, insoweit er ihn bei der Polizei anzeigen und vor Gericht anklagen kann. Heißt mE naheliegenderweise auch: der Fürst bzw. die Republik soll beim Strafen das – wie gesagt: an sich ja berechtigte – Vergeltungsbedürfnis der Opfer, in freilich unparteiischer Form, befriedigen *wollen*.

        Zu 2. Die Guten vertragen sich mit den Bösen, indem sie geduldig und in geziemender Weise das Unrecht ertragen, daß sie selber von ihnen empfangen, aber sie vertragen sich mit ihnen nicht so, als daß sie das Unrecht, daß sie Gott und dem Nächsten zufügen, ertrügen. Denn Chrysostomus sagt [an der gleichen Stelle wie oben, fälschlich zugeschrieben“: „Es ist preiswürdig, unter einem selbst angetanem Unrecht geduldig zu sein, aber das Unrecht, das man Gott antut, übersehen ist böse“.

        [Anm. Da das einem selbst angetane Unrecht immer auch Gott und dem Nächsten angetan wird, vorausgesetzt, man täuscht sich im Urteil nicht, wird man das hier wohl sagen dürfen, daß das Übersehen löblich und verdienstvoll, aber nicht verpflichtend ist.

        Zu 3. Das Gesetz des Evangeliums ist das Gesetz der Liebe, und daher soll man die, die aus Liebe das Gute tun, und die allein im eigentlichen Sinne dem Evangelium angehören, nicht mit Strafen terrorisieren, sondern nur die, die nicht von Liebe bewegt werden, das Gute zu tun, und die, obwohl sie der Kirche nach außen hin angehören, nicht zu ihr dem Verdienste nach gehören. [Anm. Wären dann Strafen für läßliche Sünden und neutrale Taten, die der Staat verboten, aber nicht unter Sünde verboten hat, unrechtmäßig? Glaube das eher nicht, aber das gehört nicht hier her. Jedenfalls handelt es sich hier um genuin anderes Strafen.]

        Zu 4. Manchmal [?] reflektiert ein Unrecht, das einer Person angetan worden ist, auf Gott und die Kirche: und dann ist es die Pflicht der Person, das Unrecht zu vergelten. So ließ z. B. Elija Feuer auf jene, die gekommen waren, ihn zu ergreifen, herabregnen (2 Kön 1); gleichermaßen verfluchte Elischa die Buben, die ihn verspotteten (2 Kön 2); und Papst Sylverius exkommunizierte jene, die ihn ins Exil geschickt hatten (XXII, Q. iv., Cap. Guilisarius [?]). Aber soweit das Unrecht, das einem Menschen angetan worden ist, seine eigene Person betrifft, sollte er es geduldig ertragen, wenn dies angezeigt ist. Denn diese Geduld-Vorschriften sollen so verstanden werden, als ob sie sich auf das [entsprechende] Bereit-Sein in der Gesinnung bezögen, wie Augustinus behauptet (De Serm. Dom. in Monte i).

        Zu 5. Wenn die ganze Masse sündigt, muß man an ihnen entweder Vergeltung üben in bezug auf die ganze Masse – so wurden die Ägypter im Meer ertränkt, als sie die Kinder Israels verfolgten (Ex 14), und die Leute aus Sodom wurden zur Gänze vernichtet (Gen 19) – oder in bezug auf einen teil der Masse, deren Bestrafung den Rest mit Furcht erfüllt: so befahl der Herr (Num 25), daß die Fürsten des Volkes für die Sünde der Menge gehängt werden sollten. Wenn es andererseits nicht die Ganzheit, sondern nur ein Teil der Masse ist, der gesündigt hat, dann sollte, wenn die Schuldigen von den Unschuldigen getrennt werden können, an ihnen die Vergeltung verübt werden, vorausgesetzt aber, daß dies geschehen kann, ohne daß andere Anstoß nehmen; im übrigen sollte die Masse verschont werden und auf Strenge verzichtet. Das gleiche gilt für den Souverän, dem die Masse folgt. Denn seine Sünde sollte man ertragen, wenn sie nicht gestraft werden kann, ohne daß die masse Anstoß nimmt: es sei denn fürwahr, daß seine Sünde solcherart wäre, daß es für die Masse zu mehr Schaden, sei es geistlichem, sei es zeitlichem, füren würde, [sie nicht zu bestrafen], daß es der Anstoß würde, den man fürchtet, daß von seiner Bestrafung entstehen würde.

        – Ende der Übersetzung, aus praktischem Gründen aus dem Englischen.

        Langer Rede kurzer Sinn: es gibt ein legitimes Bedürfnis nach Vergeltung, daß sich nicht *nur* unbedingt auf die Besserung des Sünders beziehen muß (obwohl der Christ selbstverständlich in seiner Nächstenliebe, die auch den Sünder betrifft, diesen Effekt mit Vorzug wünschen wird), sondern sich durchaus auch darauf beziehen kann, daß jemand „who had it coming to him“ (wie die Engländer sagen) zur Vergeltung der Missetat selber eine draufbekommt.

        Das Ausüben in Selbstjustiz ist freilich verboten; aber die Staatsgewalt darf das, der Bürger darf die Staatsgewalt zu Hilfe rufen; und aus dem Sinnzusammenhang (was der hl. Thomas nicht ausdrücklich sagt) ergibt sich auch, daß die Staatsgewalt den (wie gesagt ja legitimen) Vergeltungswünschen der Bürger entgegenkommen soll, indem sie maßvoll, aber tatsächlich Vergeltung übt und nicht den Vergeltungsgedanken ganz verwirft.

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      2. Dein Fazit kann ich schon irgendwo nachvollziehen, aber: Was ist mit „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!“ (Mt 5,38f.), „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt 5,43-45), usw. (Ja, das steht in der Bergpredigt!)

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      3. Ich hoffe, ich kommentier jetzt an die Richtige stelle hin.

        Also: Das steht in der Tat in der Bergpredigt, hat aber mit dem angesprochenen Thema gar nichts zu tun. Auch wenn es so klingt. Mindestens das letztere Zitat aus der Bergpredigt nicht:

        >>Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“

        Was heißt das? Man soll den Feind lieben (heißt: seine Existenz bejahen und für gut befinden und ihm Gutes wollen*) sowie für ihn beten. Daß man den Feind nicht hassen darf, sagt auch der hl. Thomas; daß man eine Vergeltung vielleicht als Mittel zur Wahrung der Gerechtigkeit, nicht aber, weil man dem Betreffenden schon an und für sich Böses will, wollen darf, sagt auch der hl. Thomas. Diese Weisung der Bergpredigt erfüllt buchstäblich, wer darum betet, daß er mit seinem Feind einmal im Himmel gemeinsam im Frieden Gott anbeten will, und gleichzeitig entweder ebenfalls durch Gebet oder durch Anzeige oder auf sonstwelchen legalen Mitteln dafür sorgt, daß er hier auf Erden in gerechter und maßvoller Form für eine tatsächlich von ihm begangene Missetat eins auf den Deckel bekommt.

        Nur *an und für sich* darf man das Übel nicht wollen, sondern nur, mindestens, als Mittel der Gerechtigkeit.

        – Weswegen ich ja übrigens auch immer sage, daß der ewige Topos von der ultimativen schwierigen und widernatürlichen Feindesliebe so gar nicht zutrifft. Man darf die Wahrheit, daß der Feind (um es ausnahmsweise mal in den Worten der deutschen Verfassungssprache auszusprechen) ein Mensch mit Menschenwürde ist, daß man das also, was man an sich als richtig erkannt hat, nicht in einer Gefühlsaufwallung kompromißartig[**] beiseitelegt – das mag in der Tat manchmal nicht ganz einfach sein (nicht: es einzusehen – das *ist* einfach – sondern es auch zu tun). Die totale Selbstaufgabe, die manche Ausleger daraus machen, ist es dennoch schlicht nicht.

        [* Du als Harry-Potter-Fan kennst sicher die ganz erstaunlich treffsichere Definition von „Liebe“ in Heiligtümer des Todes Kapitel 3. Eine meiner zwei Lieblingsstellen in der ganzen Serie. Die andere ist die von wegen „ich mache Fehler, und weil ich klüger bin als die meisten meiner Mitmenschen, tendieren diese dazu, entsprechend größer zu sein“.

        ** Unmittelbar davor steht der Satz von „seid vollkommen“.]

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      4. Also: Feindesliebe und Vergeltungswunsch sind kein Widerspruch (wohl ausgenommen, man wünscht als Vergeltung, daß der Gegner auf ewig in der Hölle schmort).

        Dazu übrigens mein Ausbilder beim Bund: „Das sind alles unsere Kameraden – auch wenn es unsere Feinde sind.“

        Was nun zu

        >> „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!“ (Mt 5,38f.)

        Dazu ist zunächst festzustellen: Das Bild, das wir hier vor Augen haben, ist primär nicht eine Vergeltungs-, sondern eine Notwehrsituation. Natürlich: wenn selbst die Notwehr verboten *wäre*, a fortiori die Vergeltung. Nun aber

        1. hat die Kirche, wie Du sicher nicht bestreiten wirst, diesen Satz der Bergpredigt tatsächlich nie so ausgelegt wäre, als ob das Verzichten auf legitimen Widerstand in einer legitimen Position ein Gebot wäre – obwohl es, wo nicht andere Pflichten im Weg stehen, immer ein höchst verdienstvolles Werk ist. Die Grundannahme, daß der Heiland uns weder in eine unmögliche noch in eine nur durch fortwährendes Wunderwirken Seinerseits mögliche Position stellen will, mag das ihrige dazu beigetragen haben, aber auch Bibelstellen von wegen, daß wer kein Schwert hat, sich eines kaufen möge.

        Ich zitiere dazu einmal Chesterton, der an der Stelle freilich eigentlich gegen etwas anderes (nämlich die Unterstellung, unser Heiland habe als Mensch des 1. Jahrhunderts die Grenzen der Menschen des 1. Jahrhunderts gehabt) argumentiert:“Treffe ich einen Menschen, der sagt, daß er ein Atheist sei, kann ich ihn einen beschränkten Menschen nennen; für gewöhnlich tue ich das auch. Wenn ich zehn Minuten später höre, wie er leidenschaftlich zu Gott betet, kann ich schließen, daß er verrückt, oder ein Spaßmacher, oder im Besitz einer ganz einzigartigen Synthese ist. Was ich genau nicht sagen kann, ist, daß er beschränkt ist. Nun hat Jesus den Menschen gesagt, sie sollten die andere Wange hinhalten; er hat ihnen auch gesagt, sie sollten Schwerter kaufen, um Leute zu bekämpfen; er hat ihnen auch ein gesundes Beispiel gegeben, indem er die Geldwechsler im offenen Tempel verdroschen hat. Das mag einer verrückt nennen; Beschränkung ist es nicht.“ („‚Jesus‘ oder ‚Christus‘, Artikel im Hibbert Journal, April 1910)

        Zweitens, es heißt wie gesagt bekanntlich „auf die rechte“, also, wenn der Watschende Rechtshänder ist, mit dem Handrücken (galt wohl als besonders entehrend). „Die andere“ klingt in dem Zusammenhang doch sehr deutlich danach, den Gegner darüber zu belehren, wie genau man denn nun eigentlich Watschen verteilt, und sich dabei (die Angst vor körperlichem Schmerz überwindend) eine nicht *so* entehrende Watschen auszubitten, wobei der Gegner sich nicht beschweren kann, er darf ja noch mal zuhauen. Um in diesem Zusammenhang noch einmal Chesterton von der gleichen Stelle zu zitieren:

        „Der Befehl Christi, den Mantel auch noch herzugeben, wenn einer das Hemd verlangt, war gut-möglicherweise ein humorvoller Vorschlag, den Feind zu beschämen. ‚Wenn ein Mensch deinen Hut zu Boden schlägt, biete ihm auch deinen Schirm noch an; und dann ist er der, der wie der Depp ausschaut“.

        Und wie gesagt: wenn diese Stelle die primär gemeinte Notwehr nicht verbietet, und das tut sie nicht, dann verbietet sie auch die Vergeltung nicht. Ein „Notwehr geht grade noch, aber darüber hinaus nichts“ müßte man von außen an den Text herantragen, der, wenn überhaupt, die Notwehr gleich mit zu verbieten schiene.

        – Wie gesagt: mit der Bergpredigt halte ich die Stelle vom hl. Thomas für vollauf vereinbar. Wenn die Vereinbarung mit der Bibel schwierig wird, ist es beim Gleichnis von den zwei Schuldnern mit den zehntausend Talenten und hundert Denaren.

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      5. Natürlich muss man die Stelle im Kontext der ganzen Bibel lesen (vielleicht würde ein falsches Verständnis dieser Stellen auch mal einen Beitrag für diese Reihe lohnen…). Aber ich habe die immer so verstanden, dass es hier wirklich um Vergeltung, nicht Notwehr, geht (also, darum, jemanden, der einen schon geschlagen hat, zurück zu schlagen, damit der merkt, wie das ist, nicht darum, ihn während des Schlagens abzuwehren, zum Beispiel), einfach weil es bei „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ja nicht um Notwehr geht, sondern um (strafrechtliche) Vergeltung.

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      6. Wobei natürlich „leistet keinen Widerstand“ ziemlich klar nach Notwehr klingt… Hm, vielleicht sind Notwehr und Vergeltung auch einfach nicht immer so weit auseinander (ohne Strafen für Verbrecher würden die sich ermutigt fühlen, weiter Verbrechen zu begehen)

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      7. korrigiere übrigens die Übersetzung oben: Andererseits sollen wir von Gott nichts erhoffen, was *nicht* gut und rechtmäßig ist.

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  2. Neben denke ich übrigens nicht, daß „wozu nicht in Sternstunden diese Barbaren fähig waren“ der Sinn der Psalmen ist. (Man denke: Seit dem hl. Benedikt und vor ihm gehören diese, und zwar in ihrer Gesamtheit, zum traditionellen Stundengebet der Kirche.)

    >> Verallgemeinernd kommen wir damit zu einer sehr paradoxen Überlegung. Für gewöhnlich, und selbstverständlich zu Recht, werden Judentum und Christentum, die Herrschaft Moses und die Herrschaft Jesu, einander gegenübergestellt als Gesetz gegen Gnade, Gerechtigkeit gegen Barmherzigkeit, Härte gegen Milde. Aber offenbar hoffen die, welche unter der unerbittlicheren Verkündigung stehen, auf Gottes Gericht, während die, welche unter der milderen Botschaft leben, Angst davor haben.

    Äh, ja. Mit seiner Beobachtung hat C. S. Lewis natürlich Recht. Wobei sich die Frage stellt, wieviel davon heutzutage auf protestantische Predigt und das An-sich-Richtige in protestantischer Predigt zurückgeht (auf verschlungener Weise, denn der eigentliche Protestantismus usw). Ich weiß jedenfalls zufällig genau, daß noch zu C. S. Lewis‘ Zeiten jede katholische Messe außer Totenmessen und denen vom Passionssonntag bis Gründonnerstag mit den Worten begann:

    „Richte mich [bzw. Verschaff mir Recht], Gott, und führe meinen Rechtsstreit gegen ein treuloses Volk! Vor dem ungerechten und hinterlistigen Menschen erlöse mich!“

    Wir sind nicht einfach so viel besser als die Menschen des Alten Testaments, daß wir für soetwas zu fortgeschritten wären – und andererseits auch nicht so viel schlechter, daß wir uns anders als sie keineswegs im Recht sehen dürften.

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