Vaterunser auf Feministisch

Ich schätze, ich muss nicht viel dazu sagen, was ich davon halte, wenn die Worte unseres Herrn willkürlich abgeändert werden, weil irgendwer meint, es besser zu wissen als der Gottmensch Jesus Christus. Wer eine Idee zu  einem Gebet hat, die er ganz toll findet, soll ein neues Gebet schreiben, nicht am Vaterunser herumdoktern. Aber wenn solche Texte umgedichtet werden, ist es schon ganz interessant, welche Stellen dabei umformuliert oder ausgelassen werden.

Eine anglikanische („episcopalian“: der amerikanische Zweig der Anglikaner) Kirche in San Francisco hat am 25. April eine „Beyoncé-Messe“ abgehalten, d. h. eine Messe begleitet von Liedern von Beyoncé, da man die dort offenbar sehr inspirierend fand. Der verlinkte Artikel zeigt auch ein Foto von den Zetteln, die dabei an die ca. 900 Besucher ausgeteilt wurden, und auf diesen Zetteln ist das Vaterunser in zwei Versionen abgedruckt, wobei darüber noch der Hinweis steht, dass man es „in den unten stehenden Worten, oder in den Worten Ihres Herzens“ mitbeten könnte. Die Version auf der rechten Seite ist die traditionelle englische Übersetzung des Bibeltextes („Traditional English Lord’s Prayer“), die linke eine, na ja, etwas freiere Umdichtung unter dem Titel „Womanist Lord’s Prayer“:

„Our Mother,

who is in heavan and within us,

We call upon your names.

Your wisdom come.

Your will be done,

In all the spaces in which You dwell.

Give us each day

sustenance and perseverance.

Remind us of our limits as

we give grace to the limits of others.

Seperate us from the temptation of empire,

But deliver us into community.

For you are the dwelling place within us

the empowerment around us

and the celebretation among us

now and for ever.

Amen.“

(Unsere Muter,

die im Himmel und in uns ist,

wir rufen deine Namen an.

Deine Weisheit komme.

Dein Wille geschehe,

An all den Orten, an denen du wohnst.

Gib uns jeden Tag

Lebensunterhalt und Ausdauer.

Erinnere uns an unsere Grenzen so wie

wir Rücksicht auf die Grenzen anderer nehmen.

Scheide uns von der Versuchung der Herrschaft,

Und führe uns stattdessen in die Erlösung zur Gemeinschaft.

Denn du bist die Wohnung in uns

die Emanzipation um uns herum

und die Feier unter uns

jetzt und in alle Ewigkeit.

Amen.)

Die feministische Umdichtung eines nun mal leider so eindeutig ein männliches Gottesbild vermittelnden Gebets wie des Vaterunsers zu einem Mutterunser ist ja nun leider nichts Neues. Aber die restlichen Umdichtungen sind schon interessant.

Vor allem fällt auf: Das Böse darf nicht wirklich vorkommen. Es wird keine Schuld vergeben, sondern es wird nur anerkannt, dass Menschen „Grenzen“ haben: Eine völlig blödsinnige Formulierung. Rücksicht auf die Grenzen anderer nehmen heißt z. B., dass ich es nachsehe, wenn meine vergessliche Großmutter ständig Schlüssel und Geldbeutel vergisst, und mich im Voraus darauf einstelle, damit ich darauf achten kann. Schuld vergeben bedeutet dagegen, dass ich es vergebe, dass meine leicht beleidigte Großmutter nach einer geringfügigen Meinungsverschiedenheit wochenlang nicht mit mir geredet hat. Schwächen und Sünden sind nicht einfach ein- und dasselbe. Als nächstes wird die Versuchung, in die man nicht geraten will, eingeschränkt auf eine ganz bestimmte Art der Versuchung, nämlich die zur Herrschsucht; als wäre das die einzige Form des Bösen, die es gäbe. (Auch Gleichgültigkeit, Vernachlässigung, unterlassene Hilfeleistung o. Ä. können Sünden sein, um nur ein paar offensichtliche Beispiele zu nennen, die mit Herrschen nichts zu tun haben.) Aber das passt eben zum feministischen Konzept: Die einzige bewusst wahrgenommene Form des Bösen ist die Unterdrückung, also ist die „Emanzipation“ („empowerment“) und die gleichberechtigte „Gemeinschaft“ die einzige bewusst wahrgenommene Form des Guten. (Sicher ist Gemeinschaft eine wichtige Form des Guten, aber eben nicht die einzige.)

Dazu kommt noch die grässlich formulierte Bitte um „Lebensunterhalt und Ausdauer“, die das wunderbar konkrete „unser täglich Brot gib uns heute“ ersetzt, und dann so völlig blödsinnige Sätze wie „du bist die Wohnung in uns“ (wenn schon, dann bitte „du wohnst in uns“, aber – du „bist“ die Wohnung in uns?).

An letzterer Stelle und auch weiter oben fällt auch auf: Das „Reich“ (in der traditionellen englischen Übersetzung „kingdom“) Gottes darf nicht vorkommen; auch nicht „Macht“ („power“) und „Herrlichkeit“ („glory“). Wäre ja alles zu, äh, herrschaftlich. Auch ein guter Herrscher wie Gott bzw. die hier angebetete Muttergöttin darf nicht herrschen, sondern bloß seine/ihre „Weisheit“ spenden und in den Leuten Wohnung nehmen (oder so ähnlich). Aber ich glaube, es ist nicht nur diese Abneigung gegenüber allem, was an Macht oder Herrschaft erinnert: Nein, solche Leute glauben auch nicht, dass Jesus jemals wirklich am Ende der Zeiten zurückkehren wird und wirklich endgültig Gottes Reich aufgerichtet werden wird; also können sie auch schlecht um die Ankunft dieses Reiches beten. Es muss reichen, wenn ein bisschen göttliche Weisheit aus den höheren Sphären zu uns in den Alltag hinabsickert.

Auch die Diversität muss natürlich kurz vorkommen: Die Göttin hat nicht nur einen Namen, sondern viele („wir rufen deine Namen an“). Sie ist vielseitig, da ist für alle was dabei.

Insgesamt ist das Gebet vor allem eins: langweilig. Das langweilige Thesenpapier engagierter Pfarrer*innen und Lai*innen, die beim Kirchenkaffee und beim Vortragsabend im Pfarrheim von Machtstrukturen und ihrer Bekämpfung durch Gendersternchen reden, und keine Ahnung haben von wirklicher Schuld, wirklichem Bösen, oder der wirklichen Herrlichkeit des Reiches des wirklichen Gottes, und die es verachten, um das täglich Brot zu bitten, wenn man stattdessen „Lebensunterhalt“ sagen kann.

Von Gottesstaaten (und anderen Staaten)

Zwischen 413 und 426 n. Chr. schrieb der hl. Augustinus sein berühmtes Werk „Vom Gottesstaat“ (De civitate Dei), in dem er den „Gottesstaat“, d. h. das Reich Gottes, das sich in den Christen verwirklicht, vom irdischen Staat – d. h. zu seiner Zeit dem römischen Kaiserreich – abgrenzte. Das ist nicht unbedingt der Sinn, in dem der Begriff „Gottesstaat“ heute verwendet wird. Unter einem Gottesstaat verstehen die Leute heute eher einen irdischen Staat, der die Gebote einer Religion zu seinen Gesetzen gemacht hat. Augustinus dagegen grenzte die civitas Dei (Gesellschaft Gottes, Staat Gottes) klar von der civitas terrena (irdischer Staat) ab.

Er hatte auch seine Gründe dafür: Viele seiner Zeitgenossen gingen davon aus, dass, wenn das Reich als Ganzes die richtigen Götter (oder den richtigen Gott) verehren würde, es von denen vor Unglück geschützt werden würde, also von einer sehr engen Verbindung zwischen Religion und Staat. Nun hatte man die alten Götter aufgegeben, die Kaiser waren christlich geworden – und gleichzeitig fielen Germanenstämme wie die Ost- und Westgoten, die Vandalen und die Franken ins Reich ein. Viele Heiden waren also der Ansicht, dass der Religionswechsel nicht funktioniert hatte; der Christengott konnte offenbar nichts für einen tun. 410 eroberten und plünderten die Westgoten unter Alarich Rom, und auf dieses schlimme Ereignis nimmt Augustinus in seinem Werk Bezug, und wenn er da so von Verschleppungen, Vergewaltigungen, Toten, die nicht begraben werden konnten, Hunger und Kannibalismus schreibt, dann merkt man, es war wirklich keine schöne Zeit.* (Augustinus selbst sollte dann übrigens in seiner nordafrikanischen Bischofsstadt Hippo Regius während der Belagerung durch die Vandalen unter Geiserich im Jahr 430 sterben.)

In diesem Werk bestand Augustinus jedenfalls darauf, dass das Römische Reich, auch wenn es christliche Kaiser hatte, nicht identisch war mit dem Gottesreich. Der Bestand des christlichen Glaubens ist nicht abhängig vom Wohlergehen eines irdischen Reiches, das zwar an sich einen Zweck in der von Gott gewollten Ordnung erfüllen kann, indem es für Ordnung und Gerechtigkeit unter den Menschen sorgt usw., das Gottesreich aber auch behindern kann. Diese Unterscheidung zwischen weltlichem und geistlichem Bereich beruht schon auf der Bibel („So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“, Matthäus 22,21) und wirkte das ganze Mittelalter hindurch weiter.

So, das war jetzt eine längere Einleitung zu einem Begriff, dessen Bedeutung meistens nicht ganz klar ist, wenn er verwendet wird: „Gottesstaat“. Der Iran wird gern als Gottesstaat bezeichnet, oder Saudi-Arabien. Manche Leute sehen den Gottesstaat auch schon verwirklicht, wenn in Deutschland Geschäfte am Sonntag geschlossen haben und an stillen Feiertagen nicht getanzt werden darf. Hierzulande gilt aber grundsätzlich eine Trennung von Staat und Kirche, die noch über eine Trennung im Sinne des Augustinus hinausgeht, auch wenn sie keine Laizität à la Frankreich (die eine Verdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Raum beabsichtigt) ist. Was ist jetzt also ein „Gottesstaat“?

Hier mal ein paar Beispiele, um die Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaften, die man im heutigen Westen vermutlich alle mehr oder weniger als Gottesstaaten bezeichnen würde, deutlich zu machen:

  • Mohammeds Herrschaft und das Kalifat: Hier war der weltliche Herrscher gleichzeitig auch das geistliche Oberhaupt der (ganzen) Gemeinschaft der Muslime. Mohammed verkündete konkrete weltliche Gesetze, z. B. zum Erbrecht, die direkt auf göttlicher Offenbarung beruhen sollten – seine Nachfolger, die Kalifen, behielten diese bei – und führte seine Feldzüge im Namen seines Gottes – was die Kalifen ebenfalls taten.
  • Der heutige Iran: Die Regierung der Islamischen Republik Iran versteht sich nach der Verfassung von 1979 als Vertreterregierung des entrückten 12. Imam Mahdi, dessen Wiederkehr von den Zwölferschiiten erwartet wird. Das Staatsoberhaupt ist der „Führer“ (Rhabar), der von Theologen ausgewählt wird (zuerst war es Ajatollah Chomeini, jetzt ist es Ajatollah Chamenei). Regierungschef ist ein gewählter Präsident, der sich aber an die Prinzipien des schiitischen Islam halten muss, was vom Wächterrat überwacht wird.
  • Das heutige Saudi-Arabien: Die Kleriker sind nicht so direkt in die Regierung eingebunden wie im Iran, Saudi-Arabien hat allerdings den Islam (in der sunnitischen, speziell der wahabitischen Form) als Staatsreligion und die Könige, die als absolute Herrscher regieren, verstehen sich auch als Hüter der heiligen Stätten in Mekka und Medina.
  • Das mittelalterliche Europa: Die mittelalterlichen Staaten hatten ganz verschiedene Staatsformen (Venedig z. B. war eine Republik, viele andere Staaten waren Erbmonarchien oder -aristokratien); diesen Staaten gemeinsam war, dass einerseits der katholische Glaube öffentlich als wahr anerkannt, also praktisch Staatreligion war (was er in Malta übrigens interessanterweise immer noch ist), dass die Autorität des Papstes etwas galt (auch wenn man sich nicht einigen konnte, wie viel genau), dass weltlicher und geistlicher Bereich aber trotzdem irgendwo getrennt waren – Päpste, Bischöfe, Pfarrer, Äbte und Äbtissinnen waren nicht dasselbe und hatten nicht dieselben Aufgaben wie Kaiser, Könige, Grafen und Bürgermeister, und das Kirchenrecht war, anders als im Islam, nicht identisch mit dem weltlichen Recht.
  • Der Kirchenstaat oder die Fürstbistümer des Heiligen Römischen Reiches: Hier besaß ein Geistlicher zusätzlich zu seiner geistlichen Macht über ein umfassenderes Gebiet auch noch weltliche Macht über ein kleineres Gebiet. Die weltlichen Gesetze waren folglich eher stärker religiös geprägt als in benachbarten Staaten, leiteten sich aber auch nicht direkt oder ausschließlich aus religiösen Quellen ab und der geistliche und der weltliche Bereich wurden unterschieden. (Mir bekannte Unterschiede zwischen den deutschen Fürstbistümern und weltlichen Fürstentümern in der Frühen Neuzeit wären z. B., dass es in den Fürstbistümern oft deutlich mehr Feiertage gab, oder dass die Bischöfe, wenn das Reich einen Krieg führen musste, eher Geld an den Kaiser schickten, um Söldner anzuwerben, als selbst mit in den Krieg zu ziehen.)
  • Das Täuferreich von Münster: Eine spannende Geschichte aus der Reformationszeit: In Münster setzten sich die radikalen Propheten der Wiedertäufer-Sekte an die Macht, verkündeten, dass Christus zu Ostern 1534 wiederkehren sollte, benannten die Stadt in Neu-Jerusalem um, zerstörten Heiligenbilder, die sie für Götzen hielten, vertrieben Katholiken und Lutheraner, und führten die Polygamie ein. Sie wurden schließlich vom Fürstbischof militärisch geschlagen, nachdem die Stadt von innen heraus verraten worden war, und die Propheten wurden gefoltert und hingerichtet. Ähnlich wie bei Mohammed erlangten hier religiöse Propheten auch weltliche Macht – wenn auch für deutlich kürzere Zeit.
  • England unter Heinrich VIII. oder Elisabeth I.: Heinrich VIII. erklärte sich, als der Papst ihm nicht die Scheidung erlauben wollte, selbst zum Oberhaupt der Kirche von England, und seitdem stand die anglikanische Kirche unter der Autorität des Staates. Sicher hatten auch Synoden und Bischöfe noch etwas zu sagen, v. a. der Erzbischof von Canterbury, aber es handelte sich doch um eine dem Staat untergeordnete Kirche. Kardinal John Fisher, der einzige der englischen Bischöfe dieser Zeit, der nicht den Eid auf Heinrich als Kirchenoberhaupt leisten wollte, wurde hingerichtet, ebenso aus demselben Grund Heinrichs ehemaliger Lordkanzler Thomas Morus. Wer nicht zu dieser Kirche gehörte, musste u. U. mit Sanktionen rechnen (z. B. mussten Katholiken unter Heinrichs Tochter Elisabeth I. Geldstrafen zahlen, wenn sie nicht in die anglikanischen Gottesdienste kamen), konnte seinen Glauben evtl. nicht frei ausüben (z. B. war es unter Elisabeth verboten, die Messe zu feiern, und katholische Priester wurden hingerichtet), und hatte keinen Zugang zu bestimmten Staatsämtern (das galt bis ins 19. Jahrhundert). Das alles wurde mit der Zeit immer lockerer gehandhabt, auch wenn die anglikanische Kirche offiziell noch immer Staatskirche in England ist.

Der Unterschied zwischen Mohammeds Arabien oder dem Täuferreich von Münster auf der einen Seite und sagen wir mal, dem Heiligen Römischen Reich oder Frankreich oder England im Mittelalter auf der anderen Seite wäre, dass Mohammed (bleiben wir mal bei ihm als Beispiel; sein Herrschaftssystem hat immerhin länger überlebt) nicht einen geistlichen und einen weltlichen Bereich unterschied, sondern seine prophetischen Offenbarungen auf beide bezog: Sein Gott gab direkte Anweisungen zum Gerichtswesen, zur Verteilung von Kriegsbeute, zum Familienrecht. Nun war es im Mittelalter nicht so, dass geistliche und weltliche Angelegenheiten ganz voneinander abgeschnitten gewesen wären; im Gegenteil, es gab gegenseitige Zusammenarbeit und Überschneidungen (z. B. beim Eherecht) und auch die staatlichen Gesetze, von denen man viele auch aus römischem oder germanischem Recht übernommen hatte, richteten sich im Idealfall irgendwo nach übergeordneten moralischen Prinzipien, die die Kirche verkündete. (Im Idealfall. In der Praxis musste die Kirche z. B. noch 1374 Rechtsprinzipien aus dem Sachsenspiegel wie etwa „Wer auch immer nach der Bestimmung dieses Buches zum Duell aufgefordert wurde, der kann das Duell nicht verweigern, es sei denn, der so Auffordernde wäre weniger wohl geboren als der Aufgeforderte“** verurteilen, und auch für die Abschaffung der aus dem Heidentum übernommenen Gottesurteile musste sie immer wieder eintreten.) Man ging davon aus, dass Christus, König über die ganze Welt, sowohl der Kirche, mit dem Papst als Oberhaupt, die geistliche Macht, als auch den weltlichen Fürsten, mit dem Kaiser als ihrem höchsten Vertreter, die weltliche Macht verliehen hatte; kurz: weltliche und geistliche Ordnung standen beide auf dem Boden des Christentums. Auch wenn sich der Kaiser dann und wann mit dem Papst zoffte.

Der Gang nach Canossa in einer Darstellung aus dem 19. Jahrhunderts, als man in Deutschland den Papst nicht leiden konnte und den Kaiser als trotzig und ungebeugt darstellten wollte. (Eduard Schwoiser, „Heinrich vor Canossa“) Hier noch eine mittelalterliche Darstellung, in der Kaiser Heinrich IV. Markgräfin Mathilde von Tuszien und seinen Taufpaten Abt Hugo von Cluny um Vermittlung bei Papst Gregor VII. bittet:

(Quelle für beide  Bilder: Wikimedia Commons.)

Ehrlich gesagt, ich würde den Begriff „Gottesstaat“ am liebsten aufgeben. Er ist zu unscharf und wird zu vielseitig verwendet. Ich möchte verschiedene Herrschaftsformen unterscheiden:

  1. Religiöse Führer als weltliche Herrscher; alle weltlichen Gesetze direkt aus göttlicher Offenbarung abgeleitet (Kalifat, Täuferreich von Münster, heutiger Iran)
  2. Religiöse Führer üben auch weltliche Herrschaft aus, bei gleichzeitiger Unterscheidung der geistlichen und weltlichen Bereiche (Kirchenstaat, Fürstbistümer)
  3. Religiöser Integralismus bei personeller Trennung von weltlichem und geistlichem Bereich (Großteil Westeuropas im Mittelalter)
  4. Religiöser Staat; Religion aber unter der Fuchtel des Staates (England unter Heinrich VIII. oder Elisabeth I., Russland unter den Zaren)
  5. Zusammenleben von mehreren religiösen Gruppen auf nicht-religiöser Grundlage; Trennung von Staat und Religion; religiöse Toleranz (heutiges Deutschland)
  6. Staatliche Ablehnung der Religion und Zurückdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Raum, „Laizität“ (heutiges Frankreich, Türkei unter Atatürk)
  7. Staatlich verordneter Atheismus, Verfolgung der Religion (frühere Sowjetunion, China unter Mao, Nordkorea, sämtliche sonstigen kommunistischen Diktaturen der Geschichte)

Nr. 1 gab es in der Christenheit zunächst überhaupt nicht, später war sie eine Randerscheinung bei einigen extremen Gruppen im Gefolge der Reformation, die sich direkt von Gott inspiriert fühlten (z. B. könnte man außer den Täuferpropheten evtl. noch Oliver Cromwell hier einordnen). Nr. 2 ist im christlichen Bereich eine bekannte, aber alles in allem nicht allzu häufige Erscheinung, die mancherorts aus den historischen Gegebenheiten im Chaos des Frühmittelalters entstand. Nr. 3 war der katholische Standard bis ca. 1500, in manchen Gebieten bis ca. 1800 oder noch etwas länger. Diese Form habe ich „Integralismus“ getauft. Mit „Integralismus“ ist laut den Definitionen, die man so im Internet findet, generell gemeint, dass alle gesellschaftlichen Bereiche (integral) im religiösen Sinne geordnet werden sollen. Hier gäbe es natürlich noch verschiedene Abstufungen; z. B. kann man entweder der Ansicht sein, dass der Papst und die Bischöfe an sich zwar nur geistliche Macht haben, dass sie nicht über, sondern neben weltlichen Herrschern, stehen, dass aber beide, geistliche und weltliche Herrscher, von Christus eingesetzt sind, Ihn als ihren Herrn anerkennen und nicht gegen Seine Gebote handeln sollten, oder man kann auch dazu noch dem Papst für Notfälle eine direkte oder indirekte weltliche Macht zuschreiben (z. B. dass er als eine Art Schlichtungsinstanz gelten soll und ungerechte Herrscher für abgesetzt erklären kann). Ein Staat sollte nach dieser Ansicht jedenfalls im Idealfall die katholische Religion als Staatsreligion anerkennen. Das wäre, wie gesagt, die mittelalterliche (und in den katholischen Staaten auch noch frühneuzeitliche) Ordnung.

Mit der Reformation traten dann gewisse Probleme auf: Einige Fürsten wiesen den Glauben und die Autorität der Kirche und des Papstes zurück und gründeten sich ihre eigenen Landeskirchen, in denen sie oberste Kirchenherren waren. Das sieht man in Sachsen oder Preußen ebenso wie in England. Ähnliches hatte es vorher schon im Oströmischen Reich und in Russland gegeben, wo man die Autorität des Papstes ebenfalls nicht mochte und die Kirche lieber dem Kaiser bzw. Zar unterordnete (dafür gibt es den schönen Begriff „Cäsaropapismus“). Hier wären wir bei Nr. 4. Im Zuge der Reformation entstanden aber auch die Religionskriege zwischen den protestantischen und den katholischen Fürsten, und als man davon dann genug hatte, fragte man sich, ob denn die Religion das alles wert gewesen war, ob an diesen ganzen Streitfragen überhaupt so viel war, und ob es nicht einfach reichte, überhaupt an Gott zu glauben und ein guter Mensch zu sein (oder einfach nur ein guter Mensch zu sein). Hier wären wir im 18. Jahrhundert bei den Intellektuellen, die sich in nicht allzu großer Demut „Aufklärer“ tauften, angelangt. Sie waren für größere religiöse Toleranz gegenüber der jeweils in der Minderheit befindlichen Konfession und auch gegenüber den Juden, die immer einen Außenseiterstatus eingenommen hatten und als Außenseiter geduldet worden waren, aber nie wirklich zur Gesellschaft gehört hatten.

Dann musste man im Gefolge der sog. Aufklärung natürlich andere Prinzipien finden, auf die sich eine Gesellschaft einigen und auf denen sich ein Staat aufbauen konnte. Da wurden sehr unterschiedliche Wege gefunden. Bei uns nennen sich die herrschenden Prinzipien „freiheitlich-demokratische Grundordnung“, womit man Dinge wie Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit etc. meint; in den kommunistischen Staaten war es Marx‘ Lehre; in faschistischen Staaten der Wille des Führers. Hier wären wir bei Nr. 5, 6 und 7.

Auch für alle post-religiösen Staaten stellte und stellt sich dann übrigens die Frage, wie tolerant man gegenüber Ketzereien (womit ich Abweichungen von den staatstragenden Prinzipien meine, also etwa Anarchismus, Monarchismus, islamischer Extremismus, Reichsbürgertum) sein wollte. Es gab eben immer noch Leute, die sich den tragenden Prinzipien nicht anschließen wollten, auch wenn man die nicht mehr aus einer Religion nahm. Auch diese Frage wurde ganz unterschiedlich beantwortet; manche Staaten sind bzw. waren strenger gegenüber „Verfassungsfeinden“ als andere. Die französische Revolutionsregierung schickte einen schnell mal auf die Guillotine, bei Stalin kam man ins Gulag, in der BRD hat man eher eine Geldstrafe wegen Volksverhetzung zu befürchten.

Klar wird hier: Alle sieben Arten von Staaten sind auf irgendeiner Weltanschauung aufgebaut, die zumindest ein größerer Teil der Bevölkerung teilen muss, wenn die Gesellschaft funktionieren soll. Die Weltanschauung kann der Islam sein, der Konfuzianismus (altes China), der Protestantismus, der Katholizismus, der Liberalismus, der Kommunismus, der Faschismus, oder sonst irgendetwas. Aber eine gewisse Basis ist praktisch immer da; der Staat kann nicht ganz „weltanschaulich neutral“ sein. Es gibt dabei auch gewisse Unterschiede bei dieser gemeinsamen Basis: Es kann eine universal anwendbare Weltanschauung sein (Katholizismus, Kommunismus, Liberalismus), die man mit anderen Staaten teilt, oder eine rein nationale Religion, die direkt von der Regierung beeinflusst wird (Anglikanismus, verschiedene Formen des Nationalismus).

Hier stellt sich dann natürlich die Frage, auf welche Basis sich die Menschen in einem Land einigen können, und auf welche sie sich im Idealfall einigen sollten. Sucht man einen kleinsten gemeinsamen Nenner? Will man so nah wie möglich an die Wahrheit herankommen? Und was ist die Wahrheit? Die Wahrheitsfrage lässt sich am Ende nicht umgehen: Auf die Menschenwürde zum Beispiel kann sich eine Verfassung nur stützen, wenn diese wirklich existiert (was sie tut).

Worauf ich hinaus will: Statt den Begriff „Gottesstaat“ bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten hinauszuposaunen, sollte man sich vielleicht genauer ansehen, um was für eine Art Staat (Nr. 1, 2, 3 oder 4?)es sich handelt – und dann natürlich auch, um welchen Gott. Der Aztekenkönig war ebenso wie der Papst im Kirchenstaat weltlicher und religiöser Herrscher zugleich, aber in Rom wurden doch weniger Menschen geopfert als in Tenochtitlan…

* Augustinus beruhigt seine Leser z. B. dahingehend, dass es für die leibliche Auferstehung am Ende der Zeiten keine Unterschied machen wird, wenn ein Toter nicht begraben werden konnte und von Tieren gefressen wurde, oder er schreibt an einer anderen Stelle, dass Vergewaltigungsopfer, da sie keine Schuld an dem tragen, was ihnen passiert ist, sich nicht umbringen sollen, um die Schande der Vergewaltigung loszuwerden, auch wenn solche Selbtmorde menschlich verständlich seien. Die Bischöfe damals hatten schon andere pastorale Probleme als unsere heute.

** Gregor XI., Bulle „Salvator humani generis“ an den Erzbischof von Riga und seine Suffraganen, in: Enchiridion symbolorum definitionum et declarartionum de rebus fidei et morum / Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hrsg. v. Heinrich Denzinger und Peter Hünermann, 42. Auflage, Freiburg im Breisgau 2009, Nr. 1113, S. 521.

Aus dem Denzinger: Gregor IX. (1227-1241) über Taufen mit Bier

Der „Denzinger“, genau genommen das „Enchiridion symbolorum definitionum et declarartionum de rebus fidei et morum / Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen“ ist eine ursprünglich von Heinrich Denzinger, in der um neue Dokumente erweiterten Fassung dann von Peter Hünermann, herausgegebene Sammlung von Glaubensbekenntnissen, Konzilsentscheidungen und päpstlichen Lehrschreiben im lateinischen/griechischen Original und in deutscher Übersetzung. Die Dokumente reichen vom Jahr 96 bis ins Jahr 2003 (in der 42. Auflage).

 Ich habe festgestellt, dass es ziemlich spannend ist, im Denzinger zu stöbern – da kommt einiges Unerwartete aus der Kirchengeschichte ans Tageslicht, und auch manches Kuriose. Vor allem aber bekommt man ein Gespür dafür, welche Probleme die Kirche zu einer bestimmten Zeit beschäftigten. Manche Themen kommen immer wieder auf (z. B. Fragen zur Ehe, oder zur Union der zwei Naturen in Christus, oder zum Vergehen der Simonie); manche nur ein- oder zweimal (z. B. wenn eine Synode diejenigen exkommuniziert, die Schiffbrüchige berauben). Im 17. Jahrhundert streiten die Theologen um die Gnadenhilfen, im 19. muss man sowohl den religiösen Indifferentismus als auch den Fideismus verurteilen.

 In dieser Reihe möchte ich einfach regelmäßig Zitate aus den meiner Meinung nach besonders interessanten Dokumenten bringen, wenn nötig mit einer kurzen historischen Einordnung. Die Zitierweise „DH [Zahl]“ gibt die Nummer an, unter der die Stelle im „Denzinger-Hünermann“ zu finden ist.

Alle Teile hier.

 

Diesmal etwas Kurioses: Im Jahr 1241 schrieb Papst Gregor IX. einem norwegischen Bischof:

 

„Da es, wie wir aus Deinem Bericht erfahren haben, manchmal vorkommt, daß Kinder Deines Landes in Ermangelung von Wasser in Bier getauft werden, antworten wir Dir mit dem vorliegenden [Schreiben]: da man nach der Lehre des Evangeliums aus Wasser und Heiligem Geist wiedergeboren werden muß [vgl. Joh 3,5], dürfen nicht für ordnungsgemäß getauft erachtet werden, die in Bier getauft werden.“

(Gregor IX., Brief „Cum sicut ex“ an Erzbischof Sigurd von Trondheim, 1241; in: DH 829)

 

„In Ermangelung von Wasser“ klingt bezogen auf Norwegen zwar seltsam, aber vielleicht hatten einzelne Leute damals bei ihrer Taufe gerade kein frisches, sauberes Wasser da, wie sie es am liebsten hätten verwenden wollen? Oder vielleicht hielt man eine Zeremonie mit Bier auch für feierlicher?

Jedenfalls zeigt der Brief, dass die Kirche die Form des Sakraments, wie es Jesus eingesetzt hatte, ernst nahm; da die Bibel ausdrücklich vorschreibt, mit Wasser zu taufen, kann niemand gültig mit Bier getauft werden. Das gilt übrigens auch für andere Sakramente: Bei der Eucharistie müssen Wein und Weizenbrot verwendet werden, da Jesus Wein und Weizenbrot verwendet hat, weshalb es z. B. auch nicht möglich ist, für Zöliakiekranke glutenfreie Hostien aus Buchweizen oder Reismehl zu nehmen (sondern höchstens glutenreduzierte aus Weizen), sodass sie stattdessen nur das Blut Christi empfangen können.