Die Päpstin, Teil 3: „Liebe“, Naturwissenschaft und Aberglaube

Ich hatte ja schon angekündigt, dass sich zwischen Johanna und Gerold eine Liebesgeschichte entwickelt. Johanna ist an dieser Stelle zwölf bzw. dreizehn Jahre alt und kommt allmählich in die Pubertät; Gerold ist Mitte bis Ende zwanzig.

Zum ersten Mal wird Johanna ihre Verliebtheit bewusst, als Gerold sie einmal vor ihren mobbenden Mitschülern beschützt. Die Autorin gibt sich an dieser Stelle ganz besondere Mühe, poetisch zu sein:

„Wieder spürte Johanna, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Bis auf Aeskulapius hatte sich niemand so für sie eingesetzt und so nette Dinge über sie gesagt.

Gerold war… anders.

Die Knospe einer Rose wächst im Dunkeln. Sie weiß nichts von der Sonne, doch sie reckt sich furchtlos in die Finsternis, die sie umgibt, bis die Hülle schließlich birst, bis die Rose erblüht und ihre Blätter im Licht entfaltet.

Ich liebe ihn.“ (S. 131)

Na ja.

Mit anderen Worten: Hier bildet ein Mädchen, das sich nach emotionaler Zuwendung sehnt, sich ein, seine Schwärmerei für einen älteren Mann sei wahre Liebe. Das ist gar nicht mal unrealistisch; das kann passieren.

Gerold nimmt sich weiter ihrer an und zeigt auch Interesse an ihren Studiengebieten. Er besorgt ihr sogar eine Abschrift des seltenen Werkes De rerum natura des antiken epikureischen Philosophen Lucretius, die sie dann gemeinsam studieren. An dieser Stelle erfährt man auch, dass Gerold ein paar Jahre in der Palastschule in Aachen verbracht hat. Außerdem wird erwähnt, dass Johanna sich besonders über diese Schrift freut, weil sie an der Domschule keinen Zugang zu heidnischen Werken hat: „Odo gestattete ihr keinerlei Zugang zu den großen klassischen Werken, die in der Dombibliothek aufbewahrt wurden; Johanna durfte lediglich die geistlichen Schriften studieren – die einzigen Texte, die für ihren ‚schwachen und leicht zu beeindruckenden weiblichen Verstand geeignet’ seien, wie Odo sich ausdrückte.“ (S. 144) Ich dachte, Odo sollte ein christlicher Fanatiker sein? Wieso genau hält er die christlichen Texte nun für minderwertig und anspruchslos? Gut, man könnte diese Formulierung auch so interpretieren, dass Odo meint, Johanna würde durch heidnische Texte nur fehlgeleitet werden, weil sie das Wahre und das Falsche darin nicht unterscheiden könnte.

Aber weiter mit Lucretius. Es ist interessant, dass die Autorin ausgerechnet ihn ausgewählt hat; er ist tatsächlich einer der sehr wenigen unter den antiken Intellektuellen, den man mehr oder weniger als Atheisten bezeichnen kann. Er war der Ansicht, dass die Götter die menschliche Welt nicht beeinflussen, dass die Seele sterblich sei und dass der Mensch sich somit nicht vor den Göttern und dem, was nach dem Tod kommt, fürchten sollte. Außerdem vertrat er die Atomlehre des Demokrit. De rerum natura ist eher ein philosophisches als ein naturwissenschaftliches Werk (Naturwissenschaft im strengen Sinn gab es in der Antike sowieso nicht), aber gerade im 6. Band widmet Lucretius sich auch ausführlich bestimmten Naturphänomenen: Zum Beispiel erklärt er, dass Blitze dadurch entstünden, dass Wolken Feueratome enthielten, die vom Wind herausgepresst würden (oder so ähnlich). Johanna ist ganz begeistert von dem Werk: „Um die Wahrheit zu entdecken, hatte Lukretius an einer Stelle geschrieben, müsse man lediglich die Welt der Natur beobachten. Dieser Gedanke war zu Lukretius’ Zeiten vollkommen vernünftig gewesen, doch Anno Domini 827 war er ungewöhnlich, ja, sogar revolutionär.“ (S. 146) Nun ja. In der Antike gab es zwar Naturbeobachtung und Naturphilosophie, aber keine Naturwissenschaft im modernen Sinne mit wiederholten, falsifizierbaren Experimenten (die einzige wirkliche, auf genauen Beobachtungen beruhende Naturwissenschaft war höchstens die Astronomie, die auch im Mittelalter weiterbetrieben wurde) und auch im Mittelalter betrachtete man weiterhin die Natur und erwartete übrigens auch, darin etwas von Gottes Wesen zu sehen. Tatsächlich bildete der christliche Monotheismus eine wesentlich bessere Grundlage für Naturwissenschaft als der heidnische Polytheismus: Während Griechen und Römer in Gewässern, Blitzen oder Vulkanen direkte Manifestationen einzelner Götter sahen (die somit nicht so einfach vorsehbar oder für Menschen verständlich waren), sah man diese im Christentum alle bloß als Schöpfung des einen Gottes, die dieser auch mit Regeln versehen hatte. Nun glaube Lucretius, wie gesagt, nicht an solche Götter; aber er war ein Ausnahmefall; und solcher Quasi-Atheismus war in der Antike sehr schief angesehen.

File:God the Geometer.jpg

(Deus Geometres, Buchmalerei aus dem 13. Jahrhundert. Gott wird hier mit einem Zirkel als eine Art Architekt des Universums dargestellt, der es nach mathematischen Prinzipien aufbaut. Quelle: Wikimedia Commons.)

Johanna bieten sich dann auch Gelegenheiten, ihre neue naturwissenschaftliche Einstellung – Wahrheit entdeckt man durch genaue Beobachtung und Vernunftschlüsse, nicht durch Offenbarung oder bestimmte Autoritäten oder Legenden – in der Praxis zu testen: So fängt Gerold die im letzten Teil erwähnte weiße Wölfin und sie beide stellen fest, dass ihre Jungen entgegen der Legende lebend geboren werden. Gerold tötet später die aggressive Wölfin, aber eins der Jungen bleibt auf Villaris und wird zu Ehren des Lucretius Lukas genannt, was wieder mal Unsinn ist. Die Kurzform von „Lucretius“ ist „Lukrez“; der Name „Lukas“ ist nicht damit verwandt. Etwas später reisen die Bewohner von Villaris nach St. Denis zu einem großen Jahrmarkt; und dort entdeckt Johanna nach genauer Beobachtung, dass ein Reliquienhändler, der ihr ein Fläschchen mit ein paar Tropfen Milch von der Muttergottes anpreist, ihr in Wirklichkeit Ziegenmilch andrehen will, die noch warm ist vom Melken.

Dann kommt eine wirklich interessante Stelle. Gerolds Tochter Gisla und Johanna gehen gemeinsam auf dem Markt umher und stoßen auf die Bude einer Wahrsagerin, und Gisla bezahlt diese dafür, dass sie ihnen beiden aus der Hand liest. Gisla wird vorausgesagt, dass sie (die ganz aufgeregt wegen ihrer Verlobung ist und auf dem Markt Stoff für ihr Hochzeitskleid gekauft hat) zwar Ehefrau, aber niemals Mutter werden würde, und dass ihr in ihrem Leben Schmerzen, Angst und Verzweiflung bevorstünden. Die Weissagung für Johanna lautet folgendermaßen: „Du bist, was du nicht sein wirst, Wechselbalg; was du werden wirst ist anders, als du bist. […] Du strebst nach dem Verbotenen. […] Du wirst nicht enttäuscht. Macht und Größe werden dein – viel mehr, als du’s dir erträumen kannst. Doch auch Schmerz und Kummer werden dir zuteil – schlimmer, als du’s dir vorzustellen vermagst.“ (S. 175) Johanna versucht zwar hinterher, die entsetzte Gisla damit zu trösten, dass es sowieso nicht stimme, was Wahrsager prophezeien, aber „ein Teil von ihr wollte an Balthilds wahrsagerische Kräfte glauben“ (S. 176), und vor allem gehen diese Weissagungen tatsächlich in Erfüllung. Mit anderen Worten, eine Autorin, die gerade noch ganz begeistert von der Wissenschaft war und die christliche Religion verachtet hat, stellt hier Aberglauben als glaubwürdig und effektiv dar. Was soll man dazu sagen? Vielleicht war es zu erwarten. Dass sie sich für besonders aufgeklärt halten, hält Leute ja auch nicht davon ab, ihr Horoskop zu lesen, homöopathische Medizin zu nehmen oder sich Heilkristalle in die Wohnung zu stellen. Wie Chesterton einmal gesagt hat: Wenn die Leute nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern an alles mögliche.

Gisla wird nicht lange darauf mit ihrem Grafen Hugo verheiratet, und an dieser Stelle schwört Johanna sich, dass sie niemals heiraten wird. „Doch in Johannas Augen war es unverständlich, ja, unglaublich, daß Mädchen in ihrem Alter [sie ist dreizehneinhalb, Gisla vierzehn] so versessen aufs Heiraten waren; denn mit der Ehe ging eine Frau eine unauflösliche Bindung ein, die sie von einem Tag auf den anderen praktisch zur Leibeigenen machte. Ein Ehemann hatte die vollkommene Herrschaftsgewalt über seine Frau und ihre Kinder, ihren Besitz, ja, ihr Leben.“ (S. 178) Das ist falsch. In der römischen Antike hatte der paterfamilias das Recht über Leben und Tod von Frau, Kindern und Sklaven; mit dem Christentum wurde das abgeschafft (ja, auch in Bezug auf Kinder und Sklaven). Und kann Johanna es denn wirklich nicht verstehen, wenn jemand sein Leben mit einem Partner verbringen will? Würde sie denn genauso denken, wenn Gerold nicht verheiratet wäre?

Bischof Fulgentius hält die Hochzeitsmesse ab, und auch hier fallen wieder die Anachronismen auf: Im Frühmittelalter fanden Eheschließungen nicht im Rahmen einer Messe statt, sie mussten nicht einmal in der Kirche stattfinden; erst im Hochmittelalter schrieb die Kirche die Anwesenheit eines Klerikers und zweier Zeugen beim Eheversprechen vor, damit alles klar dokumentiert werden konnte und damit sichergestellt war, dass es sich um keine Zwangsehe handelte oder andere Ehehindernisse (zu nahe Verwandtschaft, frühere Ehe eines Partners, früheres Keuschheitsgelübde eines Partners, o. Ä.) bestanden. Dabei wurde meistens an der Kirchenpforte geheiratet, nicht vor dem Altar.

Als die lateinische Zeremonie vorbei ist, spricht Fulgentius noch einen deutschen Hochzeitssegen, den ich hier einfach mal in Auszügen dokumentieren muss, weil er so herrlich bescheuert und absurd ist. „Möge sie [die Braut] das Verhalten eines Hundes annehmen, der sein Herz und sein Auge stets bei seinem Herrn hat; und selbst wenn sein Herr ihn schlägt oder mit Steinen nach ihm wirft, folgt der Hund ihm nach und wackelt freudig mit dem Schwanze. […] Möge er [der Bräutigam] seiner Frau ein gerechter Herr sein und ihr nie eine härtere Strafe zukommen lassen, als ihr zusteht.“ (S. 179) Wo nimmt die Autorin nur ihre Ideen her?

Kurz nach Gislas Hochzeit geht es dann mit Johannas und Gerolds „Liebesgeschichte“ weiter. Sie sind einmal zusammen im Wald bei Villaris und küssen sich dort. Groß inszenierte Romantik, blablabla. Gerold will dann, anders als die leidenschaftlich verliebte Johanna, jedoch nicht weitergehen: „Was möchtest du denn, Johanna? Daß ich dich zu meiner Geliebten mache? Ich würde dich hier und jetzt lieben, wenn ich wüßte, daß es dich glücklich macht… und daß es dir Glück bringt. Aber es würde deinen Untergang heraufbeschwören. Siehst du das denn nicht?“ (S. 185)

Dummerweise hat Odo die beiden gesehen und erzählt Gerolds Frau Richild davon. Als Gerold kurz darauf auf Reisen geht, um als kaiserlicher Gesandter Rechtsstreitigkeiten in einem anderen Teil des Landes zu klären (er hat diesen Auftrag auch angenommen, um eine Weile von Johanna fort zu sein), schmiedet Richild einen Plan, um Johanna loszuwerden: Sie will sie mit dem Sohn des Hufschmieds von Dorstadt verheiraten. Sie spricht mit Fulgentius darüber, dass er sie von der Schule nehmen soll; als der zunächst warten will, was Gerold dazu sagt, und Johannas Einwilligung einholen will, droht Richild ihm, seinen lockeren Umgang mit dem Zölibat ihrem Vetter, dem Bischof von Utrecht, zu melden, der sich dieses Themas auf einer geplanten Synode in Aachen annehmen will. Fulgentius gibt nach.

Schließlich teilt Richild Johanna die Pläne für die Heirat mit – und stellt sie als Gerolds eigene Idee dar: „Gerold ist zu weichherzig. Das war immer schon sein Fehler. Er brachte es nicht über sich, es dir zu sagen. Ich habe so etwas schon des öfteren erlebt… mit deinen Vorgängerinnen. Jedesmal hat Gerold mich gebeten, die Sache in die Hand zu nehmen. Und das habe ich auch in deinem Fall getan.“ (S. 194) Sie räumt offen ein, dass sie Gerold nicht liebt, als Johanna ihr dies vorwirft, stellt aber klar, dass sie vor allem nicht von „der nichtsnutzigen Tochter eines colonus“ (S. 194) beschämt werden möchte. (Die coloni waren halbfreie Bauern.) Interessant ist hier vielleicht, dass Johanna, obwohl sie sich, als ihr ihre „Liebe“ zum ersten Mal klar geworden ist, gesagt hat, dass sie sich nicht in Gerold verlieben dürfe, weder bei dem Kuss noch bei der Szene mit Richild ein schlechtes Gewissen gegenüber Gerolds Frau zu haben scheint.

Johanna will Richild nicht glauben, dass die Heirat Gerolds Plan sei. Verzweifelt versucht sie, nach einer Prozession in Dorstadt Fulgentius abzufangen, um das Ganze noch zu verhindern; der sagt ihr jedoch nur, er könne ihr nicht helfen, aber ihr Bräutigam sei „ein netter und stattlicher Bursche“ (S. 197). Die Autorin beschreibt ihn hier folgendermaßen: „Fulgentius war ein Mann mit vielen Fehlern und Schwächen, doch hartherzig war er nicht. Der Ausdruck seiner Augen wurde weich, als Mitleid in ihm aufkeimte.“ (S. 197) Sorry, aber einem Mädchen, das zwangsverheiratet werden soll, kann es gleichgültig sein, ob die, die es zur Ehe zwingen wollen, das ungern tun und dabei Mitleid empfinden. Als Johanna bei der Prozession auch ihren Bruder trifft, ist er wütend auf sie, weil er, der nur wegen seiner Schwester auf der Domschule bleiben durfte, diese jetzt verlassen soll. „Ich soll ins Kloster nach Fulda gehen! Vater hat dem Bischof die entsprechende Bitte geschickt, als wir hierher an die Domschule kamen. Falls ich auf der scola versage, sollte ich ins Kloster zu Fulda geschickt werden!“ Und ins Kloster will Johannes definitiv nicht. Er schleudert seiner Schwester noch ein „Ich… ich wünschte, du wärst nie geboren!“ (S. 199) entgegen, bevor er davonrennt. Statt verständlicherweise wütend zu sein, ist Johanna nur „[n]iedergeschlagen“ (S. 199).

Sie plant dann, in der Nacht wegzulaufen, aber Richild mischt ihr ein Schlafmittel in ein Getränk, das sie außer Gefecht setzt; außerdem vergiftet sie den Wolf Lukas, den Johanna hatte mitnehmen wollen. Am nächsten Morgen wird Johanna also nach Dorstadt gebracht, um verheiratet zu werden. Dort sieht sie auch zum ersten Mal ihren Bräutigam Iso: „Vorn in der Menge erblickte Johanna einen hochgewachsenen, rotgesichtigen, starkknochigen Jungen, der verlegen neben seinen Eltern stand. Der Sohn des Hufschmieds. Johanna erkannte seinen mißmutigen Gesichtsausdruck und sah, daß der Junge niedergeschlagen den Kopf gesenkt hielt.“ (S. 206) Das ist ja eine der Stellen, an denen ich mir gerne ausmale, wie der Roman auf andere Weise weitergehen könnte. Eine schöne Möglichkeit wäre, dass Iso sich bei der Zeremonie lautstark weigert, sie zu heiraten – immerhin hat Richild in ihrem Gespräch mit Fulgentius erwähnt, dass Iso zwar ein Auge auf ein Mädchen aus dem Ort geworfen habe, aber sie seinem Vater eine hohe Mitgift für Johanna angeboten habe (s. S. 188). Isos Eltern lenken ein, Iso heiratet seine Liebste, die wütende Richild wirft Johanna aus dem Haus, Fulgentius nimmt sie übergangsweise heimlich bei sich auf, um wiedergutzumachen, dass er sich von Richild hat erpressen lassen, und schickt sie dann an den Hof seines Bruders, eines Adeligen aus Westfalen. Johanna verliebt sich in dessen Sohn und verschwendet keinen Gedanken mehr an Gerold; ihr Liebster darf sie heiraten, weil Fulgentius ihr eine Mitgift stiftet; und sie lebt glücklich bis an ihr Lebensende. Oder so.

Leider hat Donna W. Cross ein anderes Schicksal für alle Beteiligten in petto als mir lieb wäre. Noch während der Festtagsmesse (es ist das Fest der ersten Märtyrer Roms), die vor der geplanten Hochzeitsmesse stattfindet, dringen Normannen in die Kirche ein, schlachten alle dort ab und plündern das Kirchengerät. (Kurze Kritik hier: Die Normannen hatten keine Hörner an den Helmen, wie hier dargestellt. Das wäre auch sehr unpraktisch gewesen, hätte doch ein Gegner im Kampf danach greifen können und ihnen den Helm vom Kopf ziehen können. Gehörnte Helme sind eine Legende aus dem 19. Jahrhundert.)

File:Wikingerhelm (02).jpg

(So sah ein realer Wikingerhelm aus (Nachbildung). Quelle: Wikimedia Commons.)

Johanna kann sich während des Kampfes hinter einem Altaraufsatz verstecken – aber Johannes, Fulgentius, Odo, Richild, Dhuoda, Iso, und so gut wie alle anderen in der Kirche werden getötet. Gisla, die zu Johannas Hochzeit nach Dorstadt gekommen ist, überlebt, wird aber von den Normannen vergewaltigt und weggeschleppt.

Als die Normannen alles geplündert haben und wieder verschwunden sind, überlegt sich Johanna kurz, in Dorstadt zu warten, bis Gerold zurückkehrt; aber dann fürchtet sie, dass auch die Normannen noch einmal wiederkehren könnten und sie dasselbe Schicksal treffen könnte wie Gisla: „Sie hatte erlebt, dass eine schutzlose Frau keine Gnade von ihnen erwarten durfte.“ (S. 216) Schließlich nimmt sie die Kleider ihres toten Bruders, schneidet sich die Haare ab und macht sich als Junge verkleidet auf den Weg zum Kloster von Fulda.

Dann wechselt die Perspektive zu Gerold. Der Leser wird zunächst mit ein paar frühmittelalterlichen Gerichtsbräuchen unterhalten – Schwören auf Reliquien, ein Gottesurteil, das Zahlen von wergeld als Entschädigung für Mord. Auf dem Heimweg von seiner Mission denkt Gerold dann an Johanna, und an seine Frau Richild:

„Ihre Hochzeit war nichts anderes als das sorgsam ausgehandelte Geschäft zweier einflußreicher Familien gewesen, eine Ehe zwischen Geld und Macht. So war es nun mal üblich, und bis vor kurzem hatte zumindest Gerold auch nicht mehr verlangt. Als Richild nach Dhuodas Geburt erklärt hatte, keine Kinder mehr zu wollen, hatte er diesen Wunsch akzeptiert – ohne das Gefühl, irgend etwas Wertvolles unwiederbringlich verloren zu haben. Es war für Gerold nicht schwierig gewesen, willige Gefährtinnen zu finden, mit denen er seine sexuelle Lust auch außerhalb des Ehebetts befriedigen konnte.

Jetzt aber hatte sich das alles verändert. Wegen Johanna. Er stellte sie sich vor: ihr dichtes, weißgoldenes Haar, das ihr Gesicht umrahmte; ihre klugen, wissenden graugrünen Augen, die ihr wahres Alter Lügen straften. Die Sehnsucht nach ihr, die noch stärker war als sein Begehren, ließ ihm das Herz in der Brust schmerzen. Einen Menschen wie Johanna hatte er nie zuvor gekannt. Ihr scharfer Verstand faszinierte ihn, und ihre Bereitschaft, Gedanken und Ideen in Frage zu stellen, die andere Menschen als selbstverständliche und unerschütterliche Wahrheiten betrachteten, erfüllte ihn beinahe mit Ehrfurcht. Mit Johanna konnte er reden wie mit niemandem sonst. Ihr konnte er alles anvertrauen, sogar sein Leben.

Es wäre ihm ein leichtes gewesen, sie zu seiner Geliebten zu machen – ihre letzte Begegnung am Flußufer hatte keine Zweifel daran gelassen. Untypischerweise hatte er seinem Verlangen nicht nachgegeben. Er wollte mehr als die bloße körperliche Vereinigung. Was dieses ‚mehr’ war, hatte er damals nicht gewußt.

Jetzt wußte er es.

Ich möchte, daß sie meine Frau wird.

Es würde schwierig sein – und zweifellos kostspielig –, sich von Richild zu trennen; aber das spielte keine Rolle für ihn.

Johanna soll meine Frau werden, wenn sie mich haben möchte.“ (S. 230f.)

Irgendwie gibt dieser Teil des Buches viel mehr Sinn, wenn man davon ausgeht, dass er eine Fantasie ist, die Donna W. Cross schon als einsame Siebtklässlerin aufgeschrieben hat, die unsterblich in ihren Volleyballtrainer oder Englischlehrer verliebt war. Er liebt mich bestimmt auch! Und seine Frau liebt ihn bestimmt gar nicht! Er wird mich lieben, wenn er erst einmal sieht, wie erwachsen ich schon bin. Oder wenn der Volleyballtrainer oder Englischlehrer ein Faible für junge Mädchen hatte und tatsächlich eine Beziehung zu ihr wollte, sahen die Gedanken vielleicht auch so aus: Es ist eine wirkliche Liebe! Er hat mir versprochen, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, das tut er bestimmt noch. Andere Leute würden das nicht verstehen, aber er liebt mich wirklich. (Liebe verliebte Siebtklässlerinnen: Ein normaler erwachsener Mann interessiert sich für erwachsene Frauen, die sich im selben Lebensabschnitt befinden wie er und für eine ernsthafte Beziehung bereit sind. Wenn ein erwachsener Mann sich für junge Mädchen interessiert, die gerade erst ihre erste Periode bekommen haben, dann nicht wegen ihrer besonderen Persönlichkeit.) Ehrlich gesagt finde ich es doch ein bisschen bescheuert, wie oft in Romanen Beziehungen zwischen sehr jungen Mädchen und deutlich älteren Männern inszeniert und idealisiert werden: Johanna und Gerold hier, Daenerys und Khal Drogo in „Game of Thrones“; Raphaela und Hernando in „Die Pfeiler des Glaubens“… um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Was wäre sonst noch an diesem Abschnitt auffällig? Da wäre zum einen die Kaltschnäuzigkeit, mit der Gerold an seine früheren Geliebten denkt. Wer waren diese Frauen? Prostituierte? Bauernmädchen von seinem Land oder Bedienstete auf seinem Gut, die gegenüber dem Markgrafen nicht Nein zu sagen wagten? Was war mit denen, wenn eine zum Beispiel ein uneheliches Kind von ihm bekam oder seine Frau ihre Beziehung zu ihm entdeckte? Wieso zählten sie weniger als Johanna?

Dann wäre da das Thema Scheidung. Tatsächlich konnte die kirchliche Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe, soweit ich weiß, im Frühmittelalter noch nicht so streng durchgesetzt werden wie später; aber ein paar Probleme mit der Kirche hätten Gerold wohl doch erwartet. Immerhin legte Papst Nikolaus I. (Papst von 858 bis 867) sich nur wenige Jahrzehnte später mit dem fränkischen König Lothar II. an, der sich scheiden lassen und seine Mätresse heiraten wollte, und gab nicht einmal nach, als Lothar Rom belagern ließ. Aber gut; Gerold denkt sich ja selbst, dass eine Scheidung „schwierig“ werden wird.

Jedenfalls wird aus Gerolds Plänen nichts. Als er heimkehrt, ist Villaris niedergebrannt und seine Frau und seine jüngere Tochter liegen tot zwischen den Leichenbergen in der geplünderten Kathedrale von Dorstadt.

Als er dort die Kathedrale noch nach Johanna durchsucht, melden ihm seine Männer, dass an der Küste Normannen gesichtet wurden und er reitet sofort mit ihnen hin. Das ist wieder mal Unsinn: Dorstadt liegt etwa 250 km von der Nordsee und ebenso weit von der Ostsee entfernt, da ist man nicht nach einem kurzen Ritt.

Sie kommen gerade zur Küste, als die Normannen dabei sind, an Bord ihres Schiffes zu gehen. Es gibt einen kurzen Kampf; aber die Normannen fliehen rasch auf das Schiff und legen ab. Als sie davonfahren, sieht der entsetzte Gerold seine Tochter Gisla an Bord, von der er gar nicht wusste, dass sie bei dem Überfall in der Kathedrale war (er hätte sie in ihrem neuen Zuhause bei ihrem Mann vermutet). Das Schiff der Normannen entfernt sich rasch, und die Franken besitzen keine eigenen Schiffe, um sie zu verfolgen. Gerold vermutet nun, dass auch Johanna, deren Leiche nicht in der Kathedrale lag, schon unter Deck war.

Ich hasse diese Wendung mit den Normannen, muss ich sagen. Und wenn man im Lauf des Buches nichts mehr weiter von Gisla erfährt, bin ich echt sauer.

Aber jetzt mache ich erst einmal einen Punkt. Beim nächsten Mal geht es einige Jahre später weiter…

8 Gedanken zu “Die Päpstin, Teil 3: „Liebe“, Naturwissenschaft und Aberglaube

  1. Ach ja: ein Fest der ersten Märtyrer Roms, das im Bistum Mainz gefeiert wurde, vor 1969? Und dann als „Festtagsmesse“, also, wie man assoziiert, mit ganz großem Brimbamborium?

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    1. Ja, genau. „Es war das Fest der ersten Märtyrer der Stadt Rom, ein hoher kirchlicher Feiertag; außerdem fand Johannas Hochzeitsgottesdienst statt, und die ganze Stadt hatte sich zu diesen beiden Anlässen versammelt.“ (S. 206)

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    2. Auch daß an einem hohen Festtag eine Hochzeit stattfindet, ist – komisch. Das war am Sonntag mehr oder weniger verboten (zumindest durfte man da unter keinen Umständen eine Brautmesse feiern); zugegeben, bei den anderen Feiertagen weiß ich das nicht. (Noch heute wird in der Regel am Samstag geheiratet.)

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  2. Zur Erholung der *echte* Brautsegen von allerdings 1570:

    (nach dem Embolismus): L.u.b. – Herr, höre gnädig unsere Betten und steh gütig dieser Institution bei: auf daß das, dessen Urheber Du warst, auch mit Deiner Hilfe bewahrt werden möge. D. u. H.

    L.u.b. – Gott,
    – der Du durch die Kraft Deiner Macht alles aus Nichts geschaffen hast;
    – der Du zur Ordnung der Anfänge der gesamten Menschheit dem Menschen, der nach Gottes Ebenbild gemacht war, daher die untrennliche Hilfe der Frau gewährtest, indem Du dem weiblichen Körper aus männlichem Urgrund erbautest,
    – der Du deswegen auch lehrtest, daß das, was aus einem Fleische begründet worden zu sein gefallen hat, auch von niemandem entzweit werden dürfe,
    Gott,
    – der Du das Eheband in so hervorragend geheimnisvoller Weise geweiht hast, daß Du damit es als Sakrament Christus und die Kirche darstellen läßt im Bund der himmlischen Hochzeit,
    Gott,
    – durch den die Frau dem Manne verbunden, und die Gesellschaft von Grund auf geordnet und mit jenem Segen beschänkt wird, der als einziger auch weder von der Strafe für die Ursünde noch vom Urteil, das die Sintflut verhängte, hinweggenommen ward,
    sieh gnädig herab auf diese Deine Tochter, die sich heute ausbittet, daß die eheliche Gemeinschaft, die sich jetzt verbittet, mit Deinem Schutze beschützt werde.
    Es sei in ihr das Joch der Freude und des Friedens;
    gläubig heirate sie und keusch in Christus, eine würdige Nachahmerin der heiligen Frauen verbleibe sie:
    Sie sei ihrem Manne liebenswert wie Rahel.
    Sie sei weise wie Rebekka.
    Sie habe ein langes und treues Leben wie Sarah.
    Nichts in ihr und von ihren Taten eigne sich jener Urheber der Pflichtverletzung an.
    Verbunden bleibe sie fortwährend dem Glauben und den Geboten.
    In dem einen Ehebette verbunten, fliehe sie die unerlaubte Berührung.
    Sie sei ernsthaft in der Wahrhaftigkeit, ehrwürdig in der Schamhaftigkeit, gebildet in den himmlischen Lehren, fruchtbar in der Nachkommenschaft, trefflich und unschuldig.
    Und zur Ruhe der Seligen und zum Reiche des Himmels gelange sie!
    Und beide mögen sehen ihre Kinder und Kindeskinder bis in die dritte und vierte Generation, und bis ins hohe Alter leben, das sie sich wünschen. D. dens. u. H.

    Nach der Messe:

    Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs sei mit euch, und Er selbst gieße aus Seinen Segen auf euch: daß ihr eure Kinder und Kindeskinder seht bis in die dritte und vierte Generation, und hernach das ewige Leben habet ohne Ende: durch die Hilfe unseres Herrn Jesus Christus, der mit Gott dem Vater […] von Ew. zu Ew. Amen.

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