Die praktische moraltheologische Bildung der Katholiken muss dringend aufgebessert werden – ich hoffe, da werden meine Leser mir zustimmen. Und ich meine hier schon auch ernsthafte Katholiken. In gewissen frommen Kreisen wird man heutzutage ja, wenn man Fragen hat wie „Muss ich heute Abend noch mal zur Sonntagsmesse gehen, wenn ich aus Nachlässigkeit heute Morgen deutlich zu spät zur Messe gekommen bin?“ oder „Darf ich als Putzfrau oder Verwaltungskraft in einem Krankenhaus arbeiten, das Abtreibungen durchführt?“ oder „Wie genau muss ich eigentlich bei der Beichte sein?“ mit einem „sei kein gesetzlicher Erbsenzähler!“ abgebügelt. Und das ist nicht hilfreich. Gar nicht. Weil das ernsthafte Gewissensfragen sind, mit denen manche Leute sich wirklich herumquälen können. Und andere Leute fallen ohne klare Antworten in einen falschen Laxismus, weil sie keine Lust haben, sich ewig mit diesen Unklarheiten herumzuquälen und meinen, Gott werde es eh nicht so genau nehmen, und wieder andere in einen falschen Tutiorismus, wobei sie meinen, die strengste Möglichkeit wäre immer die einzig erlaubte.
Auf diese Fragen kann man sehr wohl die allgemeinen moraltheologischen Prinzipien – die alle auf das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe zurückgehen – anwenden und damit zu einer konkreten Antwort kommen. Man muss es sich nicht schwerer machen, als es ist. Und nochmal für alle Idealisten: „Das und das ist nicht verpflichtend“ heißt nicht, dass man das und das nicht tun darf oder es nicht mehr empfehlenswert oder löblich sein kann, es zu tun. Es heißt nur, dass die Kirche (z. B. in Gestalt des Beichtvaters) nicht von allen Katholiken verlangen kann, es zu tun.
Zu alldem verweise ich einfach mal noch auf einen meiner älteren Artikel. Weiter werde ich mich gegen den Vorwurf der Gesetzlichkeit hier nicht verteidigen.
Jedenfalls, ich musste öfters lange herumsuchen, bis ich zu meinen Einzelfragen Antworten gefunden habe, und deshalb dachte mir, es wäre schön, wenn heute mal wieder etwas mehr praktische Moraltheologie und Kasuistik betrieben/kommuniziert werden würde; aber manches, was man gerne hätte, muss man eben selber machen, also will ich in dieser Reihe solche Einzelfragen angehen, so gut ich kann, was hoffentlich für andere hilfreich ist. Wenn ich bei meinen Schlussfolgerungen Dinge übersehe, möge man mich bitte in den Kommentaren darauf hinweisen. Nachfragen sind auch herzlich willkommen.
Wer nur knappe & begründungslose Aufzählungen von christlichen Pflichten und möglichen Sünden sucht, dem seien diese beiden Beichtspiegel empfohlen. (Bzgl. dem englischen Beichtspiegel: Wenn hier davon die Rede ist, andere zu kritisieren, ist natürlich ungerechte, verletzende Kritik gemeint, nicht jede Art Kritik, und bei Ironie/Sarkasmus ist auch verletzende Ironie/Sarkasmus gemeint.)
(Der hl. Alfons von Liguori (1696-1787), der bedeutendste kath. Moraltheologe des 18. Jahrhunderts. Gemeinfrei.)
Alle Teile hier.
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[Updates zu diesem Artikel weiter unten.]
Bevor ich zu den Einzelfragen komme, erst einmal zu den Prinzipien. Heute zu einer sehr grundsätzlichen Frage: Das Ergebnis, wenn man mit allgemeinen moralischen Prinzipien an einen konkreten Fall herangeht, kann sein: „Es ist klar: Du musst das und das tun / darfst das und das nicht tun.“ Oder: „Es ist klar: Du kannst frei zwischen den und den Möglichkeiten wählen.“ Aber es kann auch mal sein: „Das ist ein Grenzfall; es ist nicht ganz klar, was deine Pflicht ist, am wahrscheinlichsten ist es so, aber andere würden vielleicht sagen, es wäre so, wahrscheinlich wäre auch noch diese dritte Möglichkeit erlaubt, diese vierte hier wohl eher nicht.“ Diese Fälle sind immer die schwierigsten. Und hier kommen die sog. Klugheitsregeln und die sog. Moralsysteme ins Spiel.
1) Es gibt Fälle, in denen es klar ist, dass man ein Ziel anstreben oder ein Gesetz erfüllen muss, und nur die Mittel sind zweifelhaft. In diesen Fällen muss man ein einigermaßen sicheres Mittel nehmen. (Z. B.: ich bin sicher verpflichtet, zu einem Termin um 17:00 Uhr zu kommen. Um 16:00 Uhr fährt sicher ein Bus, und um 16:30 Uhr fährt vielleicht auch noch ein Bus. Natürlich muss ich den Bus um 16:00 Uhr nehmen, um sicher hin zu kommen, und kann nicht auf gut Glück um 16:30 Uhr an der Haltestelle erscheinen, weil vielleicht ja noch ein Bus kommt. Natürlich kann man nicht jeden noch so geringen Zweifel ausschließen; es kann immer sein, dass der Bus um 16:00 wegen eines Unfalls nicht kommt.)
2) Aber es gibt auch Fälle, in denen es zweifelhaft ist, ob ein Gesetz überhaupt existiert oder auf einen bestimmten Fall anzuwenden ist. Grundsätzlich gilt dann die Regel „ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht“ (lex dubia non obligat).
Aber was heißt das jetzt für die Praxis? Wann ist ein Gesetz zweifelhaft? Sagen wir, mir geht es nicht so gut und ich bin mir nicht sicher, ob die Sonntagspflicht (das Gebot, sonntags eine Messe zu besuchen) für mich noch gilt oder ich auch zuhause bleiben kann. Wonach entscheide ich?
Im 17. und 18. Jahrhundert war das ein ziemlicher Streitpunkt unter den Theologen. Sie entwickelten dabei die folgenden sog. Moralsysteme:
Der Tutiorismus (von „tutior“, lateinisch für „sicherer“) wäre die Ansicht, man müsste immer die strengste, die sicherste, die beste aller Möglichkeiten wählen. Die Tutioristen erkannten das Prinzip lex dubia non obligat eigentlich gar nicht erst an. Du bist dir nicht völlig sicher, ob du krank genug bist, um von der Messe daheim zu bleiben? Dann geh zur Messe. Du weißt nicht hundertprozentig, ob du bei deinem Job vielleicht in Gewissenskonflikte gerätst? Dann kündige. Man muss das Gebot immer befolgen, auch wenn sehr starke Gründe gegen seine Geltung in einem bestimmten Fall sprechen. Diese Ansicht billigt die Kirche nicht. Das macht ja auch Sinn: Sie ist letztlich nicht lebbar. Bei jeder noch so kleinen Unsicherheit gäbe es keinen Spielraum mehr. Und so würden auch viele falsche Entscheidungen getroffen werden – weil manche Leute sich z. B. auch bei Krankheiten, bei denen sie wirklich im Bett bleiben sollten, nicht völlig sicher wären, ob sie es nicht doch in die Kirche schaffen könnten. Einer vernünftigen Abwägung kann man nicht entgehen, indem man immer nach der einen Seite steuert. So landet man nur im Graben. Als die Jansenisten verurteilt wurden, wurde in einem Dekret von 1690 u. a. der Satz „Es ist nicht erlaubt, einer [wahrscheinlichen] Meinung oder unter wahrscheinlichen der wahrscheinlichsten zu folgen“ verurteilt.
Dann gäbe es den Probabilismus, von „probabilis“, „wahrscheinlich“. Wenn wahrscheinliche Gründe gegen die Geltung eines Gebots in meinem Fall sprechen, ist es nicht bindend. Neben dem reinen Probabilismus gibt es noch ein paar Unterformen. Da ist der Probabiliorismus (probabilior = wahrscheinlicher), nach dem die Gründe, die gegen die Geltung sprechen, zumindest wahrscheinlicher sein müssen als die Gründe dafür. Dann der Äquiprobabilismus, nach dem die Gründe dagegen zumindest genauso groß sein müssen wie die Gründe dafür. Nach dem Kompensationssystem kann es auch einmal sein, dass gute Gründe gegen die Verpflichtung sprechen, die aber weniger gewichtig sind als die, die dafür sprechen, und dass man trotzdem nicht verpflichtet ist, weil gewichtige praktische Gründe dagegen sprechen, d. h. es sehr schwer durchführbar ist. (Extremes Beispiel: Ich bin mir nicht sicher, ob ich xyz nach dem göttlichen Gesetz tun muss, es gibt ganz gute Gründe dagegen, aber noch bessere Gründe dafür – aber wenn ich es tue, steckt mich der ungerechte Staat, in dem ich lebe, für zwanzig Jahre ins Arbeitslager. Ergo: nach dem Kompensationssystem nicht verpflichtend.) Die probabilistischen Moralsysteme werden von der Kirche gebilligt.
Der Laxismus wäre die Ansicht, man dürfte frei zwischen allen Möglichkeiten wählen, die nicht ganz und gar absolut sicher verboten sind. Für als laxistisch bezeichnete Theologen war ein Gesetz schon dann zweifelhaft, wenn nur sehr schwache Gründe gegen seine Geltung sprachen – mit anderen Worten, für sie hätte man auch mit einem leichten Schnupfen von der Kirche daheim bleiben können. Wie die etwas abfällige Bezeichnung schon nahelegt, ist das eine Ansicht, die die Kirche nicht so ganz billigt; verschiedene laxistische Sätze wurden von Rom als „zumindest ärgerniserregend und in der Praxis verderblich“ verurteilt.
Bei Skrupulanten (also Leuten mit einer religiösen Zwangsstörung) im Speziellen ist es allerdings etwas komplizierter: Weil die dazu neigen, alles stundenlang hin und her zu wälzen und immer auf Nummer sicher gehen wollen und Angst haben, sich bei einem zweifelhaften Gebot nicht als gebunden zu betrachten, auch wenn die Gründe dafür eigentlich wahrscheinlich wären, weil man sich bei der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit ja irren könnte, was ja vielleicht davon kommen könnte, dass man unterbewusst Gott nicht gehorchen will, usw. usf., dürfen die sich in der Praxis nach einem etwas mehr laxistischen Prinzip verhalten, jedenfalls in den Bereichen, die ihre Skrupulosität betrifft. Wenn man dazu neigt, immer in die eine Richtung zu steuern, muss man jetzt erst einmal mehr in die andere Richtung steuern, um das zu korrigieren. Weil Skrupulanten die Geltung eines Gebots in ihrem Einzelfall oft erst dann anzweifeln, wenn es wirklich wahrscheinliche Gründe dagegen gibt, und weil es für sie sowieso erst einmal wichtig ist, ihre ungesunde Angst abzulegen, sollen sie sich erst dann gebunden sehen, wenn sie sich wirklich sicher sind.
Soweit zu den Prinzipien. Und nicht vergessen: Wenn man sich in der Beurteilung eines konkreten Falls mal geirrt hat, dann ist das nicht so schlimm. Gott rechnet einem nichts an, was man im guten Glauben, es wäre erlaubt, getan hat. In diesem Sinne stimmt es, dass Gott kein Erbsenzähler ist – Er sieht mehr auf die Absicht als auf die Tat.
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Updates: Um die Prinzipien deutlicher zu machen und einige weitere Regeln zu erwähnen, möchte ich noch zwei gute Moraltheologiebücher anführen. Dazu möchte ich erst einmal eine längere Passage aus Austin Fagotheys Buch „Right and Reason“ zitieren:
„Was muss dann eine Person mit einem zweifelhaften Gewissensurteil tun? Seine erste Pflicht ist es, zu versuchen, den Zweifel aufzulösen. Er muss über die Sache nachdenken, um zu sehen, ob er nicht bei einer sicheren Schlussfolgerung ankommt. Er muss nachforschen und Rat suchen, auch von Experten, wenn die Sache wichtig genug ist. Er muss die Fakten bei dem Problem ansehen und sich ihrer vergewissern, wenn möglich. Er muss all die Mittel nutzen, die auf gewöhnliche Weise besonnene Menschen gewohnt sind, zu benutzen, abhängig von der Wichtigkeit des Problems. […]
Was, wenn der Zweifel nicht aufgelöst werden kann? […]
Die Antwort auf die Schwierigkeit ist, dass in der tatsächlichen Praxis jedes zweifelhafte Gewissensurteil in ein sicheres Gewissensurteil verwandelt werden kann, so dass niemand jemals im Zweifel darüber bleiben muss, was er zu tun hat. Wenn die beschriebene direkte Methode der Nachforschung und Untersuchung benutzt wurde und sich als fruchtlos herausgestellt hat, dann greifen wir zurück auf die indirekte Methode, unser Gewissen zu formen, indem wir Klugheitsregeln anwenden. Man beachte, dass uns keine Wahl zwischen der direkten oder der indirekten Methode angeboten wird. Wir müssen die direkte Methode zuerst benutzen. Erst wenn die direkte Methode keine Ergebnisse hervorbringt, dürfen wir zur indirekten Methode schreiten. […]
Der wichtige Punkt, den wir festhalten müssen, ist, dass es einen zweifachen Zweifel gibt:
(1) Was ist die tatsächliche Wahrheit über diejenige Sache?
(2) Was ist man in einer solchen Situation verpflichtet, zu tun?
Der erste ist der theoretische oder spekulative Zweifel, und das ist die Frage, die nicht beantwortet werden kann, weil die direkte Methode benutzt worden ist und keine Ergebnisse gebracht hat. Der zweite ist der praktische oder operative Zweifel, und von diesem allein behaupten wir, dass er in jedem Fall lösbar ist.
Obwohl viele Zweifel theoretisch unüberwindlich sind, kann jeder Zweifel praktisch überwunden werden. Ein Mensch kann sicher herausfinden, was er zu tun verpflichtet ist, wie zu handeln von ihm erwartet wird, welches Verhalten von ihm verlangt wird, während er in einem Zustand des ungelösten theoretischen Zweifels bleibt. […] Mit anderen Worten, er findet die Verhaltensweise heraus, die für eine zweifelnde Person sicher rechtmäßig ist. […]
Der Prozess der Gewissensbildung wird durch die Anwendung von Klugheitsregeln vollbracht […]. Zwei solche Prinzipien sind hier anzuwenden:
(1) Der moralisch sicherere Weg ist zu wählen.
(2) Ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht.
Das erste Prinzip darf immer benutzt werden, aber das zweite ist genauen Begrenzungen unterworfen.
Der moralisch sicherere Weg – Mit dem moralisch sichereren Weg meinen wir den, der mit größerer Sicherheit das Sittengesetz einhält, mit größerer Sicherheit die Sünde vermeidet. Oft ist er physisch gefährlicher. Manchmal scheint keine der Alternativen moralisch sicherer, aber die Verpflichtung auf beiden Seiten scheint gleich; dann können wir eine jede davon wählen.
Es ist immer erlaubt, den moralisch sichereren Weg zu wählen. Wenn ein Mensch sicherlich nicht verpflichtet ist, zu handeln, aber zweifelt, ob ihm erlaubt ist, zu handeln, ist der moralisch sicherere Weg, die Handlung zu unterlassen; wenn ich demnach zweifle, ob dieses Geld gerechterweise mir zusteht, kann ich es einfach verweigern. Wenn es einem Menschen mit Sicherheit erlaubt ist, zu handeln, er aber zweifelt, ob er verpflichtet ist, zu handeln, ist der moralisch sicherere Weg, die Handlung zu vollziehen; wenn ich demnach zweifle, ob ich eine Rechnung bezahlt habe, kann ich das Geld anbieten, und riskieren, sie doppelt zu zahlen. So stelle ich sicher, dass ich das Sittengesetz nicht verletzt habe.
Manchmal sind wir verpflichtet, dem moralisch sichereren Weg zu folgen. Wir müssen das tun, wenn wir sicher verpflichtet sind, einen Zweck mit besten Kräften zu erreichen [Hervorhebung von mir], und unser Zweifel nur die Effektivität der Mittel betrifft, die für diesen Zweck eingesetzt werden. Hier impliziert die unbezweifelbare Verpflichtung, den Zweck zu erreichen, die Verpflichtung, sicher effektive Mittel zu verwenden. Ein Arzt darf kein zweifelhaftes Heilmittel an seinem Patienten zur Anwendung bringen, wenn er ein sicheres zur Hand hat. Ein Anwalt darf sich nicht aussuchen, seinen Klienten mit schwachen Argumenten zu verteidigen, wenn er starke zu präsentieren hat. Ein Jäger darf nicht in die Büsche feuern, wenn er zweifelt, ob das sich bewegende Objekt ein Mensch oder ein Tier ist. Ein Kaufmann darf eine sicher existierende Schuld nicht mit wahrscheinlich gefälschtem Geld zahlen oder wahrscheinlich beschädigte Artikel als Güter erster Klasse verkaufen. In solchen Fällen ist die Verpflichtung der Person klar und sie muss Mittel benutzen, die sie sicher erfüllen.
Aber es gibt andere Fälle, in denen die Verpflichtung selbst zweifelhaft ist [Hervorhebung von mir]. Hier haben wir eine ganz andere Frage vor uns. Der moralisch sicherere Weg, obwohl immer erlaubt, ist oft kostspielig und unangenehm, manchmal heroisch. Aus einem Wunsch heraus, das Bessere zu tun, folgen wir ihm oft ohne Frage, aber, wenn wir verpflichtet wären, ihm in allen Zweifelsfällen zu folgen, würde das Leben unerträglich schwer werden. Um moralisch auf der sicheren Seite zu sein, müssten wir jedem zweifelhaften Anspruch von anderen nachkommen, die kein besseres Recht haben, und so zu Opfern von jedem Gauner und Betrüger werden, dessen Gewissen weniger zart ist als unseres. Solche Schwierigkeiten werden durch den Gebrauch der zweiten Klugheitsregel vermieden: ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht.
Ein zweifelhaftes Gesetz. – Das Prinzip ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht ist nur anzuwenden, wenn ich zweifle, ob ich durch eine Verpflichtung gebunden bin oder nicht, wenn mein Gewissenszweifel die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit einer Handlung, die vollbracht werden soll, betrifft. Ich darf dieses Prinzip in den beiden folgenden Situationen anwenden:
(1) Ich zweifle, ob ein solches Gesetz existiert.
(2) Ich zweifle, ob das Gesetz auf meinen Fall zutrifft.
Zum Beispiel: Ich kann zweifeln, ob das Jagdrecht mir verbietet, Wild auf meiner Farm zu schießen, ob die Früchte vom Baum meines Nachbarn, die über meinen Zaun hängen, ihm oder mir gehören, ob ich krank genug bin, um davon entschuldigt zu sein, heute zur Arbeit zu gehen, ob der Schaden, den ich verursacht habe, reiner Zufall oder meiner eigenen Fahrlässigkeit geschuldet war. Es ist wahr, dass hier faktische Fragen enthalten sind, die nicht beantwortet werden können, aber sie bringen alle Fragen der Rechtmäßigkeit oder Erlaubtheit einer Handlung auf: Darf ich das Wild schießen, die Früchte pflücken, von der Arbeit zu Hause bleiben, mich weigern, den Schaden zu reparieren? Existiert irgendein Gesetz, auf meinen Fall anwendbar, das es mir sicher verbietet? Wenn die direkte Methode keines beweist, dann bin ich moralisch berechtigt, diese Dinge zu tun aufgrund des Prinzips, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet.
Der Grund hinter diesem Prinzip ist, dass die Promulgation zum Wesen des Gesetzes gehört, und ein zweifelhaftes Gesetz ist nicht genügend promulgiert, da es der Person, die jetzt und hier drauf und dran ist, zu handeln, nicht genügend bekannt gemacht wurde. Das Gesetz erlegt Pflichten auf, was für gewöhnlich Beschwerden bedeutet, und wer einem anderen Pflichten auferlegen oder seine Freiheit einschränken will, muss sein Recht beweisen, das zu tun. […]
Systeme der Wahrscheinlichkeit
So gut wie alle Moralisten, die dieses Thema behandeln, akzeptieren das Prinzip, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet, aber unterscheiden sich bei dem Grad des Zweifels oder der Wahrscheinlichkeit, die einen von der Verpflichtung durch das Gesetz entbinden würde. Wie zweifelhaft muss das Gesetz sein, um seine Bindungskraft zu verlieren? Muss die Existenz oder die Geltung des Gesetzes zweifelhafter sein als seine Nichtexistenz oder Nichtgeltung, oder ebensosehr zweifelhaft, oder wird jeder Zweifel ausreichen, um einen von der Verpflichtung zu entbinden? Zu diesem Punkt gibt es mehrere Schulen, die unten nach abnehmender Strenge aufgelistet werden.
Damit ein Mensch frei von einer Verpflichtung ist, muss sich zeigen, dass die Nichtexistenz eines Gesetzes, das eine solche Verpflichtung auferlegt, oder die Nichtgeltung des Gesetzes für seinen Fall
(1) sicher oder fast sicher Tutiorismus
(2) wahrscheinlicher Probabiliorismus
(3) gleich wahrscheinlich Äquiprobabilismus
(4) solide wahrscheinlich Probabilismus
(5) gerade so möglich Laxismus
ist.
Von diesen Systemen sind die beiden Extreme, Tutiorismus und Laxismus, völlig inakzeptabel und werden nur als mögliche Sichtweisen erwähnt. Keine wendet wirklich das Prinzip an, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet. Der Tutiorismus lehrt, dass wir an praktisch jede Verpflichtung gebunden sind, von deren Existenz wir einen begründeten Verdacht haben. Das ist eine unerträgliche Last und in der Praxis praktisch nicht anwendbar. Der Laxismus schafft praktisch jede Verpflichtung ab; ein geringfügiger und unbedeutender Grund bedeutet keine wirkliche Wahrscheinlichkeit, und kann nicht Grundlage für einen vernünftigen Zweifel sein. Wenn das alles ist, was wir haben, sind wir praktisch sicher, dass das Gesetz existiert oder [auf diesen Fall] zutrifft, und sind gehalten, ihm zu gehorchen.
Von den verbleibenden drei Systemen ist der Probabilismus das am meisten akzeptierte System. Er ist die beste Anwendung des Prinzips: ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht. Der Beweis für den Probabilismus sieht folgendermaßen aus:
Ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht, denn die Promulgation gehört zum Wesen des Gesetzes, und ein zweifelhaftes Gesetz ist nicht genügend promulgiert.
Aber ein Gesetz, gegen dessen Existenz oder Geltung ein solide wahrscheinliches Argument steht, ist ein zweifelhaftes Gesetz, da auch nur ein solide wahrscheinliches Argument die Sicherheit der gegenteiligen These zerstört.
Daher bindet ein Gesetz, gegen dessen Existenz oder Geltung ein solide wahrscheinliches Argument steht, nicht.
Wenn wir zeigen können, dass der Äquiprobabilismus zu streng ist, wird folgen, dass der Probabiliorismus unhaltbar ist, da er noch strenger ist. Aber der Äquiprobabilismus ist zu streng, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis, wie die folgenden Argumente zeigen. Daher bleibt, da der Tutiorismus und der Laxismus beide verworfen wurden, nur der Probablismus.
1. Der Äquiprobabilismus ist in der Theorie zu streng. Er richtet sich nach dem Prinzip, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet, aber nimmt an, dass ein Gesetz nicht genügend zweifelhaft ist, um eine Person davon zu entschuldigen, ihm zu gehorchen, wenn nicht die Gründe gegen das Gesetz ebenso wahrscheinlich sind wie die Gründe für das Gesetz. Aber es gibt keinen Grund dafür, gleiche Gründe auf beiden Seiten zu verlangen. Eine Verpflichtung existiert nicht, wenn sie nicht sicher ist, da das Gesetz, das eine solche Verpflichtung auferlegen würde, nicht genügend promulgiert wurde. Jede These ist zweifelhaft, wenn ein solide wahrscheinlicher Grund gegen sie steht, egal wie viele oder wie stark die Gründe dafür sind. Keine These kann sicher feststehen, wenn es einen solide wahrscheinlichen Grund für ihr Gegenteil gibt.
2. Der Äquiprobabilismus ist in der Praxis zu streng. Das natürliche Sittengesetz ist von Gott nicht dazu gedacht, dem Menschen unvernünftige und unerträgliche Bürden aufzuerlegen. Aber das Abwägen der Wahrscheinlichkeiten auf jeder Seite, um herauszufinden, ob sie gleich sind, oder größer auf der einen Seite als auf der anderen, wäre eine unvernünftige Bürde. Der Durchschnittsmensch hat weder die Zeit noch das Wissen noch die Befähigung für einen solchen Vergleich. Die Gelehrten sind nach Jahren des Studiums oft unfähig, den exakten Umfang der Wahrscheinlichkeit auf jeder Seite eines Falls festzulegen. In der Praxis müssen Entscheidungen für gewöhnlich prompt getroffen werden, und müssen trotzdem mit einem sicheren Gewissen getroffen werden.
Die Äquiprobabilisten verlangen natürlich kein mathematisches Messen der Wahrscheinlichkeiten auf jeder Seite, sondern sagen, dass wir der Meinung, die für das Gesetz spricht, folgen müssen, wenn sie sicher wahrscheinlicher ist, und ihr nicht folgen müssen, wenn sie sicher weniger wahrscheinlich ist. Es ist der Fall der Ebenbürtigkeit, oder nahezu Ebenbürtigkeit, bei den Wahrscheinlichkeiten, der die Schwierigkeiten verursacht. Wenn der Zweifel die Existenz des Gesetzes betrifft, sagen sie, dass die Freiheit im Besitzstand ist und das Gesetz nicht befolgt werden muss; aber wenn der Zweifel das Außerkrafttreten des Gesetzes betrifft, ist das Gesetz im Besitzstand und muss befolgt werden. Die Schwierigkeit des Systems bleibt dennoch. Es erfordert ein sorgfältiges Abwägen, wenn auch keine mathematische Messung, des Gewichts der Wahrscheinlichkeit auf jeder Seite und ein weiteres Urteil darüber, wie sorgfältig ein solches Abwägen sein muss, neben der Unterscheidung zwischen der Existenz und dem Außerkrafttreten des Gesetzes. Selbst die gröbste Schätzung des Gewichts der Wahrscheinlichkeit kann oft sehr schwierig sein, zu schwierig für den praktischen Gebrauch.
Es könnte eingewandt werden, dass es nicht schwieriger ist, den Grad der Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, als zu bestimmen, ob oder ob nicht eine Meinung solide wahrscheinlich ist. Ein wenig Nachdenken wird zeigen, dass dem nicht so ist. Solide Wahrscheinlichkeit bedeutet nur, dass eine Meinung wirklich und tatsächlich wahrscheinlich ist, dass die Gründe, die für sie sprechen, nicht lächerlich oder unbedeutend sind, wie solche, mit denen die Laxisten sich zufrieden geben würden. Um zu bestimmen, dass eine Meinung solide wahrscheinlich ist, genügt es, ein paar oder sogar nur ein gutes, gewichtiges Argument für sie zu haben, obwohl die Argumente gegen sie vielleicht stärker sein könnten. Um zu zeigen, dass eine Seite gleiche oder größere Wahrscheinlichkeit für sich hat, wie der Äquiprobabilismus und der Probabiliorismus verlangen, müssen alle Argumente für und gegen sie aufgezählt und ihr jeweiliger Wert abgewogen werden. Das ist oft eine hoffnungslose Aufgabe, die die besten Experten vor ein Rätsel stellt. Der Probabilismus macht sie unnötig.
Muss man bei der Anwendung des Probabilismus konsistent sein? Wenn es wahrscheinlich ist, dass ein Gesetz bindet, ist es auch wahrscheinlich, dass es nicht bindet. Darf eine Person in einem Fall der Meinung folgen, dass das Gesetz bindet, und dann in einem anderen, aber genau gleichen Fall, der Meinung folgen, dass das Gesetz nicht bindet? Da die ganze Theorie des Probabilismus bedeutet, dass man, wenn Sicherheit nicht erreicht werden kann, jeder solide wahrscheinlichen Meinung folgen darf, gibt es keinen Grund, warum man nicht von jeder Meinung Gebrauch machen darf, und daher von unterschiedlichen Meinungen in verschiedenen individuellen Fällen, ob sie ähnlich sind oder nicht. Daher darf ein Anwalt der wahrscheinlichen Meinung folgen, dass ein Testament gültig ist, wenn das seinem Klienten in diesem Fall hilft; dann in einem anderen, aber genau gleichen Fall, darf er der wahrscheinlichen Meinung folgen, dass ein solches Testament ungültig ist, wenn das dem Klienten hilft, den er jetzt hat. Aber in Bezug auf dasselbe einzelne Testament wäre es ihm nicht erlaubt, der Meinung zu folgen, dass es gültig ist, um das Erbe anzunehmen, und auch der gegenteiligen Meinung zu folgen, dass es ungültig ist, um zu vermeiden, die Verbindlichkeiten zu erfüllen; ein und dasselbe individuelle Testament kann nicht gleichzeitig für gültig und ungültig gehalten werden.
Fazit
Diese ganze Angelegenheit der Gewissensbildung scheint eine ganze Menge Feinheiten und Kasuistik zu enthalten. Manche Menschen haben eine gefühlsmäßige Abneigung gegen diese Feinheiten, als einen Gegensatz zu geradliniger Einfachheit und Ehrlichkeit. Das erste, was man als Antwort auf solche Beschwerden anmerken muss, ist, dass man immer dem moralisch sichereren Weg folgen darf. Aber in der Ethik studieren wir nicht nur, was die bessere, edlere, und heldenhaftere Tat ist, sondern auch, was genau ein Mensch streng verpflichtet ist, zu tun. Ein großzügiger Mensch wird nicht um gute Werke feilschen, aber ein aufgeklärter Mensch wird wissen wollen, wann er eine strenge Pflicht erfüllt und wann er großzügig ist.
Genaue moralische Unterscheidung ist besonders notwendig, wenn man das Verhalten anderer beurteilt. In unserem persönlichen Leben können wir vielleicht gewillt sein, auf unsere strengen Rechte zu verzichten und über die Pflicht hinauszugehen, aber wir haben nicht das Recht, anderen eine Verpflichtung aufzuerlegen, das zu tun. Die Grenze zwischen Richtig und Falsch ist schwer zu bestimmen. Es ist närrisch, zu nahe an ihr zu fahren, aber es ist uns nicht erlaubt, einen anderen Menschen eines Fehlverhaltens zu beschuldigen, wenn er sich nicht falsch verhalten hat.“
(Austin Fagothey SJ, Right and Reason. Ethics in theory and practice based on the teachings of Aristotle and St. Thomas Aquinas, Charlotte, North Carolina, 2000 (Nachdruck der 2. Ausg., St. Louis 1959), S. 214-222.)
Zum selben Thema schreibt Heribert Jone so ziemlich das Gleiche, was hier auch zum Vergleich angeführt werden soll; allerdings enthält sein Buch noch ein paar zusätzliche Klugheitsregeln (weiter unten fett hervorgehoben):
„92. Die Bildung eines praktisch sicheren Gewissens
Da man nie mit einem praktischen Zweifel über die Legitimität einer Handlung handeln darf (s. Nr. 88), muss man danach streben, ein praktisch sicheres Gewissensurteil zu bilden.
I. Die direkte Lösung eines Gewissenszweifels ist normalerweise einfach genug zu finden, vor allem in den weniger wichtigen Fällen, indem man die Frage näher ansieht und studiert oder indem man Rat sucht.
[…]
93. – II. Eine indirekte Lösung eines Gewissenszweifels, d. h. eine Lösung mit den verschiedenen Moralprinzipien und Moralsystemen, ist erlaubt, wenn man mit den direkten Mitteln keine Sicherheit erreichen kann.
Bei einer solchen Lösung bleibt der theoretische Zweifel, der die Legitimität oder Notwendigkeit einer Aktion betrifft, aber man erreicht dennoch eine Sicherheit darüber, was man gegenwärtig tun darf oder tun muss.
1. Wenn es sich darum handelt, ein notwendiges Ziel zu erreichen, muss man den sichereren Weg wählen, wenn man den theoretischen Zweifel nicht lösen kann.
[…] Wenn es sich um die Spendung der Sakramente handelt, muss man sich aus Respekt vor dem Sakrament, oft auch aufgrund der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe, im Zweifelsfall oft für die Meinung entscheiden, die die gültige Spendung sicher garantiert. Aber wenn man sich bei der Spendung eines Sakraments keine sicher gültige Materie verschaffen kann, kann man sich im Interesse der Seelen mit einer zweifelhaften Materie begnügen. – Wenn es sich um das sichere Recht eines Dritten handelt oder um einen Schaden für ihn, der zu vermeiden ist, muss man sich der Meinung anschließen, die es ermöglicht, dass sein Recht sicher aufrechterhalten wird oder dass die Gefahr von ihm entfernt wird. Daher hat ein Arzt nicht das Recht, gefährliche Heilmittel zu verwenden, wenn er sich andere verschaffen kann; ein Jäger hat nicht das Recht, zu schießen, wenn er Gründe hat, zu fürchten, dass er beim Schießen einen Menschen verletzen könnte.
94. 2. Wenn es sich um die Erlaubtheit einer Handlung handelt, kann man jeder Meinung folgen, die sicherlich gut fundiert ist, auch wenn die gegenteilige Meinung besser fundiert wäre.
a) Eine Meinung ist gut fundiert, wenn sie einen vernünftigen Menschen dazu bewegen kann, ihr zuzustimmen, auch nachdem er die gegenteiligen Gründe abgewogen hat. Die Furcht, dass die gegenteilige Meinung wahr sein könnte, kann dabei fortbestehen.
Die Gründe für eine Meinung können intrinsisch oder extrinsisch sein, je nachdem, ob sie sich auf eine persönliche Prüfung der Frage oder auf die Autorität eines anderen stützen, aber im letzteren Fall nimmt man an, dass jene, deren Meinung man folgt, die Frage selbst studiert haben. […] Ein unkultivierter Mensch muss sich auf das Urteil eines klugen Beichtvaters oder seines Pfarrers verlassen. Die Seelenführer [Beichtväter] können sich auf die Meinung anerkannter Moralisten oder sogar allein auf die des hl. Alphons verlassen.
Es wird in vielen Fällen relativ einfach sein, zu erkennen, dass eine Meinung, die für die Freiheit [vom Gesetz] spricht, gut fundiert ist, indem man auf Klugheitsregeln zurückgreift: im Zweifelsfall ist sich an die allgemein geübte Praxis zu halten (in dubio judicandum est ex communiter contingentibus); im Zweifelsfall muss man sich für die Gültigkeit einer [bereits] vollbrachten Handlung aussprechen (in dubio standum est pro valore actus); niemand darf für einen Übeltäter gehalten werden, bevor seine Bosheit nicht bewiesen ist (nemo malus nisi probetur); im Zweifelsfall muss man großzügig interpretieren, was günstig ist, streng begrenzt interpretieren, was ungünstig ist (favores ampliandi, odiosa restringenda). [Hervorhebungen in fetter Schrift von mir.]
b) Man darf einer auf diese Weise gut fundierten Meinung folgen:
α) In Bezug auf jedes Gesetz.
Es ist hier die Rede von menschlichen Gesetzen wie auch positiven göttlichen Gesetzen und dem Naturrecht. Der Zweifel kann die Existenz des Gesetzes betreffen, sein Außerkrafttreten oder seine Durchführung.
β) Selbst wenn man sich in einem anderen Fall für die gegenteilige Meinung entschieden hat.
Man darf dementsprechend in einem Fall ein Erbe, das aus einem informellen Testament stammt, in Besitz nehmen, und in einem anderen Fall ein Testament dieser Art gerichtlich anfechten. – Aber wenn es sich um ein und dieselbe Handlung handelt, kann man nicht den beiden gegenteiligen Meinungen folgen, da man damit mit Sicherheit das Gesetz verletzen würde. Dementsprechend ist derjenige, der ein Testament, das der juristischen Form entbehrt (informell), angenommen hat, gehalten, die in diesem Testament enthaltenen Vermächtnisse [Schulden] für gültig zu halten und sie zu begleichen.
95. Bemerkung. – Die verschiedenen Moralsysteme.
Da die hier vorgestellte Meinung (Nr. 94) nicht von allen Moralisten geteilt wird, werden wir eine kurze Übersicht über die verschiedenen Moralsysteme geben.
a) Der absolute Tutiorismus lehrt, dass man jedes Mal, wenn es verschiedene Meinungen gibt, die sicherste wählen und sich demnach für das Befolgen des Gesetzes aussprechen muss; allein die offenkundige Gewissheit des Gegenteils kann uns von der Verpflichtung befreien.
b) Nach dem abgeschwächten Tutiorismus ist man von der Verpflichtung durch das Gesetz befreit, wenn die Meinung, die für die Freiheit spricht, sehr wahrscheinlich ist.
c) Der Probabiliorismus lehrt, dass man der Meinung, die für die Freiheit spricht, nur folgen darf, wenn diese Meinung wahrscheinlicher ist als jene, die für das Gesetz spricht.
d) Der Äquiprobabiliorismus verlangt, dass die Meinung, die für die Freiheit spricht, gleich wahrscheinlich oder fast gleich wahrscheinlich ist wie die Meinung, die für das Gesetz spricht. Allerdings könnte man dieses Prinzip nur bei einem Zweifel über die Existenz des Gesetzes anwenden, aber nicht bei einem Zweifel über sein Außerkrafttreten oder seine Erfüllung.
e) Der Kompensationismus lehrt, dass es im Zweifel über die Erlaubtheit einer Handlung einen genügend ernsthaften Grund braucht, um sich für die Meinung, die gegen das Gesetz spricht, zu entscheiden. Je wichtiger das Gesetz ist, und je wichtiger die Gründe sind, die für es sprechen, desto ernstere Gründe muss man haben; um so die Gefahr einer materiellen Gesetzesübertretung zu vermeiden.
f) Der Probabilismus lehrt die Sichtweise, die weiter oben dargelegt wurde (Nr. 94), nämlich dass man die Meinung, die für die Freiheit spricht, wählen darf, vorausgesetzt, dass sie gut fundiert ist, selbst wenn die gegenteilige Meinung wahrscheinlicher ist.
g) Nach dem Laxismus kann man der Meinung folgen, die für die Freiheit spricht, selbst wenn sie nur kaum oder zweifelhaft wahrscheinlich ist.
Um die Systeme zu beurteilen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass der Tutiorismus und der Laxismus von der Kirche verurteilt wurden. Was die anderen angeht, so sind sie alle erlaubt.
In der Praxis strebe der Beichtvater danach, was seine persönlichen Angelegenheiten betrifft, immer freiwillig das Vollkommenere zu wählen, und seinen Pönitenten zuzureden, dasselbe zu tun. Aber dass er nicht vergesse, dass er nicht das Recht hat, seine Meinung seinen Pönitenten aufzuzwingen, wenn die gegenteilige Meinung wahrscheinlich ist (s. Nr. 605).“
(Heribert Jone OFMCap, Précis de théologie morale catholique, ins Französische übersetzt von Marcel Gautier, 5. Ausg., Mulhouse 1935, Nr. 92-95; zurück ins Deutsche übersetzt von mir.)