Über diese heuchlerischen, pharisäischen Katholischer-als-der-Papst-Christen, oder: Der Franziskus-Effekt

Ein Problem, das ich mit unserem derzeitigen Papst, wie er manchmal erscheint, oder zumindest mit manchen seiner Anhänger, habe, ist ihre gewissermaßen selektive Barmherzigkeit. (Ich weiß nicht, ob alles oder auch nur ein größerer Teil dessen, was ich in diesem Artikel beschreibe, auf Papst Franziskus persönlich zutrifft, aber es geht mir auch nicht vorrangig um ihn oder irgendeine andere Person, sondern um ein allgemeines Phänomen. Hier also der offizielle Disclaimer: Dieser Artikel hier ist eigentlich nicht als Papstkritik im strengen Sinne gemeint, er kritisiert eher ein Phänomen, das besonders unter dem derzeitigen Papst wieder stärker aufgelebt ist, das aber nicht gerade neu ist.)

Wie gesagt: Selektive Barmherzigkeit. Was ich damit meine, ist Folgendes:

Man redet von Armut, Demut und Barmherzigkeit. Man tritt ganz betont schlicht auf, damit andere sehen, dass man den alten Prunk der Kirchenfürsten verabscheut. Man zeigt sich bestimmten Sünden gegenüber, die in der Welt beliebt sind, barmherzig, nicht verurteilend, manchmal verständnisvoll, manchmal auch verharmlosend. Andere Sünden dagegen verurteilt man mit den schärfsten Worten, die man finden kann. Ersteres sind meistens die Sünden des Fleisches, letzteres bestimmte Sünden des Geistes. Man betont, wie viel Gutes auch in vor- / außerehelichen Beziehungen zu finden sei, während es ja auch Ehen gäbe, in denen keine gute Beziehung zwischen den Partnern bestehe, und man predigt darüber, wie grauenvoll es sei, sich z. B. wegen seines Glaubens für besser als andere Menschen zu halten, oder wie schlimm Heuchelei sei. Die Lieblingsstelle in der Bibel ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Besser ein barmherziger Samariter sein als ein gleichgültiger Priester oder Levit; besser ein moralischer Atheist sein als ein heuchlerischer Katholik. Man setzt sich selbst mit dem Heiland gleich, der gegen den Legalismus und die Rigidität der Schriftgelehrten und Pharisäer auftritt und für die Armen, Gebeugten, Ausgestoßenen einsteht.

Und damit tut man – wenn auch vielleicht unbewusst – ganz genau dasselbe wie das, wofür der Heiland die Pharisäer kritisiert hat: Man sichert sich den Beifall der Welt. „Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten.“ (Matthäus 6,5)

Ich meine, Leute, bitte: Die ausgestoßenen Sünder unserer Zeit sind nicht wiederverheiratete Geschiedene. Es sind dicke, alkoholabhängige Langzeitarbeitslose, oder AfD-Wähler, oder auch religiöse Fundamentalisten, sagen wir mal, in der Nachbarschaft umherwandernde Zeugen Jehovas – Leute dieser Art. Ausgestoßene Sünder sind diejenigen, die tatsächlich in der Öffentlichkeit und in den Medien schlecht wegkommen, ob nun zu Recht (wie in den Evangelien die Ehebrecherin) oder zu Unrecht (wie in den Evangelien die verschiedenen Leprakranken). (Natürlich kann es je nach speziellem Milieu noch zusätzlich ganz unterschiedliche Ausgestoßene oder Verachtete geben: Fleischesser, Flüchtlinge, Katholiken, Juden, Schulmediziner, Feministinnen, Machos, Trump-Wähler, Clinton-Wähler, Klimaskeptiker, Esoteriker, Hausfrauen, und so ziemlich alles, was es gibt, können dazu gehören.)

Und wenn man barmherzig sein will (was man sollte) : auch Unbarmherzigkeit gegenüber Pharisäern ist Unbarmherzigkeit, ob man sie nun bloß für Pharisäer hält oder ob sie es wirklich sind.

Das Problem ist eben: Kein Mensch, der heute hier auf Erden lebt, ist der Heiland. Daher kann auch kein Mensch anderen Menschen ins Herz schauen und endgültig sagen, ob sie nun arrogante Pharisäer sind oder nicht, und erst recht nicht, ob sie sich nicht vielleicht, wenn sie es sind, und wissen, dass sie es manchmal sind, eigentlich gerne bessern wollen.

Diese Art von selektiver Barmherzigkeit ist sicher oft gut gemeint und entwickelt sich dann nur falsch. Aber falsch entwickeln, das muss man sagen, das tut sie sich leider häufig.

Wir alle brauchen eben Barmherzigkeit.

„Siehe, dein König kommt zu dir“: Lassen wir uns doch von Ihm lieben

(Ein etwas verspäteter Palmsonntagsbeitrag. Sorry, ich hatte in den letzten Tagen viel um die Ohren und habe diesen Beitrag daher länger halb fertig liegen lassen.)

„Als sich Jesus mit seinen Begleitern Jerusalem näherte und nach Betfage am Ölberg kam, schickte er zwei Jünger voraus und sagte zu ihnen: Geht in das Dorf, das vor euch liegt; dort werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Fohlen bei ihr. Bindet sie los und bringt sie zu mir! Und wenn euch jemand zur Rede stellt, dann sagt: Der Herr braucht sie, er lässt sie aber bald zurückbringen. Das ist geschehen, damit sich erfüllte, was durch den Propheten gesagt worden ist: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist friedfertig und er reitet auf einer Eselin und auf einem Fohlen, dem Jungen eines Lasttiers. Die Jünger gingen und taten, was Jesus ihnen aufgetragen hatte. Sie brachten die Eselin und das Fohlen, legten ihre Kleider auf sie, und er setzte sich darauf. Viele Menschen breiteten ihre Kleider auf der Straße aus, andere schnitten Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Die Leute aber, die vor ihm hergingen und die ihm folgten, riefen: Hosanna dem Sohn Davids! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe! Als er in Jerusalem einzog, geriet die ganze Stadt in Aufregung, und man fragte: Wer ist das? Die Leute sagten: Das ist der Prophet Jesus von Nazaret in Galiläa.“ (Matthäus 21,1-11)

„Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist demütig und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin. Ich vernichte die Streitwagen aus Efraim und die Rosse aus Jerusalem, vernichtet wird der Kriegsbogen. Er verkündet für die Völker den Frieden; seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer und vom Eufrat bis an die Enden der Erde. Auch deine Gefangenen werde ich um des Blutes deines Bundes willen freilassen aus ihrem Kerker, der wasserlosen Zisterne.“ (Sacharja 9,9-11)

Vergangenes Wochenende war ich seit längerem einmal wieder beichten (Fastenzeit und so); und es war ein außergewöhnlich schönes Erlebnis. Ich gehe jedes Mal in der Kirche in meiner Nachbarschaft bei dem Priester, der an dem Tag, an dem ich mir das Beichten vorgenommen habe, gerade im Beichtstuhl sitzt; meistens ist das der Stadtpfarrer. An diesem Wochenende erwischte ich erstmals den neuen Kaplan. Ich bin vom Pfarrer her eher die Art Beichte gewohnt, bei der man seine Sünden aufzählt, dann einen kurzen, eher allgemeinen Zuspruch erhält, und dann gleich die Absolution; alles in fünf Minuten vorbei. Diesmal merkte ich schon während des Schlangestehens vor dem Beichtstuhl (in der Karwoche muss man manchmal tatsächlich mal länger Schlange stehen, in meiner Pfarrei jedenfalls), dass die Leute vor mir schon etwas länger dort drin waren als für gewöhnlich, so eine Viertelstunde konnte es schon dauern. Als ich dann an die Reihe kam und schließlich mit meiner Sündenaufzählung fertig war, unterhielt sich der neue Kaplan auch mit mir noch länger als für gewöhnlich, offensichtlich, um das Ganze persönlicher zu machen anstatt mehr oder weniger als Blockabfertigung. Er begann einfach damit, nachzufragen, welche der Sünden, die ich genannt hatte, ich denn als am schwerwiegendsten bewerten würde. Ich stotterte erst einmal herum und entschuldigte mich dafür dann wiederum mehrmals; jedenfalls fragte er noch manches andere nach und ich konnte noch manches erzählen und manche Fragen stellen, und es ergab sich am Ende ein gutes Gespräch über mein neurotisches Gewissen. (Über das ich schon mehrfach geschrieben habe; siehe z. B. hier.)

Wie gesagt, ich bin so etwas in der Beichte bisher eigentlich nicht gewohnt gewesen. Mit meinen religiösen Zwängen und Ängsten versuche ich meistens eher selber fertigzuwerden, anhand von Internet, Büchern, und eigenen Überlegungen. Zum Beichten bin ich immer gegangen, um Sachen bei Gott abzuladen, nicht, um persönlichen Trost und Tipps zu erhalten – ersteres geschieht natürlich immer und ist auch tatsächlich der eigentliche Zweck dieses Sakraments, aber er sollte letzteres nicht ausschließen; es muss schließlich Gründe geben, wieso Gott die Sündenvergebung in ein Zweiergespräch mit einem Seelsorger eingebunden hat. Einmal erst habe ich bisher außerhalb der Beichte mit einem Priester über meine religiöse Zwangsgestörtheit gesprochen; in der Beichte nie. Dabei ist sie eigentlich ein sehr geschützter Raum – schon allein durch die Architektur des Beichtstuhls mit seiner Abgeschlossenheit von der Außenwelt, seiner Dunkelheit, dem Gitter zwischen Priester und Pönitent, aber noch mehr natürlich durch das Wissen um das absolut ausnahmslos in jedem Fall geltende Beichtgeheimnis -, aber trotzdem ist es auch in so einem geschützten Raum nicht immer ganz einfach, dem Beichtvater, ob er nun ein Fremder oder ein guter Bekannter ist, mehr zu erzählen als unbedingt für eine gültige Beichte notwendig, und ihn noch um Rat für konkrete Situationen zu bitten, gerade, wenn vielleicht draußen noch andere Pönitenten warten, die sich eventuell noch fragen könnten, was man so lange da drin macht. Da kann es manchmal hilfreich sein, wenn der Priester von sich aus die Sache etwas persönlicher gestaltet. (Natürlich: Wenn es einem Pönitenten unangenehm ist, manche Dinge genauer zu besprechen und er gerade nicht sein ganzes Seelenleben diskutieren möchte, ist das eine etwas andere Situation. Es haben ja nicht alle Leute so viel Gesprächsbedarf wie ich.) Aber in meinem Fall jedenfalls war es sehr tröstlich: Einfach einmal wieder mit einem aufmerksam zuhörenden Menschen reden zu können; laut aussprechen zu können, was mich manchmal fertigmacht. Die Beichte bei einem guten Priester bietet einen Raum unglaublicher Freiheit. In diesem Raum kann man Sätze aussprechen wie: „Ich habe Angst vor der Hölle.“ Es mag vielleicht lächerlich klingen, das zu sagen, aber lächerliche Dinge aussprechen zu können, befreit eben. Ich stelle mir den Himmel als einen Ort vor, an dem niemand mehr die lächerlichen und dummen Dinge, die er gedacht und gesagt und getan hat, verstecken muss; überhaupt als einen Ort, an dem man keine Angst mehr haben muss. Wie schön wäre so ein Ort.

Der Herr Kaplan brauchte bei mir wohl ein wenig, bis er aus meinem Gestotter ganz klug wurde, jedenfalls verstand er dann irgendwann, dass ich mir oft nicht sicher bin, wie schwer meine Sünden sind; dass ich lange über derartige Fragen nachgrüble; dass ich z. B. Angst habe, dass es eine Sünde ist, wenn ich etwas nicht gleich und sofort beichten gehe und mich dann vor dem Beichten wiederum verkrampfe und Bauchschmerzen bekomme; dass ich Angst habe, Dinge falsch zu machen, nicht genug zu tun, vor Gott nicht zu genügen; dass ich manchmal Angst habe, in die Hölle zu kommen.

Zuerst sagte er mir dann eine sehr wichtige Sache, die ich eigentlich schon oft genug gehört und über die ich selber schon öfter geschrieben habe (das täglich Darandenken ist so eine Sache) : Wir werden nie genügen können; wir können nie genug leisten; wir können uns nicht den Himmel erarbeiten. Alles ist Gnade. Auch die Beichte, d. h. die Absolution in der Beichte (die theoretisch vom Priester übrigens sogar verweigert werden könnte, unter gewissen, seltenen Umständen). Gott schuldet uns keine Vergebung, wenn wir diese und jene Regeln genau erfüllen (Vergebung, auch menschliche Vergebung, ist immer etwas Ungeschuldetes); Er will sie uns schenken und hat uns dafür einen Weg gezeigt. Es ist schon vom Ansatz her völlig falsch, mit diesem Leistungsdenken an die Sache heranzugehen. Wir müssen nicht denken „Wenn ich das und das tue, muss Gott mich doch mögen“; nein – Gott liebt uns, ohne dass wir irgendetwas getan hätten, und trotz allem, was wir tun.* Ja, wir sollen auch auf Seine Liebe antworten, aber wir müssen weg von diesem Leistungsdenken. Wir werden niemals vollkommen sein, und man kann Liebe nicht verdienen. Gott stellt uns auch keine unerfüllbaren Aufgaben; einfach mal platt gesagt, es genügt, ein gewisses Mindestmaß an Reue aus Liebe zu Gott für seine Sünden zu haben (was für uns Katholiken bei Gelegenheit dann auch einschließt, sie zu beichten), und sich nicht mehr durch eine schwere Sünde von Gott abzuschneiden, um zu Ihm zu kommen (bzw. wenn doch, diese dann wieder zu bereuen, etc. etc.).

Nebenbei machte er mir dann noch klar, dass vorgeschrieben nur die einmal jährliche Beichte sei, es also keine Sünde wäre, nur so oft beichten zu gehen (meine letzte Beichte ist übrigens noch lange kein Jahr her; ach ja, noch eine Anmerkung für alle eventuell hier mitlesenden Skrupulaten: Der Vorsatz, beichten zu gehen, ist vor Gott übrigens auch was wert; Er wird uns nicht böse sein, wenn wir z. B. zufällig sterben sollten, ehe wir die Gelegenheit hatten, eine schwere Sünde (falls wir denn schwere Sünden auf dem Gewissen haben) zu beichten, aber auch Reue aus Liebe zu Ihm hatten – gilt ja analog z. B. auch für die sog. „Begierdetaufe“).

Dann fragte er mich noch etwas: Wie es denn bei mir mit dem Beten so gehe? Na ja, ich würde eben so das Vaterunser beten, und für meine Familie etc. beten, und so. Daraufhin riet er mir, im Gebet auch mal etwas anderes zu versuchen: Mich einfach von Gott lieben zu lassen. Einfach vor Gott da zu sein, jeden Tag eine Viertelstunde lang, mir vorzustellen, bei Ihm zu sein; und mich von Ihm lieben zu lassen.

Gefühlsmäßig… kommt mir so etwas manchmal beinahe anmaßend vor. Einfach davon auszugehen, dass Gott mich liebt? Dass ich bei Ihm sein kann, ruhig eine Viertelstunde vor Ihm sitzen kann, ohne etwas beteuern oder bereuen oder erbitten oder bedanken zu müssen, ohne Angst zu haben, sondern einfach nur bei Ihm sein und von Ihm geliebt werden könnte? Einfach nur ruhig da sein könnte, ohne viel zu besprechen, oder auch, Ihm auf ehrliche Weise meine Ängste und meine Bitterkeit anzuvertrauen könnte? Was, wenn… ich weiß nicht, wenn da irgendeine unerkannte Schuld noch da ist, wenn ich eigentlich noch so vieles andere falsch gemacht habe und es mir vielleicht unbewusst nicht eingestehen will, ein verkleideter innerlicher Hochmut oder etwas in der Art, und ich kann nicht einfach davon ausgehen, dass Gott einfach so mit mir zufrieden ist…

Stop jetzt.

Gott liebt uns; wir sind doch Seine Kinder. Paulus schreibt: „Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch immer noch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater! So bezeugt der Geist selber unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm auch verherrlicht zu werden.“ (Römer 8,15-17)

Am Palmsonntag haben wir unseren König in Seiner Stadt begrüßt. Aber wir sind nicht eigentlich die Untertanen oder Dienstboten dieses Königs; nein, wir sind Seine Kinder, Königskinder. Gott liebt mich; ich bin Seine Tochter, Seine Prinzessin.

Jesu Einzug in Jerusalem und Sein Leiden einige Tage später lesen sich in gewissem Sinne wie eine durchgängige Parodie auf die Zeremonien von Königen und Kaisern (man denke gerade an die römischen Kaiser dieser Zeit) : Der Einzug auf einem Esel, einem dreckigen Lasttier der Armen, statt auf einem Streitross, mit einem Gefolge von Gruppen seiner Jünger, unter dem Jubel der Stadtbevölkerung, aber ohne Kriegsmacht, ohne Soldaten, Sklaven und Gefangene, und unter den missbilligenden Blicken der Obrigkeit und der intellektuellen Eliten (vgl. Lukas 19,39). Als König verworfen, verspottet, und zum Tod verurteilt. „Da nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus, führten ihn in das Prätorium, das Amtsgebäude des Statthalters, und versammelten die ganze Kohorte um ihn. Sie zogen ihn aus und legten ihm einen purpurroten Mantel um. Dann flochten sie einen Kranz aus Dornen; den setzten sie ihm auf und gaben ihm einen Stock in die rechte Hand. Sie fielen vor ihm auf die Knie und verhöhnten ihn, indem sie riefen: Heil dir, König der Juden! Und sie spuckten ihn an, nahmen ihm den Stock wieder weg und schlugen ihm damit auf den Kopf.“ (Matthäus 27,27-30)

Ein König mit Dornenkrone und Kreuzesthron, über dessen Kopf bei Seinem Tod eine Tafel proklamiert: Jesus von Nazareth, der König der Juden. „Die Hohenpriester der Juden sagten zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.“ (Johannes 19,21f.)

Dieser König ist ein wahrer König, aber ein König des Leidens, ein König der Liebe; Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Er ist ein König des Friedens, der auf einem Esel und mit Palmzweigen zu Seiner Begrüßung in Jerusalem, der Stadt des Friedens, einzieht; kein Fürst, vor dem wir uns fürchten müssten.

* (Ja, liebe Lutheraner, wir brauchen keinen Luther, um „Werkgerechtigkeit“ anzuprangern. Das können konservativ-katholische Kleriker ganz genauso; das ist der Standard dessen, was in den Dogmatiklehrbüchern steht und was man einer Skrupulantin predigt.)

Schon wieder

Schon wieder sind in Ägypten Kirchen angegriffen worden. Am Palmsonntag, wo sie voll waren. Viele Tote, viele Verletzte. Wir bedanken uns bei der Religion des Friedens.

„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Und hilf den verletzten Opfern, und den trauernden Familien. Hilf, dass dieser Terror ein Ende findet.

Nein, es ist nicht „okay, egal was du machst“: Über Abtreibung

Ich bin heute durch Zufall auf einen Erfahrungsbericht zu einem Thema gestoßen, über das im Allgemeinen wenig geredet wird – ja, Abtreibung. Geschrieben von einer jungen Frau, 27 Jahre alt, die, es wird nicht gesagt, vor wie langer Zeit genau, ihr ungeplantes Kind abgetrieben hat, wohl in der 5.-6. Schwangerschaftswoche (sie schreibt, dass sie die Abtreibung drei Wochen nach einem Schwangerschaftstest, der „2.-3. Woche“ angab, vornehmen ließ).

[Gleich mal von vornherein Karten auf den Tisch für alle neuen Leser hier: Ja, ich gehöre zu diesen gestörten dogmatischen radikal religiösen Abtreibungsgegnerinnen, die Abtreibung für die immer ungerechtfertigte Tötung eines unschuldigen Menschen halten. Wenn Sie von diesem Thema selber betroffen sein sollten: Nein ich verurteile hier niemanden. Ich kenne Ihre Gründe nicht, und urteile nicht über den Seelenzustand von irgendjemandem. Ich sage, es ist falsch – und damit, dass man sagt, dass irgendetwas Falsches falsch ist, hat man noch keinen moralischen Blumentopf gewonnen. Man wird auch nicht dadurch ein besserer Mensch, dass man Diebstahl, Lügen oder Völkermord als falsch deklariert. Die Tatsachen bleiben dennoch, dass durch Diebstahl, Lügen und Völkermord Schaden angerichtet und anderen Menschen Unrecht angetan wird. Und durch Abtreibung. Wenn Sie das anders sehen – nun, dann werden Sie sich doch von einer religiösen Fundamentalistin keine Schuldgefühle einreden lassen, wenn sie diesen Text lesen, oder? Und wenn Sie das nicht anders sehen und selber schon Schuldgefühle haben: Es gibt keinen Grund, zu verzweifeln. Es gibt im Leben aller Menschen vieles, was man wider besseres Wissen getan hat und bereuen muss. Es gibt Heilung für Schuld.]

Das Erschreckende an ihrem Bericht ist, wie wenig erschreckend die geschilderte Situation dem Leser erscheint. Es geht hier nicht um die in theoretischen Diskussionen gerne mal herangezogene vergewaltigte Elfjährige, auch nicht um eine Frau, deren Leben durch eine Schwangerschaft gefährdet ist, nicht um eine Achtzehnjährige ohne Schulabschluss, deren Freund droht, mit ihr Schluss zu machen, wenn sie „es nicht wegmachen lässt“ und deren Eltern sie zu derselben Entscheidung drängen. Die Autorin war nicht psychisch krank, erwartete kein schwerstbehindertes Kind mit einer Lebenserwartung von sechs Monaten. Die Gründe waren… na ja: „Der Klassiker: prekäre Arbeitsverhältnisse, nicht abgeschlossenes Studium, kein fester Job in Sicht, Angst vor schwieriger Wohnungssuche, Fernbeziehung, Selbstfindungsstruggle, unklare Einstellung zum Konzept Familie, der ganze Generation-Y-Shit halt.“

Das alles sind Probleme, die man angehen kann, und die (abgesehen von der unklaren Einstellung) gelegentlich auch mal junge Paare haben, die gewollt Kinder bekommen. Es gibt Möglichkeiten, ein Studium mit Kind fortzusetzen, man kann auch ein paar Monate oder ein, zwei oder mehr Jahre aussetzen und sich dann einen Job suchen, prekäre Arbeitsverhältnisse hat praktisch jeder in den ersten Jahren nach dem Studium, ob mit oder ohne Kind, und finanziell ist das mit Unterstützung des Staates in Deutschland durchaus zu überbrücken. An einer Fernbeziehung lässt sich im Lauf von neun Monaten in der Regel auch etwas ändern; auch bei schwieriger Wohnungssuche muss man hierzulande keine Obdachlosigkeit fürchten. Die Autorin steht nicht alleine da. Es würde irgendwie gehen, wie sie selbst, und wie auch ihr Umfeld – inklusive des Vaters ihres Kindes – ihr mitteilt: „Erst als mir mein komplettes Umfeld, also Freundinnen, mein Freund und meine Familie versichern, dass es bestimmt – irgendwie – ginge, wenn ich es wollte, stelle ich fest: Ich will es nicht. Nicht so. Nicht jetzt. Nicht irgendwie. Ein bisschen fühlt es sich an, wie eine Liebesabfuhr zu bekommen. Es erinnert an ein ‚Ich liebe dich, aber ich kann das gerade nicht‘. Obwohl ich diejenige mit der Abfuhr sein würde, denn ich würde mich ja dagegen entscheiden. Das traurige daran ist, dass es auch eine Entscheidung des Nichtkönnens ist. ‚Ich kann das gerade nicht‘.“

Sie schreibt weiter: „Das Gute aber ist die Erkenntnis, dass ich es eben in der Hand habe. Dass ich den Zeitpunkt bestimmen kann. Dass es ein anderer werden kann – oder auch nie. Aber dass ein Nein jetzt kein Nein für immer ist. Ich muss mich keinem Schicksal ergeben, nein, ich kann mein Leben für den Moment gestalten, ohne es entwerfen zu müssen. […] Wir müssen noch ein paar Dinge machen, bevor wir Eltern werden. Unter anderem herausfinden, ob wir Eltern sein wollen. […] Mir dämmert, dass trotz aller Liebe, aller Unterstützung, allen ‚Es ist okay’s, ich mit der endgültigen Entscheidung allein bin. My body, my choice. Juhu! Und: Oh Gott! Beantworte ich die Frage nach dem ‚Kann ich es wirklich wegmachen?‘ mit ‚Nein‘, dann trage ich die Verantwortung für drei Lebensläufe. Beantworte ich sie mit ‚Ja‘, dann ist es, wie es ist. […] Man muss das Thema nicht über das Individuelle hinaus emotional aufladen und man darf aus der eigenen Betroffenheit keine Moral für andere ableiten. Aber man soll damit umgehen können, wie man möchte. Die Entscheidung für einen Abbruch kann ganz leichtfallen, das ist in Ordnung. Sie kann aber auch schwerfallen und das ist ebenso okay. Das heißt nicht, dass ein Abbruch falsch ist. Das soll jede schwangere Person für sich klären können.“

Es gibt durchaus Dinge, bei denen eine solche Herangehensweise angemessen sein wird. Die Frage, ob man Abi machen will oder ob einem der Hauptschulabschluss reicht; ob man jemals heiraten will oder nicht; ob man diesen oder jenen Beruf ergreifen will; ob man sein Übergewicht unbedingt loswerden will oder ob einem ein paar Pfunde zu viel völlig egal sind. Da kann man nicht verallgemeinern und jeder sollte danach entscheiden, womit er sich wohlfühlt. Aber es gibt auf der Welt leider nun mal auch andere Entscheidungen, bei denen es eindeutig nicht hilft, zu sagen: „Das soll jeder für sich selbst klären“, oder: „Egal was du tust, es ist okay“. Manche Entscheidungen sind nicht ebenso gut wie andere; manche Entscheidungen sind objektiv gesehen falsch; manche Entscheidungen haben schwerwiegende Konsequenzen – für einen selber, und für andere Menschen. Manche Dinge gehen nicht nur einen selbst was an.

Newsflash, Leute: Die Welt ist ungerecht, und manchmal scheiße. Man kann sein „Schicksal“ nicht frei wählen, man hat sein Leben nicht immer „in der Hand“, und man kann nicht für alles „den Zeitpunkt bestimmen“, den man gern hätte. Ich hätte es auch gerne so, aber so ist es nicht. Wenn man sein Leben auf Teufel komm raus genau so einrichten will, wie man es jetzt im Moment haben will, übergeht man im Zweifelsfall das Leben anderer Menschen, insbesondere solcher, die hilflos und einem völlig ausgeliefert sind.

(Im Übrigen: Bin ich eigentlich die einzige, die den Eindruck hat, dass der Satz „Ich unterstütze dich, egal wofür du dich entscheidest“ im Allgemeinen oft bloß eine billige Ausrede ist, um keinen richtigen Rat geben zu müssen?)

Die Autorin schreibt auch über ihre Internetrecherchen vor ihrer Entscheidung (die nicht von Anfang an feststand; sie war offensichtlich sehr hin- und hergerissen) und über andere Wahrnehmungen in dieser Zeit: „Das Internet ist die Hölle. Zum Thema Abtreibungserfahrungen finde ich fast ausschließlich Horrorgeschichten von Abtreibungsgegnern und -gegnerinnen, moralisch-durchtränkte Märchen, Dogmamantren und antiwissenschaftliche Lügen. Zum Thema Babys nur Glückseligkeit und ‚Wird schon und alles!‘, supidupi, ‚Sinn des Lebens‘, ‚Wunder‘. […] Während der Schwangerschaft bin ich oft im Kino. Es ist eine Unternehmung ohne unmittelbare Kommunikation, es ist Alleinsein ohne Einsamkeit. Es ist eine Möglichkeit, nachzudenken, aber dank Ablenkung ohne ständiges Kopfrodeo. Dort: Werbung. Strahlende Kinder, als Symbol. Die Gleichung: Kind = Glück. Die absolute Lebensfreude ist ein Kind. Das Ultimo an Schönheit ist Kinderlachen. Meine Mutter sagt: ‚Ein Kind kann ein Leuchtturm im Leben sein‘. Ich denke über meine Momente absoluter Lebensfreude nach, über meine Leuchttürme. Es sind Konzerte, bei denen ich mit einem Bier in der Menge stehe, es sind Songs auf meinem Kopfhörer im Bett, es ist Sex mit dem besten Menschen der Welt, es ist das Gröhlen von Trashpop nachts um fünf in irgendeiner WG, es ist das stundenlange Sitzen im Fernbus und Freuen auf Neues. Es ist nie ein Kind. Es war nie die Vorstellung von einem Kind. Ich sehe auf der Straße Menschen mit Babys. Ich versuche, mir ihr Glück abzugucken. Ich verstehe es. Ich verstehe sie. Aber ich bin nicht sie. Ihr Leben ist ein anderes.“

Oh, sie hat hier in manchen Dingen recht. Kinder sind nicht einfach das größte Glück im Leben, das einem passieren kann. Sind sie nicht. (Musik und Partys und Reisen sind das zwar auch nicht zwangsläufig für immer, aber darum geht es hier nicht.) Sie bedeuten absolut nicht die pure Glückseligkeit, und es ist nicht immer einfach, sie sein ganzes weiteres Leben lang am Hals zu haben. Ich bin noch selber nah genug an dem Alter dran und habe ein ausreichendes Gedächtnis und außerdem auch noch genügend Geschwister, um das aus eigener Erfahrung zu wissen. Eltern, inklusive meine Eltern, haben es mit Kindern nicht immer einfach. Erst einmal muss man vollgeschissene Windeln wechseln, und das oft genug nachts um halb drei, dann muss man sie ständig im Blick haben und hat keine freie Minute, während sie in Windeseile vom Wohnzimmer ins Bad krabbeln, und es fällt einem erst auf, wie viele Kanten in Kniehöhe es eigentlich in der Wohnung gibt, dann kommt ihre Trotzphase und sie beginnen, wie am Spieß zu brüllen, wenn man im Supermarkt an der Kasse steht und EINFACH NUR NOCH NACH HAUSE WILL. Später wird es auch nicht immer einfacher; sie entwickeln ADHS oder sind gemein zu ihren Mitschülern, sie haben Lernschwierigkeiten, schreien einen an, wenn sie den Fernseher ausschalten sollen, wollen nicht mit ihren Geschwistern teilen und waschen sich nicht die Hände vor dem Essen, egal wie oft man es ihnen sagt. Dann werden sie mit 17 magersüchtig oder depressiv oder entwickeln eine Nahrungsmittelunverträglichkeit und man muss mit ihnen von Arzt zu Arzt tingeln, bis man endlich herausfindet, was los ist; oder vielleicht werden sie auch so komisch religiös, fiebern enthusiastisch dem nächsten Weltjugendtag oder der Ministrantenwallfahrt nach Rom entgegen, kleben sich Jesus-Bilder in ihr Zimmer und schlafen auch nach drei Monaten Beziehung nicht mit ihrem Freund. Sie brechen bei der Weihnachtsfeier mit der Verwandtschaft Diskussionen über verschiedene Formen des Feminismus oder das Reformationsjubiläum vom Zaun. Sie gehen zur Uni und haben keinen rechten Plan für ihr Leben und stellen sich vor, dass man ihnen ihr Leben finanziert, bis sie sich mit Ende 20 irgendwann mal entscheiden, dass der Studiengang doch nicht das Richtige für sie war. Sie beteiligen sich bei der Antifa oder wählen die AfD. Sie bringen Partner mit heim, die man einfach nur grässlich findet und reagieren zickig bis zum Geht-nicht-mehr, wenn man sie darauf anspricht, ob der denn wirklich der Richtige für sie ist; dann werden sie selber ungeplant schwanger und kommen heulend bei einem an und in Zukunft muss man dem Enkelkind die vollgeschissenen Windeln wechseln…

Wenn ich mal von mir selber als potentieller Mutter ausgehe: Ich könnte mir im Moment absolut nicht vorstellen, ein Kind zu haben. Ich bin jetzt zwar schon Anfang zwanzig und habe eine tolle Familie, die mich sicherlich unterstützen würde, aber ich habe auch eine chronische körperliche Krankheit, die mich derzeit schlaucht, und dazu geht es mir auch psychisch gesehen, na ja, nicht so ganz optimal. Ich wäre mit einem Kind entsetzlich überfordert – mit Vorsorgeterminen, an die gedacht werden muss, mit zu wenig Schlaf, mit dem Einkaufen von altersgerechtem Spielzeug und dem Zubereiten von drei gesunden Mahlzeiten am Tag, mit der Fahrt zum Fußballtraining und der Tatsache, dass sie unbedingt, unbedingt noch ein neues Faschingskostüm brauchen, und zwar jetzt noch, bevor der ALDI zumacht, weil Lisa hat sie für morgen zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen und da sollen alle verkleidet kommen, weil Fasching ist, und nein, das konnten sie nicht früher sagen, weil sie haben die Einladung gerade erst gekriegt, und außerdem hast du versprochen, dass ich noch ein neues Kostüme kriege, die alten passen alle nicht mehr und außerdem sind sie scheiße!!! Es heißt ja, man wächst an seinen Aufgaben, aber ohne die großzügige Unterstützung liebender Großeltern ginge bei mir, falls ich durch irgendeine Fügung des Schicksals von jetzt auf gleich schwanger wäre, sicherlich überhaupt nichts. Wahrscheinlich würde ich kaum eine Schwangerschaft ohne fünf oder sechs Nervenzusammenbrüche überstehen.

Aber, ob ihr’s glaubt oder nicht: Kinder sind Personen. Sie sind nicht das Glück auf Erden, weil sie Personen sind – Personen mit ihren schlechten Seiten und ihrer Selbstsucht und ihren Bedürfnissen und ihren Ausscheidungen und ihrem Hunger und ihren Krankheiten und ihrem Kummer oder Zorn wegen ihres Übergewichts oder dem Mobbing auf dem Schulhof.

Sie sind Personen, und deshalb haben sie Rechte.

Die Autorin erwähnt im Lauf des Textes (s. o.) „antiwissenschaftliche Lügen“ (aus dem Kontext: von Abtreibungsgegnern und -gegnerinnen) im Internet und nennt das, was sie ambulant von einer freundlichen, verständnisvollen Ärztin entfernen hat lassen, ein paar Mal einen „Zellklumpen“. Nun, ich weiß ja nicht, welches Biologiebuch zu ihrer Zeit im Aufklärungsunterricht verwendet wurde; aber ich bin natürlich gern bereit, eventuelle Wissenslücken aufzufüllen: In der 5. bis 6. Woche sieht ein Baby eher aus wie eine Kaulquappe als wie ein „Klumpen“; man sieht sein Rückenmark und seine sich entwickelnden Augen; Organe wie Nieren, Leber, Darm bilden sich; in der 6. Woche sieht man die Ansätze von Armen und Beinen. (Für genauere Infos und Bilder siehe zum Beispiel hier eine Seite für werdende Mütter – mir nicht bekannt, dass sie irgendeinen Bezug zur Lebensrechtsbewegung hätte) Mit zwölf Wochen – der Grenze für straffreie (nicht legale) Abtreibungen nach der Beratungsregelung – sieht ein Embryo wie ein ganz normaler kleiner Mensch mit übergroßem Kopf und mickrigen Gliedmaßen aus. Aber ja, er ist auch davor – auch, wenn sein Herz noch nicht schlägt, auch, wenn er in Woche 1 oder 2 noch wie ein „Klumpen“ aussieht, kurz gesagt ab der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle – ein einmaliges menschliches Wesen mit einer einmaligen DNA, das sich nur noch weiter entwickeln muss – so, wie sich auch geborene Babys noch weiterentwickeln und erst noch Zähne bekommen und sprechen und laufen lernen müssen. Man sage mir, wo hier in diesem Absatz eine Lüge liegt.

Im Endeffekt ist jeder Mensch ein großer Klumpen aus Zellen in einem bestimmten Entwicklungsstadium, so wie jeder Text aus schwarzen Zeichen auf weißem Grund besteht (oder im Fall von panikgetriebenen Internetseiten über den nahenden Weltuntergang wegen eines Maya-Kalenders oder sonst was: aus neongelben Zeichen auf schwarzem Grund); aber er ist gleichzeitig auch noch mehr. Man kann nun natürlich Lebensrecht über „Personsein“ definieren und „Personsein“ über Denkfähigkeit und Bewusstsein; dann haben aber logischerweise folglich auch Babys weniger Rechte als Dreijährige, und Dreijährige weniger Rechte als Erwachsene, man bräuchte also eine Art gestuftes Lebensrecht – so wie beispielsweise im Alten Rom, wo es legal war, Neugeborene auszusetzen, wenn man sie nicht haben wollte. Es gibt Leute, die das tatsächlich so definieren – Peter Singer ist das bekannteste Beispiel – ; ich als Christin tue es nicht. Man kann auch definieren, dass jemand, der auf einen anderen angewiesen oder mit dessen Körper verbunden ist, ohne dessen Zustimmung kein Recht auf Leben hat und getötet werden darf; damit stellt sich zwar evtl. das Problem, wer von zwei siamesischen Zwillingen jetzt der mit dem Lebensrecht ist, oder, wenn man diesen Spezialfall mal beseite lässt, wie groß eine Abhängigkeit sein muss, ehe das Lebensrecht verloren geht (wiederum: normale Neugeborene, die ohne Eltern nicht überleben können? Schwerstbehinderte oder Komapatienten, die gepflegt werden müssen?). Aber diese Schwierigkeiten überlasse ich mal den Abtreibungsbefürwortern. Ich gehöre ja zu den fundamentalistischen unaufgeklärten im Mittelalter zurückgebliebenen Dogmatikern, die eine Menschenwürde für jeden Menschen, unabhängig von Entwicklungsstand oder Abhängigkeit von anderen Menschen, annehmen.

In der Lebensschutzbewegung wird tatsächlich sehr viel davon geredet, dass Abtreibung auch den Frauen schadet, dass das Leben mit einem Kind schön ist, dass viele Frauen eine Abtreibung bereuen, dass sie sich oft nur unter Druck und in Notsituationen dafür entscheiden, weshalb die Väter ihre Partnerinnen unterstützen müssten und man Notsituationen abhelfen müsste, anstatt das Kind loszuwerden. Das stimmt an sich, und sollte beachtet werden. Aber es gibt eben auch die andere Seite, von der dieser Artikel zeugt: Dass eine Abtreibung medizinisch ohne jede Komplikation verlaufen und psychisch eine Erleichterung sein kann; dass das Leben mit Kindern nicht immer besonders schön ist und dass manche Frauen es überhaupt nicht bereuen, ihr Kind abgetrieben zu haben, auch wenn sie in keiner sozialen oder medizinischen oder psychologischen Notsituation waren, sondern es nur gerade irgendwie ungelegen kam und sie noch nicht gleich ihr ungebundenes Leben aufgeben wollten. Das gibt es auch.

Aber das macht es eben nicht besser; ganz im Gegenteil. Eine Abtreibung ist immer die Tötung eines kleinen Kindes; manchmal geschieht sie aus subjektiv nachvollziehbaren, schrecklichen Gründen, und manchmal aus – na ja, nicht so schrecklichen Gründen. Eine Abtreibung in einem solchen Fall – weil es eigentlich ungelegen kommt, weil man lieber noch ein paar Jahre warten würde, weil man jetzt auf die Schnelle seinen Lebensplan umstellen müsste – ist einfach eine Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, eine Weigerung, ein Kind anzunehmen, das schon da ist. Wenn man schwanger ist, kann man ganz einfach nicht mehr sagen „Ich bin erst in ein paar Jahren wirklich bereit für ein Kind“. Das Kind ist da. Wenn man schwanger ist, ist man schon Mutter; dann ist es zu spät, zu überlegen, ob man es werden will. Und man wird bis in alle Zukunft entweder die Mutter eines lebenden oder die Mutter eines toten Kindes sein.

Ja, man sollte planen, wann man Kinder bekommen will, aber das sollte man vorher überlegen; wenn man Sex hat, geht man immer das, wenn auch noch so geringe, Risiko ein, dass ein Kind dabei raus kommt – egal, welche Verhütungsmethode(n) man verwendet. Wenn man dieses Risiko unter keinen Umständen eingehen kann, sollte man dementsprechend handeln. Das nervt einen vielleicht, aber das ist die Realität. Ich habe das System der Fortpflanzung der Säugetiere nicht erfunden, da muss man sich anderswo beschweren.

Der Autorin dieses Textes kann man vielleicht nicht allein den Vorwurf für die Traumwelt machen, in der sie lebt. Viele Menschen leben darin, und Menschen meiner und ihrer Generation sind irgendwie schon darin aufgewachsen. Es wird ja überall von „Selbstverwirklichung“ geredet und davon, dass man, wenn man logisch gesehen verantwortungslos handelt, doch „nur das Beste für alle“ tue; dass man sich kein schlechtes Gewissen machen solle; dass gut sei, wofür auch immer man sich entscheide; dass nur religiöse Fanatiker wie die Verfasserin dieser Zeilen etwas anderes denken könnten und aufgeklärte Menschen sich von denen keine Schuldgefühle einreden lassen sollten. So wie die Autorin des Artikels redet – ruhig, locker, neutral, tolerant, mit sich selbst im Reinen -, kann man nur reden, wenn man die Tatsache leugnet oder ignoriert, dass die eigenen Handlungen ein anderes Wesen mit eigenen Rechten getroffen haben, das gelebt hat und eine eigene Zukunft gehabt hätte. (Nicht dass es jetzt außerhalb dieser Welt keine Zukunft mehr hätte; ich gehe mal davon aus, dass es sich jetzt wohl in der ewigen Herrlichkeit befinden wird und vielleicht gerade mit seinem vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt verstorbenen Urgroßonkel oder mit dem heiligen Thomas von Aquin oder dem heiligen Moses dem Äthiopier oder der heiligen Afra von Augsburg Bekanntschaft schließt. Aber darum geht es hier nicht. Und in jedem Fall hätte es auch noch eine Aufgabe hier auf Erden gehabt.)

Das Leben ist nun mal manchmal scheiße, und manchmal schwierig, und manchmal ungerecht. Manchmal ist es auch gewöhnlich und spießig und langweilig. Man kann sich nicht immer selbst verwirklichen, und man hasst sein Leben manchmal, und manchmal muss man einfach das Richtige tun. Oft wird es dann schon irgendwie, manchmal wird es besser als gedacht, manchmal kann man noch das „Beste aus beiden Welten“ haben, und manchmal geht das nicht und nichts scheint mehr zu funktionieren. So funktioniert das Leben eben leider. Es ist kein Selbstbedienungsladen, sondern eher „wie eine Schachtel Pralinen – man weiß nie, was man kriegt“.

Eins noch: In dem ganzen Text wurde übrigens kein einziges Mal die Möglichkeit erwähnt, das Kind auszutragen und zur Adoption freizugeben. Ich weiß nicht, ob die Autorin nicht an diese Möglichkeit gedacht hat, ob sie auch in der Schwangerschaftskonfliktberatung vielleicht gar nicht erwähnt wurde, oder ob sie sie bewusst verworfen hat, weil sie z. B. fürchtete, es wäre vielleicht „zu schmerzhaft“ für sie, ein Kind erst auszutragen und es dann abzugeben. (Was aus Sicht des Kindes wiederum wohl anders aussähe.)

 

PS: Ein kurzer Gedanke noch: Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Welt sich vielleicht auch deshalb so schwer tut, anzuerkennen, dass es vielleicht doch falsche Entscheidungen und reale Schuld geben könnte, weil sie nicht glaubt, dass es einen wirklichen Ausweg aus realer, großer Schuld geben kann… Aber den gibt es.

PPS: Falls eine Leserin dieser Zeilen sich selbst in der Situation befinden sollte, ungewollt schwanger zu sein und nicht weiter zu wissen, z. B. hier auf dieser Seite von Pro Femina gibt es Informationen und Beratung – E-Mail, kostenlose Hotline, Forum, etc. – zu allen Fragen und so zeitintensiv wie nötig. Auch bei der Caritas gibt es natürlich ebenso Beratung; hier zur Onlineberatung. Ich möchte an dieser Stelle ein bisschen Mut machen: Ich kenne ein paar Mädchen (flüchtig), die im späten Teenageralter ungewollt schwanger geworden sind und deren Kinder inzwischen so zwischen einem und drei Jahren alt sind. Es ist hinzukriegen. Ja, manches muss zurückstehen; ja, das Leben ändert sich radikal, wenn ein Kind da ist. Aber es ist normalerweise nicht der absolute Horror und nicht das Ende des Lebens. Man wird Probleme haben und man wird wahrscheinlich nicht alles perfekt machen und manchmal wird man wahrscheinlich unzufrieden sein. Das ist in jedem Menschenleben der Fall; auch ohne Kinder ist selten alles perfekt und genau so, wie man es haben möchte. Ja, vielleicht muss man manches aufgeben, aus Verantwortung gegenüber dem Kind, was man sonst hätte machen können. Eine meiner Bekannten war eine Zeitlang bei ihrem Kind daheim und macht jetzt mit ihrer Ausbildung weiter, eine andere holt etwas unmotiviert ihren Hauptschulabschluss nach, weil sie schon vor ihrer Schwangerschaft die Schule abgebrochen hatte, eine andere ist noch bei dem Kind zu Hause, während ihr Mann arbeiten geht – sie hat ihren Freund geheiratet und es ist offenbar eine gute Beziehung; andere dagegen sind aus Gründen nicht mehr mit den Väter ihrer Kinder zusammen. Sie alle kriegen es hin, sich um ihre Kinder zu kümmern. Bevor man beim Gedanken an eine Schwangerschaft in totale Panik ausbricht: Erst einmal tief durchatmen. Sich etwas Zeit nehmen, um sich zu informieren und einfach mal ruhig nachdenken. Überlegen, wen man um Unterstützung bitten könnte und was für konkrete Probleme oder Aufgaben auf einen zukommen würden (wenn man Angst hat, steigert man sich manchmal zu sehr in Vorstellungen von scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten hinein; ich tue das jedenfalls). Sich vielleicht vorstellen, wie es sein könnte, in etwa fünf oder zehn oder fünfzehn Jahren, mit dem Kind, was man für es fühlen und wie man mit ihm leben würde. Ich weiß nicht, ob das hilft, aber vielleicht könnte es helfen.