Er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich

„Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht:

Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein;

sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen;

er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.

Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen,

damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu

und jeder Mund bekennt: ‚Jesus Christus ist der Herr.’ – zur Ehre Gottes, des Vaters.“

(Philipper 2,5-11)

Über schwierige Bibelstellen, Teil 15: Sklaverei (und Kindererziehung und ungerechte Regierungen) in der Bibel

[Dieser Teil wurde noch einmal überarbeitet.]

Alle Teile hier.

Wie immer zuerst mal zum Alten, dann zum Neuen Testament. Im AT taucht die Sklaverei vor allem als etwas auf, das eben einfach existiert; außerdem gibt es Stellen in der Tora, die gesetzliche Rahmenbedingungen für sie innerhalb Israels schaffen. Viele Personen im AT besaßen Sklaven oder waren selbst Sklaven (Joseph, Hagar, Aaron, Miriam…). Eindeutige Verurteilungen der Sklaverei findet man nirgends, auch wenn die Befreiung Israels aus „Ägypten, dem Sklavenhaus“, ganz zentral für die Geschichte dieses Volkes ist. Es gibt Gesetze, die die Sklaverei einschränken und regulieren, z. B. die folgenden, wobei manche davon nur für israelitische Sklaven gelten:

  • „Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre Sklave bleiben, im siebten Jahr soll er ohne Entgelt als freier Mann entlassen werden. Ist er allein gekommen, soll er allein gehen. War er verheiratet, soll seine Frau mitgehen. Hat ihm sein Herr eine Frau gegeben und hat sie ihm Söhne oder Töchter geboren, dann gehören Frau und Kinder ihrem Herrn und er muss allein gehen. Erklärt aber der Sklave: Ich liebe meinen Herrn, meine Frau und meine Kinder und will nicht als freier Mann fortgehen, dann soll ihn sein Herr vor Gott bringen, er soll ihn an die Tür oder an den Torpfosten bringen und ihm das Ohr mit einem Pfriem durchbohren; dann bleibt er für immer sein Sklave.“ (Exodus 21,2-6)
  • Ähnlich, aber etwas großzügiger gegenüber dem Sklaven: Wenn ein Bruder bei dir verarmt und sich dir verkauft, darfst du ihm keine Sklavenarbeit auferlegen; er soll dir wie ein Lohnarbeiter oder ein Beisasse gelten und bei dir bis zum Jubeljahr arbeiten. Dann soll er von dir frei weggehen, er und seine Kinder, und soll zu seiner Sippe, zum Besitz seiner Väter zurückkehren. Denn sie sind meine Knechte; ich habe sie aus Ägypten herausgeführt; sie sollen nicht verkauft werden, wie ein Sklave verkauft wird. Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen. Fürchte deinen Gott!“ (Levitikus 25,39-43)
  • Wenn einer seine Tochter als Sklavin verkauft hat, soll sie nicht wie andere Sklaven entlassen werden. Mag sie der Herr nicht mehr, der sie für sich selbst bestimmt hat, dann soll er sie zurückkaufen lassen. Er hat nicht das Recht, sie an Fremde zu verkaufen, da er seine Zusage nicht eingehalten hat. Hat er sie für seinen Sohn bestimmt, verfahre er mit ihr nach dem Recht, das für Töchter gilt. Nimmt er sich noch eine andere Frau, darf er sie in Nahrung, Kleidung und Beischlaf nicht benachteiligen. Wenn er ihr diese drei Dinge nicht gewährt, darf sie unentgeltlich, ohne Bezahlung, gehen.“ (Exodus 21,7-11)
  • Die Sklaven und Sklavinnen, die euch gehören sollen, kauft von den Völkern, die rings um euch wohnen; von ihnen könnt ihr Sklaven und Sklavinnen erwerben. Auch von den Kindern der Beisassen, die bei euch leben, aus ihren Sippen, die mit euch leben, von den Kindern, die sie in eurem Land gezeugt haben, könnt ihr Sklaven erwerben. Sie sollen euer Besitz sein und ihr dürft sie euren Kindern nach euch vererben, damit diese sie als Besitz für immer haben; ihr sollt sie als Sklaven haben. Aber was eure Brüder, die Israeliten, angeht, so soll keiner über den andern mit Gewalt herrschen.“ (Levitikus 25,44-46)
  • Wenn einer seinen Sklaven oder seine Sklavin mit dem Stock so schlägt, dass er unter seiner Hand stirbt, dann muss er unbedingt gerächt werden. Wenn er noch einen oder zwei Tage am Leben bleibt, dann soll den Täter keine Rache treffen; es geht ja um sein eigenes Geld. “ (Exodus 21,20f.) [Hier wird davon ausgegangen, dass ein Schlag, durch den jemand nicht gleich, sondern erst nach einer gewissen Zeit stirbt, nicht als tödlicher Schlag intendiert war, weshalb die Strafe/Blutrache wegfällt.]
  • Wenn einer seinem Sklaven oder seiner Sklavin ein Auge ausschlägt, soll er ihn für das ausgeschlagene Auge freilassen. Wenn er seinem Sklaven oder seiner Sklavin einen Zahn ausschlägt, soll er ihn für den ausgeschlagenen Zahn freilassen.“ (Exodus 21,26f.)
  • Es gibt noch ein paar weitere Stellen, die z. B. das Loskaufrecht für Sklaven betreffen (etwa Levitikus 25,47-55: „Wenn ein Fremder oder ein Beisasse bei dir zu Vermögen kommt, aber dein Bruder neben ihm verarmt und sich ihm oder einem Nachkommen aus der Familie eines Fremden verkauft, dann soll es, wenn er sich verkauft hat, für ihn ein Loskaufrecht geben: Einer seiner Brüder soll ihn auslösen. Auslösen sollen ihn sein Onkel, der Sohn seines Onkels oder sonst ein Verwandter aus seiner Sippe. Falls seine eigenen Mittel ausreichen, kann er sich selbst loskaufen. Er soll mit dem, der ihn gekauft hat, die Jahre zwischen dem Verkaufs- und dem Jubeljahr berechnen; die Summe des Verkaufspreises soll auf die Zahl der Jahre verteilt werden, wobei die verbrachte Zeit wie die eines Lohnarbeiters gilt.  Wenn noch viele Jahre abzudienen sind, soll er die ihnen entsprechende Summe als seinen Lösepreis bezahlen. Wenn nur noch wenige Jahre bis zum Jubeljahr übrig sind, soll er es ihm berechnen; den Jahren entsprechend soll er seinen Lösepreis bezahlen. Er gelte wie ein Lohnarbeiter Jahr um Jahr bei seinem Herrn; dieser soll nicht vor deinen Augen mit Gewalt über ihn herrschen. Wenn er in der Zwischenzeit nicht losgekauft wird, soll er im Jubeljahr freigelassen werden, er und seine Kinder. Denn mir gehören die Israeliten als Knechte, meine Knechte sind sie; ich habe sie aus Ägypten herausgeführt, ich bin der HERR, euer Gott.“).

Diese Stellen lassen sich sehr einfach mit Regel Nummer 17 erklären: Nur weil etwas in einem in der Bibel enthaltenen Gesetz reguliert wird, heißt das nicht, dass Gott es gutheißt. Viele Gesetze in den fünf Büchern Mose schränken ein Übel nur ein, anstatt es ganz abzuschaffen. (Vgl. Teil 12.)

Und man muss sagen, dass diese Gesetze die Sklaverei für damalige Verhältnisse teilweise sehr stark einschränken. In anderen Völkern konnte man Sklaven völlig straflos töten, wie es einem beliebte; in Israel musste die absichtliche Tötung eines Sklaven bestraft werden und wenn ein Herr einen Sklaven irgendwie verstümmelt, ihm sogar nur einen Zahn ausgeschlagen hatte, musste er ihn freilassen. Sklaven, selbst die aus fremden Völkern, waren im alten Israel also kein rechtloser Besitz, auch wenn sie sicherlich wenige Rechte hatten.

Für die Stellen, in denen Sklaverei einfach als Teil einer Geschichte auftaucht, gilt natürlich die altbekannte Regel Nummer 12: Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was in der Bibel steht, und dem, was die Bibel lehrt. Man muss nicht alles gut finden, was die Patriarchen oder die Propheten oder die Könige der Bibel taten. Nicht alles, was die Personen in der Bibel tun, auch nicht alles, was die „guten“ Personen in der Bibel tun, nicht einmal alles, was die guten Personen in der Bibel aus guten Motiven tun, ist von Gott als Vorbild für uns gedacht.

Dann gibt es im AT noch ein paar Stellen im Buch der Sprüche und bei Jesus Sirach, die sich nicht in diese beiden Kategorien einordnen lassen und die zum Teil gut klingen und zum Teil weniger gut:

  • „Behandle einen Sklaven nicht schlecht, der wirklich arbeitet, auch nicht einen Lohnarbeiter, der sich ganz einsetzt! Einen verständigen Sklaven sollst du lieben. Verweigere ihm die Freilassung nicht!“ (Jesus Sirach 7,20f.) (Gut.)
  • „Ein kluger Knecht wird Herr über einen missratenen Sohn und mit den Brüdern teilt er das Erbe.“ (Sprüche 17,2) (Schön.)
  • „Einem weisen Sklaven werden Freie zu Diensten sein und ein kluger Mann wird nicht murren.“ (Jesus Sirach 10,25) (Ja.)
  • „Durch Worte wird kein Sklave gebessert, er versteht sie wohl, aber kehrt sich nicht daran.“ (Sprüche 29,19) (Hm.)
  • „Ein Sklave, verwöhnt von Jugend an, wird am Ende widerspenstig.“ (Sprüche 29,21) (Also…)
  • „Unter dreien erzittert das Land, unter vieren wird es ihm unerträglich: unter einem Sklaven, wenn er König wird, und einem Toren, wenn er satt ist; unter einer Verschmähten, wenn sie geheiratet wird, und einer Sklavin, wenn sie ihre Herrin verdrängt.“ (Sprüche 30,21-23) (Na ja…)
  • „Schäme dich nicht folgender Dinge und nimm nicht falsche Rücksicht, um zu sündigen: des Gesetzes des Höchsten und des Bundes und des gerechten Urteils über einen Gottlosen, der Abrechnung mit einem Partner und mit Weggefährten, der Gabe eines Erbes von Freunden, der Genauigkeit einer Waage und der Gewichte, des Erwerbs von viel oder wenig, des Gewinns beim Geschäft mit Händlern und der vielen Mühe der Erziehung der Kinder und der blutigen Striemen für einen bösen Sklaven!“ (Jesus Sirach 42,1-5) (Ähm…)
  • „Futter, Stock und Lasten für einen Esel, Brot, Zucht und Arbeit für den Sklaven! Lass den Knecht arbeiten und du wirst Ruhe finden! Lass ihm freie Hand und er wird die Freiheit suchen! [Eine Fußnote gibt hier an: „‚Lass den Knecht arbeiten‘, andere Textzeugen: ‚Arbeite an der Erziehung'“] Joch und Zügel werden den Nacken beugen, dem bösen Sklaven gebühren Folter und Pein. Deck ihn mit Arbeit ein, damit er nicht müßig geht, denn Müßiggang lehrt ihn viel Schlechtes. Bring ihn dazu zu arbeiten, wie es für ihn angemessen ist! Wenn er nicht gehorcht, leg ihm schwere Fußfesseln an! Sei nicht maßlos gegen irgendein Lebewesen! Handle nicht ohne überlegtes Urteil! Wenn du einen Sklaven hast, sei er wie du, denn mit Blut hast du ihn erworben! Wenn du einen Sklaven hast, leite ihn wie einen Bruder, denn du brauchst ihn wie deine Seele! Wenn du ihn misshandelt hast und er auf und davon gelaufen ist, auf welchem Weg willst du ihn suchen?“ (Jesus Sirach 33,25-33) (Jetzt warte mal…)

Die Stellen oben aus dem Buch der Sprüche sind weder allzu bedeutsam noch allzu schwer zu verstehen; dieses Buch gibt einige resignierte, verallgemeinernde Alltagsweisheiten wider, wie z. B. auch „Wie das Knurren des Löwen ist der Grimm des Königs; wer ihn erzürnt, verwirkt sein Leben“ (Sprüche 20,2), „Der Reiche hat die Armen in seiner Gewalt, der Schuldner ist seines Gläubigers Knecht“ (Sprüche 22,7), „Mach dich rar im Haus deines Nächsten, sonst wird er dich satt und verabscheut dich!“ (Sprüche 25,17), „Zu viel Honig essen ist nicht gut: Ebenso spare mit ehrenden Worten!“ Sprüche 25,27) oder „Achtet ein Herrscher auf Lügen, werden alle seine Beamten zu Schurken.“ (Sprüche 29,12). (Außerdem enthält es in endlosen Wiederholungen die Aussage, dass die Frevler und die Toren schlecht sind und dem Gericht entgegen gehen, und die Gerechten gut sind und vor Gott bestehen werden.)

Und zu diesen verallgemeinernden Alltagsweisheiten gehört eben auch die, dass jemand, der vom Status eines Sklaven (oder einem anderen niedrigen Status) zum Status eines Königs aufgestiegen ist (30,21-23), ein unerträglicher Herrscher sein kann – psychologisch gesehen ist es nachvollziehbar, dass man von so jemandem erwarten würde, dass er es jetzt erst recht genießen würde, sich zu nehmen, was er sich endlich nehmen kann, und alle, die vorher über ihm standen, geringschätzig oder rachsüchtig behandeln würde. Ein Sklave ist auch nicht automatisch ein guter Mensch, erst recht nicht einer, der den Ehrgeiz und die nötige Intriganz besessen hat, von einem Sklavenstatus auf den eines altorientalischen Fürsten aufzusteigen. Und der Autor dieser Sprichwörter hält wahrscheinlich genauso wenig alle Sklaven für unbelehrbar (29,19), wie er alle Könige (20,2) für jähzornige Tyrannen hält, die alle umbringen lassen, die sie „erzürnen“.

Die beiden unteren Sirach-Stellen stoßen einen dagegen schon mehr ab. Ja, diese Stellen fordern auch Mäßigung und Gerechtigkeit („Sei nicht maßlos gegen irgendein Lebewesen! Handle nicht ohne überlegtes Urteil!“), aber vor allem die Stelle aus Kapitel 33 argumentiert scheinbar eher nach einer eigennützigen Sklavenhalterlogik: Lass deinen Sklaven arbeiten, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt und dir wegläuft; wenn er faul und schlecht ist, schlag ihn; aber behandle ihn generell gut, vor allem wenn du nur einen einzigen Sklaven hast, denn dann stehst du ja blöd da, wenn er dir wegläuft. Tatsächlich klingen die Weisheitsbücher nicht nur an dieser Stelle irgendwie, na ja, eigennützig und weltweise. Hier einige andere Beispiele zu anderen Themen:

  • Der Kontext der Stelle über die Behandlung von Sklaven aus Sirach 33 ist dieser hier: „Dem Sohn und der Frau, dem Bruder und Freund gib nicht Macht über dich zu deinen Lebzeiten! Gib keinem anderen dein Vermögen, damit du es nicht bereust und um es bitten musst! Solange du noch lebst und Atem in dir ist, tausche deinen Platz mit keinem anderen! [Eine Fußnote gibt hier an: „‚mit keinem anderen‘, wörtlich: ’nicht mit jedem Geschöpf'“ Evtl. hätte man m. E. die wörtliche Übersetzung wählen sollen; dies würde die Möglichkeit einschließen, den Platz mit jemand Vertrauenswürdigem zu tauschen.] Denn es ist besser, dass deine Kinder dich bitten, als dass du auf die Hände deiner Söhne schaust. In all deinen Taten zeichne dich aus und bring keinen Makel auf deine Ehre! Am Tag der Vollendung deiner Lebenszeit, zur Zeit deines Todes, übergib das Erbe!“ (Jesus Sirach 33,20-24) Man soll also nicht nur schauen, dass der Sklave seinen Platz im Haushalt kennt, sondern auch Frau und Kinder; sich nicht von anderen abhängig machen.
  • „Wache streng über eine starrköpfige Tochter, damit sie dich nicht zum Gespött der Feinde macht, zum Stadtgespräch und zum Getadelten des Volkes und sie dich nicht beschämt in einer großen Menge! Achte bei keinem Menschen auf Schönheit und sitz nicht in der Gesellschaft von Frauen! Denn aus Kleidern kommt eine Motte heraus und aus einer Frau die Bosheit der Frau. Besser die Bosheit eines Mannes als eine wohltätige Frau und eine Frau, die mit Beschimpfung andere beschämt.“ (Jesus Sirach 42,11-14 Wache über deine Tochter und halte sie von anderen Frauen mit schlechtem Charakter fern – nicht nur um ihretwillen, sondern auch, damit du nicht beschämt wirst).
  • „Wer seinen Sohn liebt, wird ihm häufig Schläge geben, damit er am Ende erfreut wird. Wer seinen Sohn erzieht, wird an ihm Beistand finden und im Kreis der Bekannten wird er sich seiner rühmen. Wer seinen Sohn unterweist, weckt den Neid des Feindes, im Beisein der Freunde wird er über ihn frohlocken. Stirbt der Vater, ist es, als wäre er nicht tot, denn er hat einen, der ihm ähnlich ist, zurückgelassen. Während seines Lebens hat er ihn gesehen und sich gefreut, an seinem Lebensende war er nicht betrübt. Gegen Feinde hat er einen Rächer hinterlassen und den Freunden einen, der Dankbarkeit erweist. Wer den Sohn verwöhnt, verbindet seine Wunden, bei jedem Schrei ist sein Innerstes bestürzt. Ein ungebändigtes Pferd bricht störrisch aus, ein nicht gezügelter Sohn bricht überraschend aus. Verhätschle ein Kind und es macht dich fassungslos! Scherze mit ihm und es betrübt dich! Lach nicht mit ihm, damit du mit ihm nicht Kummer erfährst, denn zuletzt wirst du schmerzvoll mit deinen Zähnen knirschen! Gib ihm nicht zu viel Macht in der Jugend und übersieh nicht seine Fehler! Beuge seinen Nacken in der Jugend, schlag ihn aufs Gesäß, solange er noch klein ist, sonst wird er störrisch und widerspenstig gegen dich und du hast Kummer mit ihm! Erzieh deinen Sohn und arbeite an ihm, damit du dich nicht wegen seines schlechten Verhaltens ärgerst!“ (Jesus Sirach 30,1-13)
  • „Leid des Herzens und Trauer ist eine Frau, die eifersüchtig ist auf eine andere, aber ein Peitschenhieb der Zunge ist allen gemeinsam. Ein scheuerndes Ochsenjoch ist eine böse Frau; wer sie nimmt, fasst einen Skorpion an. Großer Zorn ist eine trunksüchtige Frau; sie kann ihre Schande nicht verbergen. Eine unzüchtige Frau wird am Augenaufschlag erkannt, an ihren Wimpern erkennt man sie. Gegen eine starrsinnige Tochter verstärke die Wache, damit sie keine Gelegenheit findet, die sie für sich ausnützt. Vor einem unverschämten Blick hüte dich! Sei nicht überrascht, wenn er sich an dir vergeht!“ (Jesus Sirach 26,6-11)
  • „Grundlage des Lebens sind Wasser, Brot und Kleidung und ein Haus, um die Nacktheit zu bedecken. Besser das Leben eines Armen unter schützendem Dach als köstliche Leckerbissen unter Fremden! Ob wenig oder viel, sei zufrieden, dann hörst du keinen Vorwurf als Zugewanderter! Schlimm ist ein Leben von Haus zu Haus, und wo du als Zugewanderter wohnst, tu deinen Mund nicht auf! Du bewirtest und reichst Getränke ohne Dank, dazu hörst du noch Bitteres: Komm her, Zugewanderter! Deck den Tisch! Wenn du etwas zur Hand hast, gib mir zu essen! Fort mit dir, Zugewanderter, vor einem Ehrengast! Mein Bruder ist als Gast gekommen. Ich brauche das Haus. Diese Dinge sind belastend für einen Menschen mit Verstand, die Vorwürfe wegen der Herkunft aus der Fremde und die Beschimpfung als Gläubiger.“ (Jesus Sirach 29,21-28)
  • „Kämpfe nicht mit einem Mächtigen, damit du nicht in seine Hände fällst! Streite nicht mit einem Reichen, damit er dir nicht mit ganzem Gewicht entgegentritt! Denn viele hat das Gold vernichtet und Herzen der Könige verändert. Streite nicht mit einem geschwätzigen Menschen und lege nicht Holz auf sein Feuer! Scherze nicht mit einem Ungebildeten, damit deine Vorfahren nicht entehrt werden! […] Borge nicht einem Menschen, der mächtiger ist als du! Wenn du geborgt hast, sei wie einer, der schon verloren hat! Bürge nicht über deine Möglichkeiten! Wenn du gebürgt hast, betrachte es wie einer, der zahlen muss! Führe keinen Rechtsstreit mit einem Richter, denn sie werden nach seinem Ansehen für ihn entscheiden!“ (Jesus Sirach 8,1-4.12-14)
  • „Rühme dich nicht vor dem König und stell dich nicht an den Platz der Großen; denn besser, man sagt zu dir: Rück hier herauf, als dass man dich nach unten setzt wegen eines Vornehmen.“ (Sprüche 25,6f.)
  • „Rede nicht vor den Ohren eines Törichten; denn er missachtet deine klugen Worte!“ (Sprüche 23,9)

Die Aussage scheint hier zu sein: Schau, dass du unabhängig und der Herr in deinem Haus bleibst, aber leg dich auch nicht mit Leuten an, die mächtiger sind als du, mach dir keinen unnötigen Ärger – sei vernünftig und mach dir ein gutes, besonnenes Leben.

Zum Teil hängt das wohl mit der typischen Herangehensweise der Bücher Sprüche und Sirach zusammen. An manchen Stellen sind sie tatsächlich eher Selbsthilfebücher als gestrenge Moralpredigten. Die Autoren dieser beiden Texte betonen ständig, dass sie dir nur dazu raten, was dir selber nützen wird: Sei fleißig, denn Faulheit führt am Ende zu Armut. Steh treu zu deinem Freund, dann wird er auch zu dir stehen. Halte dich nicht selbst für besonders weise, dann stehst du am Ende nicht dumm da. Fang keine Affäre mit einer verheirateten Frau an, denn sonst hast du die Rache ihres Mannes zu befürchten – ach ja, und außerdem noch Gottes Gericht. Bleib lieber bei deiner eigenen Frau und zeuge ein paar legitime Erben, das ist das Beste für dich. Betrink dich nicht maßlos, das bringt dir auch bloß Armut. Achte deine Eltern. Sei weise. Sei gerecht. Borge den Armen. Beuge nicht das Recht der Witwen und Waisen. „Denn ihr Anwalt ist mächtig, er wird ihre Sache gegen dich führen.“ (Sprüche 23,11)

Die Aussage dieser Bücher ist ganz einfach: „Denn die Abtrünnigkeit der Törichten ist ihr Tod, die Sorglosigkeit der Toren ist ihr Verderben. Wer aber auf mich hört, wohnt in Sicherheit, ihn stört kein böser Schrecken.“ (Sprüche 1,32f.) Das ist, ehrlich gesagt, eine gar nicht mal so dumme Motivationstaktik, wenn man die Leute dazu bringen will, das Richtige zu tun. Und es stimmt ja auch: Indem man das Falsche tut, ruiniert man oft genug sein eigenes Leben.

Und noch etwas ist typisch für Sprüche und Jesus Sirach: Ihre Einstellung gegenüber „Zucht“ und „Ermahnung“ zur Besserung (eine übrigens sehr richtige Einstellung):

  • „Treu gemeint sind die Schläge eines Freundes, zahlreich die Küsse eines Feindes.“ (Sprüche 27,6)
  • „Öffne dein Herz für die Unterweisung, dein Ohr für verständige Reden! Erspar dem Knaben die Züchtigung nicht; wenn du ihn schlägst mit dem Stock, wird er nicht sterben. Du schlägst ihn mit dem Stock, bewahrst aber sein Leben vor der Unterwelt. Mein Sohn, wenn dein Herz weise ist, so freut sich auch mein eigenes Herz. Mein Inneres ist voll Jubel, wenn deine Lippen reden, was recht ist.“ (Sprüche 23,12-16)
  • „Ein weiser Sohn ist die Frucht der Erziehung des Vaters, der zuchtlose aber hört nicht auf Mahnung.“ (Sprüche 13,1)
  • „Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht.“ (Sprüche 13,24)
  • „Wer Erziehung liebt, liebt Erkenntnis, wer Zurechtweisung hasst, ist dumm.“ (Sprüche 12,1)
  • „Wer Zurechtweisung hasst, ist auf der Spur des Sünders, und wer den Herrn fürchtet, wird sich im Herzen bekehren.“ (Jesus Sirach 21,6)
  • „Musik in der Trauer ist wie eine Erzählung zur Unzeit, jedoch sind Schläge und Erziehung zu jeder Zeit Weisheit.“ (Jesus Sirach 22,6)

Wenn diese Bücher also z. B. strenge Kindererziehung empfehlen, dann nicht nur, damit die Kinder den Eltern Ehre machen (das ist eher ein motivierender Nebeneffekt), sondern um der Kinder selber willen. Zwar wird zwischendurch auch mal zur Vorsicht bei Ermahnung und Zucht geraten – „Es gibt eine Zurechtweisung, die nicht zur rechten Zeit kommt, und es gibt einen, der schweigt, und der ist klug. Wie gut ist es zurechtzuweisen, statt zu zürnen, und wer einen Fehler eingesteht, wird vor einem Verlust bewahrt. Wie das Verlangen eines Eunuchen, ein Mädchen zu entjungfern, so ist es, wenn einer mit Gewalt Entscheidungen durchsetzt. Es gibt einen, der schweigt – er wird für weise gehalten, und es gibt einen, der wegen des vielen Redens verhasst ist. Es gibt einen, der schweigt, denn er hat keine Antwort, und es gibt einen, der schweigt, weil er den rechten Zeitpunkt erkannt hat. Ein weiser Mensch wird schweigen bis zur rechten Zeit, das Großmaul aber und der Dumme werden die rechte Zeit außer Acht lassen. Der Schwätzer wird verabscheut, und wer sich Macht anmaßt, wird gehasst. Wie gut ist es, wenn jemand auf Zurechtweisung hin umkehrt.“ (Jesus Sirach 20,1-8) –, aber generell wird beides als gut, und zwar für einen selber und für andere, gesehen.

Es ist nun mal so: Wenn man zum Beispiel einem Kind alles durchgehen lässt, wird es arrogant, hält sich für den Mittelpunkt der Welt, man kann es irgendwann selbst gar nicht mehr leiden, und in der Welt wird es nicht zurechtkommen. Die obigen Sirachstellen sind teilweise hart ausgedrückt, aber eben nicht falsch.

Okay, aber kommen wir mal wieder zu der Stelle mit den Schlägen und den Ketten für den Sklaven zurück. Darum geht es hier ja eigentlich; und das ist auch nicht einfach mit strenger Kindererziehung oder der gegenseitigen gut gemeinten Ermahnung von Freunden gleichzusetzen.

Erst einmal: Wenn von dem „bösen Sklaven“ die Rede ist, geht es einerseits sicher auch um Fälle, wo Sklaven sich wirklich schlecht verhalten haben, z. B. krankes Vieh vernachlässigt, aus Lust und Laune einen Zaun zerstört oder Mitsklaven schlecht behandelt haben (wie die Diener im Gleichnis Jesu von dem bösen Knecht in Lukas 12,35); ein Sklave zu sein macht einen ja noch nicht automatisch zum guten Menschen. Aber offensichtlich geht es auch darum, dass der Sklave einfach seine Arbeit für dich erledigen und nicht weglaufen soll. Hier wäre zu bedenken, dass hier vorrangig an (zeitlich begrenzte) Schuldsklaverei gedacht sein könnte, bei der jemand eine Schuld abarbeiten musste, wobei also der Herr wirklich ein Anrecht auf seine Arbeit hatte; und/oder an Sklaven, die Kriegsgefangene aus anderen Völkern waren, die Israel angegriffen hatten, und von denen man fürchtete, dass sie bei einer Flucht zurück zu ihren Völkern gehen und wieder gegen Israel kämpfen könnten. Man wird bei den „bösen Sklaven“ vielleicht eher an gefangene philistische Soldaten, die mit Hass und Verachtung für Israel großgeworden waren, denken müssen, als an friedliche und nur gerade etwas faule Sklaven, die man Sklavenfängern abgekauft hatte.

Die Autoren von Sirach und Sprüche gehen von der Gesellschaft aus, in der sie lebten, und der sie sich nicht einfach entziehen konnten. Sie geben auf dieser Grundlage Ratschläge dafür, wie man klug, weise und gottesfürchtig leben und auch noch im Alltag gut auskommen soll: Mach dich nicht von anderen abhängig; halte Ordnung in deinem Haushalt; lass Unrecht nicht einfach durchgehen; verwöhne deine Kinder nicht, sondern mach sie zu guten Menschen; sei gerecht. Das sind ihre Prinzipien an solchen Stellen, und es sind gute Prinzipien. Sklaverei war in dieser Gesellschaft normal, und diese Männer mahnten dann grundlegende Gerechtigkeit (auch (aber nicht nur!) im eigenen Interesse) an.

Und letztlich sagt selbst Sirach: „Wenn du einen Sklaven hast, sei er wie du“ – vielleicht kann man darunter auch verstehen: behandle einen Sklaven auch so, wie du von einem gerechten Herrn erwartet werden würdest, behandelt zu werden, wenn du in Schuldsklaverei o. Ä. geraten würdest.

Okay, aber ich hatte ja noch eine Regel zu dieser AT-Sache, nämlich die Nummer 16: Das Alte Testament muss immer im Licht des Neuen interpretiert werden, weil Jesus das Wort Gottes ist. Was sagt also das Neue Testament zum Thema Sklaverei?

Na ja, es gibt folgende Stellen – allesamt aus den Briefen des NT, da das Thema Sklaverei in den Evangelien schlicht nicht angesprochen wird; die Sklaverei kommt dort vor als eine Sache, die eben existiert, und die für Vergleiche in Gleichnissen herangezogen werden kann, aber mehr nicht.

  • Da ist einerseits diese schöne Stelle: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ (Galater 3,28)
  • In 1 Tim 1,10 zählt Paulus „Menschenhändler“ unter „Gesetzlose und Ungehorsame, […] Gottlose und Sünder, […] Menschen ohne Glauben und Ehrfurcht“, also sehr schwere Sünder
  • Dann ist da der Brief an Philemon, einen reichen Christen, dem sein Sklave Onesimus weggelaufen ist, welchen Paulus dann im Gefängnis getroffen, ebenfalls zum Christentum bekehrt und schließlich mit folgendem Schutzbrief zu seinem Herrn zurückgeschickt hat: „Paulus, Gefangener Christi Jesu, und Timotheus, der Bruder, an Philemon, unseren Geliebten und Mitarbeiter, und Apphia, die Schwester, und Archippus, unseren Mitstreiter, und die Gemeinde in deinem Haus. Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Ich danke meinem Gott jedes Mal, wenn ich bei meinen Gebeten deiner gedenke. Denn ich höre von deinem Glauben an Jesus, den Herrn, und von deiner Liebe zu ihm und zu allen Heiligen. Ich bete, dass unser gemeinsamer Glaube in dir wirkt und du all das Gute in uns erkennst, das auf Christus gerichtet ist. Denn viel Freude und Trost hatte ich an deiner Liebe, weil durch dich, Bruder, das Innerste der Heiligen erquickt worden ist. Obwohl ich durch Christus volle Freiheit habe, dir zu befehlen, was du tun sollst, ziehe ich es um der Liebe willen vor, dich zu bitten. Ich, Paulus, ein alter Mann, jetzt auch Gefangener Christi Jesu,  ich bitte dich für mein Kind Onesimus, dem ich im Gefängnis zum Vater geworden bin. Einst war er dir unnütz, jetzt aber ist er dir und mir recht nützlich. Ich schicke ihn zu dir zurück, ihn, das bedeutet mein Innerstes. Ich wollte ihn bei mir behalten, damit er mir an deiner Stelle dient in den Fesseln des Evangeliums. Aber ohne deine Zustimmung wollte ich nichts tun. Deine gute Tat soll nicht erzwungen, sondern freiwillig sein. Denn vielleicht wurde er deshalb eine Weile von dir getrennt, damit du ihn für ewig zurückerhältst, nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder. Das ist er jedenfalls für mich, um wie viel mehr dann für dich, als Mensch und auch vor dem Herrn. Wenn du also mit mir Gemeinschaft hast, nimm ihn auf wie mich! Wenn er dich aber geschädigt hat oder dir etwas schuldet, setz das auf meine Rechnung! Ich, Paulus, schreibe mit eigener Hand: Ich werde es erstatten – ohne jetzt davon zu reden, dass auch du dich selbst mir schuldest. Ja, Bruder, um des Herrn willen möchte ich von dir einen Nutzen haben. Erquicke mein Innerstes in Christus! Im Vertrauen auf deinen Gehorsam habe ich dir geschrieben; ich weiß, dass du noch mehr tun wirst, als ich gesagt habe. Bereite zugleich eine Unterkunft für mich vor! Denn ich hoffe, dass ich euch durch eure Gebete wiedergeschenkt werde. Es grüßen dich Epaphras, mein Mitgefangener in Christus Jesus, Markus, Aristarch, Demas und Lukas, meine Mitarbeiter. Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, sei mit eurem Geist!“
  • Dann gibt es auch diese Stelle: Ihr Sklaven, gehorcht den irdischen Herren mit Furcht und Zittern und mit aufrichtigem Herzen, als wäre es Christus, nicht in Augendienerei, als wolltet ihr Menschen gefallen, sondern erfüllt als Sklaven Christi von Herzen den Willen Gottes! Dient mit Hingabe, als dientet ihr dem Herrn und nicht den Menschen! Denn ihr wisst, dass jeder, der etwas Gutes tut, es vom Herrn zurückerhalten wird, ob er ein Sklave ist oder ein Freier. Und ihr Herren, handelt in gleicher Weise ihnen gegenüber, unterlasst das Drohen, denn ihr wisst, dass ihr im Himmel denselben Herrn habt, und bei ihm gibt es kein Ansehen der Person! (Epheser 6,5-9)
  • Und auch hier wieder: Ihr Sklaven, gehorcht in allem euren irdischen Herren, nicht in einem augenfälligen Dienst, um Menschen zu gefallen, sondern in der Aufrichtigkeit des Herzens! Fürchtet den Herrn! Tut eure Arbeit gern, als wäre sie für den Herrn und nicht für Menschen; ihr wisst, dass ihr vom Herrn das Erbe als Lohn empfangen werdet. Dient Christus, dem Herrn! Denn wer Unrecht tut, wird zurückbekommen, was er an Unrecht getan hat, ohne Ansehen der Person. Ihr Herren, gebt den Sklaven, was recht und billig ist; ihr wisst, dass auch ihr im Himmel einen Herrn habt. (Kolosser 3,22-25.4,1)
  • Und noch mal: Alle, die das Joch der Sklaverei zu tragen haben, sollen ihren Herren alle Ehre erweisen, damit der Name Gottes und die Lehre nicht in Verruf kommen. Diejenigen aber, die gläubige Herren haben, sollen diese nicht gering achten, weil sie Brüder sind, sondern sollen noch eifriger ihren Dienst verrichten, weil sie Glaubende und Geliebte sind, die sich bemühen, Gutes zu tun. So sollst du lehren, dazu sollst du ermahnen.“ (1 Timotheus 6,1-2)
  • Und noch mal: „Die Sklaven sollen ihren Herren gehorchen, ihnen in allem gefällig sein, nicht widersprechen, nichts veruntreuen; sie sollen zuverlässig und treu sein, damit sie in allem der Lehre Gottes, unseres Retters, Ehre machen.“ (Titus 2,9f.)
  • Mit ausführlicherer Begründung schreibt Petrus: „Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Ehrfurcht euren Herren unter, nicht nur den guten und freundlichen, sondern auch den launenhaften! Denn es ist eine Gnade, wenn jemand deswegen Kränkungen erträgt und zu Unrecht leidet, weil er sich in seinem Gewissen nach Gott richtet. Ist es vielleicht etwas Besonderes, wenn ihr wegen einer Verfehlung Schläge erduldet? Wenn ihr aber recht handelt und trotzdem Leiden erduldet, das ist eine Gnade in den Augen Gottes. Dazu seid ihr berufen worden; denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt. Er hat keine Sünde begangen und in seinem Mund war keine Falschheit. Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht; als er litt, drohte er nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter. Er hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot sind für die Sünden und leben für die Gerechtigkeit. Durch seine Wunden seid ihr geheilt. Denn ihr hattet euch verirrt wie Schafe, jetzt aber habt ihr euch hingewandt zum Hirten und Hüter eurer Seelen.“ (1 Petrus 2,18-25)
  • Und dann noch eine Stelle, die in der alten Version der Einheitsübersetzung falsch übersetzt war und deshalb Anstoß geben konnte; hier zuerst die neue Version: „Im Übrigen soll jeder so leben, wie der Herr es ihm zugemessen, wie Gottes Ruf ihn getroffen hat. Das ist meine Weisung für alle Gemeinden. Wenn einer als Beschnittener berufen wurde, soll er beschnitten bleiben. Wenn einer als Unbeschnittener berufen wurde, soll er sich nicht beschneiden lassen. Es kommt nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, die Gebote Gottes zu halten. Jeder soll in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat. Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken; aber wenn du frei werden kannst, mach lieber Gebrauch davon! Denn wer im Herrn als Sklave berufen wurde, ist Freigelassener des Herrn. Ebenso ist einer, der als Freier berufen wurde, Sklave Christi. Um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden. Macht euch nicht zu Sklaven von Menschen! Brüder und Schwestern, jeder soll vor Gott in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat.“ (1 Kor 7,17-24) In der alten Übersetzung hieß es noch: „Jeder soll in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat. Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken; auch wenn du frei werden kannst, lebe lieber als Sklave weiter. (1 Korinther 7,20-21)

Zuerst will ich kurz die letzte Stelle abhandeln. Die Übersetzung der neuen EÜ entspricht hier eindeutig klarer dem Urtext; man muss auch erwähnen, dass sogar die alte EÜ in einer Fußnote kenntlich gemacht hat, dass ihre Übersetzung nicht wörtlich und eher fraglich war. Die Übersetzer haben hier wohl interpretiert, Paulus müsse laut dem Kontext meinen, ausnahmslos jeder solle unbedingt in dem Stand bleiben, in dem er berufen wurde; was schon angesichts des Satzes „Macht euch nicht zu Sklaven von Menschen“ nicht besonders überzeugend ist; dieser Satz passt schon viel besser damit zusammen, dass man, wenn es einem möglich ist, von der Möglichkeit zur Freilassung, zum Freikauf etc. Gebrauch machen soll. Ich will aber nicht einfach nur deklarieren, welche Übersetzung korrekt ist, sondern es den Leser auch nachvollziehen lassen. Daher:

Der zweite Teil des Satzes heißt im griechischen Original (in lateinische Buchstaben übertragen): „all’ (aber/sondern) ei (wenn) kai (und/auch) dynasai (du kannst) eleutheros (frei) genesthai (werden), mallon (lieber) chresai (nütze).“

„Und wenn du aber frei werden kannst, nütze es lieber“, oder, besser klingend, „Und wenn du aber frei werden kannst, ergreif lieber die Gelegenheit“ ist dafür meiner Ansicht nach die stimmigste Übersetzung. Der vordere Teil ist klar; wie „mallon chresai“ zu übersetzen ist, ist die Frage. „Mallon“ bedeutet einfach „eher, lieber“; „chresai“ heißt so etwas wie „gebrauche, nütze, nimm in Gebrauch“; also würde man hier wohl logischerweise annehmen, wenn man den Satz für sich stehen lässt, dass er lautet: „Und wenn du aber frei werden kannst, nütze es lieber.“ Dann werde frei. Wenn du dich freikaufen kannst, oder jemand dich freikaufen kann, oder dein Herr dich freilassen will – wieso solltest du das nicht nützen? Diese Übersetzung macht auch schon deshalb mehr Sinn, weil das Freilassen von Sklaven im frühen Christentum immer als gutes Werk betrachtet wurde; wenn Paulus dann raten würde, eine solche gute Tat nicht anzunehmen, wäre das etwa so, als würde er Bettlern raten, keine Almosen anzunehmen, worauf er sicherlich nie gekommen wäre.

Der Satz passt auch wunderbar in den Kontext. In den ersten Sätzen arbeitet Paulus das Grundprinzip aus: Du musst, wenn du Christ geworden bist, normalerweise nichts an deinem Stand verändern, du kannst so kommen, wie du bist. Es ist okay, als Judenchrist beschnitten zu sein; aber die Heidenchristen müssen sich nicht extra beschneiden lassen. Dann kommt die Ausnahme: „Wenn du als Sklave berufen wirst, soll dich das nicht bedrücken [weil die Sklaven vor Christus genauso viel gelten wie die Freien; daran muss sich also nichts ändern, damit du Christ sein kannst]; aber wenn du frei werden kannst, mach lieber Gebrauch davon! Denn wer im Herrn als Sklave berufen wurde, ist Freigelassener des Herrn. Ebenso ist einer, der als Freier berufen wurde, Sklave Christi. Um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden. Macht euch nicht zu Sklaven von Menschen!“ (Besonders dieser Satz passt, wie gesagt, zu der neuen Übersetzung.) Dann wird noch einmal das Prinzip von oben, das offensichtlich vor allem für die konkrete Frage der Beschneidung gilt (Heidenchristen müssen sich nicht beschneiden lassen), wiederholt: „Brüder und Schwestern, jeder soll vor Gott in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat.“

Dann also zu den restlichen Stellen. Paulus und Petrus geben hier zunächst mal einfach Menschen, die sich in einer unangenehmen Situation befinden, die sich nicht einfach so aus der Welt schaffen lässt, Rat, wie sie mit dieser Situation umgehen sollen. Und ihr Rat folgt dabei auch den Prinzipien des NT „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!“ (Römer 12,21) und „Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!“ (Matthäus 5,39). (Mit diesen Prinzipien kann man es übrigens auch zu weit treiben, aber das ist ein Thema für einen eigenen Beitrag. Erwähnen könnte man hier trotzdem: Der letzte römische Sklavenaufstand, bevor Paulus und Petrus ihre Briefe schrieben, nämlich der des Spartakus, hatte mit 6000 Kreuzen entlang der Via Appia geendet; Sklaven eine solche Vorgehensweise anzuraten wäre also nicht das Gescheiteste gewesen. In der ganzen Weltgeschichte gibt es fast keinen erfolgreichen Sklavenaufstand.)

Sie reden nicht darüber, dass die Sklaverei an sich abgeschafft gehört, und sie hätten überhaupt keine Macht gehabt, irgendetwas zur Abschaffung der Sklaverei zu tun – abgesehen davon, dass sie ein so selbstverständlicher Teil der römischen Wirtschaftsordnung war, dass kaum einer sich damals eine Welt ohne sie vorstellen hätte können; so wie heute ungleiche Löhne oder Arbeitslosigkeit selbstverständlich sind, auch wenn sie niemand gut findet. Sie behandeln die Institution der Sklaverei so ähnlich, wie sie einen ungerechten Staat behandeln, unter dem sie selber zu leiden hatten. („Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalt unter“, usw. (Römer 13,1), wobei Paulus in diesem Abschnitt die Autorität des Staates tatsächlich wesentlich stärker betont als an anderen Stellen die Autorität von Sklavenhaltern, was Sinn macht, da der Staat eine tatsächlich notwendige Einrichtung ist.) Dabei weisen beide auch die Herren an, ihre Sklaven gerecht zu behandeln („unterlasst das Drohen“, „gebt den Sklaven, was recht und billig ist“) – und zwar mit der zentralen Begründung, dass der Unterschied zwischen Herren und Sklaven, der in dieser Welt gemacht wird, vor Gott nicht gilt: Bei ihm gibt es kein Ansehen der Person.

Paulus und Petrus mussten mit der Situation umgehen, wie sie damals war. Der Brief an Philemon illustriert diese Situation ganz gut. Paulus schickt Onesimus zurück, was wahrscheinlich ganz klug ist, denn ein Sklave auf der Flucht lebte weder besonders sicher noch besonders gut. Vielleicht will er damit vermeiden, dass Onesimus irgendwann gefangen und von anderen zurückgebracht und von Philemon dann bestraft wird. Also lässt er ihn freiwillig zurückkehren und gibt ihm einen Brief mit viel nett formuliertem moralischen Druck für seinen Herrn und der impliziten Bitte um Onesimus’ Freilassung mit. Er macht das Beste aus der Situation. (Der Überlieferung nach wurde Onesimus dann übrigens freigelassen und wurde später Bischof.)

Gegenüber Sklaven und Sklavenbesitzern wurde von den Aposteln ein Prinzip deutlich gemacht: Vor Gott sind alle Menschen gleich, und nicht gleich gering, sondern gleichermaßen geliebt, und man soll seinen Nächsten so behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.

Aber wie ging dann das Christentum, wie ging die katholische Kirche weiter mit der Sklaverei um? Denn bei diesen Stellen fällt ja auch auf: Die Apostel sagen den christlichen Sklavenhaltern nicht kategorisch, dass sie ihre Sklaven freilassen müssen, obwohl sie auch andere damals unübliche Dinge von ihren christlichen Gemeindemitgliedern verlangten (z. B. die Wiederheirat nach einer Scheidung verboten).

Nun, man kann in etwa sagen, dass die Kirche damals die Sklaverei mehr oder weniger akzeptierte, indem sie sie umdefinierte, und gleichzeitig als zwar nicht in sich falschen, aber nicht erstrebenswerten und für Missbräuche anfälligen Zustand sah. Christliche Theologen (wie z. B. noch im Hochmittelalter Thomas von Aquin) definierten die Sklaverei um als ein bloßes Anrecht des Herrn auf die Arbeitskraft des Sklaven, statt als Besitz der Person; daher sollten Sklaven heiraten dürfen, auch gegen den Willen ihres Herrn, und z. B. nicht straflos getötet werden können, usw. (Schon in der Antike legten Kirchensynoden Bußstrafen für die Tötung von Sklaven fest.) Sklaven waren Menschen, von Gott nach seinem Ebenbild erschaffen, und hatten deswegen als Sklaven zwar geringere Rechte und größere Pflichten, aber als Menschen gewisse elementare natürliche Rechte.

Gleichzeitig sah man die Sklaverei auch als etwas in gewisser Weise Unnatürliches (da Menschen im Naturzustand frei seien), das eine Folge der Erbsünde war, das es ohne den Sündenfall nicht gegeben hätte, und sah es als die Pflicht der Herren, ihre Macht über ihre Sklaven auch zu deren Nutzen auszuüben. Daher sah man es z. B. als Sünde, Sklaven an Nichtchristen zu verkaufen, die es ihnen vielleicht verboten oder schwer gemacht hätten, ihren Glauben weiterhin auszuüben. Schon in der Antike wurde es von den Priestern und Bischöfen der Kirche immer als gutes Werk gepriesen, Sklaven freizulassen – aber auch Kleriker und Klöster besaßen damals noch Sklaven.

Im Mittelalter verschwand die Sklaverei dann nach und nach bzw. machte der weniger schlimmen Leibeigenschaft Platz, wo der Leibeigene wirklich festgeschriebene Rechte gegenüber seinem Herrn besaß, und nicht mehr verkauft werden konnte. (Der lateinische Begriff „servitus“ dafür blieb allerdings derselbe, auch wenn wir im Deutschen die Begriffe unterscheiden.) Man sieht hier, wie sich die Umdefinition ausgewirkt hatte: Die Leibeigenschaft war schon viel eher ein Recht auf die Arbeitskraft statt auf den Menschen. Gewerbsmäßiger Sklavenhandel existierte in Nordwesteuropa irgendwann im späteren Mittelalter nicht mehr. Das alles passt auch zur Bibel: 1 Tim 1,10 verurteilt die Sklavenhändler (die zwangsläufig eben nicht zum Wohl der Sklaven handeln, indem sie sie an die Meistbietenden verkaufen, und ständig deren natürliche Rechte, wie die auf das Zusammenbleiben der Familie, verletzen), aber sagt nicht, dass ein Sklavenbesitzer zwangsläufig in die Hölle kommt, wenn er seine Sklaven nicht freilässt; ein (z. B.) mittelalterlicher Leibherr konnte die grundlegenden Rechte der auf seinem Land ansässigen leibeigenen Bauern schon achten.

Natürlich verurteilte man auch die Versklavung bisher freier Menschen. Es mochte eine Sache sein, wenn jemand sich selbst in die Schuldsklaverei begab, oder sogar den Sklavenstatus erbte, so sah man es, aber bei der Verurteilung gewaltsamer Sklavenjagden zögerte man nicht.

Trotzdem war die Sklaverei, obwohl sie einen unchristlichen Ruf hatte, vergleichbar mit der Kinderarbeit in späteren Zeiten, an sich nicht ganz abgeschafft, in manchen christlichen Gegenden (solchen wie Portugal, einigen italienischen Städten oder dem nichtkatholischen Byzanz – interessanterweise also solchen, die mehr Kontakt mit der islamischen Welt hatten) war sie in härterer Form erhalten geblieben, und sie konnte in der Neuzeit ab ca. 1500 mit dem beginnenden Kolonialismus wiederauferstehen, als man im Westen neue Länder entdeckte und für sich beanspruchte, wo es Arbeitskräftebedarf für neu angelegte Tabaksplantagen und Silberbergwerke gab, und wo man auf Völker traf, die man für minderwertige Wilde erklären konnte.

[Interessanterweise folgte der Rassismus übrigens der Sklaverei eher, als dass er ihre Ursache war. Das heißt, es gab ihn in Maßen schon, aber die ersten Sklavenhändler, die afrikanischen Stammesfürsten ihre Kriegsgefangenen aus anderen Stämmen abkauften und diese dann in die amerikanischen Kolonien nach Cartagena oder in die Karibik verschifften, waren noch nicht der Meinung, dass es einen ontologischen Unterschied zwischen weißen und schwarzen Menschen gäbe, wie das die Sklavereiverteidiger des 19. Jahrhunderts dann (teilweise) erklärten. Im 16., 17. Jahrhundert begaben sich in den nord- und südamerikanischen Kolonien auch oft Weiße in Schuldknechtschaft, arbeiteten zusammen mit Schwarzen oder Indios, und wurden dann nach einer bestimmten Anzahl von Jahren frei entlassen, oft auch zusammen mit diesen schwarzen oder eingeborenen Sklaven. Die strikte Rassentrennung, die Tatsache, dass Weiße praktisch immer frei und Schwarze in der Regel Sklaven waren, entwickelte sich eher nach und nach, und auch mehr in Nord- als in Lateinamerika. Exkurs Ende.]

In dieser Zeit allerdings, als das Problem wieder neu da war, und zwar mit der Härte der antiken oder außereuropäischen Sklaverei, die im europäischen Mittelalter geschwunden war, kamen auch erregte Debatten unter den Theologen und wieder und wieder päpstliche Verurteilungen, vor allem des Versklavens bisher freier Menschen und des Handels mit Sklaven. Ab dem 16. Jahrhundert gab es deutliche päpstliche Verurteilungen der Versklavung von Indios und Afrikanern (sie „sollen auf keine Weise ihrer Freiheit oder des Besitzes ihrer Güter beraubt werden, selbst wenn sie sich außerhalb des Glaubens Jesu Christi befinden“, so zum Beispiel Paul III. im Jahr 1537 (von mir aus der englischen Übersetzung übersetzt)). Trotzdem dauerte es in einigen christlichen Ländern noch bis ins 19. Jahrhundert, teilweise bis weit ins 19. Jahrhundert, bis die Sklaverei dann wieder abgeschafft wurde. (In jenem Jahrhundert allerdings hatten die Abolitionsbewegungen dann tatsächlich riesige Erfolge zu verzeichnen, und die europäischen Staaten schafften es sogar, den Sklavenhandel innerhalb Afrikas und im Einflussbereich des Islam effektiv zu bekämpfen, sodass es heute nur noch in Mauretanien und ein paar anderen abgelegenen Gegenden wirkliche Sklaverei gibt.)

Was muss man jetzt dazu sagen? Gilt dieses ganze theologische Denken noch? Kurz gesagt: Ja. Man muss hier unterscheiden. Freiheitseinschränkungen und Zwangsarbeit sind nicht etwas, das in sich schlecht ist, auch wenn es meistens schlecht ist. Früher wurden Verbrecher oft einige Jahre „auf die Galeeren“ geschickt, wo sie quasi Sklaven des Staates waren (in gewisser Weise sind das Gefängnisinsassen ja immer noch). Ein Recht auf die Arbeitskraft eines anderen kann es geben. Normalerweise hängt dieses Recht freilich davon ab, dass derjenige dem zugestimmt hat, also z. B. einen Arbeitsvertrag unterschrieben hat, und es ist widerruflich. Theoretisch kann man nun sagen, dass es nicht zwangsläufig unrecht sein muss, wenn jemand sich z. B. in Schuldknechtschaft begibt und sich ohne Kündigungsrecht verpflichtet, bei einem anderen für einige Jahre zu arbeiten, um seine Schulden abzuarbeiten, aber auch dieses System ist sehr missbrauchsanfällig.

Kurz gesagt: Die Sklaverei war auch etwas, bei dem die Sklavenhalter sich eher mit „Ja, aber muss es denn immer falsch sein…“ herausreden konnten, das aber in der Praxis sehr schnell falsch wird. Freilich ergibt sich daraus, dass der Sklave, dessen Rechte in der Praxis verletzt werden, jedes Recht hat, entsprechende Mittel, inklusive notwendige Gewalt gegen diejenigen, die ihn festhalten wollen, anzuwenden, um seine Freiheit zu gewinnen. (Auch wenn es in den meisten Fällen das Klügere sein dürfte, so heimlich und gewaltlos wie möglich zu fliehen.)

Es war wohl eher das Elend der Sklaverei in der Praxis, das dann zu ihrer Bekämpfung und Abschaffung führte, vor allem, als die Sklaverei in der Frühen Neuzeit in den Kolonien wiedergekehrt war – vergleichbar mit der Einführung von Arbeitszeitgesetzen, die sich auch nicht daraus ergaben, dass es in sich schlecht ist, 16 Stunden am Tag zu arbeiten, wie das auf dem Höhepunkt der Industrialisierung die schlimmsten Fabrikherren verlangten, sondern dass es praktisch fast immer schlecht und ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit ist. Die Missbräuche, die sich daraus ergeben, dass einer den lebenslangen und sogar vererbbaren Anspruch auf die Arbeitskraft eines anderen hat, waren schlimm und kaum zu vermeiden, und das wurde irgendwann so deutlich, dass es allgemein akzeptiert werden musste. Es gab nun mal kaum eine Möglichkeit gibt, das Sklavenhalten mit „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!“ (Mt 7,12) zu vereinbaren – und irgendwann drang diese Erkenntnis zur ganzen Gesellschaft durch.

Und man muss hier auch sehen: Je weiter die Sklaverei schon zurückgedrängt war, desto einfacher war es, sie noch weiter zurückzudrängen. Ein Theologe im Mittelmeerraum des 4. Jahrhunderts mochte sich kaum vorstellen können, dass ein Land völlig ohne Sklaverei bestehen konnte, und deswegen kaum zu mehr aufrufen als zur guten Behandlung der Sklaven; ein europäischer Theologe des 19. Jahrhunderts sah es jeden Tag, dass sein Land ohne Sklaverei existierte, und konnte somit auch die Sklaverei in Übersee leichter für etwas Barbarisches, so schnell wie möglich Abzuschaffendes erklären.

Lasst es bleiben

Man kann dem Papst so viele Fragen zu Amoris Laetitia stellen, wie man will, er wird nicht antworten. Ja, die Leute wollen Klarheit. Ja, sie wollen wissen, was jetzt eigentlich Sache ist, was der Papst zu dem Thema jetzt eigentlich denkt. Und der Papst hält uns dafür für legalistische Pharisäer und ignoriert uns. Das mag uns aufregen, und wir mögen uns ziemlich ungerecht behandelt und vorverurteilt vorkommen, aber es ist jedenfalls seine Überzeugung. Und, Leute, wir sind hier nicht bei Benedikt XVI. Franziskus ist ein autoritärer Mensch, der macht, was er für richtig hält, auch wenn er dabei von anderen als unhöflich wahrgenommen wird, und der nicht einmal Kardinälen, die ihm Anfragen gestellt haben, eine Audienz gewährt hat. Auf dieses neue Papier von irgendwelchen Theologen wird er erst recht nicht eingehen. Es bringt nichts und es schafft nur noch mehr Streit und beleidigende Online-Diskussionen und gegenseitige Vorwürfe zwischen der einen Katholiken-Fraktion und der anderen. Die Veröffentlichung war kontraproduktiv. Mir wäre auch Klarheit lieber, aber die werden wir unter diesem Papst nicht kriegen.

Tipp: Nicht mehr über das Thema reden als nötig, abwarten bis zum nächsten Papst, und dann wieder fragen. Lasst es bleiben.

 

Noch eins am Ende. Ich habe ein bisschen hin und her überlegt, ob ich das hier überhaupt veröffentlichen soll – Achtung vor unserem Heiligen Vater und so. Ich bin bis jetzt zu keinem rechten Ergebnis in der Frage gekommen, was genau die Achtung vor ihm verlangt, ob wir unseren Ärger mit einigen seiner Handlungen manchmal auch einfach lieber für uns behalten und für ihn beten – und das nicht unbedingt in der „Lieber Gott, bitte mach, dass dieser Idiot sich endlich bekehrt!“-Art – sollten. Aber ich denke mal, es ist manchmal auch ganz gut, wenn wir als „konservative“ Benedikt-Katholiken uns ein bisschen über unsere Frustrationen mit dieser fruchtlosen Debatte um AL und dem Schweigen des Papstes austauschen, anstatt die Frustrationen bloß innerlich weiter zu hegen und zu pflegen. Und es muss auch in Ordnung sein, die Wahrheit über die Situation in der Kirche anzuerkennen und nicht jedes Wort des Papstes so lange schönreden und bejubeln zu müssen, bis ganz sicher niemand mehr etwas daran kritisieren kann. Solange natürlich, wie niemandem hier böse Absichten unterstellt werden. Nein, ich will dem Papst hier auch nichts unterstellen. Wenn er sich im Recht und seine Kritiker so sehr im Unrecht sieht, dass man sie nicht mal beachten muss, dann kann ich das kritisieren, aber er sieht es eben ehrlich so und verhält sich entsprechend seiner Art. Ich kann nicht in ihn hineinsehen. Na ja. Warten wir also, bis Franziskus sich hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft entschließt, auch die Ruhe des Rentner-Lebens zu genießen, und entspannen uns bis dahin.

Sag nicht: Meine Sünde kommt von Gott

„Sag nicht: Meine Sünde kommt von Gott. Denn was er hasst, das tut er nicht. Sag nicht: Er hat mich zu Fall gebracht. Denn er hat keine Freude an schlechten Menschen. Verabscheuungswürdiges hasst der Herr; alle, die ihn fürchten, bewahrt er davor. Er hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen. [Er gab ihm seine Gebote und Vorschriften.] Wenn du willst, kannst du das Gebot halten; Gottes Willen zu tun ist Treue. Feuer und Wasser sind vor dich hingestellt; streck deine Hände aus nach dem, was dir gefällt. Der Mensch hat Leben und Tod vor sich; was er begehrt, wird ihm zuteil. Überreich ist die Weisheit des Herrn; stark und mächtig ist er und sieht alles. Die Augen Gottes schauen auf das Tun des Menschen, er kennt alle seine Taten. Keinem gebietet er zu sündigen und die Betrüger unterstützt er nicht.“ (Jesus Sirach 15,11-20)

So langsam verstehe ich, wieso die Reformatoren dieses Buch aus der Bibel geschmissen haben.

(Vgl hier Luthers Ansichten zum freien Willen. Und hier, hier und hier Calvins. Fröhliches Reformationsjubiläum! (Ich habe einfach zu lange schon auf Lutherbashing verzichtet, oder?))

Zum Sonntagsevangelium: Die Ungerechtigkeit des Himmelreiches

„Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der früh am Morgen sein Haus verließ, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. Er einigte sich mit den Arbeitern auf einen Denar für den Tag und schickte sie in seinen Weinberg. Um die dritte Stunde ging er wieder auf den Markt und sah andere dastehen, die keine Arbeit hatten. Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Ich werde euch geben, was recht ist. Und sie gingen. Um die sechste und um die neunte Stunde ging der Gutsherr wieder auf den Markt und machte es ebenso. Als er um die elfte Stunde noch einmal hinging, traf er wieder einige, die dort herumstanden. Er sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum? Sie antworteten: Niemand hat uns angeworben. Da sagte er zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Als es nun Abend geworden war, sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter, und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den letzten, bis hin zu den ersten. Da kamen die Männer, die er um die elfte Stunde angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar. Als dann die ersten an der Reihe waren, glaubten sie, mehr zu bekommen. Aber auch sie erhielten nur einen Denar. Da begannen sie, über den Gutsherrn zu murren, und sagten: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt; wir aber haben den ganzen Tag über die Last der Arbeit und die Hitze ertragen. Da erwiderte er einem von ihnen: Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh! Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich (zu anderen) gütig bin? So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.“ (Matthäus 20,1-16)

Aber die Beschwerden haben doch ihre Berechtigung! Es ist wahr, dass die einen den ganzen Tag und die anderen gerade mal eine Stunde gearbeitet haben. Wie kann es dann gerecht sein, sie gleich zu bezahlen? Genau wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn kann man den kritisierten Standpunkt hier eigentlich ganz gut nachvollziehen.

Ich denke, einen Punkt des Gleichnisses sieht man in der genauen Formulierung der Beschwerde und in der Antwort des Gutsherrn. Die zuerst gekommenen Arbeiter verlangen gar nicht, selbst mehr zu erhalten, wenn die anderen auch mehr bekommen, sie sind zufrieden mit ihrem Tageslohn, dem vereinbarten Denar – sie wollen bloß, dass die anderen weniger erhalten. Das ist die Natur des Neids: Man ärgert sich nicht darüber, wie wenig man selber hat, sondern darüber, wie viel andere haben. Natürlich hinkt das Gleichnis hier: Der Gutsherr könnte den ersten Arbeitern zum Ausgleich mehr als ursprünglich vereinbart zahlen. Aber der Lohn, der hier symbolisiert wird, – das Himmelreich – ist unendlich. Die Beschwerde könnte da also gar nicht lauten: „Wir bekommen zu wenig.“ Sie kann natürlich nur lauten: „Die anderen bekommen zu viel.“

Aber ich denke, wenn man tiefer schaut, sieht man noch mehr. Wenn man sich an der Stelle der ersten Arbeiter Christen vorstellt, die ihr ganzes Leben lang brav waren, ihre Pflichten erfüllt haben, die Gebote gehalten haben, und an der Stelle der letzten Arbeiter Leute wie, sagen wir mal, den Schächer am Kreuz, denen einfach so alle ihre Vergehen und Verbrechen vergeben werden, weil sie im letzten Augenblick ihres Lebens ein schlechtes Gewissen kriegen, dann sieht man, dass diese Christen im Gleichnis offenbar das Gefühl haben, sie kommen im Vergleich zu diesen anderen Leuten schlecht weg, sie haben etwas verpasst. Sie sind neidisch darauf, dass die „späten Christen“ den großen Teil ihres Lebens ohne Christus gelebt haben.

Im Gleichnis ist die Arbeit im Weinberg natürlich harte Arbeit, und die Tagelöhner, die noch auf dem Marktplatz warteten, während die anderen schufteten, hatten es leichter. (Allerdings könnte man sich auch fragen, ob es die spät angeworbenen Tagelöhner wirklich den ganzen Tag über so leicht hatten. Vielleicht sind sie die ganze Zeit über in der heißen Sonne auf den Straßen herumgewandert, um doch noch jemanden zu finden, der sie anwirbt, und haben schon verzweifelt damit gerechnet, wieder einmal kein Geld heimbringen zu können, um ihrer Familie Brot zu kaufen.) Jedenfalls, übertragen auf die Realität, bedauern die „frühen Christen“ ihr Leben mit Gott, als wäre es eine schwere Arbeit gewesen, die man nur in Hinsicht auf den Lohn auf sich nimmt. Natürlich kann das christliche Leben manchmal – nicht immer und nicht zwangsläufig – schwerer sein als das nichtchristliche, aber es trägt seinen Lohn schon in sich – die Beziehung zu unserem liebenden Gott. Auch das Tun des Guten, das dieser Gott aufträgt, trägt seinen Lohn in sich. Man muss nicht neidisch auf Leute sein, die erst noch gerade rechtzeitig zu diesem Gott gefunden haben.

Von Beispielen, die nicht funktionieren; oder: wie sagt man noch mal für „erzwungenen Sex“?

Und… nochmal Amoris Laetitia. Ja, eigentlich hatte ich meinen Senf zu Kapitel acht und Fußnote soundsovielhundertwasweißich schon abgegeben, und eigentlich hatte ich auch nicht den Eindruck, dass da noch mehr zu sagen wäre. Aber Irren ist menschlich. Und hier geht es jetzt auch nicht direkt um Amoris Laetitia. Die Enzyklika ist eher der Aufhänger für etwas, worüber ich mich hier gerade aufregen möchte, weil ich wohl im Moment nichts Besseres zu tun habe. Es sind Semesterferien.

Vor nicht allzu langer Zeit hat der Papst-Vertraute und Erzbischof Victor Manuel Fernández, der offenbar auch an der Enzyklika mitgearbeitet hat, einen Text zu den umstrittenen Stellen von AL verfasst, in dem er die Sichtweise, dass wiederverheiratet-Geschiedene nicht zwangsläufig der Kommunion fernbleiben müssten, da sie sich nicht zwangsläufig in einem Zustand subjektiver Schuld befänden, als Vertiefung, nicht Verfälschung, der kirchlichen Lehre verteidigt. Das ist im Ganzen pastoraler und theologischer Blödsinn, worüber ich hier schon mal geschrieben habe; aber hier geht es mir gar nicht ums Ganze, sondern um ein spezielles Beispiel, das der Erzbischof nebenbei gewählt hat, um seine Ansichten zu illustrieren. Ich zitiere aus der englischen Übersetzung des Textes, da ich nun mal leider kein Spanisch kann.

Der Erzbischof ist der Ansicht, dass objektive Regeln nicht jedem Einzelfall gerecht werden könnten (wofür er sogar ein eigentlich sehr gutes und selbstverständliches Zitat des hl. Thomas anführt, der sich angesichts von dessen Verwendung bestimmt gerade im Grabe herumdreht), und dass es für manche Menschen sehr schwer oder gar unmöglich sein könnte, den objektiven Regeln zu folgen. Dafür führt er dann ein Beispiel an (fette Stellen von mir markiert):

„Indeed, it is not easy to describe as an ‘adulteress’ a woman who has been beaten and treated with contempt by her Catholic husband, and who received shelter, economic and psychological help from another man who helped her raise the children of the previous union, and with whom she had new children and cohabitates for many years.

The question is not whether that woman does not know that cohabitation with that man does not correspond with objective moral norms. It is more than that. Some claim to simplify the matter in this way, by saying that, according to Francis, „The subject may not be able to be in mortal sin because, for various reasons, he is not fully aware that his situation constitutes adultery.“ (This is what Claudio Pierantoni stated in a recent conference, very critical of Amoris Laetitia in Rome on April 22, 2017.) And they question him that it makes no sense to speak about discernment if „the subject remains indefinitely unaware of his situation“ (Ibid.). But Francis explicitly said that „more is involved here than mere ignorance of the rule“ (AL 301). The issue is much more complex and includes at least two basic considerations. First, if a woman who knows the existence of the norm can really understand that not abandoning that man – of whom she cannot now demand a total and permanent continence – is truly a very grave fault against the will of God. Second, if she truly can, at this point, make the decision to abandon that man. This is where the limited formulation of the norm is incapable of stating everything.

[…]

But his [Pope Francis‘] emphasis is rather on the question of the possible diminution of responsibility and culpability. Forms of conditioning can attenuate or nullify responsibility and culpability against any norm, even against negative precepts and absolute moral norms. This makes it possible not always to lose the life of sanctifying grace in a “more uxorio” cohabitation.

Francis considers that even knowing the norm, a person „may be in a concrete situation which does not allow him or her to act differently and decide otherwise without further sin. As the Synod Fathers put it, ‘factors may exist which limit the ability to make a decision’“ (AL 301). He speaks of subjects who „are not in a position to understand, value or fully practice the objective requirements of the law“ (AL 295). In another paragraph he reaffirms: „Under certain circumstances people find it very difficult to act differently.“ (AL 302).

He also recalls that John Paul II recognized that in certain cases „for serious reasons, such as for example the children’s upbringing, a man and a woman cannot satisfy the obligation to separate“ (FC 84; AL 298). Let us note that St. John Paul II recognized that „they cannot„. Benedict XVI was even more forceful in saying that in some cases „objective circumstances are present which make the cohabitation irreversible, in fact.“ (SC 29b).

This becomes particularly complex, for example, when the man is not a practicing Catholic. The woman is not in a position to oblige someone to live in perfect continence who does not share all her Catholic convictions. In that case, it is not easy for an honest and devout woman to make the decision to abandon the man she loves, who protected her from a violent husband and who freed her from falling into prostitution or suicide. The „serious reasons“ mentioned by Pope John Paul II, or the „objective circumstances“ indicated by Benedict XVI are amplified. But most important of all is the fact that, by abandoning this man, she would leave the small children of the new union without a father and without a family environment. There is no doubt that, in this case, the decision-making power with respect to sexual continence, at least for now, has serious forms of conditioning that diminish guilt and imputability. Therefore, they demand great care when making judgments only from a general norm. Francis thinks especially of „the situation of families in dire poverty, punished in so many ways, where the limits of life are lived in an excruciating way“ (AL 49). In the face of these families, it is necessary to avoid „imposing straightaway a set of rules that only lead people to feel judged and abandoned“ (ibid.).“

Das Beispiel, das der Erzbischof sich ausgedacht hat, ist also eine Frau, die von ihrem eigentlichen, katholischen Ehepartner sehr schlecht behandelt und sogar geschlagen wurde, sich dann von ihm hat scheiden lassen oder von ihm verlassen wurde (das wird nicht näher ausgeführt, spielt aber auch keine Rolle), und dann einen neuen Partner oder zivilrechtlich angetrauten Ehemann (wird auch nicht ganz klar, was jetzt genau, ist aber ebenso egal) gefunden hat, der nicht katholisch ist, sich aber gut um ihre Kinder aus erster Ehe und ihre neu entstandenen gemeinsamen Kinder kümmert und auch sie selbst gut behandelt und sie in der Krise nach dem Ende ihrer Ehe vielleicht vor Selbstmord oder Prostitution gerettet hat. Die könne man wohl nicht einfach eine Ehebrecherin nennen. Nun ist dieses Extrembeispiel nicht ganz so tränendrückerisch, wie es auf den ersten Blick aussieht, wenn man bedenkt, dass die katholische Kirche Weltkirche ist. Eine Frau in einem armen Dritte-Welt-Land, die, sagen wir mal, von ihrem brutalen ersten Mann nicht bloß verlassen, sondern einfach auf die Straße gesetzt wurde, keine Familie hat, die sie unterstützen könnte, keine Ausbildung, mit der sie einen guten Job finden könnte, keine rechtliche Handhabe, um Unterhalt zu verlangen, die keine Hilfe vom Staat bekommt, und die ein paar Kinder durchbringen muss, könnte in ihrer Verzweiflung durchaus mit Prostitution Geld verdienen oder sich auch einfach umbringen. Kein Wunder also, dass sie erleichtert ist, wenn sie einen Mann findet, der sie aufnimmt und versorgt und vielleicht sogar zivilrechtlich heiratet. Lassen wir dieses Extrembeispiel also mal so stehen; so eine Situation könnte vorkommen.

So, und jetzt kommt ihr Gewissenskonflikt. Sie besinnt sich wieder auf ihren katholischen Glauben und möchte so gerne im Stand der Gnade leben und die Kommunion empfangen, aber sie sieht sich nicht imstande, ihren Partner einfach zu verlassen – wie soll sie die Kinder durchbringen? Wie soll sie leben? Und die Kinder sollten doch in einer intakten Familie leben! Und eigentlich liebt sie ihn ja auch… Sie kann nicht einfach ihre Familie auseinanderreißen… Sie hat schon bei ihrem Pfarrer nachgefragt, und Gründe für eine Annullierung ihrer ersten Ehe scheint es keine zu geben. Ja, da gibt es die Möglichkeit, von der der hl. Johannes Paul II. schon geschrieben hat, mit ihrem neuen Partner wie „Bruder und Schwester“ zusammenzuleben, in Anerkennung der Tatsache, dass sie nicht wirklich verheiratet sein können, solange ihr Ehemann noch lebt, aber ihr neuer Partner ist nicht katholisch und würde das nicht verstehen, und…

Ja, und genau hier stoßen wir auf mein Problem mit der Vorstellung, die der Erzbischof von dieser „guten“ zweiten Beziehung hat. Er schreibt, dass die Frau „keine völlige und dauerhafte Enthaltsamkeit [von ihrem Partner] verlangen kann“. Er schreibt: „Die Frau ist nicht in einer Position, jemanden zu verpflichten, in völliger Enthaltsamkeit zu leben, der nicht alle ihre katholischen Überzeugungen teilt.“ Was hat sie hier denn zu melden? Sie hat ja wohl nicht das Recht, von ihrem Partner zu verlangen, auf Sex zu verzichten, wenn sie möchte, dass er noch länger mit ihr zusammenbleibt. Wenn sie auf die „Unterkunft, [den] wirtschaftlichen und psychologischen Beistand“, die sie von ihm erhalten hat, nicht verzichten möchte, dann sollte sie mal lieber regelmäßig die Beine breit machen. Wofür hat er sie denn vor der Prostitution bewahrt?

Okay. Ich beruhige mich wieder. Ja, ich weiß durchaus, dass es nicht gerade toll rüberkommen wird, wenn man seinem (Ehe)partner, mit dem man jahrelang zusammengelebt und schon Kinder bekommen hat, auf einmal erklärt: „Schatz, ich kann es einfach nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, mit dir zu schlafen, also lassen wir das bitte für den Rest unseres Lebens.“ Okay. Aber wie wird ein nichtkatholischer Partner, der ein so vorbildlicher Partner ist, der sich so hingebungsvoll kümmert, wie der Erzbischof das darstellt, auf so etwas reagieren? Vielleicht wird er befremdet sein. Vielleicht wird er wütend sein angesichts ihres neuen religiösen Eifers, den er nicht an ihr kannte, als sie sich kennengelernt haben, und von dem er nicht will, dass er ihre Beziehung zerstört. Vielleicht wird er noch einmal bei einem anderen Pfarrer nachfragen, ob nicht doch eine Annullierung ihrer ersten Ehe denkbar wäre. Vielleicht wird er versuchen, sie zu überreden, diese aus seiner Sicht unsinnigen Gebote der Kirche nicht so ernst zu nehmen. Aber wie wird er nicht reagieren? Er wird ihr nicht drohen, sie rauszuschmeißen, wenn sie nicht mit ihm schläft.

Nein, der nichtkatholische Mann in dem Beispiel hätte nicht unbedingt die Verpflichtung, mit einer Frau, die aus seiner Sicht bescheuerte religiöse Überzeugungen über ihre Beziehung stellt, noch für längere Zeit zusammenzubleiben, wenn er das nicht mehr will, das sage ich gar nicht. Aber wenn sie sich darüber trennen sollten und wenn sie ohne ihn aufgeschmissen wäre, dann hätte er die absolute moralische Pflicht, ihr und seinen Kindern und Stiefkindern weiterhin zu helfen – ihr Unterhalt zu zahlen, ihr vielleicht zu helfen, einen Job und eine Wohnung zu finden, sie noch solange bei sich wohnen lassen, bis sie das gefunden hat, auch weiterhin die Kinder zu sehen… Kurz gesagt: Wenn der Mann so toll wäre, wie er in dem Beispiel dargestellt wird, dann bräuchte die Frau gar nicht den Gewissenskonflikt „Mit ihm schlafen oder meine Familie auseinanderreißen und mittellos mit vaterlosen Kindern auf der Straße stehen?“ zu haben. Sie hätte höchstens den Konflikt „Mit ihm schlafen oder ihn verlassen und die üblichen Probleme, die eine normale Trennung mit sich bringt, in Kauf nehmen?“ – und, sorry, das kommt mir jetzt einfach nicht mehr wie eine wahnsinnig entsetzliche Extremsituation vor. Schwierig noch immer, ja, aber nicht gerade grauenvoll.

Es wird mir einfach nicht ganz klar, ob der Erzbischof sich fragt, ob sie „wirklich, an diesem Punkt, die Entscheidung treffen kann, diesen Mann zu verlassen“, weil sie dann wieder denselben wirklich schlimmen Problemen wie nach ihrer ersten Trennung gegenüberstehen würde, oder weil sie einfach ihre Familie trennen müsste.

Wenn er Letzteres meint: Sicher ist keine Trennung leicht; aber viele Leute trennen sich aus vielen Gründen, ob guten oder schlechten, und hier gäbe es gute Gründe. Wenn er nicht doch bereit sein sollte, eine Beziehung „wie Bruder und Schwester“ zu akzeptieren: Wieso könnten sie sich dann nicht einfach, nachdem sie klargemacht hat, wozu ihr Gewissen sie verpflichtet, und er, dass er die Beziehung so nicht mehr weiter führen will, im Guten trennen und sich das Sorgerecht für die Kinder teilen? Wenn ich ganz ehrlich sein soll, frage ich mich auch, ob es, in einem realistischen Szenario, ihren Kindern aus erster Ehe wirklich so wichtig wäre, dass sie mit ihrem zweiten Mann zusammenbleibt. Es mag ja Ausnahmen geben, aber in der Praxis funktionieren Patchworkfamilien leider nicht immer so wie im Fernsehen. Stiefväter bleiben Stiefväter, und die Kinder aus der vergangenen Beziehung stehen immer irgendwie zwischen allen Stühlen, wenn Mama einen neuen Freund hat und neue Halbgeschwister auftauchen. Vielleicht würden gerade diese Kinder an ihrem Beispiel eher merken und anerkennen, dass ihr die Treue zu einem einmal gegebenen Gelübde wirklich wichtig ist. Kann die Frau also diese Entscheidung treffen, die Treue zu dem Versprechen, das sie einmal gegeben hat, an erste Stelle zu setzen und mit den Konsequenzen, die sich dann daraus ergeben sollten, umzugehen? Was genau versteht Fernández unter können?

Und wenn er Ersteres meint: Ich hätte von einem Bischof andere Vorstellungen von einer guten Beziehung erwartet – und er stellt diese zweite Beziehung als vorbildlich dar. Ja, ja, er hat Zölibat und muss selber keine führen, aber er wird wohl im Lauf seines Lebens in Beichtstuhl und Ehevorbereitung usw. mit genügend Verheirateten und Verlobten und Ehepaaren zu tun gehabt haben. Aber hier schreibt er, dass eine Frau nicht von ihrem Partner erwarten kann, dass er ihre Überzeugungen und ihr Gewissen achtet. Woher hat Erzbischof Fernández diese Vorstellung, die hier so beiläufig einfließt? Will er einfach nur unbedingt ein Beispiel finden, in dem sich seine Beispielfigur in einer „ausweglosen“ Situation findet, und merkt gar nicht, was er da schreibt? Vermutlich das. Hoffentlich das.

Nein, man kann tatsächlich nicht von einem Partner oder Familienmitglied oder Freund verlangen, auf einmal alle Überzeugungen anzunehmen, die man selber hegt. Man kann versuchen, ihn zu überzeugen, aber man kann ihn nicht zwingen, sie anzuerkennen. Aber man kann von ihm verlangen, sie zu respektieren. Wenn du weißt, dass deine Partnerin es für eine Todsünde hielte, wenn sie mit dir schlafen würde, wenn du weißt, dass das einfach gegen ihr Gewissen gehen würde, würdest du dann versuchen, sie dazu zu bringen? Ich habe ehrlich gesagt meine Zweifel, ob der zweite Mann im Beispiel wirklich eine so viel bessere Wahl wäre als der erste. Wenn die Frau sich nicht in der Position sieht, von ihrem Partner zu verlangen, auf Sex zu verzichten – was sagt das dann über ihr Verhältnis zu ihm aus? Ich war auch schon mal über längere Zeit mit einem Mann zusammen, mit dem ich ein paar Diskussionen darüber führen musste, dass das, was ich über „Kein Sex vor der Ehe“ gesagt hatte, wirklich ernst gemeint war, und, guess what, auch wenn er es nicht mochte, hat er es letztlich geschafft, das zu akzeptieren. Einmal musste ich mir anhören, dass ich Glück mit ihm hätte und wahrscheinlich nicht viele andere Männer das mitmachen würden (was man halt so sagt, wenn man gerade sauer ist, nehme ich an – ich will hier wirklich nicht über meinen Exfreund herziehen, der eigentlich ein netter Mensch ist), aber er hat es geschafft, meine Überzeugungen zu respektieren. Wirklich, wenn man keinen Sex kriegt, klappt man nicht irgendwann zusammen und stirbt. Das kann man aushalten.

Was wäre, wenn sie andere Gründe hätte? Sie ist einfach schwer krank und kann deshalb keinen Sex haben. Sie möchte es nicht, weil eine weitere Schwangerschaft lebensgefährlich für sie wäre und ist übervorsichtig geworden, weil alle Verhütungs- und NFP-Methoden ihre Unsicherheiten haben. Sie hat eine ansteckende Geschlechtskrankheit (vielleicht, weil sie eine Affäre hatte, vielleicht, weil sie vergewaltigt wurde, vielleicht von einer verunreinigten Blutkonserve in ihrem Dritte-Welt-Krankenhaus) und will nicht riskieren, dass er angesteckt wird, wozu auch beim Gebrauch von Kondomen das Risiko bei regelmäßigem Sex nicht gering ist. Hat sie dann auch nicht das Recht, von ihm zu verlangen, ihre Wünsche zu achten? Oder was wäre, wenn eine Ehefrau bereits ein Jungfräulichkeitsgelübde abgelegt hätte und dann von ihren Eltern zwangsverheiratet worden wäre? Hätte die hl. Cäcilia denn auch nicht das Recht gehabt, sich ihrem nichtkatholischen Ehemann, der ihre Werte nicht teilte, zu verweigern? (Ja, ja, ich weiß, Zwangsehen sind gar nicht gültig, aber von der Ehe/Partnerschaft in Fernández‘ Beispiel behauptet das ja auch keiner.)

Wie sagt man noch gleich, wenn jemand einen anderen Menschen zum Sex zwingt?

Ach ja. Vergewaltigung.

Vergewaltigung ist nicht immer der bedrohliche Fremde im nächtlichen Gebüsch. Vergewaltigung kommt auch gern mal in Beziehungen vor. „Wenn du nicht mit mir schläfst, verlasse ich dich“ ist noch kein Zwang im strengen Sinne, das nicht, aber es ist definitiv eine Art von Nötigung, jedenfalls dann, wenn derjenige, der das sagt, weiß, dass die andere Person ohne ihn mit einem Haufen hungriger Kinder mittellos auf der Straße stehen würde.

Wenn ihr zweiter Partner also die Art Mann ist, dem sie und die Kinder scheißegal sind, sobald sie nicht mehr die Beine für ihn breit macht, dann sollte sie wirklich schleunigst schauen, dass sie von ihm wegkommt. Such dir einen Job, irgendeinen (vielleicht nicht gerade Prostutierte – Regen und Traufe und so), such dir Hilfe bei Familie, Freunden, Nachbarn, in der Pfarrei oder bei irgendeiner Organisation, such dir irgendwelche Leute, denen du vertrauen kannst, und hau ab. Je schneller du aus dieser Beziehung raus kommst, desto besser.

(Vielleicht ist „Vergewaltigung“ hier nicht der passendste Begriff, und „survival sex“ wäre korrekter – Austausch von Sex gegen Fürsorge oder Essen oder ein Dach über dem Kopf, ohne direkten Zwang, aber auch ohne wirkliche Freiheit.)

Okay, jetzt habe ich mich ausführlich genug aufgeregt und bin auch schon wieder fertig.

Natürlich ist nicht nur dieses Beispiel fehlerhaft, sondern die ganze Denkweise des Erzbischofs. Davon auszugehen, dass es in manchen Situationen nur noch mögliche Handlungsweisen gibt, durch die man schuldig wird, dass es manchmal unmöglich ist, keine Schuld auf sich zu laden, das ist schlichtweg Blasphemie. Es ist eine Beleidigung Gottes, der uns immer einen Ausweg lässt. Wenn die Frau ihrem Partner Sex verweigert und er sie dann rausschmeißt, dann ist das schlimm und tragisch, aber es liegt dort keine Schuld auf ihrer Seite für irgendetwas vor. Wenn man ein schwer behindertes Neugeborenes in einem Dritte-Welt-Land nicht aussetzt und es dann in Krankheit und Schmerz aufwachsen muss, liegt keine Schuld vor. Wenn man keine Atombombe auf zivile Gebiete wirft und der Krieg sich dann noch Jahre in die Länge zieht und am Ende mehr Opfer fordert, als die Atombombe gefordert hätte, liegt keine Schuld vor. Nicht alles Leid ist (direkt) durch persönliche Schuld verursacht. Manchmal entsteht Leid auch, wenn alle das Richtige tun. Sonst wäre es ja einfach, immer einen Schuldigen zu finden, dem man es anlasten kann, dass er es nicht vermieden hat.

Mit der subjektiven Schuld liegt der Erzbischof natürlich nicht völlig daneben. Natürlich würde Gott der Frau aus dem Beispiel anrechnen, dass ihre Situation schwierig ist und dass sie sich in einer schlimmen Verwirrung befindet. Gott ist vollkommen gerecht. Ich kann das Gefühl, das Fernández hier vielleicht rüberbringen möchte, an sich ehrlich gesagt gut nachvollziehen; dieses Gefühl von schierer Überforderung und Hilflosigkeit gegenüber einem Gebot: „Gott, ich weiß nicht, was ich tun soll, ich kann das nicht, ich kann das einfach nicht, ich weiß, was meine Pflicht ist – oder ich glaube zumindest, dass ich es weiß – ist das sicher so? – ich glaube schon – ich bin mir eigentlich ziemlich sicher – aber ich kann das nicht, ich schaffe das nicht, bitte, Gott, rechne mir das nicht an, hilf mir, ich kann das nicht…“ In der Moraltheologie nennt man so etwas ein perplexes Gewissen. Verminderte Schuldfähigkeit gibt es, und es ist wichtig, Bescheid zu wissen, dass es sie gibt, aber sie macht eine Tat an sich nicht besser. Und wenn ein Kleriker sich dann damit zufrieden gibt und von der Kanzel herab erklärt, dass dann ja alles schön und gut sei und man ruhig nach diesem verwirrten, geplagten Gewissen handeln könne und auch bestimmt nicht der Kommunion fernbleiben müsse, anstatt dass er für Klarheit sorgt, erklärt, was Gottes Gebote fordern – und was in manchen Fällen nicht – und Mut macht, ist einfach Unsinn.

Vor allem, wenn damit nebenbei Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung oder „survival sex“ schöngeredet wird. Vielleicht sollte der Erzbischof sich lieber dafür einsetzen, dass alleinstehende Frauen nicht auf einen Partner angewiesen sind, um im Leben durchzukommen, anstatt zu erklären, dass dann in solchen Fällen bestimmt verminderte Schuldfähigkeit für Sünden gegen das 6. Gebot vorliegen müsse. Nette und nutzlose Binsenweisheit. Ja, okay, ich bin fertig.

Ähm, ne, das ist nicht romantisch

Eine unvollständige Liste von Liebesfilm- und Liebesromanklischees, die sich niemals hätten etablieren dürfen:

1) Den falschen Partner vor dem Altar stehen lassen, um zum richtigen zu rennen

Auch wenn zwei Drittel aller Romantic Comedies auf diese Szene nicht mehr verzichten mögen: Das ist nicht romantisch! Aus dem einfachen Grund, dass es ziemlich fies gegenüber dem stehengelassenen Partner ist. Ist jemand, der sich so gegenüber jemand anderem aufführt, mit dem er eine längerfristige Beziehung geführt hat, wirklich ein begehrenswerter Partner, den man unbedingt nehmen muss, wenn er/sie noch in Smoking/Hochzeitskleid angerannt kommt? Für mich klingt das eher nach wankelmütig und unberechenbar. Wenn einem wirklich erst vor dem Altar bewusst wird, dass diese Ehe eine ganz arg schlechte Idee wäre, dann würde ich dessen Denk- und Urteilsvermögen irgendwie anzweifeln. Hat er seinen Partner bis jetzt nicht gekannt? Und muss ich noch erwähnen, dass es ganz besonders keine gute Idee ist, Braut oder Bräutigam stehen zu lassen, weil man in den letzten paar Tagen jemanden kennengelernt hat, zu dem es eben einfach eine ganz besondere Verbindung gibt – Liebe auf den ersten Blick? Das klingt nach einer ebenso tragfähigen Beziehung wie das andere Klischee, „Wieder mit dem Exfreund zusammenkommen, den man nach langen Jahren zum ersten Mal wiedertrifft“. Vermutlich gab es Gründe, aus denen man mit dem Ex nicht mehr zusammen ist. Und selbst wenn das schlechte Gründe gewesen sein sollten, konnte man nicht früher drauf kommen? Leute, bitte: Verlobungen kann man lösen, bevor die Hochzeitsgäste anreisen, die Tische gedeckt sind und der Pfarrer bereit steht.

Aber mei. Wenigstens hat dieses Klischee dem nächsten eine Sache voraus: Es ist immer noch bloß eine Sache der Filme.

2) Öffentliche Heiratsanträge

Die sind zu meinem Entsetzen etwas, das sich nicht mehr nur in Filmen findet. Tut mir leid, aber Heiratsanträge macht man nicht im Restaurant, und nicht vor einem extra engagierten Streicherquartett, und erst recht nicht vor einem gefüllten Footballstadium. Und man stellt sie auch nicht auf Youtube, damit jeder bewundern darf, was man sich Tolles für seine Liebste ausgedacht hat. Das ist kein romantisches Setting, sondern ein sehr, sehr… unangenehmes.

Da gibt es auch ein klitzekleines Problemchen: Was, wenn sie, na ja… „Nein“ sagen möchte? Oder: „Ich glaube, dass wir noch warten sollten“. Oder: „Das kommt jetzt etwas überraschend…“ Tja, wenn die Welt zuschaut, während er auf die Knie fällt und die kleine quadratische Schachtel herauszieht, bleibt ihr leider nur eine Möglichkeit:

  • Verzückt die Hände vor den Mund schlagen.
  • „Ja! Ja, ich will dich heiraten!“ (Entweder hauchen oder rufen.)
  • Sich den Ring anstecken lassen.

Oder so ähnlich.

Ich bin ja ein tendenziell unromantischer Mensch. Ich hätte auch kein Problem damit, wenn es keinen Antrag mit Ringschächtelchen und Kniefall gibt, sondern man einfach gemeinsam bespricht, wie weit die Beziehung ist. Aber wer Kniefall und Diamantring mag, gerne. Vielleicht ist man sich auch zu absolut-hundert-Prozent sicher, dass sie annehmen wird. Aber dann muss man das trotzdem nicht vor der neugierigen Familie am Nachbartisch und den versammelten Kellnerinnen erledigen. Ist für alle Beteiligten besser. Heiratsanträge sind was Privates.

Ein besonders erschreckendes Beispiel: Dieser Antrag eines venezolanischen Politikers an seine Freundin vor dem Papst:

Sind wir hier bei Germanys-next-most-romantic-proposal? Und ernsthaft: Was macht man bei so was, wenn man ablehnen möchte?

3) Stalking und Kontrolle

I’m looking at you, Twilight.

Ich weiß gar nicht, was ich an den Büchern mal so gut fand. (Die Filme fand ich schon immer entsetzlich. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Kristen Stewart und Robert Pattinson. Erstere kennt nur einen Gesichtsausdruck – bekifft – und Letzterer ist zu absichtsvoll gruselig für seine Rolle.) Wie blödsinnig manches in diesen Büchern ist, fällt einem erst auf, wenn man genauer drüber nachdenkt.

Ein Beispiel: Wenn der Junge aus dem Biologiekurs, den du vor ein paar Tagen oder Wochen kennengelernt hast und mit dem du noch nicht mal zusammen bist, sich nachts ohne dein Wissen in dein Zimmer schleicht und dich beim Schlafen beobachtet, dann würde jeder normale Mensch das eher, na ja, gruselig finden. Und zwar unabhängig davon, ob dieser Junge ein Vampir ist.

Und man folgt dem Mädel, in das man sich verliebt hat, auch nicht heimlich, wenn sie in die Nachbarstadt zum Shopping fährt. Sie hat siebzehn Jahre ohne dich überlebt. (Ja, in dem Fall war es ein glücklicher Zufall, dass jemand da war, aber das ändert am Prinzip nichts.) Und man verbietet ihr auch nicht, ihre Freunde zu treffen, nachdem man dann mit ihr zusammen bist. Dass die Werwölfe sind, ist keine Entschuldigung – jedenfalls, wenn du ein Vampir ist, dann hat das nämlich was von Doppelmoral.

In der Praxis wäre so was keine gesunde Beziehung.

4) Selbstmord nach dem (vermeintlichen oder echten) Tod des/der Geliebten

Ebenfalls (bloß als vermeintlicher Tod und versuchter Selbstmord) in der Twilight-Serie zu finden, aber bekanntermaßen auch schon bei „Romeo und Julia“. Wenn Romeo etwas Hilfe von der Notfallseelsorge gekriegt hätte, hätten beide ein Happy End bekommen können. Aber ne. Wieso ist das eigentlich Shakespeare’s beliebtestes Stück? „Macbeth“ ist so viel besser. Wahrscheinlich könnte ich das auch noch über sämtliche seiner anderen Stücke sagen, wenn wir in Englisch noch etwas anderes als „Romeo and Juliet“ und „Macbeth“ gelesen hätten.

„Ohne dich kann ich nicht leben.“ – Doch. Kann man. Muss man vermutlich irgendwann auch. Bei zwei Leuten ist es relativ wahrscheinlich, dass einer vor dem anderen stirbt. Und, na ja, so was wie Trennungen gibt es auch. Das kann ein psychisch gesunder* Mensch überleben. Auch wenn es nie schön ist.

5) Sexszenen (und allzu intime Kussszenen und dergleichen).

Selbst wenn die Filmfiguren anständig verheiratet sind: Auch die haben ihre Privatsphäre, die mich nichts angeht! Im Ernst: so was sollte nicht in Filmen ausgebreitet werden. Ich will nicht darüber stolpern und vorspulen müssen.

So, jetzt habe ich hier mal die ganzen Gedanken von einer, die nicht so viel mit Romantik und so anfangen kann, auf die Welt losgelassen. Ob man’s glaubt oder nicht, ich lese tatsächlich gerne Jane Austen. Aber bitte verschont mich mit der nächsten Braut, die aus der Kirche rennt, und Heiratsanträgen vor dem Papst.

* Nichts gegen psychisch Kranke, ich bin auch psychisch krank. Ich meine ja nur, Verzweiflungstaten aus Trauer sollte man sich nicht zum Vorbild nehmen.