Moraltheologie und Kasuistik, Teil 1: Entscheidungsfindung bei Unsicherheiten – über Tutiorismus, Probabilismus und Laxismus

Die praktische moraltheologische Bildung der Katholiken muss dringend aufgebessert werden – ich hoffe, da werden meine Leser mir zustimmen. Und ich meine hier schon auch ernsthafte Katholiken. In gewissen frommen Kreisen wird man heutzutage ja, wenn man Fragen hat wie „Muss ich heute Abend noch mal zur Sonntagsmesse gehen, wenn ich aus Nachlässigkeit heute Morgen deutlich zu spät zur Messe gekommen bin?“ oder „Darf ich als Putzfrau oder Verwaltungskraft in einem Krankenhaus arbeiten, das Abtreibungen durchführt?“ oder „Wie genau muss ich eigentlich bei der Beichte sein?“ mit einem „sei kein gesetzlicher Erbsenzähler!“ abgebügelt. Und das ist nicht hilfreich. Gar nicht. Weil das ernsthafte Gewissensfragen sind, mit denen manche Leute sich wirklich herumquälen können. Und andere Leute fallen ohne klare Antworten in einen falschen Laxismus, weil sie keine Lust haben, sich ewig mit diesen Unklarheiten herumzuquälen und meinen, Gott werde es eh nicht so genau nehmen, und wieder andere in einen falschen Tutiorismus, wobei sie meinen, die strengste Möglichkeit wäre immer die einzig erlaubte.

 Auf diese Fragen kann man sehr wohl die allgemeinen moraltheologischen Prinzipien – die alle auf das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe zurückgehen – anwenden und damit zu einer konkreten Antwort kommen. Man muss es sich nicht schwerer machen, als es ist. Und nochmal für alle Idealisten: „Das und das ist nicht verpflichtend“ heißt nicht, dass man das und das nicht tun darf oder es nicht mehr empfehlenswert oder löblich sein kann, es zu tun. Es heißt nur, dass die Kirche (z. B. in Gestalt des Beichtvaters) nicht von allen Katholiken verlangen kann, es zu tun.

 Zu alldem verweise ich einfach mal noch auf einen meiner älteren Artikel. Weiter werde ich mich gegen den Vorwurf der Gesetzlichkeit hier nicht verteidigen.

 Jedenfalls, ich musste öfters lange herumsuchen, bis ich zu meinen Einzelfragen Antworten gefunden habe, und deshalb dachte mir, es wäre schön, wenn heute mal wieder etwas mehr praktische Moraltheologie und Kasuistik betrieben/kommuniziert werden würde; aber manches, was man gerne hätte, muss man eben selber machen, also will ich in dieser Reihe solche Einzelfragen angehen, so gut ich kann, was hoffentlich für andere hilfreich ist. Wenn ich bei meinen Schlussfolgerungen Dinge übersehe, möge man mich bitte in den Kommentaren darauf hinweisen. Nachfragen sind auch herzlich willkommen.

Wer nur knappe & begründungslose Aufzählungen von christlichen Pflichten und möglichen Sünden sucht, dem seien diese beiden Beichtspiegel empfohlen. (Bzgl. dem englischen Beichtspiegel: Wenn hier davon die Rede ist, andere zu kritisieren, ist natürlich ungerechte, verletzende Kritik gemeint, nicht jede Art Kritik, und bei Ironie/Sarkasmus ist auch verletzende Ironie/Sarkasmus gemeint.)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/19/St_Alphonsus_Liguori.jpg

 (Der hl. Alfons von Liguori (1696-1787), der bedeutendste kath. Moraltheologe des 18. Jahrhunderts. Gemeinfrei.)

Alle Teile hier.

[Updates zu diesem Artikel weiter unten.]

Bevor ich zu den Einzelfragen komme, erst einmal zu den Prinzipien. Heute zu einer sehr grundsätzlichen Frage: Das Ergebnis, wenn man mit allgemeinen moralischen Prinzipien an einen konkreten Fall herangeht, kann sein: „Es ist klar: Du musst das und das tun / darfst das und das nicht tun.“ Oder: „Es ist klar: Du kannst frei zwischen den und den Möglichkeiten wählen.“ Aber es kann auch mal  sein: „Das ist ein Grenzfall; es ist nicht ganz klar, was deine Pflicht ist, am wahrscheinlichsten ist es so, aber andere würden vielleicht sagen, es wäre so, wahrscheinlich wäre auch noch diese dritte Möglichkeit erlaubt, diese vierte hier wohl eher nicht.“ Diese Fälle sind immer die schwierigsten. Und hier kommen die sog. Klugheitsregeln und die sog. Moralsysteme ins Spiel.

1) Es gibt Fälle, in denen es klar ist, dass man ein Ziel anstreben oder ein Gesetz erfüllen muss, und nur die Mittel sind zweifelhaft. In diesen Fällen muss man ein einigermaßen sicheres Mittel nehmen. (Z. B.: ich bin sicher verpflichtet, zu einem Termin um 17:00 Uhr zu kommen. Um 16:00 Uhr fährt sicher ein Bus, und um 16:30 Uhr fährt vielleicht auch noch ein Bus. Natürlich muss ich den Bus um 16:00 Uhr nehmen, um sicher hin zu kommen, und kann nicht auf gut Glück um 16:30 Uhr an der Haltestelle erscheinen, weil vielleicht ja noch ein Bus kommt. Natürlich kann man nicht jeden noch so geringen Zweifel ausschließen; es kann immer sein, dass der Bus um 16:00 wegen eines Unfalls nicht kommt.)

2) Aber es gibt auch Fälle, in denen es zweifelhaft ist, ob ein Gesetz überhaupt existiert oder auf einen bestimmten Fall anzuwenden ist. Grundsätzlich gilt dann die Regel „ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht“ (lex dubia non obligat).

Aber was heißt das jetzt für die Praxis? Wann ist ein Gesetz zweifelhaft? Sagen wir, mir geht es nicht so gut und ich bin mir nicht sicher, ob die Sonntagspflicht (das Gebot, sonntags eine Messe zu besuchen) für mich noch gilt oder ich auch zuhause bleiben kann. Wonach entscheide ich?

Im 17. und 18. Jahrhundert war das ein ziemlicher Streitpunkt unter den Theologen. Sie entwickelten dabei die folgenden sog. Moralsysteme:

Der Tutiorismus (von „tutior“, lateinisch für „sicherer“) wäre die Ansicht, man müsste immer die strengste, die sicherste, die beste aller Möglichkeiten wählen. Die Tutioristen erkannten das Prinzip lex dubia non obligat eigentlich gar nicht erst an. Du bist dir nicht völlig sicher, ob du krank genug bist, um von der Messe daheim zu bleiben? Dann geh zur Messe. Du weißt nicht hundertprozentig, ob du bei deinem Job vielleicht in Gewissenskonflikte gerätst? Dann kündige. Man muss das Gebot immer befolgen, auch wenn sehr starke Gründe gegen seine Geltung in einem bestimmten Fall sprechen. Diese Ansicht billigt die Kirche nicht. Das macht ja auch Sinn: Sie ist letztlich nicht lebbar. Bei jeder noch so kleinen Unsicherheit gäbe es keinen Spielraum mehr. Und so würden auch viele falsche Entscheidungen getroffen werden – weil manche Leute sich z. B. auch bei Krankheiten, bei denen sie wirklich im Bett bleiben sollten, nicht völlig sicher wären, ob sie es nicht doch in die Kirche schaffen könnten. Einer vernünftigen Abwägung kann man nicht entgehen, indem man immer nach der einen Seite steuert. So landet man nur im Graben. Als die Jansenisten verurteilt wurden, wurde in einem Dekret von 1690 u. a. der Satz „Es ist nicht erlaubt, einer [wahrscheinlichen] Meinung oder unter wahrscheinlichen der wahrscheinlichsten zu folgen“ verurteilt.

Dann gäbe es den Probabilismus, von „probabilis“, „wahrscheinlich“. Wenn wahrscheinliche Gründe gegen die Geltung eines Gebots in meinem Fall sprechen, ist es nicht bindend. Neben dem reinen Probabilismus gibt es noch ein paar Unterformen. Da ist der Probabiliorismus (probabilior = wahrscheinlicher), nach dem die Gründe, die gegen die Geltung sprechen, zumindest wahrscheinlicher sein müssen als die Gründe dafür. Dann der Äquiprobabilismus, nach dem die Gründe dagegen zumindest genauso groß sein müssen wie die Gründe dafür. Nach dem Kompensationssystem kann es auch einmal sein, dass gute Gründe gegen die Verpflichtung sprechen, die aber weniger gewichtig sind als die, die dafür sprechen, und dass man trotzdem nicht verpflichtet ist, weil gewichtige praktische Gründe dagegen sprechen, d. h. es sehr schwer durchführbar ist. (Extremes Beispiel: Ich bin mir nicht sicher, ob ich xyz nach dem göttlichen Gesetz tun muss, es gibt ganz gute Gründe dagegen, aber noch bessere Gründe dafür – aber wenn ich es tue, steckt mich der ungerechte Staat, in dem ich lebe, für zwanzig Jahre ins Arbeitslager. Ergo: nach dem Kompensationssystem nicht verpflichtend.) Die probabilistischen Moralsysteme werden von der Kirche gebilligt.

Der Laxismus wäre die Ansicht, man dürfte frei zwischen allen Möglichkeiten wählen, die nicht ganz und gar absolut sicher verboten sind. Für als laxistisch bezeichnete Theologen war ein Gesetz schon dann zweifelhaft, wenn nur sehr schwache Gründe gegen seine Geltung sprachen – mit anderen Worten, für sie hätte man auch mit einem leichten Schnupfen von der Kirche daheim bleiben können. Wie die etwas abfällige Bezeichnung schon nahelegt, ist das eine Ansicht, die die Kirche nicht so ganz billigt; verschiedene laxistische Sätze wurden von Rom als „zumindest ärgerniserregend und in der Praxis verderblich“ verurteilt.

Bei Skrupulanten (also Leuten mit einer religiösen Zwangsstörung) im Speziellen ist es allerdings etwas komplizierter: Weil die dazu neigen, alles stundenlang hin und her zu wälzen und immer auf Nummer sicher gehen wollen und Angst haben, sich bei einem zweifelhaften Gebot nicht als gebunden zu betrachten, auch wenn die Gründe dafür eigentlich wahrscheinlich wären, weil man sich bei der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit ja irren könnte, was ja vielleicht davon kommen könnte, dass man unterbewusst Gott nicht gehorchen will, usw. usf., dürfen die sich in der Praxis nach einem etwas mehr laxistischen Prinzip verhalten, jedenfalls in den Bereichen, die ihre Skrupulosität betrifft. Wenn man dazu neigt, immer in die eine Richtung zu steuern, muss man jetzt erst einmal mehr in die andere Richtung steuern, um das zu korrigieren. Weil Skrupulanten die Geltung eines Gebots in ihrem Einzelfall oft erst dann anzweifeln, wenn es wirklich wahrscheinliche Gründe dagegen gibt, und weil es für sie sowieso erst einmal wichtig ist, ihre ungesunde Angst abzulegen, sollen sie sich erst dann gebunden sehen, wenn sie sich wirklich sicher sind.

Soweit zu den Prinzipien. Und nicht vergessen: Wenn man sich in der Beurteilung eines konkreten Falls mal geirrt hat, dann ist das nicht so schlimm. Gott rechnet einem nichts an, was man im guten Glauben, es wäre erlaubt, getan hat. In diesem Sinne stimmt es, dass Gott kein Erbsenzähler ist – Er sieht mehr auf die Absicht als auf die Tat.

Updates: Um die Prinzipien deutlicher zu machen und einige weitere Regeln zu erwähnen, möchte ich noch zwei gute Moraltheologiebücher anführen. Dazu möchte ich erst einmal eine längere Passage aus Austin Fagotheys Buch „Right and Reason“ zitieren:

„Was muss dann eine Person mit einem zweifelhaften Gewissensurteil tun? Seine erste Pflicht ist es, zu versuchen, den Zweifel aufzulösen. Er muss über die Sache nachdenken, um zu sehen, ob er nicht bei einer sicheren Schlussfolgerung ankommt. Er muss nachforschen und Rat suchen, auch von Experten, wenn die Sache wichtig genug ist. Er muss die Fakten bei dem Problem ansehen und sich ihrer vergewissern, wenn möglich. Er muss all die Mittel nutzen, die auf gewöhnliche Weise besonnene Menschen gewohnt sind, zu benutzen, abhängig von der Wichtigkeit des Problems. […]

Was, wenn der Zweifel nicht aufgelöst werden kann? […]

Die Antwort auf die Schwierigkeit ist, dass in der tatsächlichen Praxis jedes zweifelhafte Gewissensurteil in ein sicheres Gewissensurteil verwandelt werden kann, so dass niemand jemals im Zweifel darüber bleiben muss, was er zu tun hat. Wenn die beschriebene direkte Methode der Nachforschung und Untersuchung benutzt wurde und sich als fruchtlos herausgestellt hat, dann greifen wir zurück auf die indirekte Methode, unser Gewissen zu formen, indem wir Klugheitsregeln anwenden. Man beachte, dass uns keine Wahl zwischen der direkten oder der indirekten Methode angeboten wird. Wir müssen die direkte Methode zuerst benutzen. Erst wenn die direkte Methode keine Ergebnisse hervorbringt, dürfen wir zur indirekten Methode schreiten. […]

Der wichtige Punkt, den wir festhalten müssen, ist, dass es einen zweifachen Zweifel gibt:

(1) Was ist die tatsächliche Wahrheit über diejenige Sache?
(2) Was ist man in einer solchen Situation verpflichtet, zu tun?

Der erste ist der theoretische oder spekulative Zweifel, und das ist die Frage, die nicht beantwortet werden kann, weil die direkte Methode benutzt worden ist und keine Ergebnisse gebracht hat. Der zweite ist der praktische oder operative Zweifel, und von diesem allein behaupten wir, dass er in jedem Fall lösbar ist.

Obwohl viele Zweifel theoretisch unüberwindlich sind, kann jeder Zweifel praktisch überwunden werden. Ein Mensch kann sicher herausfinden, was er zu tun verpflichtet ist, wie zu handeln von ihm erwartet wird, welches Verhalten von ihm verlangt wird, während er in einem Zustand des ungelösten theoretischen Zweifels bleibt. […] Mit anderen Worten, er findet die Verhaltensweise heraus, die für eine zweifelnde Person sicher rechtmäßig ist. […]

Der Prozess der Gewissensbildung wird durch die Anwendung von Klugheitsregeln vollbracht […]. Zwei solche Prinzipien sind hier anzuwenden:

(1) Der moralisch sicherere Weg ist zu wählen.
(2) Ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht.

Das erste Prinzip darf immer benutzt werden, aber das zweite ist genauen Begrenzungen unterworfen.

Der moralisch sicherere Weg – Mit dem moralisch sichereren Weg meinen wir den, der mit größerer Sicherheit das Sittengesetz einhält, mit größerer Sicherheit die Sünde vermeidet. Oft ist er physisch gefährlicher. Manchmal scheint keine der Alternativen moralisch sicherer, aber die Verpflichtung auf beiden Seiten scheint gleich; dann können wir eine jede davon wählen.

Es ist immer erlaubt, den moralisch sichereren Weg zu wählen. Wenn ein Mensch sicherlich nicht verpflichtet ist, zu handeln, aber zweifelt, ob ihm erlaubt ist, zu handeln, ist der moralisch sicherere Weg, die Handlung zu unterlassen; wenn ich demnach zweifle, ob dieses Geld gerechterweise mir zusteht, kann ich es einfach verweigern. Wenn es einem Menschen mit Sicherheit erlaubt ist, zu handeln, er aber zweifelt, ob er verpflichtet ist, zu handeln, ist der moralisch sicherere Weg, die Handlung zu vollziehen; wenn ich demnach zweifle, ob ich eine Rechnung bezahlt habe, kann ich das Geld anbieten, und riskieren, sie doppelt zu zahlen. So stelle ich sicher, dass ich das Sittengesetz nicht verletzt habe.

Manchmal sind wir verpflichtet, dem moralisch sichereren Weg zu folgen. Wir müssen das tun, wenn wir sicher verpflichtet sind, einen Zweck mit besten Kräften zu erreichen [Hervorhebung von mir], und unser Zweifel nur die Effektivität der Mittel betrifft, die für diesen Zweck eingesetzt werden. Hier impliziert die unbezweifelbare Verpflichtung, den Zweck zu erreichen, die Verpflichtung, sicher effektive Mittel zu verwenden. Ein Arzt darf kein zweifelhaftes Heilmittel an seinem Patienten zur Anwendung bringen, wenn er ein sicheres zur Hand hat. Ein Anwalt darf sich nicht aussuchen, seinen Klienten mit schwachen Argumenten zu verteidigen, wenn er starke zu präsentieren hat. Ein Jäger darf nicht in die Büsche feuern, wenn er zweifelt, ob das sich bewegende Objekt ein Mensch oder ein Tier ist. Ein Kaufmann darf eine sicher existierende Schuld nicht mit wahrscheinlich gefälschtem Geld zahlen oder wahrscheinlich beschädigte Artikel als Güter erster Klasse verkaufen. In solchen Fällen ist die Verpflichtung der Person klar und sie muss Mittel benutzen, die sie sicher erfüllen.

Aber es gibt andere Fälle, in denen die Verpflichtung selbst zweifelhaft ist [Hervorhebung von mir]. Hier haben wir eine ganz andere Frage vor uns. Der moralisch sicherere Weg, obwohl immer erlaubt, ist oft kostspielig und unangenehm, manchmal heroisch. Aus einem Wunsch heraus, das Bessere zu tun, folgen wir ihm oft ohne Frage, aber, wenn wir verpflichtet wären, ihm in allen Zweifelsfällen zu folgen, würde das Leben unerträglich schwer werden. Um moralisch auf der sicheren Seite zu sein, müssten wir jedem zweifelhaften Anspruch von anderen nachkommen, die kein besseres Recht haben, und so zu Opfern von jedem Gauner und Betrüger werden, dessen Gewissen weniger zart ist als unseres. Solche Schwierigkeiten werden durch den Gebrauch der zweiten Klugheitsregel vermieden: ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht.

Ein zweifelhaftes Gesetz. – Das Prinzip ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht ist nur anzuwenden, wenn ich zweifle, ob ich durch eine Verpflichtung gebunden bin oder nicht, wenn mein Gewissenszweifel die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit einer Handlung, die vollbracht werden soll, betrifft. Ich darf dieses Prinzip in den beiden folgenden Situationen anwenden:

(1) Ich zweifle, ob ein solches Gesetz existiert.
(2) Ich zweifle, ob das Gesetz auf meinen Fall zutrifft.

Zum Beispiel: Ich kann zweifeln, ob das Jagdrecht mir verbietet, Wild auf meiner Farm zu schießen, ob die Früchte vom Baum meines Nachbarn, die über meinen Zaun hängen, ihm oder mir gehören, ob ich krank genug bin, um davon entschuldigt zu sein, heute zur Arbeit zu gehen, ob der Schaden, den ich verursacht habe, reiner Zufall oder meiner eigenen Fahrlässigkeit geschuldet war. Es ist wahr, dass hier faktische Fragen enthalten sind, die nicht beantwortet werden können, aber sie bringen alle Fragen der Rechtmäßigkeit oder Erlaubtheit einer Handlung auf: Darf ich das Wild schießen, die Früchte pflücken, von der Arbeit zu Hause bleiben, mich weigern, den Schaden zu reparieren? Existiert irgendein Gesetz, auf meinen Fall anwendbar, das es mir sicher verbietet? Wenn die direkte Methode keines beweist, dann bin ich moralisch berechtigt, diese Dinge zu tun aufgrund des Prinzips, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet.

Der Grund hinter diesem Prinzip ist, dass die Promulgation zum Wesen des Gesetzes gehört, und ein zweifelhaftes Gesetz ist nicht genügend promulgiert, da es der Person, die jetzt und hier drauf und dran ist, zu handeln, nicht genügend bekannt gemacht wurde. Das Gesetz erlegt Pflichten auf, was für gewöhnlich Beschwerden bedeutet, und wer einem anderen Pflichten auferlegen oder seine Freiheit einschränken will, muss sein Recht beweisen, das zu tun. […]

Systeme der Wahrscheinlichkeit

So gut wie alle Moralisten, die dieses Thema behandeln, akzeptieren das Prinzip, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet, aber unterscheiden sich bei dem Grad des Zweifels oder der Wahrscheinlichkeit, die einen von der Verpflichtung durch das Gesetz entbinden würde. Wie zweifelhaft muss das Gesetz sein, um seine Bindungskraft zu verlieren? Muss die Existenz oder die Geltung des Gesetzes zweifelhafter sein als seine Nichtexistenz oder Nichtgeltung, oder ebensosehr zweifelhaft, oder wird jeder Zweifel ausreichen, um einen von der Verpflichtung zu entbinden? Zu diesem Punkt gibt es mehrere Schulen, die unten nach abnehmender Strenge aufgelistet werden.

Damit ein Mensch frei von einer Verpflichtung ist, muss sich zeigen, dass die Nichtexistenz eines Gesetzes, das eine solche Verpflichtung auferlegt, oder die Nichtgeltung des Gesetzes für seinen Fall

(1) sicher oder fast sicher               Tutiorismus
(2) wahrscheinlicher                       Probabiliorismus
(3) gleich wahrscheinlich               Äquiprobabilismus
(4) solide wahrscheinlich               Probabilismus
(5) gerade so möglich                     Laxismus

ist.

Von diesen Systemen sind die beiden Extreme, Tutiorismus und Laxismus, völlig inakzeptabel und werden nur als mögliche Sichtweisen erwähnt. Keine wendet wirklich das Prinzip an, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet. Der Tutiorismus lehrt, dass wir an praktisch jede Verpflichtung gebunden sind, von deren Existenz wir einen begründeten Verdacht haben. Das ist eine unerträgliche Last und in der Praxis praktisch nicht anwendbar. Der Laxismus schafft praktisch jede Verpflichtung ab; ein geringfügiger und unbedeutender Grund bedeutet keine wirkliche Wahrscheinlichkeit, und kann nicht Grundlage für einen vernünftigen Zweifel sein. Wenn das alles ist, was wir haben, sind wir praktisch sicher, dass das Gesetz existiert oder [auf diesen Fall] zutrifft, und sind gehalten, ihm zu gehorchen.

Von den verbleibenden drei Systemen ist der Probabilismus das am meisten akzeptierte System. Er ist die beste Anwendung des Prinzips: ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht. Der Beweis für den Probabilismus sieht folgendermaßen aus:

Ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht, denn die Promulgation gehört zum Wesen des Gesetzes, und ein zweifelhaftes Gesetz ist nicht genügend promulgiert.
Aber ein Gesetz, gegen dessen Existenz oder Geltung ein solide wahrscheinliches Argument steht, ist ein zweifelhaftes Gesetz, da auch nur ein solide wahrscheinliches Argument die Sicherheit der gegenteiligen These zerstört.
Daher bindet ein Gesetz, gegen dessen Existenz oder Geltung ein solide wahrscheinliches Argument steht, nicht.

Wenn wir zeigen können, dass der Äquiprobabilismus zu streng ist, wird folgen, dass der Probabiliorismus unhaltbar ist, da er noch strenger ist. Aber der Äquiprobabilismus ist zu streng, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis, wie die folgenden Argumente zeigen. Daher bleibt, da der Tutiorismus und der Laxismus beide verworfen wurden, nur der Probablismus.

1. Der Äquiprobabilismus ist in der Theorie zu streng. Er richtet sich nach dem Prinzip, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet, aber nimmt an, dass ein Gesetz nicht genügend zweifelhaft ist, um eine Person davon zu entschuldigen, ihm zu gehorchen, wenn nicht die Gründe gegen das Gesetz ebenso wahrscheinlich sind wie die Gründe für das Gesetz. Aber es gibt keinen Grund dafür, gleiche Gründe auf beiden Seiten zu verlangen. Eine Verpflichtung existiert nicht, wenn sie nicht sicher ist, da das Gesetz, das eine solche Verpflichtung auferlegen würde, nicht genügend promulgiert wurde. Jede These ist zweifelhaft, wenn ein solide wahrscheinlicher Grund gegen sie steht, egal wie viele oder wie stark die Gründe dafür sind. Keine These kann sicher feststehen, wenn es einen solide wahrscheinlichen Grund für ihr Gegenteil gibt.

2. Der Äquiprobabilismus ist in der Praxis zu streng. Das natürliche Sittengesetz ist von Gott nicht dazu gedacht, dem Menschen unvernünftige und unerträgliche Bürden aufzuerlegen. Aber das Abwägen der Wahrscheinlichkeiten auf jeder Seite, um herauszufinden, ob sie gleich sind, oder größer auf der einen Seite als auf der anderen, wäre eine unvernünftige Bürde. Der Durchschnittsmensch hat weder die Zeit noch das Wissen noch die Befähigung für einen solchen Vergleich. Die Gelehrten sind nach Jahren des Studiums oft unfähig, den exakten Umfang der Wahrscheinlichkeit auf jeder Seite eines Falls festzulegen. In der Praxis müssen Entscheidungen für gewöhnlich prompt getroffen werden, und müssen trotzdem mit einem sicheren Gewissen getroffen werden.

Die Äquiprobabilisten verlangen natürlich kein mathematisches Messen der Wahrscheinlichkeiten auf jeder Seite, sondern sagen, dass wir der Meinung, die für das Gesetz spricht, folgen müssen, wenn sie sicher wahrscheinlicher ist, und ihr nicht folgen müssen, wenn sie sicher weniger wahrscheinlich ist. Es ist der Fall der Ebenbürtigkeit, oder nahezu Ebenbürtigkeit, bei den Wahrscheinlichkeiten, der die Schwierigkeiten verursacht. Wenn der Zweifel die Existenz des Gesetzes betrifft, sagen sie, dass die Freiheit im Besitzstand ist und das Gesetz nicht befolgt werden muss; aber wenn der Zweifel das Außerkrafttreten des Gesetzes betrifft, ist das Gesetz im Besitzstand und muss befolgt werden. Die Schwierigkeit des Systems bleibt dennoch. Es erfordert ein sorgfältiges Abwägen, wenn auch keine mathematische Messung, des Gewichts der Wahrscheinlichkeit auf jeder Seite und ein weiteres Urteil darüber, wie sorgfältig ein solches Abwägen sein muss, neben der Unterscheidung zwischen der Existenz und dem Außerkrafttreten des Gesetzes. Selbst die gröbste Schätzung des Gewichts der Wahrscheinlichkeit kann oft sehr schwierig sein, zu schwierig für den praktischen Gebrauch.

Es könnte eingewandt werden, dass es nicht schwieriger ist, den Grad der Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, als zu bestimmen, ob oder ob nicht eine Meinung solide wahrscheinlich ist. Ein wenig Nachdenken wird zeigen, dass dem nicht so ist. Solide Wahrscheinlichkeit bedeutet nur, dass eine Meinung wirklich und tatsächlich wahrscheinlich ist, dass die Gründe, die für sie sprechen, nicht lächerlich oder unbedeutend sind, wie solche, mit denen die Laxisten sich zufrieden geben würden. Um zu bestimmen, dass eine Meinung solide wahrscheinlich ist, genügt es, ein paar oder sogar nur ein gutes, gewichtiges Argument für sie zu haben, obwohl die Argumente gegen sie vielleicht stärker sein könnten. Um zu zeigen, dass eine Seite gleiche oder größere Wahrscheinlichkeit für sich hat, wie der Äquiprobabilismus und der Probabiliorismus verlangen, müssen alle Argumente für und gegen sie aufgezählt und ihr jeweiliger Wert abgewogen werden. Das ist oft eine hoffnungslose Aufgabe, die die besten Experten vor ein Rätsel stellt. Der Probabilismus macht sie unnötig.

Muss man bei der Anwendung des Probabilismus konsistent sein? Wenn es wahrscheinlich ist, dass ein Gesetz bindet, ist es auch wahrscheinlich, dass es nicht bindet. Darf eine Person in einem Fall der Meinung folgen, dass das Gesetz bindet, und dann in einem anderen, aber genau gleichen Fall, der Meinung folgen, dass das Gesetz nicht bindet? Da die ganze Theorie des Probabilismus bedeutet, dass man, wenn Sicherheit nicht erreicht werden kann, jeder solide wahrscheinlichen Meinung folgen darf, gibt es keinen Grund, warum man nicht von jeder Meinung Gebrauch machen darf, und daher von unterschiedlichen Meinungen in verschiedenen individuellen Fällen, ob sie ähnlich sind oder nicht. Daher darf ein Anwalt der wahrscheinlichen Meinung folgen, dass ein Testament gültig ist, wenn das seinem Klienten in diesem Fall hilft; dann in einem anderen, aber genau gleichen Fall, darf er der wahrscheinlichen Meinung folgen, dass ein solches Testament ungültig ist, wenn das dem Klienten hilft, den er jetzt hat. Aber in Bezug auf dasselbe einzelne Testament wäre es ihm nicht erlaubt, der Meinung zu folgen, dass es gültig ist, um das Erbe anzunehmen, und auch der gegenteiligen Meinung zu folgen, dass es ungültig ist, um zu vermeiden, die Verbindlichkeiten zu erfüllen; ein und dasselbe individuelle Testament kann nicht gleichzeitig für gültig und ungültig gehalten werden.

Fazit

Diese ganze Angelegenheit der Gewissensbildung scheint eine ganze Menge Feinheiten und Kasuistik zu enthalten. Manche Menschen haben eine gefühlsmäßige Abneigung gegen diese Feinheiten, als einen Gegensatz zu geradliniger Einfachheit und Ehrlichkeit. Das erste, was man als Antwort auf solche Beschwerden anmerken muss, ist, dass man immer dem moralisch sichereren Weg folgen darf. Aber in der Ethik studieren wir nicht nur, was die bessere, edlere, und heldenhaftere Tat ist, sondern auch, was genau ein Mensch streng verpflichtet ist, zu tun. Ein großzügiger Mensch wird nicht um gute Werke feilschen, aber ein aufgeklärter Mensch wird wissen wollen, wann er eine strenge Pflicht erfüllt und wann er großzügig ist.

Genaue moralische Unterscheidung ist besonders notwendig, wenn man das Verhalten anderer beurteilt. In unserem persönlichen Leben können wir vielleicht gewillt sein, auf unsere strengen Rechte zu verzichten und über die Pflicht hinauszugehen, aber wir haben nicht das Recht, anderen eine Verpflichtung aufzuerlegen, das zu tun. Die Grenze zwischen Richtig und Falsch ist schwer zu bestimmen. Es ist närrisch, zu nahe an ihr zu fahren, aber es ist uns nicht erlaubt, einen anderen Menschen eines Fehlverhaltens zu beschuldigen, wenn er sich nicht falsch verhalten hat.“

(Austin Fagothey SJ, Right and Reason. Ethics in theory and practice based on the teachings of Aristotle and St. Thomas Aquinas, Charlotte, North Carolina, 2000 (Nachdruck der 2. Ausg., St. Louis 1959), S. 214-222.)

Zum selben Thema schreibt Heribert Jone so ziemlich das Gleiche, was hier auch zum Vergleich angeführt werden soll; allerdings enthält sein Buch noch ein paar zusätzliche Klugheitsregeln (weiter unten fett hervorgehoben):

92. Die Bildung eines praktisch sicheren Gewissens

Da man nie mit einem praktischen Zweifel über die Legitimität einer Handlung handeln darf (s. Nr. 88), muss man danach streben, ein praktisch sicheres Gewissensurteil zu bilden.

I. Die direkte Lösung eines Gewissenszweifels ist normalerweise einfach genug zu finden, vor allem in den weniger wichtigen Fällen, indem man die Frage näher ansieht und studiert oder indem man Rat sucht.

[…]

93. – II. Eine indirekte Lösung eines Gewissenszweifels, d. h. eine Lösung mit den verschiedenen Moralprinzipien und Moralsystemen, ist erlaubt, wenn man mit den direkten Mitteln keine Sicherheit erreichen kann.

Bei einer solchen Lösung bleibt der theoretische Zweifel, der die Legitimität oder Notwendigkeit einer Aktion betrifft, aber man erreicht dennoch eine Sicherheit darüber, was man gegenwärtig tun darf oder tun muss.

1. Wenn es sich darum handelt, ein notwendiges Ziel zu erreichen, muss man den sichereren Weg wählen, wenn man den theoretischen Zweifel nicht lösen kann.

[…] Wenn es sich um die Spendung der Sakramente handelt, muss man sich aus Respekt vor dem Sakrament, oft auch aufgrund der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe, im Zweifelsfall oft für die Meinung entscheiden, die die gültige Spendung sicher garantiert. Aber wenn man sich bei der Spendung eines Sakraments keine sicher gültige Materie verschaffen kann, kann man sich im Interesse der Seelen mit einer zweifelhaften Materie begnügen. – Wenn es sich um das sichere Recht eines Dritten handelt oder um einen Schaden für ihn, der zu vermeiden ist, muss man sich der Meinung anschließen, die es ermöglicht, dass sein Recht sicher aufrechterhalten wird oder dass die Gefahr von ihm entfernt wird. Daher hat ein Arzt nicht das Recht, gefährliche Heilmittel zu verwenden, wenn er sich andere verschaffen kann; ein Jäger hat nicht das Recht, zu schießen, wenn er Gründe hat, zu fürchten, dass er beim Schießen einen Menschen verletzen könnte.

94. 2. Wenn es sich um die Erlaubtheit einer Handlung handelt, kann man jeder Meinung folgen, die sicherlich gut fundiert ist, auch wenn die gegenteilige Meinung besser fundiert wäre.

a) Eine Meinung ist gut fundiert, wenn sie einen vernünftigen Menschen dazu bewegen kann, ihr zuzustimmen, auch nachdem er die gegenteiligen Gründe abgewogen hat. Die Furcht, dass die gegenteilige Meinung wahr sein könnte, kann dabei fortbestehen.

Die Gründe für eine Meinung können intrinsisch oder extrinsisch sein, je nachdem, ob sie sich auf eine persönliche Prüfung der Frage oder auf die Autorität eines anderen stützen, aber im letzteren Fall nimmt man an, dass jene, deren Meinung man folgt, die Frage selbst studiert haben. […] Ein unkultivierter Mensch muss sich auf das Urteil eines klugen Beichtvaters oder seines Pfarrers verlassen. Die Seelenführer [Beichtväter] können sich auf die Meinung anerkannter Moralisten oder sogar allein auf die des hl. Alphons verlassen.

Es wird in vielen Fällen relativ einfach sein, zu erkennen, dass eine Meinung, die für die Freiheit [vom Gesetz] spricht, gut fundiert ist, indem man auf Klugheitsregeln zurückgreift: im Zweifelsfall ist sich an die allgemein geübte Praxis zu halten (in dubio judicandum est ex communiter contingentibus); im Zweifelsfall muss man sich für die Gültigkeit einer [bereits] vollbrachten Handlung aussprechen (in dubio standum est pro valore actus); niemand darf für einen Übeltäter gehalten werden, bevor seine Bosheit nicht bewiesen ist (nemo malus nisi probetur); im Zweifelsfall muss man großzügig interpretieren, was günstig ist, streng begrenzt interpretieren, was ungünstig ist (favores ampliandi, odiosa restringenda). [Hervorhebungen in fetter Schrift von mir.]

b) Man darf einer auf diese Weise gut fundierten Meinung folgen:

α) In Bezug auf jedes Gesetz.

Es ist hier die Rede von menschlichen Gesetzen wie auch positiven göttlichen Gesetzen und dem Naturrecht. Der Zweifel kann die Existenz des Gesetzes betreffen, sein Außerkrafttreten oder seine Durchführung.

β) Selbst wenn man sich in einem anderen Fall für die gegenteilige Meinung entschieden hat.

Man darf dementsprechend in einem Fall ein Erbe, das aus einem informellen Testament stammt, in Besitz nehmen, und in einem anderen Fall ein Testament dieser Art gerichtlich anfechten. – Aber wenn es sich um ein und dieselbe Handlung handelt, kann man nicht den beiden gegenteiligen Meinungen folgen, da man damit mit Sicherheit das Gesetz verletzen würde. Dementsprechend ist derjenige, der ein Testament, das der juristischen Form entbehrt (informell), angenommen hat, gehalten, die in diesem Testament enthaltenen Vermächtnisse [Schulden] für gültig zu halten und sie zu begleichen.

95. Bemerkung. – Die verschiedenen Moralsysteme.

Da die hier vorgestellte Meinung (Nr. 94) nicht von allen Moralisten geteilt wird, werden wir eine kurze Übersicht über die verschiedenen Moralsysteme geben.

a) Der absolute Tutiorismus lehrt, dass man jedes Mal, wenn es verschiedene Meinungen gibt, die sicherste wählen und sich demnach für das Befolgen des Gesetzes aussprechen muss; allein die offenkundige Gewissheit des Gegenteils kann uns von der Verpflichtung befreien.

b) Nach dem abgeschwächten Tutiorismus ist man von der Verpflichtung durch das Gesetz befreit, wenn die Meinung, die für die Freiheit spricht, sehr wahrscheinlich ist.

c) Der Probabiliorismus lehrt, dass man der Meinung, die für die Freiheit spricht, nur folgen darf, wenn diese Meinung wahrscheinlicher ist als jene, die für das Gesetz spricht.

d) Der Äquiprobabiliorismus verlangt, dass die Meinung, die für die Freiheit spricht, gleich wahrscheinlich oder fast gleich wahrscheinlich ist wie die Meinung, die für das Gesetz spricht. Allerdings könnte man dieses Prinzip nur bei einem Zweifel über die Existenz des Gesetzes anwenden, aber nicht bei einem Zweifel über sein Außerkrafttreten oder seine Erfüllung.

e) Der Kompensationismus lehrt, dass es im Zweifel über die Erlaubtheit einer Handlung einen genügend ernsthaften Grund braucht, um sich für die Meinung, die gegen das Gesetz spricht, zu entscheiden. Je wichtiger das Gesetz ist, und je wichtiger die Gründe sind, die für es sprechen, desto ernstere Gründe muss man haben; um so die Gefahr einer materiellen Gesetzesübertretung zu vermeiden.

f) Der Probabilismus lehrt die Sichtweise, die weiter oben dargelegt wurde (Nr. 94), nämlich dass man die Meinung, die für die Freiheit spricht, wählen darf, vorausgesetzt, dass sie gut fundiert ist, selbst wenn die gegenteilige Meinung wahrscheinlicher ist.

g) Nach dem Laxismus kann man der Meinung folgen, die für die Freiheit spricht, selbst wenn sie nur kaum oder zweifelhaft wahrscheinlich ist.

Um die Systeme zu beurteilen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass der Tutiorismus und der Laxismus von der Kirche verurteilt wurden. Was die anderen angeht, so sind sie alle erlaubt.

In der Praxis strebe der Beichtvater danach, was seine persönlichen Angelegenheiten betrifft, immer freiwillig das Vollkommenere zu wählen, und seinen Pönitenten zuzureden, dasselbe zu tun. Aber dass er nicht vergesse, dass er nicht das Recht hat, seine Meinung seinen Pönitenten aufzuzwingen, wenn die gegenteilige Meinung wahrscheinlich ist (s. Nr. 605).“ 

(Heribert Jone OFMCap, Précis de théologie morale catholique, ins Französische übersetzt von Marcel Gautier, 5. Ausg., Mulhouse 1935, Nr. 92-95; zurück ins Deutsche übersetzt von mir.)

Was habe ich eigentlich gegen die sog. Aufklärung? Teil 3: Weitere Kritikpunkte

Im den ersten beiden Teilen habe ich auf die wichtigsten Argumente geantwortet, die gerne pro Aufklärung vorgebracht werden; heute noch ein bisschen eigene Kritik.

1) Zu etwas, das ich teilweise schon angesprochen habe: Bei einigen der beliebten Schlagworte der Aufklärung, wie Freiheit und Gleichheit, handelt es sich einfach oft um beliebig deutbare Schlagworte. Diese zwei Dinge etwa können gut oder schlecht sein, je nachdem, was genau damit gemeint ist – z. B. ist Gleichheit vor dem Gesetz etwas Gutes, erzwungene Einheitlichkeit in anderen Dingen etwas Schlechtes. (Vielleicht wäre es praktischer, den Begriff Gleichheit durch den Begriff Gerechtigkeit zu ersetzen?) Und Freiheit: Freiheit wovon? Freiheit wozu? Oft wird das nicht so ganz klar.

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“? Nun ja, zumindest bei der Art Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die die sog. Aufklärung historisch gebracht hat, ist auch einiges Schlechte dabei gewesen.

Die aufklärerische Freiheits-Idee hat viel zu viel Gleichgültigkeit gegenüber dem objektiv Guten und Wahren gebracht. Soll doch jeder seine eigene Wahrheit haben. Über den religiösen Indifferentismus habe ich hier aber eigentlich schon genug gesagt. Die Ideen gewisser libertins im Bereich der Moral normalisierten auch die Scheidung und andere wirklich schädliche Dinge. Der wirtschaftliche Liberalismus dann (Abschaffung der Zünfte!) führte mit zur Verelendung und Rechtlosigkeit der großen Masse der Arbeiter im 19. Jahrhundert. Der Meinungsliberalismus half allgemein dabei, dass auch die allerdümmsten und schädlichsten Ideen Anhänger gewinnen konnten, weil, „soll doch jeder seine Meinung haben, wie kannst du dem sagen, er soll das und das nicht glauben“.

Darunter waren auch die Ideen eines Karl Marx, der auf besagte Verelendung reagierte, und es mit der Gleichheit dafür arg übertrieb. Gewaltsame Gleichmacherei funktioniert halt doch nicht immer. Es sollte bekannt sein, zu wie vielen Millionen Toten der Kommunismus geführt hat.

Und Brüderlichkeit? Die späte Aufklärung und die Französische Revolution haben auch den Nationalismus hervorgebracht, indem sie die nationale Brüderlichkeit zum Idol erhoben (siehe z. B. in Deutschland die „national-liberale Bewegung“), und damit sind sie auch nicht ganz unschuldig an solchen Schlamasseln wie dem Deutsch-Französischen Krieg, einem daraus resultierenden Deutschen Reich unter Preußenführung, und dem Ersten Weltkrieg.

Man kann den Begriff „Brüderlichkeit“ auch noch von einer anderen Warte aus betrachten: als Gegenbegriff zum „Patriarchat“. Bei den Revolutionen des 18./19. Jahrhunderts befreiten sich die Amerikaner oder Franzosen einerseits von ihren „Landesvätern“, den Königen, und richteten Republiken gleichberechtigter „Brüder“ auf – jedenfalls war das das proklamierte Ideal -, aber man muss die Brüderlichkeit nicht nur als politischen Begriff verstehen: Die Aufklärung trat gewissermaßen auch für eine „brotherhood of men without the fatherhood of God“ ein, um einen Ausdruck zu zitieren, den Chesterton irgendwo verwendet haben müsste. Aber da es überhaupt erst der gemeinsame Vater ist, der die Brüder zu Brüdern macht*, lässt sich eine solche Brüderschaft nicht so gut durchhalten; wenn der gemeinsame Schöpfer nicht mehr gesehen wird, sieht man auch weniger, was einen mit anderen Menschen verbindet.

2) Die Aufklärung ist Marta, die Maria nicht verstehen will.

Viele Aufklärer waren einem strengen, innerweltlichen Nützlichkeitsdenken verfallen. Ich habe in den letzten Teilen schon auf ihre Abneigung gegen die kontemplativen Orden hingewiesen; auch dem Beten allgemein konnten sie nicht viel abgewinnen, woran sie an die heutigen Internetatheisten erinnern, die sich ja auch jedes Mal aufregen, wenn Gläubige es wagen, für die Opfer irgendeiner Naturkatastrophe zu beten, und dann fleißig ihre Zeit dafür aufwenden, zu predigen, dass man lieber spenden sollte, was sie, da bin ich sicher, auch selber in ganz besonders hohem Maße tun, während Christen es natürlich neben ihrem Beten nie tun. (Sorry für den Sarkasmus.) Aufgeklärte Fürsten reduzierten oft die Zahl der Feiertage, damit die Leute mehr arbeiteten und die Wirtschaft angekurbelt wurde. Die Aufklärer erinnern mit alldem an die hl. Marta, die der Herr einmal zurechtweisen musste:

„Als sie weiterzogen, kam er in ein Dorf. Eine Frau namens Marta nahm ihn gastlich auf. Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß. Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu. Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen zu dienen. Sie kam zu ihm und sagte: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen! Der Herr antwortete: Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden.“ (Lk 10,38-42)

Man könnte bei dieser Erzählung annehmen, dass Marta sich zu viel Mühe macht, einen zu großen Wirbel um die Gäste veranstaltet, und Jesus schon von ihr genervt ist. So könnte es gewesen sein. Muss es allerdings nicht; an sich tut Marta etwas Gutes und Notwendiges; und Jesus wird sich sicher auch über das gute Essen und das warme Feuer gefreut haben. Aber noch mehr hat er sich offensichtlich darüber gefreut, dass Maria ihm einfach zuhören wollte, und erst, als Marta ihre Schwester davon wegholen will, weist er sie zurecht.

Für so etwas hätten die Aufklärer kein Verständnis gehabt. Zeitverschwendung, einfach bei Gott zu sein, ohne etwas zu tun; Selbstsucht, die Arbeit anderen zu überlassen.

Das liegt vielleicht auch daran, dass sie nicht mehr glaubten, dass Gott letztlich für die Welt sorgte; dass sie meinten, sie selbst erlösen zu müssen (und das zu können – auch die Illusion, ein irdisches Paradies schaffen zu können, kam unter ihnen auf). Wenn man den Leuten eine Universalverantwortung auflädt, die sie tatsächlich nicht haben, dann schafft man ihnen halt ein schlechtes Gewissen, wenn sie nicht jederzeit alles tun, um die Welt zu retten. Ich will hier keinen Fatalismus predigen; aber ein realistischer Blick darauf, wie viel der einzelne tatsächlich ändern wird, ist schon manchmal ganz gut.

Und letztlich hat Gott die Menschen ja nicht zu einem bestimmten praktischen Zweck gemacht, sondern dazu, dass sie sind und leben und sich an der Gemeinschaft mit Ihm erfreuen – so ähnlich, wie ein Künster Kunstwerke schafft, so ähnlich, wie Eltern Kinder zeugen. Dann dürfen Sie das auch mal tun: einfach nur bei Gott sein, einfach nur beten. Darf jeder mal. Braucht auch jeder mal – auch, um dann die Kraft für das praktische Handeln zu gewinnen.

Und natürlich war es bei den kontemplativen Orden durchaus so, dass sie zwar nicht für so viele karitative Tätigkeiten verantwortlich waren wie andere Orden, aber auch Handarbeit betrieben, um für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen, und dass ja gerade ihr Gebet alles andere als unnütz für andere war. (Die Aufklärer glaubten zwar nicht mehr an die Wirkung des fürbittenden Gebets, aber das heißt ja nicht, dass sie nicht da ist.) Jedenfalls waren sie ganz sicher „nützlicher“ als irgendein weltkluger Schreiberling, der sich von seinen adligen Mäzenen aushalten ließ. Sorry-not-sorry.

Auch Chesterton hat einmal etwas über Maria und Marta geschrieben:

„Etwas Ähnliches mag über den Vorfall mit Martha und Maria gesagt werden, der im Rückblick und aus der Innenperspektive von den Mystikern des christlichen kontemplativen Lebens interpretiert wurde. Aber das war überhaupt keine offensichtliche Sicht darauf; und bei den meisten Moralisten des Altertums und der Moderne könnte man darauf vertrauen, dass sie auf das Offensichtliche anspringen würden. Welche Ströme von müheloser Eloquenz wären aus ihnen geflossen, um jede kleine Überlegenheit auf Marthas Seite aufzublähen, welche glanzvollen Predigten über die Freude-des-Dienens und das Evangelium-der-Arbeit und Die-Welt-besser-zurücklassen-als-wir-sie-vorgefunden haben, und generell all die zehntausend Platitüden, die dafür geäußert werden können, sich Mühe zu machen – von Leuten, die sich keine Mühe damit machen müssen, sie zu äußern. Wenn Christus in Maria, der Mystikerin und dem liebenden Kind, den Samen etwas Subtilerem bewahrte, wer hätte das wohl zu dieser Zeit verstanden? Niemand sonst konnte Klara und Katharina und Teresa über dem kleinen Dach in Bethanien leuchten sehen.“**

3) Die Aufklärung zensiert den Gott, der ihr nicht passt.

Ich habe noch nie eine sinnvolle Begründung für die aufklärerische Ablehnung des Christentums gelesen. In dieser Zeit kam ja z. B. die Idee auf, Jesus wäre nur ein Moralprediger gewesen, den seine Anhänger später zum Gott erklärt hätten. Das ist immer Wunschdenken der reinsten Sorte gewesen. Halbwegs logisch wäre es noch gewesen, wenn sie Ihn einfach abgelehnt hätten für Seine Ansprüche, Sünden vergeben und die Welt erlösen zu können (manche taten das auch und erklärten ihn einfach zum Betrüger – obwohl sie auch dafür die gut bezeugten Wunder, die Er getan hat, und Seine Auferstehung leugnen mussten), aber das? Als ob es bei den streng monotheistischen Juden jemals vorgekommen wäre, dass ein normaler Prophet für göttlich erklärt worden wäre. Als ob sie irgendeinen Ansatzpunkt für ihre Thesen dazu gehabt hätten, was in den Evangelien vom „historischen Jesus von Nazareth“ stamme und was nicht.

Ich hatte ja in der 9. und 10. Klasse (also etwa zu der Zeit, als ich begonnen habe, meinen Glauben ernst zu nehmen) mal eine ziemlich schreckliche Religionslehrerin, eine etwas ältere Frau Doktor. Diese Lehrerin meinte einmal, die Stellen in den Evangelien, an denen Jesus von der Hölle redet, seien erst später von den Gemeindeleitern der frühen Kirche eingefügt worden, um ihre Gemeinden auf Linie zu bringen, das haben „Bibelwissenschaftler herausgefunden“ oder so ähnlich (wie genau, sei jetzt zu kompliziert zu erklären). Tatsächlich ist es ganz interessant, dass in denjenigen Schriften aus dem Neuen Testament, die von den Autoritätsfiguren der frühen Kirche direkt an bestimmte Gemeinden gerichtet waren, gerade eher wenig von der Hölle die Rede ist, und wenn, dann eher in indirekter Sprache – so etwas wie „Denn wer davon isst und trinkt, ohne den Leib zu unterscheiden, der zieht sich das Gericht zu, indem er isst und trinkt“ (1 Kor 11,29). Beinahe wie in heutigen Predigten, wo man ja auch lieber von der Erlösung spricht und höchstens verschämt und mit vielen Erklärungen mal von der theoretischen „Möglichkeit der ewigen Trennung von Gott“ oder so redet. Aber wenn jemand Lebensbeschreibungen unseres Herrn schreibt, kriegen wir auf einmal so drastische Sätze wie „Wenn dir deine Hand Ärgernis gibt, dann hau sie ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen, in das nie erlöschende Feuer (Mk 9,43), oder, in einem Gleichnis, „Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.“ (Mt 25,30), oder, bei der Rede vom Weltgericht, „Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.“ (Mt 25,41-43).

Die meisten Aufklärer wollten Jesus nicht ganz aufgeben, weil er überall als das große Vorbild galt und die Leute an Ihm hingen, also deuteten sie Ihn eben so um, bis Er ihnen passte, bis Er bloß noch ein großes moralisches Vorbild war – egal, wie sehr sie dafür die Quellen in unlogischster Weise verstümmeln mussten.

Das komischste – und deutlichste – Beispiel für diese Art von selbstgebasteltem Jesusbild ist ja die sog. Jefferson-Bibel. Der US-amerikanische Gründervater und dritte Präsident schnitt aus seiner Bibel Stellen aus den Evangelien aus, die er dann in ein leeres Buch klebte, das er „The Life and Morals of Jesus of Nazareth“ nannte (das Buch war nur für den privaten Gebrauch bestimmt, wurde in der Familie weitergegeben und dann erst 1904 im Auftrag des amerikanischen Kongresses veröffentlicht); das waren eben vor allem die Stellen, die Jesu Morallehre enthalten.  Wundergeschichten, Engel, Sätze über den Menschensohn oder die Vergebung der Sünden oder darüber, dass seine Jünger das Martyrium zu erwarten hätten, das alles wurde bei dieser Bastelei verworfen. Als „Life and Morals of Jesus of Nazareth“ hatte nur das zu gelten, was Thomas Jefferson gefiel.

Auch hier passt wieder etwas, das Chesterton geschrieben hat, sehr gut:

„Das Argument, das das Rückgrat dieses Buches bilden soll, ist von der Art, die reductio ad absurdum genannt wird. Es zeigt auf, dass die Resultate, wenn man die rationalistische These annimmt, irrationaler sind als die unsrigen; aber um das zu beweisen, müssen wir diese These annehmen. Daher habe ich im ersten Teil den Menschen oft als ein bloßes Tier behandelt, um zu zeigen, dass das Ergebnis unvorstellbarer wäre als wenn man ihn als einen Engel behandeln würde. In dem Sinne, wie es nötig war, den Menschen als ein bloßes Tier zu behandeln, ist es nötig, Christus als bloßen Menschen zu behandeln. […] Ich muss versuchen, mir vorzustellen, was einem Menschen passieren würde, der die Geschichte Christi wirklich als die Geschichte eines Menschen lesen würde; und sogar als die eines Menschen, von dem er noch nie zuvor gehört hat. Und ich will aufzeigen, dass eine solche wirklich unparteiische Lesart, wenn nicht direkt zum Glauben, so zumindest zu einer Verwirrung führen würde, für die es wirklich keine andere Lösung gibt als den Glauben. […]

Nun ist es überhaupt nicht leicht, das Neue Testament als ein Neues Testament zu lesen. […] Da gibt es eine psychologische Schwierigkeit, diese wohlbekannten Worte einfach so zu sehen, wie sie dastehen, und ohne darüber hinauszugehen, wofür sie in sich stehen. Und diese Schwierigkeit muss tatsächlich sehr groß sein; denn das Resultat daraus ist oft sehr kurios. Das Resultat daraus ist, dass die meisten modernen Kritiker und die meiste derzeitige Kritik, sogar die populäre Kritik, einen Kommentar abgibt, der das genaue Gegenteil der Wahrheit ist. Er ist so vollständig das Gegenteil der Wahrheit, dass man sie fast verdächtigen könnte, das Neue Testament überhaupt nie gelesen zu haben.

Wir alle haben die Leute hunderte Male sagen hören, denn sie scheinen nie müde zu werden, es zu sagen, dass der Jesus des Neuen Testaments tatsächlich ein besonders barmherziger und humaner Freund der Menschheit sei, aber dass die Kirche seinen menschlichen Charakter hinter abstoßenden Dogmen versteckt und ihn mit sakralen Schrecken hart gemacht habe, bis er einen unmenschlichen Charakter angenommen habe. Das ist, ich wage es, mich zu wiederholen, fast das genaue Gegenteil der Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass es das Bild Christi in den Kirchen ist, das fast nur gütig und barmherzig ist. Es ist das Bild Christi in den Evangelien, das auch noch eine ganze Menge anderer Dinge ist. Die Figur in den Evangelien spricht tatsächlich in Worten von beinahe herzzerbrechender Schönheit ihr Mitleid für unsere zerbrochenen Herzen aus. Aber das ist bei weitem nicht die einzige Sorte Worte, die er ausspricht. Dennoch ist das fast die einzige Sorte Worte, von denen die Kirche in ihrer populären Darstellung zeigt, wie er sie ausspricht. Diese populäre Darstellung ist inspiriert durch einen absolut gesunden populären Instinkt. Die große Masse der Armen ist gebrochen, und die große Masse der Menschen ist arm, und für die große Masse der Menschheit ist es die Hauptsache, die Überzeugung von der unglaublichen Barmherzigkeit Gottes in sich zu tragen. Aber niemand, der seine Augen offen hat, kann daran zweifeln, dass es vor allem diese Vorstellung von Barmherzigkeit ist, die die populäre Maschinerie der Kirche zu transportieren sucht. Die populäre Darstellung transportiert absolut im Übermaß die Vorstellung des ‚gütigen und milden Jesus‘. Das ist das erste, was ein Außenseiter an einer Schmerzensmutter oder einem Schrein des Heiligen Herzens Jesu bemerkt und kritisiert. Wie ich meine, während die Kunst vielleicht unzulänglich sein mag, bin ich mir nicht sicher, dass der Instinkt unzuverlässig ist. Auf jeden Fall ist etwas Erschreckendes, etwas, das das Blut gerinnen lässt, an der Vorstellung davon, eine Statue von Christus im Zorn zu haben. Da ist etwas Unerträgliches selbst an der Vorstellung davon, um eine Straßenecke zu biegen oder auf einen Marktplatz hinauszutreten, um die versteinernde Steinfigur dieser Gestalt zu sehen, wie sie sich einer Generation von Vipern zuwendet, oder dieses Gesicht, wie es in das Gesicht eines Heuchlers blickt. Die Kirche kann daher vernünftigerweise gerechtfertigt werden, wenn sie den Menschen das barmherzigste Gesicht oder den barmherzigsten Aspekt zuwendet; aber es ist sicher der barmherzigste Aspekt, den sie ihnen zuwendet. Und der Punkt ist hier, dass er in besonderer und exklusiver Weise sehr viel barmherziger ist als irgendein Eindruck, den ein Mensch, der das Neue Testament einfach zum ersten Mal liest, erhalten könnte. Ein Mensch, der einfach die Worte der Erzählung so liest, wie sie dastehen, würde einen ganz anderen Eindruck erhalten; einen Eindruck voll des Unerklärlichen und vielleicht des Widersprüchlichen; aber sicherlich nicht nur einen Eindruck der Milde. Es wäre extrem interessant; aber ein Teil des Interessanten würde darin bestehen, dass es eine Menge zu erraten oder zu erklären übrig lässt. Es ist voller plötzlicher Gesten, die offensichtlich bedeutsam sind, nur dass wir kaum wissen, was sie bedeuten, voll von rätselhaftem Schweigen und ironischen Entgegnungen. Die Zornesausbrüche, wie Stürme über unserer Atmosphäre, scheinen nicht genau da auszubrechen, wo wir sie erwarten würden, sondern einer ganz eigenen Wetterkarte zu folgen. Der Petrus, den die populäre Kirchenlehre präsentiert, ist ganz richtig der Petrus, zu dem Christus vergebend sagt ‚Weide meine Schafe‘. Er ist nicht der Petrus, zu dem Christus sich wendet, als ob er der Teufel wäre, in diesem undurchsichtigen Zorn ausrufend ‚Weiche von mir, Satan‘. Christus klagte mit nichts als Liebe und Mitleid um Jerusalem, das ihn ermorden sollte. Wir wissen nicht, welche seltsame geistliche Atmosphäre oder geistliche Einsicht ihn dazu brachte, Bethsaida tiefer in die Grube zu senken als Sodom. […]

Das erste, was man bemerkt, ist, dass, wenn man es nur als eine menschliche Geschichte ist, es in mancher Weise eine sehr seltsame Geschichte ist. […] An ihr sind eine Menge Dinge, die niemand erfunden hätte, da sie Dinge sind, aus denen niemand je einen besonderen Nutzen gezogen hat; Dinge, die, wenn sie überhaupt notiert wurden, eher Rätsel geblieben sind. Zum Beispiel ist da dieses lange Schweigen im Leben Christi bis zum Alter von dreißig. […] Die gewöhnliche Tendenz zur Heldenverehrung und Legendenbildung würde viel eher das genaue Gegenteil sagen. Sie würde viel eher sagen (wie, so glaube ich, es einige der Evangelien sagen, die die Kirche abgelehnt hat) dass Jesus eine göttliche Frühreife zeigte und seine Mission in einem wundersam jungen Alter begann. […] Nun ist die ganze Geschichte voll von diesen Dingen. Sie ist in keiner Weise, wie es unverblümt schwarz auf weiß behauptet wird, eine Geschichte, bei der es einfach ist, zum Kern vorzustoßen. Sie ist alles andere als das, was diese Leute ein einfaches Evangelium nennen. Relativ gesehen ist es das Evangelium, das den Mystizismus hat, und die Kirche, die den Rationalismus hat. Ich würde natürlich sagen, dass das Evangelium das Rätsel ist und die Kirche die Antwort. Aber was auch immer die Antwort sein mag, das Evangelium ist, wie es dasteht, beinahe ein Buch der Rätsel.

Zunächst einmal würde ein Mensch, der die Aussagen in den Evangelien liest, keine Binsenweisheiten finden. Wenn er selbst mit dem respektvollsten Geist die Mehrheit der antiken Philosophen und modernen Moralisten gelesen hätte, würde er die einzigartige Bedeutung dessen schätzen, sagen zu können, dass er keine Binsenweisheiten gefunden hat. Das ist mehr, als sogar über Plato gesagt werden kann. Es ist sehr viel mehr als über Epiktet oder Seneca oder Mark Aurel oder Apollonius von Tyana gesagt werden kann. Und es ist unermesslich viel mehr als über die meisten agnostischen Moralisten und die Prediger der Ethischen Gesellschaften gesagt werden kann; mit ihren Lobliedern auf das Dienen und ihrer Religion der Brüderlichkeit. Die Moral der meisten antiken und modernen Moralisten war ein massiver und hochglanzpolierter Katarakt von Binsenweisheiten, der bis in alle Ewigkeit weiterfloss. Das wäre sicherlich nicht der Eindruck des imaginären unabhängigen Außenseiters, der das Neue Testament studiert. […] Er würde eine Reihe seltsamer Behauptungen finden, die klingen mochten wie die Behauptung, der Bruder von Sonne und Mond zu sein; eine Reihe sehr überraschender Ratschläge; eine Reihe verblüffender Zurechtweisungen; eine Reihe seltsam schöner Geschichten. Er würde einige gigantische Redewendungen über die Unmöglichkeit, eine Nadel mit einem Kamel aufzufädeln, oder die Möglichkeit, einen Berg ins Meer zu werfen, sehen. Er würde eine Reihe sehr gewagter Vereinfachungen der Schwierigkeiten des Lebens sehen, wie den Rat, über jeden gleichermaßen zu leuchten wie der Sonnenschein oder sich nicht mehr Sorgen um die Zukunft zu machen wie die Vögel. […]

Aber der Punkt hier ist, dass, wenn wir die Berichte der Evangelien als so etwas Neues wie Zeitungsberichte lesen könnten, sie uns viel mehr verwirren und vielleicht erschrecken würden als dasselbe, wie es sich im historischen Christentum entwickelt hat. Zum Beispiel sagte Christus nach einer klaren Anspielung auf die Eunuchen der östlichen Königshöfe, dass es Eunuchen des Königreichs des Himmels geben würde. Wenn das nicht den freiwilligen Enthusiasmus der Jungfräulichkeit meint, könnte man es nur als etwas sehr viel Unnatürlicheres oder Brutaleres verstehen. Es ist die historische Religion, die es für uns durch die Erfahrung von Franziskanern oder Schwestern der Barmherzigkeit humanisiert. Die bloße Aussage, wie sie in sich selbst dasteht, könnte auch eine eher entmenschlichte Atmosphäre suggerieren; die finstere und unmenschliche Stille des asiatischen Harems und Divans. Das ist nur ein Beispiel von vielen; aber die Moral der Geschichte ist, dass der Christus der Evangelien vielleicht tatsächlich seltsamer und schrecklicher scheinen könnte als der Christus der Kirche. […]

Ich halte daher daran fest, dass ein Mensch, der das Neue Testament geradeheraus und frisch lesen würde, nicht den Eindruck von dem bekommen würde, was jetzt oft mit einem menschlichen Christus gemeint ist. Der bloß menschliche Christus ist eine erfundene Figur, ein Teil, das von künstlicher Auslese her kommt, wie der bloß evolutionäre Mensch. Überdies hat es zu viele dieser menschlichen Christusse gegeben, die in derselben Geschichte gefunden wurden, genauso, wie es zu viele Schlüssel zur Mythologie  gegeben hat, die in den selben Geschichten gefunden wurden. Drei oder vier separate Schulen des Rationalismus haben den Grund abgegrast und drei oder vier gleich rationale Erklärungen seines Lebens gefunden. Die erste rationale Erklärung seines Lebens war, dass er nie gelebt hat. Und das hat wiederum die Gelegenheit für drei oder vier verschiedene Erklärungen gegeben, so wie etwa, dass er ein Sonnenmythos oder ein Kornmythos war oder irgendeine andere Art eines Mythos, der auch eine Monomanie ist. Dann hat die Vorstellung, dass er ein göttliches Wesen war, das nicht existiert hat, der Vorstellung Platz gemacht, dass er ein menschliches Wesen war, das existiert hat. In meiner Jugend war es Mode zu sagen, dass er bloß ein ethischer Lehrmeister nach Art der Essener gewesen sei, der anscheinend nicht viel zu sagen hatte, was nicht Hillel oder hundert andere Juden gesagt haben könnten; wie etwa, dass es eine gute Sache ist, gütig zu sein, und der Läuterung dienlich, lauter zu sein. Dann sagte jemand, er sei ein Verrückter mit einer messianischen Wahnvorstellung. Dann sagten andere, dass er tatsächlich ein origineller Lehrer war, weil er sich um nichts anderes kümmerte als den Sozialismus; oder (wie andere sagten) um nichts als den Pazifismus. Dann erschien ein grimmigerer wissenschaftlicher Charakter, der sagte, dass man überhaupt nie von Jesus gehört hätte, wenn nicht wegen seiner Prophezeiungen über das Ende der Welt. Er war von Bedeutung nur im selben Sinne wie ein Milleniarist wie Dr. Cumming; und schuf eine provinzielle Panik, indem er das genaue Datum des Jüngsten Gerichts ankündigte. Unter anderen Variationen derselben Melodie war die Theorie, dass er ein spiritueller Heiler war und nichts anderes; eine Sicht, die von der Christian-Science-Sekte angenommen wird, die tatsächlich ein Christentum ohne die Kreuzigung lehren muss, um die Heilung der Mutter von Petrus‘ Frau oder der Tochter eines Centurios zu erklären. Da ist noch eine andere Theorie, die sich ganz auf das Geschäft des Diabolismus konzentriert und das, was sie den zeitgenössischen Aberglauben über von Dämonen Besessene nennen würde, als ob Christus, wie ein junger Diakon, der seine erste Weihe empfängt, nur bis zu Exorzismen gekommen wäre und nie weiter. Nun scheint mir jede dieser Erklärungen für sich genommen ziemlich inadäquat, aber zusammengenommen zeigen sie etwas von dem Mysterium, das sie verfehlen. Da muss sicher etwas nicht nur Mysteriöses, sondern Vielseitiges an Christus gewesen sein, wenn man so viele kleinere Christusse aus ihm ausschneiden kann. […]

Vor allem, würde nicht ein solcher neuer Leser des Neuen Testaments über etwas stolpern, das ihn viel mehr erschrecken würde, als es uns erschreckt? […] Wir sollten einen schlimmeren Schock erleben, wenn wir uns wirklich vorstellen würden, dass die Natur Christi zum ersten Mal benannt würde. Was würden wir fühlen beim ersten Flüstern einer gewissen Andeutung über einen gewissen Mann? Sicherlich ist es nicht an uns, irgendjemandem Vorwürfe zu machen, der dieses erste wilde Gerücht einfach nur pietätlos und verrückt finden würde. Im Gegenteil, über diesen Stein des Anstoßes zu stolpern ist der erste Schritt. Nackte Ungläubigkeit ist ein sehr viel loyalerer Tribut gegenüber dieser Wahrheit als eine modernistische Metaphysik, die aus ihr nur eine Sache des Grades machen würde. Es wäre besser, unsere Gewänder zu zerreißen mit einem Schrei über Gotteslästerung, wie Kaiaphas bei der Verurteilung, oder den Mann als einen von Teufeln besessenen Wahnsinnigen festnehmen zu wollen wie die Verwandten und die Menge, anstatt dämlich dazustehen und feine Schattierungen des Pantheismus zu debattieren im Angesicht einer so katastrophalen Behauptung. Da ist mehr Weisheit, die eins ist mit Überraschung, in jeder einfachen Person, die voll der Empfindsamkeit der Einfachheit ist, und die erwarten würde, dass das Gras verdörrt und die Vögel tot vom Himmel fallen, als ein herumwandernder Zimmermannslehrling ruhig und beinahe nachlässig, wie einer, der über seine Schulter blickt, sagte: ‚Bevor Abraham wurde, bin ich.'“ ***

Generell behaupteten die Aufklärer ja auch gerne, die Religion sei einfach als Betrug geld- und machtgieriger Priester entstanden. Sie behaupteten es; und sie versuchten gar nicht erst, es zu begründen. Tatsachen, die dem entgegenstanden (z. B. dass das Christentum in seiner Entstehungszeit erst einmal lange verfolgt wurde) ignorierten sie einfach.

4) Einige Aufklärer glaubten an das Konzept vom „edlen Wilden“ – besonders Rousseau: Von Natur aus sei der Mensch gut, nur durch die Prägung durch Umwelt und Erziehung in der Gesellschaft werde er manchmal schlecht. Wenn man Kinder quasi anti-autoritär aufwachsen lasse, würden sie automatisch gut sein. Vielleicht reagierten die Aufklärer damit ja auf das übermäßig pessimistische Bild, das vorher die Reformation vom durch die Erbsünde „total verdorbenen“ Menschen gezeichnet hatte – aber auf jeden Fall redeten sie Unsinn (was ich heutzutage hoffentlich nicht mehr weiter begründen muss).

5) Die Aufklärer hatten dementsprechend auch so ihre falschen Vorstellungen von „Natürlichkeit“. Zölibat und Ordensleben beispielsweise lehnten sie grundsätzlich ab. Askese, Verzicht, Sühne, Buße – alles finsteres Zeug, das man nicht brauchte, denn wir sind doch alle schon mehr oder weniger gute Menschen, oder so. Ich glaube, die Aufklärer hätten mit einem bekehrten Verbrecher wie dem guten Schächer am Kreuz oder Paulus von Tarsus nicht viel anfangen können. Sie waren halt überhebliche intellektuelle bürgerliche Typen, die so die üblichen Sünden begingen, vielleicht mal mit ihrer verheirateten Gönnerin schliefen oder so, ohne das besonders schlimm zu finden. (Okay, ich generalisiere. Der gute Kant war, glaube ich, ein recht strenger Moralist.) Ich habe den Eindruck, dass sie schlimme Verbrechen ebenso wenig verstanden wie große Tugenden. Z. B. redeten sie manchmal so, als würden eh alle Ordensleute ihre Gelübde brechen. (Als ob das so extrem schwierig wäre, die zu halten!) Dazu kann man nur sagen: Schließt mal nicht von euch selber auf andere.

6) Noch mal zu einem der Aufklärer, die ich am wenigsten ausstehen kann, Rousseau. Der war ja, wie hier schon angedeutet, ziemlich totalitär eingestellt; noch ein paar Zitate, die das weiter illustrieren. Rousseau schreibt in seinem Buch über den „Gesellschaftsvertrag“, dass sich jeder Bürger seinem idealen Staat bedingungslos unterordnen müsse, was er mit der Fiktion eines „Gemeinwillens“ begründet, der nicht irren könne (bei dem jedoch nicht ganz klar, wie er bestimmt werden soll); seine Vorstellungen sind hier völlig realitätsfern und für die Praxis gefährlich. Während der Schreckensherrschaft 1793-94 berief sich Robespierre, der Frankreich zu dieser Zeit als dominierendes Mitglied des „Wohlfahrtsausschusses“ quasi diktatorisch regierte, als überzeugter rousseauistischer Fanatiker für seine Säuberungsmaßnahmen auf genau diesen „Gemeinwillen“. Rousseau schreibt:

„Alle diese Klauseln lassen sich, wenn man sie richtig auffaßt, auf eine einzige zurückführen, nämlich auf das gänzliche Aufgehen jedes Gesellschaftsgliedes mit allen seinen Rechten in der Gesamtheit, denn indem sich jeder ganz hingibt, so ist das Verhältnis zunächst für alle gleich, und weil das Verhältnis für alle gleich ist, so hat niemand ein Interesse daran, es den anderen drückend zu machen.

Da ferner dieses Aufgehen ohne allen Vorbehalt geschieht, so ist die Verbindung so vollkommen, wie sie nur sein kann, und kein Gesellschaftsgenosse hat irgend etwas Weiteres zu beanspruchen, denn wenn den einzelnen irgendwelche Rechte blieben, so würde in Ermangelung eines gemeinsamen Oberherrn, der zwischen ihnen und dem Gemeinwesen entscheiden könnte, jeder, der in irgendeinem Punkte sein eigener Richter ist, auch bald verlangen, es in allen zu sein; der Naturzustand würde fortdauern, und die gesellschaftliche Vereinigung tyrannisierend oder zwecklos sein.

Während sich endlich jeder allen übergibt, übergibt er sich damit niemandem, und da man über jeden Gesellschaftsgenossen das nämliche Recht erwirbt, das man ihm über sich gewährt, so gewinnt man für alles, was man verliert, Ersatz und mehr Kraft, das zu bewahren, was man hat.

Scheidet man also vom Gesellschaftsvertrage alles aus, was nicht zu seinem Wesen gehört, so wird man sich überzeugen, daß er sich in folgende Worte zusammenfassen läßt: ‚Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.'“ (Buch 1, Kapitel 6)

„Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, daß der allgemeine Wille beständig der richtige ist und immer auf das allgemeine Beste abzielt; daraus folgt jedoch nicht, daß Volksbeschlüsse immer gleich richtig sind. Man will stets sein Bestes, sieht jedoch nicht immer ein, worin es besteht. Das Volk läßt sich nie bestechen, wohl aber oft hinter das Licht führen, und nur dann scheint es Böses zu wollen.

Oft ist ein großer Unterschied zwischen dem Willen aller und dem allgemeinen Willen; letzterer geht nur auf das allgemeine Beste aus, ersterer auf das Privatinteresse und ist nur eine Summe einzelner Willensmeinungen. Zieht man nun von diesen Willensmeinungen das Mehr und Minder, das sich gegenseitig aufhebt, ab, so bleibt als Differenzsumme der allgemeine Wille übrig.

Hätten bei der Beschlußfassung eines hinlänglich unterrichteten Volkes die Staatsbürger keine feste Verbindung untereinander, so würde aus der großen Anzahl kleiner Differenzen stets der allgemeine Wille hervorgehen, und der Beschluß wäre immer gut. Wenn sich indessen Parteien, wenn sich kleine Genossenschaften zum Nachteil der großen bilden, so wird der Wille jeder dieser Gesellschaften in Beziehung auf ihre Mitglieder ein allgemeiner und dem Staate gegenüber ein einzelner; man kann dann sagen, daß nicht mehr soviel Stimmberechtigte wie Menschen vorhanden sind, sondern nur so viele, wie es Vereinigungen gibt. Die Differenzen werden weniger zahlreich und führen zu einem weniger allgemeinen Ergebnis. Wenn endlich eine dieser Vereinigungen so groß ist, daß sie über alle anderen das Übergewicht davonträgt, so ist das Ergebnis nicht mehr eine Summe kleiner Differenzen, sondern eine einzige Differenz; dann gibt es keinen allgemeinen Willen mehr, und die Ansicht, die den Sieg davonträgt, ist trotzdem nur eine Privatansicht.

Um eine klare Darlegung des allgemeinen Willens zu erhalten, ist es deshalb von Wichtigkeit, daß es im Staate möglichst keine besonderen Gesellschaften geben und jeder Staatsbürger nur für seine eigene Überzeugung eintreten soll.Deshalb war die auf diesem Grundsatze beruhende Einrichtung des großen Lykurg so einzig in ihrer Art und so erhaben. Gibt es nun solche besondere Gesellschaften, so muß man ihre Anzahl vermehren und ihrer Ungleichheit vorbeugen, wie Solon, Numa und Servius Tullius taten. Diese Vorsichtsmaßregeln können es einzig und allein bewirken, daß der allgemeine Wille immer klar ersichtlich ist, und das Volk sich nicht irrt.“ (Buch 2, Kapitel 3)

„Alle Dienste, die der Staatsbürger dem Staate zu leisten vermag, ist er ihm schuldig, sobald das Staatsoberhaupt sie verlangt; dagegen kann das Staatsoberhaupt von seiner Seite aus die Untertanen mit keiner dem Gemeinwesen unnützen Fessel belasten, ja, es kann es nicht einmal wollen, denn nach dem Gesetze der Vernunft geschieht ebensowenig wie nach dem Gesetze der Natur etwas ohne Ursache.“ (Buch 2, Kapitel 4)

Und zum Verhältnis von Staat und Religion schreibt er:

„In diese Verhältnisse hinein [die antiken Verhältnisse, in denen die Religion nicht vom Staat getrennt war] kam Jesus, um ein geistiges Reich auf Erden zu errichten; dies hatte durch die Trennung des theologischen Systems vom politischen zur Folge, dass der Staat aufhörte, einer zu sein, und verursachte die Spaltungen, die nie aufgehört haben, Unruhe unter den christlichen Völkern zu stiften. Da nun diese Vorstellung eines Königreichs von einer anderen Welt den Heiden nie in die Köpfe wollte, betrachteten sie die Christen immer als echte Aufständische, die, bei heuchlerischer Unterwürfigkeit, nur auf den Augenblick warteten, sich unabhängig und zu Herren zu machen und sich geschickt der souveränen Gewalt zu bemächtigen, die sie in ihrer Schwäche anzuerkennen vorgaben. Das war der Grund für die Verfolgungen.

Was die Heiden befürchtet hatten, ist eingetreten; hierauf hat alles sein Gesicht verändert, die demütigen Christen haben ihren Ton geändert, und alsbald hat man dieses Königreich, angeblich von einer anderen Welt, auf dieser hier unter einem sichtbaren Oberhaupt zum härtesten Despotismus werden sehen.

Unterdessen ist aus dieser doppelten Gewalt – da es immer einen Fürsten und bürgerliche Gesetze gab – ein ständiger Konflikt der Gesetzgebung erwachsen, der in den ersten christlichen Staaten jede gute Staatsordnung unmöglich gemacht hat, und nie war man endgültig sicher, ob man dem Herrn oder dem Priester zum Gehorsam verpflichtet war.
Mehrere Völker, selbst in Europa oder in seiner Nachbarschaft, wollten indes das alte System bewahren oder erneuern, jedoch ohne Erfolg; der Geist des Christentums hat alles bezwungen. Der Gottesdienst ist immer vom Souverän unabhängig geblieben oder es wieder geworden, ohne notwendige Verbindung mit dem Staatskörper. Mohammed hatte sehr gesunde Ansichten; er knüpfte sein politisches System fest, und solange seine Regierungsform unter seinen Nachfolgern, den Kalifen bestand, war diese Regierung eine völlig einheitliche und darin gut. Aber die Araber, reich, gelehrt, verfeinert, schlaff und faul geworden, wurden von Barbaren unterworfen; da begann die Spaltung von neuem; obwohl sie bei den Mohammedanern weniger offenbar ist als bei den Christen, gibt es sie doch, besonders in der Sekte des Ali, und es gibt Staaten wie Persien, wo sie sich ständig bemerkbar macht.

In unserem Bereich haben sich die englischen Könige zu Häuptern der Kirche gemacht, und ein Gleiches haben die Zaren getan; aber durch diesen Titel sind sie weniger deren Herren geworden als deren Verwalter; sie haben weniger das Recht erworben, sie zu ändern, als die Berechtigung, sie zu bewahren. Sie sind dort nicht Gesetzgeber, sie sind dort nur Fürsten. Überall, wo der Klerus eine Körperschaft bildet, ist er in seinem Bereich Herr und Gesetzgeber. Es gibt deshalb in England und Russland wie auch sonst überall zwei Gewalten, zwei Souveräne.“

Was er weiter über die ideale Staatsreligion schreibt, habe ich hier schon zitiert.

7) Dann wäre da Adam Smiths amoralischer Wirtschaftsliberalismus.

„Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe.“

Ach ja, das kennen vermutlich noch einige aus dem Unterricht in Wirtschaft und Recht. – Natürlich sind alle Menschen bei ihrem wirtschaftlichen Handeln erst einmal auf ihren eigenen Lebensunterhalt bedacht. Diese Art von Selbstliebe ist auch nicht falsch – aber eben nur, solange sie einen nicht dazu bringt, die Nächstenliebe, oder, anders ausgedrückt, die Gerechtigkeit, zu verletzen. Wirtschaftsliberale wie Smith gingen davon aus, die frei waltenden selbstsüchtigen Wünsche der Leute würden sich von allein gegenseitig ausgleichen („unsichtbare Hand“), was aber nie so ganz funktioniert hat, wie man am Kapitalismus des 19. Jahrhunderts sehen kann, allein schon deshalb, weil manche Menschen eine bessere Ausgangsposition haben als andere, um ihrer Selbstsucht zu frönen, und manche Menschen dabei skrupelloser sind als andere. Gesetze gegen zu hohe Preise, gegen zu niedrige Löhne, gegen zu schlechte Arbeitsbedingungen usw. haben sich sehr wohl als nötig herausgestellt. Die „Menschenliebe“ aus der Wirtschaft heraushalten zu wollen, ist halt falsch. Christus hat König über alle Lebensbereiche zu sein.

8) Insgesamt sieht man bei den Aufklärern ein absolut dämliches, naives Fortschrittsdenken. Vor der Aufklärung glaubten die Menschen ja tendenziell eher, die Welt würde immer schlechter werden, sich immer mehr von dem ursprünglichen „Goldenen Zeitalter“ bzw. dem Paradieszustand entfernen. Okay, die Renaissance war da schon etwas anders, etwas selbstbewusster und optimistischer, und die Aufklärung trieb das dann auf die Spitze. Vielleicht war die Ursache dafür die damalige technologische Entwicklung – man hatte schon die Dampfmaschine und die Spinnmaschine und den Heißluftballon erfunden, aber Atombombe und Gaskammern noch nicht, also hielt man den technologischen Fortschritt halt für uneingeschränkt toll.

Aber sie glaubten ja nicht nur an technischen, medizinischen, wirtschaftlichen Fortschritt, sondern auch an moralischen und erkenntnismäßigen – als ob jemand ein besserer Mensch wäre, weil er ein späteres Geburtsdatum hat, oder als ob eine spätere Zeit nicht auch wichtige Erkenntnisse einer früheren verlieren und auf neue dumme Ideen kommen könnte.

Von der Tugend der menschlichen Demut sprachen die Aufklärer fast gar nicht mehr. Ich finde es interessant, dass die Figur des Faust, der bisher als mahnendes Beispiel dafür gegolten hatte, was Hochmut und Selbstüberhebung anrichten können, in etwas positiverer Richtung umgedeutet wurde – „wer immer strebend sich bemüht“ usw., um Goethe zu zitieren.

9) Bei den Ideen einzelner Aufklärer, von denen ich nicht viel halte, wäre auch noch Leibniz‘ Gerede davon, unsere Welt sei die beste aller möglichen Welten – wobei das auch ein anderer Aufklärer, Voltaire, in „Candide“ auf die Schippe genommen hat (allerdings nur auf die Schippe genommen, nicht mit Argumenten widerlegt). Tatsächlich denke ich nicht, dass unsere Welt die beste aller möglichen Welten ist. Vielleicht hat Gott noch andere bessere Welten erschaffen, vielleicht auch nicht; jedenfalls hätte Er wahrscheinlich eine bessere Welt als unsere erschaffen können, hat aber unsere erschaffen. Er musste auch nicht die beste aller möglichen Welten erschaffen – genausowenig, wie ein Künstler das beste aller möglichen Werke erschaffen muss. Ein Künstler kann einfach gute Werke erschaffen, die er mag.

10) Außer den in den letzten zwei Teilen erwähnten angeblichen Errungenschaften der Aufklärung wird ihr auch gerne ein Anteil an der Emanzipation der Frau zugeschrieben. Nun kann man annehmen, dass die aufklärerischen Ideen von Freiheit und Gleichheit letztlich auch zur Frauenbewegung beitrugen. Aber so einfach ist das doch nicht. Olympe de Gouges wurde immerhin von der Ersten Republik guillotiniert. Die meisten Aufklärer hatten für Frauen ausschließlich eine häusliche Rolle vorgesehen; mit politischer Beteiligung der Frau hatten sie gar nichts am Hut. (Wobei aus meiner Sicht ja auch die spätere Frauenbewegung dann nicht ganz so unproblematisch war, v. a. in dem Sinne, dass sie oft familienfeindlich war, dann auch für sexuelle „Befreiung“ eintrat, und schließlich sogar für ein Recht auf Abtreibung.)

11) Ich weiß, ich weiß, man soll lieber Ideen als Personen bewerten. Aber ich möchte trotzdem noch anmerken, dass mir wenige Aufklärer untergekommen sind, die ich persönlich sympathisch finden kann. Ich habe hier schon erwähnt, dass Jefferson ein Sklavenhalter war – er hielt sich auch eine seiner Sklavinnen als Geliebte – und Rousseau alle fünf Kinder, die er mit seiner Mätresse hatte, in Findelheime mit hohen Kindersterblichkeitsraten gab. Der Marques de Pombal ging über die Leichen seiner politischen Gegner, Friedrich II. von Preußen war recht kriegslustig. Voltaire hatte ein Verhältnis mit seiner eigenen Nichte, Diderot war ein serienmäßiger Ehebrecher. Kant scheint in Ordnung gewesen sein, gut. Aber unter allen berühmten Aufklärern gibt es jedenfalls keinen, den man auf eine Stufe mit unseren Heiligen stellen könnte. Oder habe ich hier jemanden übersehen?

Also: Zurück hinter die Aufklärung! Zurück hinter die Reformation! Zurück ins Mittelalter!

* Ja, ich formuliere genderunsensibel, ich weiß.

** G. K. Chesterton, The everlasting man, 2. Teil, 2. Kapitel, Übersetzung von mir.

*** Ebd.

Was habe ich eigentlich gegen die sog. Aufklärung? Teil 2: Zu Toleranz und Demokratie

Heute zu zwei weiteren „Errungenschaften“, für die die Aufklärung gerne gefeiert wird:

3) Glaubens-, Meinungs-, Pressefreiheit

„3) Die Aufklärer haben immer wieder bekräftigt, dass es jedem Menschen erlaubt sein sollte, seine Meinung frei zu äußern. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir heute über Presse- und Meinungsfreiheit verfügen. Dank der Aufklärung müssen wir uns nicht mehr fürchten, als Häretiker auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden, wenn wir eine unbequeme Meinung kundtun und die Dogmen der Kirche hinterfragen (Beispiel: Johannes Hus auf dem Konzil von Konstanz).“

Mit der Glaubens- und der Meinungsfreiheit ist das eine sehr komplizierte Sache. Und ich glaube, ich muss hier erst mal wieder ein bisschen ausholen und einige geschichtliche Sachen nacheinander erzählen, bevor ich zum Punkt kommen kann. Also:

Die Kirche hat immer gelehrt, dass Zwangstaufen ungültig und unerlaubt sind, da Gott will, dass die Menschen freiwillig zu Ihm kommen, und es gar nicht möglich ist, Glauben zu erzwingen. Aber ganz simpel und friedlich war der Umgang mit anderen Glaubensvorstellungen in der Kirchengeschichte bekanntlich trotzdem nicht immer – wofür es vielfältige Gründe gab.

In Antike und Frühmittelalter wurden gelegentlich heidnische Tempel und Götterbilder durch Herrscher, die den christlichen Glauben angenommen hatten, zerstört – bzw. manchmal auch durch christliche Missionare, wie beim hl. Bonifatius und der Donareiche der Fall -, sodass gewisse heidnische Kulthandlungen nicht mehr möglich waren; einerseits wurden so Handlungen, die man als Affront gegen Gott sah, gestoppt; andererseits war das aber auch einfach eine effiziente Methode, um die Heiden von der Machtlosigkeit ihrer Götter zu überzeugen.

File:Bonifatius Donareiche.jpg

(Bonifacius haut in Hessen einen Opferbaum um, Radierung von Bernhard Rode 1781, Gemeinfrei.)

Richtig vorzugehen begannen christliche Herrscher nach der Konstantinischen Wende allerdings nicht gegen Juden oder Heiden – die Heiden ließen sich nach und nach taufen und wurden bis dahin auch toleriert, die Juden hatten einen festen Status als geduldete Außenseiter, für die eigene Regeln galten -, sondern gegen Theologen und Sektengründer innerhalb der Christenheit, die von der Kirchenlehre abweichende Lehren verkündeten (also Häretiker/Ketzer). Mit Verrätern im Inneren geht man ja meistens härter um als mit Feinden da draußen.

Das begann schon in der Antike: Hier wurden z. B. manche solche Theologen von den römischen Autoritäten in ein anderes Gebiet verbannt (das konnte allerdings auch mal die rechtgläubige Seite treffen, wenn der Kaiser einer häretischen Partei, etwa den Arianern, folgte). Nachdem sich etwa in Nordafrika die Donatisten (die glaubten, dass Christen, die in den Zeiten der Verfolgung von der Kirche abgefallen waren, bei ihrer Rückkehr ein zweites Mal getauft bzw., wenn Kleriker, ein zweites Mal geweiht werden müssten) abgespalten hatten, wurden ihre Schriften und Gebäude schließlich konfisziert und wieder der katholischen Seite übergeben, Laien, die nicht zur katholischen Kirche zurückkehren wollten, wurden mit hohen Geldstrafen belegt, und Kleriker wurden verbannt. Die Donatisten waren freilich keine ganz harmlose Gruppe: Eine militante donatistische Gruppierung, die Circumcellionen, verübte gerne Terroranschläge. Mit diesen Häretikern hatte übrigens der hl. Augustinus sich besonders auseinanderzusetzen; er war zunächst gegen die Anwendung staatlicher Zwangsmittel, bis er laut eigener Aussage sah, dass in einigen Regionen, wo zuerst die rechtgläubige Religion gewissermaßen aufgezwungen worden war, die Leute bald selbst überzeugt gegen den Donatismus waren. Er berief sich hier auch auf Lk 14,23: „dränge/nötige/zwinge sie einzutreten“; in der Übersetzung, die er gebrauchte: „cogite intrare“, d. h. „zwinge sie einzutreten“.

Auch die erste Hinrichtung eines Ketzers – Priscillian – fällt noch in die Antike, nämlich ins Jahr 383; allerdings protestieren damals die einflussreichsten Bischöfe, wie der hl. Martin von Tours, der hl. Ambrosius von Mailand, und der hl. Papst Siricius ausdrücklich dagegen. Im Hochmittelalter wurde neben solchen Strafen wie der Exkommunikation oder der Klosterhaft auch die Reichsacht oder die Todesstrafe für hartnäckige Häretiker schließlich üblich; der hl. Thomas von Aquin argumentierte, die Anwendung der Todesstrafe sei ganz richtig, weil man ja schon Münzfälscher mit dem Tod bestrafe, Häretiker aber etwas sehr viel Wichtigeres verfälschten. „Denn weit schwerere Schuld ist es, den Glauben zu fälschen, welcher der Seele das Leben gewährt, wie Geld zu fälschen, das nur zum Unterhalte des zeitlichen Lebens dient.“ Es war nicht so, dass man nicht auch versucht hätte, die Häretiker (besonders die, die nur den Sektenführern nachliefen) mit Argumenten zu überzeugen – der Dominkanerorden etwa wurde deshalb als Predigerorden gegründet, um die Albigenser in Südfrankreich zur Kirche zurückzuführen -, aber es gab auch andere Maßnahmen. Häretiker galten als Bedrohung für das Fundament der Gesellschaft, den christlichen Glauben, den die Kirche hütete, und oft genug hatten ihre Lehren auch ganz praktische schädliche Auswirkungen: So lehrten etwa die Albigenser des 12./13. Jahrhunderts, Ehe und Kinderkriegen seien quasi dämonisch und ihre „Vollkommenen“ praktizierten in manchen Fällen sogar Selbstmord durch Verhungern; die Wiedertäufer des 16. Jahrhunderts lehnten die Leistung von Eiden und den Kriegsdienst – selbst für Verteidigungskriege – ab. Auf jeden Fall wurden solche Gruppen als gefährliche Sektierer gesehen, die nicht nur die irdische Gesellschaft, sondern auch das ewige Heil der einzelnen gefährdeten. Öfter einmal führten solche Abspaltungen auch zu Aufständen und Bürgerkriegen (etwa den Hussitenkriegen).

Bis ins frühe 16. Jahrhundert wurden die meisten Häresien früher oder später unterdrückt und verschwanden wieder oder blieben nur ein lokales Problem; nach 1517 allerdings gewannen gewisse Häretiker die Gunst einiger Fürsten, die eine gute Gelegenheit gekommen sahen, den Besitz der Klöster zu beschlagnahmen und – im Fall Heinrichs VIII. von England – die Ehefrau loszuwerden, weshalb sie wesentlich mehr Erfolg hatten. Das Ganze lief dann, nachdem sich die Fragen nicht mit Disputationen und päpstlichen Schreiben aus der Welt schaffen hatten lassen, erst einmal auf diverse brutal geführte Kriege bzw. auch Bürgerkriege, ein paar Revolutionen oder Staatsstreiche, versuchte und gelungene Attentate sowie Terroranschläge und natürlich beiderseitige staatliche Maßnahmen gegen die andere, als häretisch betrachtete Seite hinaus.

Aber irgendwann fand man doch irgendwelche Friedensvereinbarungen zwischen Katholiken und Protestanten und wurde der ganzen Kämpfe müde. Die Aufklärung mit ihrem religiösen Indifferentismus und ihrer gleichzeitigen Abneigung gegen alle dogmatischen Religionen folgte letztlich daraus – .nicht nur aus der Erfahrung der ganzen Brutalität, sondern auch daraus, dass diese Brutalität nichts genützt hatte. Nach ein wenig Hin und Her zu Beginn blieb halb Europa protestantisch, und halb Europa katholisch; es war eine Pattsituation, die sich nicht auflösen ließ.

„Und das ist ein Gefühl, das man nur eins der Zwecklosigkeit nennen kann. Es kam von dem Missverhältnis zwischen den Gefahren und Nöten der Religionskriege und dem wirklich unvernünftigen Kompromiss her, mit dem sie endeten; cuius regio ejus religio, was man übersetzen kann mit, „jeder Staat soll seine Staatskirche errichten“, aber was in der Renaissance hieß, „jeder Fürst mag tun, was er will“.

Das siebzehnte Jahrhunderte endete mit einem Fragezeichen. […] Es war eine offene Frage, aber es war auch eine offene Wunde. […] sie erwarteten, dass sich die Wunde schließen würde. Wir tendieren heute natürlich dazu, diesen Punkt zu übersehen. Wir haben fast vierhundert Jahre ein geteiltes Christentum gehabt und haben uns daran gewöhnt; und es ist die Wiedervereinigung der Christenheit, die wir als das außerordentliche Ereignis ansehen. Aber sie sahen immer noch die Spaltung der Christenheit als ein außergewöhnliches Ereignis. Keine der beiden Seiten hatte je wirklich erwartet, dass sie in einem Zustand der Spaltung verbleiben würde. Alle ihre Traditionen seit tausend Jahren sprachen von irgendeiner Art von Einheit, die aus einer Kontroverse folgte, von jeher, seit eine geeinte Religion sich über ein geeintes Römisches Reich ausgebreitet hatte. Von einem protestantischen Standpunkt aus war es ganz natürlich, dass der Protestantismus Europa erobern würde, so wie das Christentum Europa erobert hatte. In diesem Fall wäre der Erfolg der Gegenreformation nur das letzte Aufzüngeln einer sterbenden Flamme, wie das letzte Gefecht des Julian Apostata. Von einem katholischen Standpunkt aus war es ganz natürlich, dass der Katholizismus Europa zurückerobern würde, wie er mehr als einmal Europa zurückerobert hatte; in diesem Fall wäre der Protestant dasselbe wie die Albigenser: ein vorübergehendes Element, das schlussendlich reabsorbiert würde. Aber keins dieser beiden natürlichen Dinge geschah. Preußen und die anderen protestantischen Fürstentümer kämpften im Dreißigjährigen Krieg gegen Österreich als den Erben des Heiligen Römischen Reiches. Sie bekämpften einander bis zum Waffenstillstand. Es war absolut und offensichtlich hoffnungslos, Österreich protestantisch oder Preußen römisch-katholisch zu machen. Und von dem Moment an, wo diese Tatsache begriffen wurde, änderte sich das Wesen der ganzen Welt. Der Fels war gespalten worden und würde sich nicht wieder schließen, und in dem Spalt oder Abgrund begann eine neue Art von seltsamem und stacheligem Unkraut zu wachsen. Die offene Wunde eiterte.“ (G. K. Chesterton, „Anti-Religious Thought In The Eighteenth Century“, Übersetzung von mir.)

Auch an anderen Fronten herrschte eine Art religiöse Pattsituation; während im Altertum tatsächlich noch viele Juden Christen geworden waren, war das seit dem Mittelalter nur noch in Einzelfällen vorgekommen – woran wohl ihre unfreundliche Behandlung durch Christen auch nicht ganz unschuldig war, allerdings war das sicher nicht der einzige Faktor. Luther hatte ja noch gemeint, wenn er den Juden nur freundlich sein korrektes „Evangelium“ präsentiere, würden sie schon bald Jesus als den Messias anerkennen; da hatte er seine Rechnung allerdings ohne die Juden gemacht, weshalb er dann auch ziemlich sauer geworden war und gefordert hatte, man solle ihre Synagogen und Häuser zerstören, den Rabbinern bei Todesstrafe das Lehren verbieten und die jungen Juden zur Zwangsarbeit heranziehen. Aber auch der Islam stand der Christenheit weiterhin sowohl unversöhnlich wie unbesiegt gegenüber; das expandierende Osmanische Reich war in der Frühen Neuzeit sogar eine immense Bedrohung. Und der letzte Versuch – ein sehr vielversprechender Versuch übrigens – einer Union mit den Orthodoxen war schon Mitte des 15. Jahrhundert gescheitert.

Nirgendwo zeichnete sich der „Sieger der Geschichte“ ab, den die Leute fälschlicherweise erwarteten, und die Wiederkunft des Herrn, die in der Krisenzeit des 16. und frühen 17. Jahrhunderts nicht nur ein paar der radikalsten Sekten erwartet hatten, blieb ebenfalls aus. Also kamen die Leute auf den Gedanken, dass möglicherweise keine all der Seiten wirklich im Recht gewesen war, dass man diese ganzen Streitereien lassen und einfach friedlich und human nebeneinander leben und alle allzu dogmatischen religiösen Lehren aufgeben sollte; sich nicht mehr so sehr um den Himmel, sondern mehr um die Erde sorgen sollte; nicht mehr darüber predigen sollte, wie man einen gerechten Gott kriegte, sondern wie man gute Menschen machte.

Das Problem war nur, dass diese Idee am Ende nicht funktionierte.

Nachdem die Leute aufgehört hatten, die Religion als wichtigsten Teil des Lebens zu betrachten und einander ihretwegen zu bekämpfen, kamen nach und nach andere Dinge auf, um derentwillen sie einander bekämpften. Nationalstolz, faschistische Eroberungslust, Rassenhass, Versuch der proletarischen Weltrevolution; alles Mögliche. Die Ideologien, die nach der Aufklärung aufkamen, sorgten für wesentlich größere Blutbäder als die Religionen der Epoche zuvor.

Schon mit der Toleranz der Aufklärer selber war es ja nicht immer so einfach. Dem großen französischen Aufklärer Voltaire wird ja gerne (fälschlich)  das Zitat zugeschrieben: „Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.“ Als Beschreibung der Einstellung einiger Aufklärer taugt es tatsächlich bis zu einem gewissen Grad – denn sie traten ja schon für allgemeine Toleranz und Glaubensfreiheit ein, aber gleichzeitig missbilligten (oder im Fall von Voltaire: hassten) sie eben schon so gut wie alle Glaubensrichtungen, die da hätten toleriert werden sollen (abgesehen von ihrem eigenen vagen Deismus). Damit meine ich nicht nur den Katholizismus; man muss sich mal die Beschimpfungen durchlesen, die Voltaire oder auch Rousseau zum Judentum einfielen. „Das jüdische Volk wagt, einen unversöhnlichen Haß gegen alle Völker zur Schau zu tragen. Es empört sich gegen alle seine Meister, immer abergläubisch, immer gierig nach dem Gute anderer, immer barbarisch, kriechend im Unglück und frech im Glück.“ (Voltaire, Sur les Moeurs 42, gemäß Wikiquote.) Das letztliche Ziel der Aufklärer war tatsächlich das Ende dieser Religionen – Voltaire unterzeichnete seine Briefe gerne mit „Ecrasez l’infame“ – „Zermalmt die Niederträchtige“, was sich auf die Kirche bezog. Lassen wir noch einen anderen Aufklärer zu Wort kommen, um zu erfahren, was für Vorstellungen diese Leute von Toleranz hatten. Ich übergebe das Wort an Jean-Jacques Rousseau, dessen Ideen (über seinen Fan Robespierre) die Französische Revolution sehr stark prägten:

Es gibt daher [in Rousseaus idealem Staat] ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein. Ohne jemand dazu verpflichten zu können, sie zu glauben, kann er jeden aus dem Staat verbannen, der sie nicht glaubt; er kann ihn nicht als Gottlosen verbannen, sondern als einen, der sich dem Miteinander widersetzt und unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit ernstlich zu lieben und sein Leben im Notfall der Pflicht zu opfern. Wenn einer, nachdem er öffentlich ebendiese Dogmen anerkannt hat, sich so verhält, als ob er sie nicht glaube, soll er mit dem Tode bestraft werden; er hat das größte aller Verbrechen begangen, er hat vor den Gesetzen gelogen.

Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl und klar ausgedrückt sein, ohne Erklärungen und Erläuterungen. Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze – das sind die positiven Dogmen. Was die negativen Dogmen anbelangt, so beschränke ich sie auf ein einziges: die Intoleranz; sie gehört jenen Kulten an, die wir ausgeschlossen haben.

Meiner Meinung nach täuschen sich diejenigen, die einen Unterschied machen zwischen der bürgerlichen Intoleranz und der religiösen Intoleranz. Diese beiden Arten von Intoleranz sind nicht zu trennen. Es ist unmöglich, mit Menschen in Frieden zu leben, die man für unselig hält; sie lieben hieße, Gott, der sie straft, hassen; man muss sie unbedingt bekehren oder sie bedrängen. […]

Heute, wo es eine ausschließliche Staatsreligion nicht mehr gibt noch geben kann, muss man alle jene tolerieren, die ihrerseits die anderen tolerieren, sofern ihre Dogmen nicht gegen die Pflichten des Bürgers verstoßen. Wer aber zu sagen wagt ‚Es gibt kein Heil außerhalb der Kirche‘ muss aus dem Staat ausgestoßen werden, es sei denn, der Staat ist die Kirche und der Fürst der Pontifex.“ *

Mit anderen Worten: Der Staat soll eine eigene Religion einführen und alle Abweichler – alle, die den Staat nicht für heilig erklären wollen, alle, die ihre eigene Religion ernst nehmen und missionieren wollen, aber z. B. auch alle Atheisten – verbannen oder hinrichten. Das nennt sich Freiheit und Toleranz, nicht wahr? (Dass Rousseau keine Ahnung vom Christentum hat und meint, Menschen zu lieben wäre das Gegenteil davon, sie von der Wahrheit überzeugen zu wollen, lassen wir mal beiseite, ebenso wie die Tatsache, dass „Kein Heil außerhalb der Kirche“ ja gar nicht heißt, dass alle Nichtkatholiken in die Hölle kommen („unüberwindliche Unwissenheit“ usw.).)

Dass es die Aufklärer in der Praxis nicht immer so mit der Toleranz hatten, sieht man z. B. schon bei dem aufgeklärt-absolutistischen Kaiser Joseph II., der in Österreich hunderte „unnütze“, d. h. vor allem kontemplative Klöster aufheben ließ. Die eigene Lebensform frei wählen? Nix da, wenn diese Lebensform die der klausurierten Nonne ist. Eine Aufhebung der Orden war etwas, das die Aufklärer wieder und wieder forderten, und das sie auch immer wieder erreichten. Am klarsten sieht man die „Toleranz“ der Aufklärung während der Französischen Revolution, der Gelegenheit, bei der aufklärerisch inspirierte Leute erstmals so richtig zum Zug kamen.

Anfangs war sie ja noch nicht so schlimm. Anfangs ging es um konkrete Abhilfe für berechtigte Probleme – z. B. ein ungerechtes Steuersystem. Dass eine Verfassung geschaffen werden sollte, dass die Leibeigenschaft abgeschafft wurde, dass Richterämter nicht mehr käuflich sein sollten usw., alle diese Reformen der Jahre 1789/90 waren gut. Der sinnlose Gewaltausbruch in Paris im Juli 1789, bei dem ein Gefängnis mit ganzen sieben Insassen gestürmt wurde und Männern, denen man freies Geleit zugesagt hatte, dann der Kopf abgehackt wurde, war freilich nicht sehr schön, hätte aber eine Fußnote in der Geschichte bleiben können, wenn es nur dabei geblieben wäre.

Wie gesagt, soweit der Beginn. Aber bald ging die Revolution in eine Richtung, an der man gut viele Fehler der Aufklärung sehen kann.

Das zeigt sich schon bald im direkten Umgang mit der Kirche: Da der Kirchenzehnte abgeschafft wurde, sollte der Staat für die Bezahlung der Priester aufkommen; im Gegenzug wurde von ihnen ein Eid auf die Verfassung verlangt – mit anderen Worten, die Kirche sollte unter die Kontrolle des Staates gebracht werden. Etwa die Hälfte der Priester verweigerte diesen Eid (den zu leisten auch der zögerliche Papst Pius VI. 1792 schließlich für unzulässig erklärte) und wurde dafür abgesetzt und bestraft oder musste ins Exil fliehen. Dann wären auch hier die Orden: Schon 1790 wurden die meisten Orden abgeschafft; diejenigen, die sich dem Schulwesen und der Krankenpflege gewidmet hatten, durften immerhin noch bis 1792 bestehen bleiben, aber dann vertrieb man auch hier die Mönche und Nonnen aus den Klöstern.

File:Paris Saint-Honoré d'Eylau1926.JPG

(Bleiglasfenster in der Kirche Saint-Honoré d’Eylau (Avenue Raymond-Poincaré im 16. Arrondissement von Paris). Es zeigt die 14 Karmelitinnen von Compiègne, die 1794 auf der Guillotine hingerichtet wurden, weil sie ihr Ordensleben nicht hatten aufgeben wollen. Hersteller: Félix Gaudin nach einem Karton von Raphaël Freida. Bildquelle: Wikimedia, eingestellt von GFreihalter.)

Die Revolution wurde immer radikaler; die „Nation“ galt immer mehr, und alle ihre Feinde hatten beseitigt zu werden. Da haben wir die Septembermassaker in den Pariser Gefängnissen 1792; die Absetzung und schließlich die Hinrichtung des Königs (der eigentlich ein sehr friedfertiger und gleichzeitig schwacher Mensch gewesen war, der immer versucht hatte, das Richtige zu tun); die „Schreckensherrschaft“ der Jahre 1793 und 1794, wo die Guillotine kaum mehr zum Stillstand kam. Während man die ersten Gesetzesänderungen der Revolution noch mit einem feierlichen Te Deum gefeiert hatte, sollte jetzt mit der „Dechristianisierung“ das Christentum komplett ausradiert werden – stattdessen wurden ein deistischer „Kult des Höchsten Wesens“, ein „Kult der Vernunft“ und die Verehrung von „Revolutionsmärtyrern“ gefördert.

File:Fête de la Raison 1793.jpg

(„Fest der Vernunft“ in der Pariser Kathedrale Notre-Dame 1793, bei dem eine Schauspielerin die Vernunft verkörperte. Gemeinfrei.)

Als 1793 in der Vendée (einem ländlichen Gebiet im Westen Frankreichs) anlässlich einer massenhaften Einberufung zur Armee ein Aufstand gegen die brutale Regierung der Ersten Republik ausbrach, wurde der mit extremer Brutalität niedergeschlagen. „Mein Freund, ich verkünde Dir mit großem Vergnügen, dass die Räuber endlich vernichtet sind. […] Die Zahl der hierher gebrachten Räuber ist nicht abzuschätzen. Jeden Augenblick kommen neue an. Weil die Guillotine zu langsam ist, und das Erschießen auch zu lange dauert und Pulver und Kugeln vergeudet, hat man sich entschlossen, je eine gewisse Anzahl in große Boote zu bringen, in die Mitte des Flusses etwa eine halbe Meile vor der Stadt zu fahren, und das Boot dort zu versenken. So wird unablässig verfahren.“ So ein Bericht, der im Nationalkonvent verlesen wurde.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d8/Noyadesnantes.jpg

(Ertränkungen bei Nantes, Jean Duplessis-Bertaux. Gemeinfrei.)

Die „höllischen Kolonnen“ der revolutionären Pariser Regierung waren alles andere als zimperlich. „Es gibt keine Vendée mehr. Sie starb unter unserem blanken Säbel, mitsamt Frauen und Kindern. Ich habe sie in den Sümpfen und Wäldern von Savenay begraben. Man kann mir keine Gefangenen vorwerfen. Ich habe alles ausgelöscht.“ So berichtete ein General.

(Symbol des Vendée-Aufstands: Heiliges Herz Jesu mit der Aufschrift „Dieu“ (Gott) auf der einen Seite und „Le Roi“ (Der König) auf der anderen.)

Die Erste Republik in Frankreich war eine totalitäre Diktatur – und weitere totalitäre Diktaturen sollten in den nächsten zwei Jahrhunderten folgen, die sich auf Prinzipien der Aufklärung beriefen. Gleichheit etwa – darum ging es den Kommunisten. Brüderlichkeit und Einheit und die Unteilbarkeit der Nation (auch das beliebte Schlagworte der Revolutionspropaganda) – darum den Faschisten.

Also: Die Freiheit der Aufklärung ist nie eine wirkliche Freiheit gewesen. Religionsfreiheit? Nur für die, denen ihre Religion eh nicht so wichtig ist; nur für die, deren religiöse Praxis nichts einschließt, was die Aufklärer zu „Aberglaube“ und „Fanatismus“ erklären, oder was gegen die neuen Götzen gerichtet ist, die man anstelle Gottes aufrichtet.

Aber, könnte man einwenden, heißt das nicht nur, dass einige Leute Prinzipien der Aufklärung verraten haben, die an sich gut gewesen wären? Und haben diese Prinzipien sich nicht doch zumindest in manchen Staaten und zu manchen Zeiten in gewisser Weise durchgesetzt und positive Folgen gehabt? Da wären die Judenemanzipation; die Katholikenemanzipation in England oder Schweden; Toleranz für die französischen Protestanten; konfessioneller Friede in Deutschland. Sollte man nicht, auch wenn die Erste Republik das in der Praxis nicht getan hat, auch Meinungen dulden, die man nicht gut findet?

Nun ja: Dass Einschränkungen von Freiheiten und staatliche Strafmaßnahmen nicht so schön sind, gilt letztlich immer. Und wir können uns sicher darauf einigen, dass der Scheiterhaufen recht brutal ist und nicht unbedingt das Mittel der Wahl sein sollte. Trotzdem stellt sich, wenn es um die Toleranz geht, für jeden Staat die Frage, welche Weltanschauung ihm selber zugrunde liegt, was davon Abweichendes er tolerieren will, und was nicht mehr, denn eine Toleranz von wirklich allem und jedem lässt sich praktisch nicht durchhalten.  Hier ein paar Beispiele für Vertreter von Meinungen, die heute nicht gern gesehen werden:

  • Holocaustleugner
  • Reichsbürger
  • Scientology
  • Muslimbruderschaft
  • IS
  • Pädophilieapologeten (Kein Strohmann. In den 70ern und 80ern behaupteten viele, z. B. in den Reihen der Grünen, dass Kinder von „einvernehmlichen“ sexuellen Beziehungen mit Erwachsenen profitieren würden.)

Auch heutige Staaten kennen so etwas wie Verfassungsfeinde. Wenn man zum Beispiel in Bayern für den Staat arbeiten will, muss man erst einmal eine lange Liste von linksradikalen, rechtsradikalen, islamistischen, türkisch-nationalistischen, kurdisch-nationalistischen usw. Organisationen unterschreiben, mit denen man nichts zu tun haben darf; und ein eigenes Formblatt gibt es noch für Scientology. Weltanschauungsbeauftragte warnen vor Sekten, der Verfassungsschutz beobachtet gewisse Gruppen, um zuschlagen zu können, wenn Gewalttaten geplant werden sollten. Manchmal werden auch Internetseiten abgeschaltet oder Social-Media-Konten gelöscht, und natürlich bekommen verfassungsfeindliche Gruppen keine Fördergelder vom Staat und nicht so leicht Demonstrationen genehmigt. So etwas sind recht humane Methoden, aber auch diese Methoden bedeuten eine Einschränkung der Freiheit – eine, die gerechtfertigt sein kann.

Es gibt ja die Ansicht, jede auch noch so schlimme Meinung sollte offen gesagt werden dürfen, denn am Ende würde sich dann dank der Überzeugungskraft der Wahrheit von selbst die richtige durchsetzen. Das ist aber illusorisch; am Ende gewinnt erfahrungsgemäß eher der, der am lautesten schreit und am geschicktesten Propaganda macht. Das wissen wir nicht erst seit, sagen wir, dem Jahr 1933, sondern spätestens seit etwa dem Jahr 33.

File:Hieronymus Bosch - Ecce Homo - Google Art Project.jpg

Ans Kreuz mit ihm! (Hieronymus Bosch, „Ecce Homo“, zwischen 1480 und 1490. Gemeinfrei.)

(Und dazu hat auch Papst Gregor XVI. schon 1832 in seiner Enzyklika Mirari vos das Passende geschrieben: „Leider aber gibt es Leute, die in ihrer Vermessenheit so weit gehen, dass sie hartnäckig behaupten, diese aus der Pressefreiheit hervorgehende Flut von Irrtümern würde übergenug wettgemacht durch irgendein Buch, das inmitten dieses großen Sturmes von Schlechtigkeiten zur Verteidigung von Religion und Wahrheit herausgegeben wird. […] Welcher vernünftige Mensch wird je sagen, es dürfe Gift frei ausgestreut, öffentlich verkauft, mit sich getragen, ja, gebraucht werden, weil es wohl irgendein Heilmittel gibt, durch dessen Gebrauch man vor dem Tode bewahrt wird?“)

Nein: Es ist tatsächlich nicht gut, wenn jedem uneingeschränkt erlaubt wird, seine Meinung frei zu äußern. Es gibt Meinungen, die nicht nur harmlose Irrtümer, sondern böse und schädlich sind. Und es kann auch durchaus sein, dass derjenige, der sie vertritt, damit sündigt. Ich habe früher nicht verstanden, wieso Ketzerei eine Sünde sein könnte; okay, da kam jemand auf etwas Falsches, aber ein Irrtum war doch noch kein Vergehen, oder? Aber es kann eben doch Sünden des Intellekts geben. Bei Leuten wie Jan Hus oder Martin Luther kann es ihr Stolz gewesen sein, der sie dazu brachte, das, was die Kirche lehrte, nicht anerkennen zu wollen, auch wenn ihnen bewusst gewesen sein sollte, dass die Kirche ihre Autorität vom Sohn Gottes hatte; bei diversen Sektengründern war/ist es wohl Gewinnsucht oder Größenwahn; bei den Pädophilieverteidigern der 1980er war es einfach so, dass sie ihre Lieblingssünde (Kindsvergewaltigung) rechtfertigen wollten. Unbelehrbarkeit, Hochmut, Vorurteile, Selbsttäuschung, alle diese Dinge führen zu falschen Lehren, und vor allem zum Beharren auf falschen Lehren.

Ich finde hier einen Text von Lessing – dessen Ringparabel der Anlass für meine Aufklärungskritik hier war – sehr aufschlussreich. In „Über die Wahrheit“ schreibt er:

„Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Überzeugung in guter Absicht ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen sucht, ist unendlich mehr wert als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidigt.

Will es denn eine Klasse von Leuten nie lernen, daß es schlechterdings nicht wahr ist, daß jemals ein Mensch wissentlich und vorsetzlich sein selbst verblendet habe? Es ist nicht wahr, sag ich; aus keinem geringern Grunde, als weil es nicht möglich ist. Was wollen sie denn also mit ihrem Vorwurfe mutwilliger Verstockung, geflissentlicher Verhärtung, mit Vorbedacht gemachter Plane, Lügen auszustaffieren, die man Lügen zu sein weiß? Was wollen sie damit? Was anders, als – – Nein; weil ich auch ihnen diese Wahrheit muß zugute kommen lassen; weil ich auch von ihnen glauben muß, daß sie vorsetzlich und wissentlich kein falsches verleumdrisches Urteil fällen können: so schweige ich und enthalte mich alles Widerscheltens.

Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –

Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“

Das ist ein ziemliches Potpourri aus Wahrem und Idiotischem. So stimmt es natürlich, dass jemand, der „aufrichtige Mühe“ aufgewandt hat, um auf die Wahrheit zu kommen, aber dabei ohne eigene Schuld bei etwas Falschem gelandet ist, ein besserer Mensch sein kann als einer, der aus den falschen Gründen bei der Wahrheit gelandet ist. Die Kirche kennt hierfür auch Begriffe wie „irrendes Gewissen“. Aber dann widerspricht es einfach jeder Erfahrung, zu behaupten, die Leute würden sich nie selbst täuschen. Die Leute sind nicht so gut, dass sie immer offen für die Wahrheit wären. Das kann jeder an sich selber sehen, schon bei alltäglichen Streitereien ist man voreingenommen für die eigene Seite.

Und das Ende dieses Abschnitts ist so blödsinnig, dass es jeder Beschreibung spottet. Das Ziel der Suche nach Wahrheit ist die Wahrheit. Der Weg ist nicht das Ziel. Lessing ist sich gar nicht bewusst, wie viel die Wahrheit wert ist, wie sehr man sie im Leben braucht, sonst würde er nicht so reden, als wäre bloß die Suche nach ihr nützliches Training. Und der „Besitz“ der Wahrheit macht eben nicht ruhig und träge und stolz – gerade, wenn man eine wichtige Wahrheit erkannt hat, wird man sie immer noch tiefer ergründen wollen. (Wenn wir mal davon absehen, dass es sowieso, wenn, dann Er (Jesus Christus, die Wahrheit in Person) ist, der uns „besitzt“, nicht wir Ihn, wenn ich mal diesen Spruch von einem Freund klauen darf.)

Lessing ist sich scheinbar gar nicht bewusst, wie absolut widersinnig und undankbar es wäre, eine Offenbarung von Gott über die Wahrheit nicht annehmen zu wollen.

Darüber, wie effektiv und sinnvoll staatliches Vorgehen gegen Irrtümer und Lügen ist, mögen die Meinungen auseinandergehen, ebenso, wie darüber, welche Mittel dabei in Ordnung sind, aber ein Recht auf absolute Meinungs- und Pressefreiheit gibt es tatsächlich nicht. Bei den Aufklärern war es so, dass sie Religionen eigentlich nur unter der Prämisse dulden wollten, dass alle Religionen als zweitrangig, möglicherweise falsch, nette Folklore ohne zentrale Bedeutung für das Leben, gelten sollten; ihre Toleranz war untrennbar verbunden mit religiösem Indifferentismus. Wesentlich schwieriger ist es, Dinge zu tolerieren, die dem eigenen Weltbild absolut widersprechen und es wirklich bedrohen. Auch hier kann man um der christlichen Nächstenliebe und der Achtung vor dem Gewissen des einzelnen willen Waffenstillstände mit seinen Gegnern schließen und es nur mit friedlicher Bekehrung versuchen – so wie es auch schon manche Fürsten der Frühen Neuzeit gegenüber Ketzern taten, etwa Henri IV. mit dem Edikt von Nantes 1598. Aber das ist etwas anderes als die Toleranz, die auf der Ansicht beruht, welche Religion die richtige sei, sei letztlich so unentscheidbar und so unwichtig wie die Frage, welche Farbe die schönste oder welches Nudelgericht das leckerste sei.

Aber was heißt das jetzt für die Praxis? Was wäre denn, wenn – sagen wir – Deutschland, ganz ideal, sich zu 95% zum katholischen Glauben bekehren würde, und der Bundestag auch gleich noch die katholische Religion zur Staatsreligion erklären würde, aber noch, sagen wir, 5% Muslime da bleiben würden? Nun ja, man könnte mit ihnen z. B. so umgehen wie heute mit Scientologyanhängern: vor ihrer Ideologie warnen, besonders radikale Prediger beobachten, sie ihre Religion ansonsten für sich leben lassen, inklusive Kopftuchtragen und Beschneidung und halal-Fleisch und Moscheebauten.

Ich als Katholikin freue mich natürlich irgendwo darüber, dass in England und Schweden keine Priester mehr hingerichtet werden. Und ich vermute, gerade die Juden freuen sich darüber, dass Berufsverbote und Ghettos Geschichte sind. (Auch wenn die furchtbarste Judenverfolgung der Geschichte in die Zeit nach der Aufklärung fällt, was man auch erwähnen sollte.) Aber ganz so einfach ist es mit der Toleranz eben nicht – wie ja die Geschichte erwiesen hat, sind gerade die, die sich so viel auf ihre Toleranz eingebildet haben, besonder intolerant gegenüber denen geworden, die sie als intolerant angesehen haben. Da ist es doch besser, seine weltanschaulichen Gegner als Gegner zu achten, denen gegenüber auch die Gebote der Gerechtigkeit und Nächstenliebe gelten, die man aber trotzdem manchmal gewissermaßen bekämpfen muss. (Unterscheiden kann man dabei sicher oft auch zwischen Sektenführern und denen, die auf sie hereinfallen.)

4) Demokratie

„4) Die Aufklärer haben auch die Forderung erhoben, dass alle Menschen an politischen Prozessen beteiligt werden sollen. Die Aufklärung bildet also das Fundament unserer freiheitlichen Demokratie.“

Hier sollte man ein paar Dinge klarstellen.

Als Katholik muss man anerkennen, dass der heute übliche Parteienparlamentarismus – oder auch allgemein die Demokratie – nicht die einzige legitime Regierungsform ist. Erbmonarchie, Wahlmonarchie, Erbaristokratie, lokale Basisdemokratie, ständestaatliche Vertretungen, verschiedene Mixturen daraus usw. können alle legitime Regierungsformen sein, solange sie für das Recht sorgen. Prinzipiell illegitim sind nur Anarchie, Tyrannei (d. h. Willkürherschaft) und Totalitarismus, d. h. die Staatsformen in denen das Recht nicht gilt oder die die Nation, die Partei o. Ä. zum Götzen machen und den Leuten elementare Freiheiten nehmen.

Katholische Lehre ist: Es muss, das ist die von Gott eingesetzte Ordnung, in Gesellschaften jemanden geben, der herrscht und damit für das Recht sorgt; wie diese Person(en) bestimmt werden, ist der Kirche eher egal. Und es ist nicht zwangsläufig so, dass die Minderheiten in einem Land sich allem fügen müssten, was die Mehrheit sagen würde, und auch nicht so, dass alles, was die Mehrheit sagen würde, deswegen schon gut wäre; ein Naturrecht auf Demokratie gibt es nicht.

„Daß in jeder Vereinigung und Gemeinschaft von Menschen irgendwelche vorstehen , erzwingt die Notwendigkeit selbst. […] Es ist aber an dieser Stelle wichtig, darauf zu achten, daß diejenigen, die dem Gemeinwesen vorstehen sollen, in bestimmten Fällen nach dem Willen und Urteil der Menge gewählt werden können, ohne daß die katholische Lehre [dem] widerspricht oder widerstreitet. Bei dieser Wahl freilich wird der Herrscher bestimmt, werden nicht die Rechte der Herrschaft übertragen; auch wird nicht die Herrschaft übergeben, sondern festgelegt, von wem sie auszuüben sei. Auch wird hier nicht nach den Arten der Gemeinwesen gefragt: denn es gibt keinen Grund, warum von der Kirche nicht die Herrschaft sowohl eines einzigen als auch die mehrerer gebilligt werden sollte, wenn sie nur gerecht und auf den gemeinsamen Nutzen ausgerichtet ist. Deshalb werden die Völker, wenn die Gerechtigkeit gewahrt ist, nicht daran gehindert, sich jene Art des Gemeinwesens einzurichten, die entweder ihrer eigenen Veranlagung oder den Sitten und Gebräuchen der Vorfahren angemessener entspricht.“ (Papst Leo XIII., Enzyklika „Diuturnum Illud“, 1881.)

Was die Aufklärung gebracht hat, war zunächst vor allem die Vorstellung des Gesellschaftsvertrages: Ein Staat entsteht dadurch, dass die im Naturzustand freien Menschen sich zusammenschließen und ihre Freiheit an ihn abgeben. Diese Vorstellung wirkt auf den ersten Blick logisch, oder? Tatsächlich ist sie gar nicht unproblematisch (weshalb Leo sie dann auch im weiteren Verlauf der Enzyklika ablehnt). Der gedachte Naturzustand ist nämlich eine Illusion, da Menschen von Anfang an Teil von Gemeinschaften sind. Zur Illustration wieder ein Zitat von Rousseau:

„Die älteste aller Gesellschaften und die einzig natürliche ist die der Familie. Und selbst dort bleiben die Kinder nicht länger an den Vater gebunden als sie seiner zu ihrer Erhaltung bedürfen. Sobald diese Bedürftigkeit aufhört, löst sich das natürliche Band. Die Kinder, befreit vom Gehorsam, den sie dem Vater schuldeten, und der Vater, befreit von der Sorge, die er den Kindern schuldete, beide kehren gleichermaßen in die Unabhängigkeit zurück. Wenn sie weiter zusammenbleiben, geschieht dies nicht mehr natürlich, sondern willentlich, und die Familie selbst wird nur durch Übereinkunft aufrechterhalten.

Die allen gemeinsame Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen. Dessen oberstes Gesetz ist es, über seine Selbsterhaltung zu wachen, seine erste Sorge ist diejenige, die er sich selber schuldet, und sobald der Mensch erwachsen ist, wird er so sein eigener Herr, da er der einzige Richter über die geeigneten Mittel zu seiner Erhaltung ist.“**

Das ist Unsinn. Allein schon offensichtlich deshalb, weil die Familienbande sich eben nicht auflösen; die Eltern werden irgendwann alt, und dann müssen wieder die Kinder für sie sorgen. Das Eheband, von dem Rousseau gar nicht spricht, bindet auch bis zum Tod. Für Rousseau sind Familien ein Ausnahmefall, eigentlich sind die Menschen ungebundene Individuen; tatsächlich ist es andersherum, Familien sind natürlich und normal. Die Menschen gehören von Anfang an in eine Gemeinschaft hinein und sind auf sie angewiesen und ihr verpflichtet. (Aber bei jemandem, der alle seine fünf Kinder gleich als Säuglinge in Findelheime gegeben hat, wird man wohl nicht erwarten können, dass er familiäre Bindungen besonders achtet.) Und so wie mit der Familie ist es eben auch mit größeren Gemeinschaften.

Als Katholik darf man also Erbmonarchie oder Parteienparlamentarismus oder einen Mix daraus – oder was auch immer – vorziehen, ganz wie man möchte. Der oben zitierte Chesterton zum Beispiel war sehr (basis)demokratisch eingestellt; bei anderen Katholiken ist auch der (konstitutionelle) Monarchismus beliebt – wofür z. B. solche Gründe angeführt werden wie hier im Kommentarbereich. Die klassische Position nach Aristoteles ist, dass eine Mischung aus Republik, Aristokratie und Monarchie am besten sei; Aristoteles würde freilich Parlamente als Aristokratie und Kanzler und Präsidenten als Monarchen betrachten und eher in Volksabstimmungen demokratische Elemente sehen; insofern leben wir also in Deutschland in einem solchen gemischten System.

Der frühneuzeitliche Absolutismus, mit dem man es im 18. Jahrhundert zu tun hatte und gemäß dem der Herrscher von allen Gesetzen losgelöst („absolutus“) sein soll, ist übrigens eine Staatsform, die zu dieser Zeit noch gar nicht so alt war und die auf eigentlich sehr unchristlichen Überlegungen basiert – etwa denen von Thomas Hobbes, dass, da der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, es einen geben müsse, der die absolute Kontrolle hätte, damit es nicht in Anarchie ausarte. Im Mittelalter sah man den Herrscher sehr wohl an die alten Gesetze und das Gewohnheitsrecht gebunden und meinte, dass er Rücksicht auf die Ständevertretungen usw. nehmen müsste.

Und natürlich war auch die Aufklärung nicht immer ganz so demokratisch. Der „aufgeklärte Absolutismus“, dem z. B. Friedrich II. von Preußen oder Joseph II. von Österreich folgten, sollte bekannt sein. Die Aufklärung war oft genug etwas, wo die väterlichen Herrscher, die es besser wussten, ihren ungebildeten Volksmassen, die ja nie in irgendwelchen Salons über Kant und Voltaire debattiert hatten, bis ins kleinste Detail vorschrieben, was sie zu tun und zu lassen, was sie zu trinken und was sie zu essen und wie sie ihre Haare zu tragen hatten.

Ob die Demokratie zu so idealen Ergebnissen führt, ist jedenfalls letztlich nicht ausgemacht. Nicht vergessen: Hitler kam über ein demokratisches System an die Macht (weshalb übrigens nach dem Krieg das Grundgesetz absichtlich weniger demokratisch gestaltet wurde als die Verfassung von 1918). Da ist mir doch jeder König oder Kaiser lieber – ja, selbst Friedrich II. oder Joseph II. Bei Wahlen bewerben sich machtgierige Leute; bei einem Erbkönigtum bleibt es dem Zufall überlassen, wer die Herrschaft erhält. Es ist unbestritten, dass die Aufklärung mehr demokratische Elemente in der Politik durchgesetzt hat (auch wenn es sie mancherorts, z. B. in den freien Reichsstädten oder in England, schon lange gab); ob das im Endeffekt so gut war – ich weiß es nicht. Ganz ehrlich: Keine Ahnung. Gewisse Mitbestimmungsrechte haben sicher ihre Vorteile, aber über die Errungenschaften und Nachteile des Strebens nach Demokratie in den letzten 250 Jahren insgesamt erlaube ich mir noch kein Urteil.

Was man der Aufklärung meiner Meinung nach eher zugute halten kann, ist, dass sie Rechtsgleichheit gebracht hat (Abschaffung der Adelsprivilegien, Vereinheitlichung von verschiedenen Rechtsbräuchen), und festgeschriebene Verfassungen. Hier will ich sie mal loben; das war gut. (Wobei auch hier die Leute damals nicht immer ihr lokales Gewohnheitsrecht aufgeben wollten; aber vielleicht war es einfach eine Notwendigkeit in einer sich technisch weiter entwickelnden Welt, eine gewisse rechtliche Vereinheitlichung zu haben.)

Im nächsten Teil dann noch zu ein paar weiteren Problemen mit aufklärerischen Ideen.

* Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, übersetzt von Hans Brockard und Eva Pietzcker, Reclam 2004, S. 151-153. (4. Buch, 9. Kapitel.)

** Ebd., S. 6. (1. Buch, 2. Kapitel.)

Was habe ich eigentlich gegen die sog. Aufklärung? Teil 1: Zu Menschenwürde und Vernunft

In meinem letzten Artikel habe ich ein bekanntes Werk der sog. Aufklärung kritisiert – Lessings Ringparabel – und mich dabei auch allgemein kritisch zu dieser Bewegung geäußert. Unter diesem Artikel wurde ein Kommentar hinterlassen, in dem es heißt:

„Die meisten Menschen haben positive Assoziationen zu dem Begriff ‚Aufklärung‘ wie Freiheit, Vernunft oder Gleichheit.

Die Argumente lauten dabei meist wie folgt: […]

Was sagst du zu diesen Argumenten, die in der öffentlichen Meinung weit verbreitet sind?“

Das war eine sehr gute Frage und der nötige Anstoß zu ein paar Artikeln, die ich schon lange einmal schreiben wollte. Der Kommentar fasst gängige Argumente für die Aufklärung gut zusammen, deshalb hier jetzt ausführliche Antworten auf sie. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass:

  • die Aufklärer sich für ein paar gute Ziele einsetzen, für die sich aber auch schon vor ihnen rechtgläubige Christen eingesetzt hatten; sie werden extrem überbewertet.
  • die Aufklärer gleichzeitig mehrere falsche und z. T. absolut toxische neue Ideen aufbrachten.

Heute erst einmal zu den ersten zwei mutmaßlichen Errungenschaften der Aufklärung, die der Kommentar nennt; zu den übrigen zwei im nächsten Beitrag; und im übernächsten dann noch ein paar weitere eigene Gedanken.

1) Menschenwürde und Menschenrechte

„1) Die Aufklärung ist die Grundlage für die heutigen Menschenrechte. Die Intellektuellen der Aufklärung haben immer wieder betont, dass alle Menschen frei und gleich sein sollen. Ebenso wurde die Humanitätsidee, die besagt, dass alle Menschen eine Würde haben und entsprechend behandelt werden sollen, entwickelt. Auf der Grundlage dieser aufklärerischen Prinzipien wurden Folter und Leibeigenschaft abgeschafft. Religiöse Toleranz und Religionsfreiheit wurden eingeführt, sodass ab dem Zeitalter der Aufklärung erste Ansätze zur Judenemanzipation sichtbar wurden.“

Gehen wir das Ganze nacheinander durch.

Die Idee der Menschenwürde ist eine christliche Idee. Sie beruht darauf, dass Gott alle Menschen mit einer unsterblichen Seele ausgestattet und nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Sie ist eine Kirchenlehre, die sich aus atheistischer, agnostischer oder heidnischer Sicht nicht begründen lässt. Es ist kein Wunder, dass es sie in vorchristlicher Zeit nicht gab und auch die großen Philosophen der Antike auf Sklaven, Frauen, Ungebildete, geistig Behinderte etc. herabsahen. Nun waren viele der Aufklärer des 18. Jahrhunderts immerhin noch Deisten (d. h. sie glaubten an einen Gott, der die Welt irgendwann einmal gemacht, geordnet, mit Gesetzen ausgestattet, dann aber sich selbst überlassen hatte), oder manchmal auch noch Theisten (d. h. sie glaubten an einen Gott, der auch noch persönlich ansprechbar war), aber auch gemäß einem solchen Weltbild ist es, wenn man den christlichen Glauben abgelegt hat, nicht so einfach, abzuleiten, wieso z. B. ein schwer geistig Behinderter dieselbe Menschenwürde haben soll wie alle anderen Menschen.

Mit anderen Worten: die Aufklärer redeten zwar von Menschenrechten, hatten aber oft keine theoretische Grundlage, auf der sie diese Menschenrechte aufbauen konnten, sondern zehrten von einem christlichen Weltbild, das viele von ihnen (nicht alle – es gab auch christliche Aufklärer) gleichzeitig ablehnten; und sie waren definitiv nicht die Erfinder der Idee der Menschenwürde.

Gutes Anschauungsmaterial für die Entwicklung der Ideen von Menschenwürde und Menschenrechten – und für deren Umsetzung – bietet die Entwicklung der Sklaverei.

Um Christi Geburt war sie auf der ganzen Welt eine normale Gegebenheit. Im Christentum wurde sie zu einer Folge der Sünde erklärt und es fanden sich schon in Antike und Frühmittelalter vereinzelte Stimmen, die sie für grundsätzlich unrechtmäßig hielten und ihre Abschaffung forderten, etwa im 4. Jahrhundert Gregor von Nyssa („Wenn ein Mensch das ‚Eigentum‘ Gottes zu seinem eigenen Eigentum macht und sich die Herrschaft über seine eigene Gattung anmaßt, so daß er sich für den Herrn von Männern oder Frauen hält, was macht er dann anderes als hochmütig die Natur überschreiten, indem er sich für etwas anderes als die Beherrschten hält?“*) und Johannes Chrysostomus; die Synode von Chalons um 650; oder etwas später Atto von Vercelli (885-960). Das war nicht die generelle Sicht; aber die war, dass auch, wenn manche Menschen unfrei waren, diese Menschen grundsätzliche Rechte hatten, ihr Herr sie also nicht einfach totschlagen, ihnen ihre Nahrung verweigern oder das Heiraten verbieten durfte, und eher ihre Arbeitskraft ihrem Herrn gehörte, nicht sie als Person.

Papst Gregor der Große erklärte in einer Freilassungsurkunde im Jahr 595, es sei heilsam gehandelt, „wenn Menschen, welche die Natur als Freie hervorbrachte und die vom Recht der Völker unters Joch der Sklaverei gezwängt wurden, durch die Wohltat eines Freilassers in jene Freiheit zurückversetzt werden, in der sie geboren wurden“**. In Nordwesteuropa wurde aus der Sklaverei allmählich die Leibeigenschaft, wo der Leibeigene zumindest einige Rechte hatte (dieser Prozess geschah etwa in England zwischen 1066 und ca. 1120); und Städte führten das Recht „Stadtluft macht frei“ ein. Der Sachsenspiegel von 1235 erklärt die Unfreiheit grundsätzlich für Unrecht und begründet das mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Der französische König Philipp der Schöne erklärte 1299 alle Leibeigenen auf seinen Krongütern für frei, und seine Ordonnanz beginnt mit „Berücksichtigend, daß jegliches menschliche Geschöpf, welches nach dem Bild unseres Herrn geformt ist, kraft des natürlichen Rechts im allgemein frei sein muß“***. Wir sehen also: die Begriffe und Argumente zur Menschenwürde sind da, auch wenn sich – was nicht verwunderlich ist – nicht alle Herrscher bequemen, sich in der Praxis danach zu richten. Das ist ja heute nicht anders; in wie vielen Staaten, die die ein oder andere Menschenrechtserklärung unterschrieben haben, gelten denn die Menschenrechte tatsächlich?

Als die Portugiesen und Spanier dann die „Neue Welt“ entdeckten und gleich mal zu erobern begannen, geschah wieder ein Rückschritt: So legten sie dort auch Plantagen an, wofür sie Arbeitskräfte brauchten; also wurden in Südamerika und der Karabik die Einheimischen unterjocht und an der westafrikanischen Küste afrikanischen Fürsten Sklaven abgekauft und nach Amerika importiert (weil die Indios zu schnell wegstarben). In Europa brachen kirchliche und juristische Dispute darüber aus; 1537 schrieb Papst Paul III. folgende Enzyklika:

„Der höchste Gott hat das Menschengeschlecht so sehr geliebt, dass Er den Menschen in einer solchen Weise geschaffen hat, dass er nicht nur an den Gütern, an denen sich andere Geschöpfe erfreuen, teilhaben sollte, sondern ihn mit der Möglichkeit ausgestattet hat, das unzugängliche und unsichtbare Höchste Gut [= Gott] zu erreichen und von Angesicht zu Angesicht zu sehen […]

Der Feind des Menschengeschlechts [= der Teufel], der sich allen guten Werken entgegenstellt, um den Menschen zu zerstören, hat, da er dies sah und neidisch war, ein Mittel erfunden, von dem nie zuvor gehört wurde, durch das er die Verkündigung von Gottes rettendem Wort zu den Menschen verhindern könnte: er stiftete seine Anhänger an, die, um ihm zu Gefallen zu sein, nicht zögerten, in der Fremde verlauten zu lassen, dass die Indianer des Westens und Südens und andere Völker, von denen wir vor kurzem erfahren haben, wie stumpfsinnige Tiere behandelt werden sollten, die zu unserem Dienst geschaffen wären, wobei sie vorgaben, diese wären unfähig, den katholischen Glauben zu empfangen.

Wir, die wir, obgleich unwürdig, auf Erden die Macht unseres Herrn ausüben und mit all unserer Kraft versuchen, die Schafe seiner Herde, die draußen sind, in den Pferch zu bringen, der unserer Verantwortung untersteht, sagen allerdings, dass die Indianer wirklich Menschen sind und dass sie nicht nur fähig sind, den katholischen Glauben zu verstehen, sondern dass sie sich laut unseren Informationen auch außerordentlich nach ihm sehnen. Da wir wünschen, diesen Übeln abzuhelfen, bestimmen und erklären wir mit diesen unseren Briefen, oder mit jeglicher Übersetzung derselben, die von irgendeinem öffentlichen Notar unterschrieben und mit dem Siegel irgendeines Würdenträgers der Kirche versiegelt sind, welche genauso angesehen werden sollen wie die Originale, dass, gleich, was Gegenteiliges gesagt worden sein mag oder gesagt werden möge, die besagten Indianer und alle anderen Völker, die vielleicht später von Christen entdeckt werden mögen, auf keine Weise ihrer Freiheit oder ihres Besitzes beraubt werden sollen, selbst wenn sie sich außerhalb des Glaubens Jesu Christi befinden; und dass sie frei und rechtmäßig ihre Freiheit und ihre Besitztümer genießen sollen, und nicht auf irgendeine Weise versklavt werden sollen; sollte das Gegenteil passieren, soll es nichtig sein und keine Wirkung haben.“

(Paul III., Sublimus Dei, Übersetzung von mir aus der englischen Übersetzung.)

In Spanien wurde die Versklavung der Indios schließlich verboten; afrikanische Sklaven wurden allerdings in begrenztem Maß noch importiert (wenn auch weniger als bei den Portugiesen in Brasilien). Auch der französische Staatstheoretiker Jean Bodin, obwohl einer der Vordenker des Absolutismus, forderte schon 1570, man solle die Sklaverei völlig abschaffen und den ehemaligen Sklaven das Bürgerrecht geben. Und auch wenn die Sklaverei in den Kolonien noch weiter bestand, wurde sie in den europäischen Mutterländern – außer in Portugal und einigen italienischen Städten – nicht mehr geduldet; wer als Sklave dorthin kam, wurde frei.

Die Idee natürlicher Rechte, die allen Menschen zustehen, war also definitiv nichts, auf das erst im 18. Jahrhundert jemand gekommen wäre.

Das Thema Sklaverei bietet übrigens auch ein gutes Beispiel für die Zwiespältigkeit der Aufklärung: Es waren gar nicht alle Aufklärer gegen die Sklaverei und Unterdrückung der Einheimischen in den Kolonien (bzw. besonders engagiert dagegen). Thomas Jefferson etwa hielt selbst Sklaven – jawohl, Thomas Jefferson, Mitautor einer gewissen Unabhängigkeitserklärung, in der es heißt: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ Oder sehen wir die sog. „Jesuitenreduktionen“ an. In Südamerika bauten die Jesuiten, die als Missionare zu einigen entlegenen Stämmen gingen, eigene kleine selbstverwaltete Quasi-Staaten auf, zu denen Weiße keinen Zutritt hatten und in denen die Indios vor Sklavenjägern geschützt waren. Unter den Kolonialisten gingen bald Gerüchte um, diese seien unheimlich reich; und überhaupt wurden die Jesuiten zu dieser Zeit ziemlich angefeindet. Was geschah? 1750 ging das Gebiet, auf dem einige dieser Reduktionen lagen, von Spanien an Portugal, Portugal ließ die Reduktionen auflösen, ein Aufstand der Indios dagegen wurde niedergeschlagen, und 1759 wurden die Jesuiten aus den portugiesischen Gebieten ausgewiesen. Verantwortlich für all das war der Erste Minister Portugals, der Marques de Pombal – ein besonders überzeugter Aufklärer und Kirchenfeind.

(Louis-Michel van Loo und Claude Joseph Vernet, Darstellung der Ausweisung der Jesuiten durch den Marques de Pombal. Gemeinfrei.)

Der Abolitionismus des 18. und 19. Jahrhunderts dann war eine Bewegung, die vor allem von englischen und nordamerikanischen Evangelikalen und Quäkern geprägt war; einer der wichtigsten englischen Abolitionisten, John Newton, ein bekehrter Sklavenhändler, ist der Autor des berühmten Kirchenliedes „Amazing Grace“; William Wilberforce, der nach endlosen Bemühungen in England das Verbot des Sklavenhandels erreichte, war ein Erweckungsprediger.

Natürlich waren auch einige Aufklärer gegen die Sklaverei und die Leibeigenschaft. Sie erreichten manchmal auch etwas; die Leibeigenschaft in Frankreich wurde, wo sie noch bestand, zu Beginn der Französischen Revolution abgeschafft; in den deutschen Gebieten geschah das zu Napoleonischer Zeit ebenfalls unter französischem Einfluss. Aber prinzipiell hätte es keine „Aufklärung“ gebraucht, um beides abzuschaffen (mancherorts war die Leibeigenschaft damals auch schon fast verschwunden), und ob der Beitrag von Aufklärern in der Praxis entscheidend war, oder ob dasselbe auch ohne sie geschehen wäre, ist fraglich. Tatsache ist, dass die sog. Aufklärung keine neuen Argumente auf den Tisch gebracht hat, die man vorher nie gehört gehabt hätte.

Was die Folter angeht, gegen die sprach sich schon Papst Nikolaus I. im 9. Jahrhundert aus. Ja, ich weiß; viele Gerichte in Europa wendeten sie noch lange Zeit weiter an, weil sie Angeklagte nur nach einem Geständnis, nicht aufgrund von Indizien verurteilen wollten; also mussten Geständnisse eben erzwungen werden. Allerdings gab es auch Regeln und Begrenzungen für ihre Anwendung (wie lange / womit gefoltert werden durfte, dass ein Geständnis ohne Folter wiederholt werden musste o. Ä.). Für einige Zeit (zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert) übernahmen auch Kirchengerichte die Folter in begrenztem Maß. Die Römische Inquisition stellte ihre Anwendung allerdings schon im frühen 17. Jahrhundert ganz ein; und jemand, der sich besonders gegen sie einsetzte, war auch der Autor der Cautio Criminalis – der Jesuit Friedrich Spee. (Weier unten mehr zu ihm.) Ja: Auch Aufklärer setzten sich gegen die Folter ein, und ich meine (ich müsste das genauer recherchieren), dass ihr Beitrag hier auch bedeutender war als bei der Sklaverei. Aber auch hier hätte es sie nicht gebraucht, und sie brachten keine prinzipiell neuen Argumente.

Zur Judenemanzipation und zur Religionsfreiheit im Allgemeinen unter Punkt 3 (Meinungsfreiheit) im nächsten Post.

2) „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – Die Aufklärer und die Vernunft

„2) Philosophen der Aufklärung wie Immanuel Kant haben immer wieder darauf hingewiesen, dass wir unseren Verstand benutzen und kritisches Denken üben sollen. Aufgrund dieses wichtigen Prinzips der Aufklärung wurde Schulbildung gefördert und Aberglauben eingedämmt, sodass ab dem 18. Jahrhundert keine Hexen mehr in Europa verbrannt wurden. Rationale Instrumente der Beweisführung wurden nun eingeführt und auf Aberglauben basierende Praktiken wie die Wasserprobe wurden dafür eingestellt.“

Den eigenen Verstand benutzen ist etwas sehr Gutes. Das sollten die Leute tatsächlich öfter tun. Freilich ist es auch manchmal nötig, anzuerkennen, dass der eigene Verstand und das eigene Wissen begrenzt sind und andere vielleicht klüger sein oder mehr Ahnung haben könnten als man selber, aber ja: Natürlich sollten die Leute prinzipiell öfter selber denken. Aber nicht jeder, der mal gesagt hat „Denkt selber!“ oder, etwas fancier, „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, hat sich selber auch gute Gedanken gemacht, wenn er selber gedacht hat.

Zudem ist es ja nicht so, dass die Kirche eine Feindin des vernünftigen Denkens wäre – das genaue Gegenteil ist der Fall. Man lese mal Thomas von Aquin und behaupte, der habe nicht selber gedacht. Wir brauchen die Vernunft – sie ist uns von Gott gegeben; wieso sollte sie also von Ihm wegführen? Die Kirche hat die Vernunft immer als eine der höchsten Fähigkeiten des Menschen betrachtet und ihr z. B. auch zugetraut, Gottes Existenz und das Naturrecht zu erkennen.

Freilich kann man es mit dem Rationalismus auch mal übertreiben. Wenn man meint, es gäbe nichts in der Welt, was der Vernunft widersprichen kann, dann hat man Recht; aber wenn man meint, es gäbe überhaupt nichts, was die begrenzte Vernunft des Menschen übersteigen kann, keine Mysterien, denen er sich mit ihr nur annähern kann, dann hat man Unrecht.

Die Aufklärer hatten ein sehr simples Weltbild. Man hat ihren deistischen Gott zu Recht als „Uhrmachergott“ bezeichnet: Er richtet eine simple mechanische Welt ein, in der alles nach ganz einfachen Regeln funktioniert. Das Weltbild der Aufklärer passt gut zum Universum von Newton – allerdings weniger zum wirklichen Universum, dem komplizierteren Universum, das die Quantenphysik erforscht. Und ihre Theologie passt eben auch nicht zum wirklichen Gott, der ebenfalls etwas komplizierter ist, als sie Ihn sich vorstellten – in einem Wesen drei Personen, und eine der drei Personen noch dazu aus Liebe zu den Menschen Mensch geworden. Die Newtonschen Gesetze sind nicht falsch, sie sind nur nicht alles; ebenso ist die deistische Gottesvorstellung nicht direkt falsch, aber sie ist defizitär.

Auch die Bildung fördern kann man ohne die Ideen der Aufklärer. Im Mittelalter wurden in Europa zahlreiche Universitäten gegründet, während der Reformation und der Gegenreformation förderte man die Schulbildung weiter. Der Fortschritt der Bildung war eher eine Sache des technologischen Fortschritts – z. B. konnten ab 1450 Bücher mit der Druckerpresse leichter produziert werden – als geänderter Weltanschauungen. Aber ja, auch einige Aufklärer machten sich darum verdient, Schulbildung für breitere Schichten des Volkes zugänglich zu machen. Freilich taucht hier auch das Problem auf, dass sie die Schulen unter der Kontrolle des Staates haben und vor allem treue und nützliche Staatsdiener heranziehen wollten und z. B. von Ordensgemeinschaften geführte Schulen am liebsten aufgelöst sehen wollten.

Was die Hexenverfolgungen angeht, so endeten sie nicht unbedingt wegen irgendwelcher Aufklärer. In den deutschen Gebieten war der oben bereits erwähnte Jesuit Friedrich Spee besonders einflussreich, der 1631 sein Buch „Cautio Criminalis oder Rechtliche Bedenken wegen der Hexenprozesse“ veröffentlichte. Darin argumentiert er übrigens wie folgt gegen die Folter:

„27. Ist die Folter ein geeignetes Mittel zur Enthüllung der Wahrheit?

Bei der Folter ist alles voll von Unsicherheit und Dunkel […]; ein Unschuldiger muß für ein unsicheres Verbrechen die sichersten Qualen erdulden.

28. Welches sind die Beweise derer, die sofort die auf der Folter erpressten Geständnisse für wahr halten?

Auf diese Geständnisse haben alle Gelehrten fast ihre ganze Hexenlehre gegründet, und die Welt hat’s ihnen, wie es scheint, geglaubt. Die Gewalt der Schmerzen erzwingt alles, auch das, was man für Sünde hält, wie lügen und andere in üblen Ruf bringen. Die dann einmal angefangen haben, auf der Folter gegen sich auszusagen, geben später nach der Folter alles zu, was man von ihnen verlangt, damit sie nicht der Unbeständigkeit geziehen werden. […] Und die Kriminalrichter glauben dann diese Possen und bestärken sich in ihrem Tun. Ich aber verlache diese Einfältigkeit. […]

29: Muss die so gefährliche Folter abgeschafft werden?

Ich antworte: entweder ist die Folter gänzlich abzuschaffen oder so umzugestalten, dass sie nicht mit moralischer Sicherheit Unschuldigen Gefahr bringt. […] Man darf mit Menschenblut nicht spielen, und unsere Köpfe sind keine Bälle, die man nur so hin und her wirft. Wenn vor dem Gericht der Ewigkeit Rechenschaft für jedes müßige Wort abgelegt werden muss, wie steht’s dann mit der Verantwortung für das vergossene Menschenblut? […]“

(Titelblatt des Erstdrucks der Cautio Criminalis, 1631. Gemeinfrei.)

Auch um Hexenproben abzulehnen braucht es keine Aufklärer: Die Kirche erklärte schon im Mittelalter sog. Gottesurteile (bei Prozessen im Allgemeinen, nicht nur bei Hexenprozessen) für unzulässig, da man hier Gott zwingen wollte, ein Wunder zu wirken – und es gilt ja: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.“

Auch andere wichtige Gegner der Hexenprozesse waren Theologen, etwa der reformierte Geistliche Anton Praetorius, der schon 1598 ein Buch gegen die Verfolgungen veröffentlichte, und der ebenfalls die Folter ablehnte.

Die Argumentation christlicher Gegner der Hexenprozesse konnte lauten, dass es gar nicht möglich sei, durch einen Pakt mit Dämonen wirkliche Macht z. B. für Wetterzauber zu erhalten, weil Gott in seiner Allmacht den Dämonen keine solche Macht einräume. Nun ist das eine Frage, in der sich die Theologen im Lauf der Kirchengeschichte nicht ganz einig waren; aber selbst diejenigen, die geglaubt hätten, dass Schadenszauber wirksam sein können, weil Gott den Dämonen schon eine begrenzte Macht einräume, hätten deswegen trotzdem gegen die Massenpanik sein können, die in der Frühen Neuzeit einsetzte.

Schon in der Antike glaubten die Leute ja an Schwarze (und Weiße) Magie, fürchteten sich vor ihr und praktizierten sie selber; und die Kirchenväter sagten dazu: Christus hat die Dämonen besiegt, sie können euch nichts mehr anhaben, wenn ihr Ihm nur vertraut. Im Frühmittelalter unterband die Kirche Hexenverfolgungen direkt – die Synode von Paderborn im Jahr 785 legte fest, dass, wer vom Teufel verleitet nach Art der Heiden behaupte, dass es Hexen gäbe, und diese verbrenne, selbst mit dem Tod bestraft werden sollte; auch den noch mehr oder weniger heidnischen Sachsen wurde von Kaiser Karl dem Großen die Hexenverfolgung untersagt.

Gegen Aberglauben – die Verwendung von Talismanen und Ähnliches – war die Kirche schon immer. Das wurde den Leuten auch immer gepredigt. Freilich hielten sie sich nicht immer daran – auch wenn ich mich frage, ob sie sich zumindest mehr daran hielten als heutzutage, wo sie ja auch ziemlich gerne Traumfänger und Heilkristalle im Wohnzimmer deponieren und zum Warzenabbeten und Pendeln gehen.

Die moderne wissenschaftliche Methode – wiederholbare Experimente, Falsifizierbarkeit usw. – stammt übrigens schon spätestens aus dem 17. Jahrhundert und von Leuten wie Galilei oder Newton, die ohne Zweifel fromme Christen waren (auch wenn Galilei sich mal ein wenig mit seinem Gönner, dem Papst, überwarf, weil er die heliozentrische Theorie nicht als Hypothese, sondern als bereits bewiesen dargestellt hatte; zur Galilei-Angelegenheit ausführlicher hier, wenn es jemanden interessiert). Natürlich prägte die neue Wissenschaft auch die Aufklärung – aber die Aufklärung erfand nicht diese Wissenschaft.

Zuletzt eine Frage: Haben die Leute denn inzwischen gelernt, wirklich kritisch zu denken? Hinterfragen sie denn immer das, was in den Schulbüchern oder der Bravo Girl! steht, was in der Tagesschau oder bei RTL News gesagt wird, was die gute Bekannte oder der Heilpraktiker oder die Sozialberatungsstelle erzählt oder die Leute, denen man auf Twitter folgt, schreiben, usw.?

Nun ja, sagen wir mal so. Es gibt sehr viele Leute, die homöopathische Medikamente – also Zuckerkügelchen – nehmen. Manche meinen, man solle Kinder um der „frühkindlichen Bildung“ willen im Alter von einem Jahr von den Eltern trennen. Es gibt sogar Leute, die an eine flache Erde glauben. Und eine Mehrheit der Leute in Deutschland ist nicht katholisch. Nein, ich meine tatsächlich, dass die Menschheit allgemein nicht sehr viel besser im kritischen Denken geworden ist.

Die Aufklärung hat eher für ein zusätzliches Problem gesorgt: Die Leute meinen, sie wären besser im kritischen Denken, weil sie ja schließlich nach dem 18. Jahrhundert geboren sind und deshalb aufgeklärt sein müssen – oder so. Das macht sie erst recht blind für ihre Vorurteile, z. B. auch derer zugunsten der Meinungen der sog. Aufklärer.

* zitiert nach: Egon Flaig, Weltgeschichte der Sklaverei, 3. Aufl., C. H. Beck 2018, S. 81.

** Ebd., S. 82.

*** Ebd., S. 159.

Die Ringparabel: Ein kurzer Rant über das lächerlichste Werk der sog. Aufklärung

Ich bin ja allgemein keine Freundin der sog. Aufklärung – auch wenn ich diesen eingebildeten Intellektuellen aus dem 18. Jahrhundert zugestehen muss, dass sie sich eine propagandistisch kluge Selbstbezeichnung gewählt haben. Wer ist schon gegen „Aufklärung“? Ungefähr so viele Leute, wie für „Hass und Hetze“ sind. (Das soll keine politische Aussage sein, es geht mir um die Ähnlichkeit von Propagandabegriffen.) Ich würde mir wünschen, dass das Wort „Aufklärung“ bei den Leuten ähnliche Assoziationen wecken würde wie der Begriff „Antifaschistischer Schutzwall“ – denn besonders viel Licht und Klarheit und Vernunft hat die sog. Aufklärung tatsächlich nicht gebracht.

Besonders nervig an vielen sog. Aufklärern ist ja ihre unerklärliche Feindseligkeit gegenüber allen Offenbarungsreligionen; ein vager Deismus, die Anerkennung eines Höchsten Wesens ist noch in Ordnung, aber doch bitte kein Gott, der sich tatsächlich in die Welt einmischt, die Er gemacht hat; das darf nicht sein. Und die Kirche – diesen Hort von „Aberglauben“ und „Fanatismus“ (noch so zwei Schlagworte aus der Propagandakiste), diese weltabgewandte Institution, die ihre Mönche und Nonnen in Klöster sperrt, um zu beten, statt was Nützliches für Wirtschaft und Gesellschaft zu leisten, diese Feindin der Natur, die immer noch an der Lehre von der Erbsünde festhält und sich nicht dazu bringen lässt, zu glauben, die Menschen seien von Natur aus gut – die konnten sie gleich mal gar nicht leiden. Eins der dämlichsten Werke, das die religiösen Ansichten der sog. Aufklärer populär gemacht hat und mit dem leider immer noch Schüler gequält werden – ich vor einigen Jahren auch -, ist ja die Ringparabel aus Lessings Stück „Nathan der Weise“.

(Nathan der Weise, Erstdruck. Bildquelle: Wikimedia: Foto H.- P. Haack.)

Hier noch mal der Text (Quelle hier) :

 

„Nathan.       Traun, ein schöner Titel!
Doch, Sultan, eh‘ ich mich dir ganz vertraue,
Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu
Erzählen?

Saladin.       Warum das nicht? Ich bin stets
Ein Freund gewesen von Geschichtchen, gut
Erzählt.

Nathan.       Ja, gut erzählen, das ist nun
Wohl eben meine Sache nicht.

Saladin.       Schon wieder
So stolz bescheiden? – Mach! erzähl, erzähle!

Nathan.
Vor grauen Jahren lebt‘ ein Mann in Osten,
Der einen Ring von unschätzbarem Wert
Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein
Opal, der hundert schöne Farben spielte,
Und hatte die geheime Kraft, vor Gott
Und Menschen angenehm zu machen, wer
In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder,
Daß ihn der Mann in Osten darum nie
Vom Finger ließ; und die Verfügung traf,
Auf ewig ihn bei seinem Hause zu
Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring
Von seinen Söhnen dem geliebtesten;
Und setzte fest, daß dieser wiederum
Den Ring von seinen Söhnen dem vermache,
Der ihm der liebste sei; und stets der liebste,
Ohn‘ Ansehn der Geburt, in Kraft allein
Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde. –
Versteh mich, Sultan.

Saladin.       Ich versteh dich. Weiter!

Nathan.
So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn,
Auf einen Vater endlich von drei Söhnen;
Die alle drei ihm gleich gehorsam waren,
Die alle drei er folglich gleich zu lieben
Sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit
Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald
Der dritte, – sowie jeder sich mit ihm
Allein befand, und sein ergießend Herz
Die andern zwei nicht teilten, – würdiger
Des Ringes; den er denn auch einem jeden
Die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen.
Das ging nun so, solang es ging. – Allein
Es kam zum Sterben, und der gute Vater
Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei
Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort
Verlassen, so zu kränken. – Was zu tun? –
Er sendet in geheim zu einem Künstler,
Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes,
Zwei andere bestellt, und weder Kosten
Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich,
Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt
Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt,
Kann selbst der Vater seinen Musterring
Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft
Er seine Söhne, jeden insbesondre;
Gibt jedem insbesondre seinen Segen, –
Und seinen Ring, – und stirbt. – Du hörst doch, Sultan?

Saladin (der sich betroffen von ihm gewandt).
Ich hör, ich höre! – Komm mit deinem Märchen
Nur bald zu Ende. – Wird’s?

Nathan.       Ich bin zu Ende.
Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst. –
Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder
Mit seinem Ring, und jeder will der Fürst
Des Hauses sein. Man untersucht, man zankt,
Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht
Erweislich; –
(nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet)
Fast so unerweislich, als
Uns itzt – der rechte Glaube.

Saladin.       Wie? das soll
Die Antwort sein auf meine Frage? …

Nathan.       Soll
Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe
Mir nicht getrau zu unterscheiden, die
Der Vater in der Absicht machen ließ,
Damit sie nicht zu unterscheiden wären.

Saladin.
Die Ringe! – Spiele nicht mit mir! – Ich dächte,
Daß die Religionen, die ich dir
Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären.
Bis auf die Kleidung, bis auf Speis‘ und Trank!

Nathan.
Und nur von seiten ihrer Gründe nicht.
Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte?
Geschrieben oder überliefert! – Und
Geschichte muß doch wohl allein auf Treu
Und Glauben angenommen werden? – Nicht? –
Nun, wessen Treu und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?
Doch deren Blut wir sind? doch deren, die
Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe
Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo
Getäuscht zu werden uns heilsamer war? –
Wie kann ich meinen Vätern weniger
Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. –
Kann ich von dir verlangen, daß du deine
Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht
Zu widersprechen? Oder umgekehrt.
Das nämliche gilt von den Christen. Nicht? –

Saladin.
(Bei dem Lebendigen! Der Mann hat recht.
Ich muß verstummen.)

Nathan.       Laß auf unsre Ring‘
Uns wieder kommen. Wie gesagt: die Söhne
Verklagten sich; und jeder schwur dem Richter,
Unmittelbar aus seines Vaters Hand
Den Ring zu haben. – Wie auch wahr! – Nachdem
Er von ihm lange das Versprechen schon
Gehabt, des Ringes Vorrecht einmal zu
Genießen. – Wie nicht minder wahr! – Der Vater,
Beteurt‘ jeder, könne gegen ihn
Nicht falsch gewesen sein; und eh‘ er dieses
Von ihm, von einem solchen lieben Vater,
Argwohnen lass‘: eh‘ müss‘ er seine Brüder,
So gern er sonst von ihnen nur das Beste
Bereit zu glauben sei, des falschen Spiels
Bezeihen; und er wolle die Verräter
Schon auszufinden wissen; sich schon rächen.

Saladin.
Und nun, der Richter? – Mich verlangt zu hören,
Was du den Richter sagen lässest. Sprich!

Nathan.
Der Richter sprach: Wenn ihr mir nun den Vater
Nicht bald zur Stelle schafft, so weis ich euch
Von meinem Stuhle. Denkt ihr, daß ich Rätsel
Zu lösen da bin? Oder harret ihr,
Bis daß der rechte Ring den Mund eröffne? –
Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring
Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen;
Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß
Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden
Doch das nicht können! – Nun; wen lieben zwei
Von Euch am meisten? – Macht, sagt an! Ihr schweigt?
Die Ringe wirken nur zurück? und nicht
Nach außen? Jeder liebt sich selber nur
Am meisten? – Oh, so seid ihr alle drei
Betrogene Betrüger! Eure Ringe
Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring
Vermutlich ging verloren. Den Verlust
Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater
Die drei für einen machen.

Saladin.       Herrlich! herrlich!

Nathan.
Und also, fuhr der Richter fort, wenn ihr
Nicht meinen Rat, statt meines Spruches, wollt:
Geht nur! – Mein Rat ist aber der: ihr nehmt
Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von
Euch jeder seinen Ring von seinem Vater:
So glaube jeder sicher seinen Ring
Den echten. – Möglich; daß der Vater nun
Die Tyrannei des einen Rings nicht länger
In seinem Hause dulden willen! – Und gewiß;
Daß er euch alle drei geliebt, und gleich
Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen,
Um einen zu begünstigen. – Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Ergebenheit in Gott
Zu Hilf‘! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad ich über tausend tausend Jahre
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen
Als ich; und sprechen. Geht! – So sagte der
Bescheidne Richter.

Saladin.       Gott! Gott!

Nathan.             Saladin,
Wenn du dich fühlest, dieser weisere
Versprochne Mann zu sein: …

Saladin (der auf ihn zustürzt und seine Hand ergreift, die er bis zu Ende nicht wieder fahren läßt).
Ich Staub? Ich Nichts?
O Gott!

Nathan.       Was ist dir, Sultan?

Saladin.       Nathan, lieber Nathan! –
Die tausend tausend Jahre deines Richters
Sind noch nicht um. – Sein Richterstuhl ist nicht
Der meine. – Geh! – Geh! – Aber sei mein Freund.“

 

Was. Für. Ein. Scheiß.

Das Ganze geht einfach komplett am Thema vorbei. Lessings Argument ist etwa so stichhaltig, wie wenn jemand auf „Iss Obst, das ist gesund“ hin antworten würde: „Wieso soll ich Obst essen? Äpfel sind oft rot oder blau, und eigentlich ist Lila meine Lieblingsfarbe, oh, guck mal, da draußen ist ein Eichhörnchen! Wusstest du, dass Eichhörnchen auch Obst essen, und mir hat ein Eichhörnchen auch schon mal so nervige Predigten über blaue Äpfel gehalten, und wir sind doch keine Tiere!“

Dröseln wir mal ein paar der einzelnen Denkfehler auf:

1. Die drei Religionen sind nicht ununterscheidbar. Das ist so offensichtlich, dass ich gar nicht weiß, wie irgendjemand darauf kommt, etwas anderes zu behaupten. Was kommt nach dem Tod? Wie werde ich meine Schuld los? Wie soll Gott verehrt werden? Kann ich mich scheiden lassen und dann wieder heiraten? Kann ich mehrere Frauen haben? Überall geben die Religionen verschiedene Antworten. Um Chesterton zu zitieren:

„Was unsere Progressiven vor riesigen Zuhörermassen mit ruhiger Gewissheit erzählen, ist meistens das Gegenteil der Tatsachen; gerade unsere Binsenwahrheiten sind unwahr. Hier ein Beispiel: In jeder ‚Ethischen Gesellschaft‘ und jedem ‚Religionsparlament‘ hört man die bequeme liberale Phrase: ‚Die Religionen unserer Erde unterscheiden sich zwar in Riten und Formen, aber in dem, was sie lehren, stimmen sie überein.‘ Diese Aussage ist falsch; sie widerstreitet den Tatsachen. In Riten und Formen unterscheiden sich die Religionen unserer Erde gar nicht erheblich; erheblich jedoch unterscheiden sie sich in dem, was sie lehren. Es ist, als sagte man: ‚Lasst euch nicht täuschen von der Tatsache, dass die Church Times und der Freethinker völlig anders aussehen, dass die eine Zeitung auf Pergament gezeichnet und die andere in Marmor gemeißelt, dass die eine dreieckig und die andere sechseckig ist; lest sie, und ihr werdet sehen; dass sie dasselbe sagen.‘ Ein atheistisch gesonnener Börsenmakler in Surbiton sieht genauso aus wie ein für Swedenborg schwärmender Börsenmakler in Wimbledon. Man kann endlos um sie herumgehen und sie einer ganz persönlichen und eindringlichen Prüfung unterziehen, ohne etwas Swedenborgartiges am Hut oder etwas besonders Gottloses am Regenschirm zu entdecken. Was sie voneinander trennt, ist nämlich ihr Inneres. In Wahrheit sind also die Religionen unserer Erde gar nicht so beschaffen, wie es die billige Sentenz behauptet: daß sie in der Bedeutung übereinstimmen, im Prozedere jedoch nicht. Genau das Gegenteil ist der Fall. Im Prozedere stimmen sie überein; fast jede große Weltreligion arbeitet mit denselben Methoden, mit Priestern, heiligen Schriften, Altären, Mönchsgelübden und besonderen Festtagen. Die Form, das Wie der Lehre ist überall gleich; der Inhalt, das Was der Lehre, ist überall anders. Heidnische Optimisten und orientalische Pessimisten haben beide ihre Tempel, so wie Liberale und Tories beide ihre Zeitungen haben. Religionen, die dazu da sind, einander zu vernichten, haben jede ihre heiligen Schriften, so wie Armeen, die dazu da sind, einander zu vernichten, jede ihre Geschütze haben.“ (G. K. Chesterton, „Orthodoxie“, aus Kapitel 8)

Lessing hat es sich natürlich auch ein wenig einfacher gemacht, indem er drei gewissermaßen zusammenhängende Religionen genommen hat – hätte er noch Hinduismus, Buddhismus, Platonismus, Manichäismus, Shintoismus, Konfuzianismus, Zoroastrismus und die Kulte der Römer, Germanen, Phönizier und Azteken hinzugezogen, wäre es noch deutlicher geworden, dass er Unsinn schreibt. Aber auch diese drei Religionen haben ihre deutlichen Unterschiede.

2. Damit, dass der Ring „die geheime Kraft [hatte], vor Gott
Und Menschen angenehm zu machen“ soll wohl so etwas gemeint sein wie „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“. Dann sehen wir doch mal die Früchte an. Ganz banal: Wo wäre es schöner, zu leben, in Polen, Israel oder der Türkei? Oder, sagen wir, im Irland der 1930er oder dem Saudi-Arabien der 1930er? Unter Richard Löwenherz oder unter Sultan Saladin?

Oder will Lessing gar behaupten, die wahre Religion solle ihre Anhänger bei anderen beliebt machen? Nun, das hat keine der drei Religionen je für sich beansprucht. Mohammed hat einen beständigen Krieg gegen die ungläubige Welt geführt, und Jesus hat seinen Jüngern angekündigt, sie würden von dieser ungläubigen Welt verfolgt werden. Die Juden hatten es auch nie einfach mit ihr.

3. Die drei Religionen wurden nicht zum selben Zeitpunkt an unterschiedliche Leute verteilt. Sie sind nacheinander entstanden. Das Christentum beansprucht, die angekündigte Erfüllung des Judentums durch den Messias zu sein; der Islam behauptet, Juden und Christen wären von Gottes ursprünglicher Botschaft abgefallen und Mohammed habe die reine Lehre dann wiederhergestellt. (Etwas Ähnliches behaupteten später auch die Reformatoren oder die Mormonen, wobei Luther freilich keine neue Offenbarung von Gott beanspruchte, sondern sich bloß auf die Auslegung eines Textes berief.)

4. Die wahre Religion ist nichts, was ein einzelner oder ein einzelnes Volk besitzen kann, wodurch ein anderer dann leer ausgeht. Eine solche Konkurrenzsituation wie in der Parabel besteht in der Realität einfach nicht. Die drei Religionsgemeinschaften sind erst dadurch entstanden, dass es die drei Religionen gab und einzelne sich ihnen zugehörig erklärten. In der Parabel existieren aber die drei Söhne schon vorher und der Vater kann nur einem den Ring geben. Tatsächlich ist es ja so, dass gerade, wenn alle dieselbe Religion hätten, sich nicht einer über die anderen aufspielen könnte – wenn z. B. jemand vom Christentum zum Islam konvertiert, würden andere Muslime ihn gerade dann als gleichberechtigtes Mitglied der Umma anerkennen. Im frühen Mittelalter wurden Völker wie die Franken oder Dänen, indem ihre Könige sich taufen ließen, als ebenbürtige Mitglieder in die Christenheit aufgenommen. Evtl. könnte man beim frühmittelalterlichen Christentum und Islam noch damit kommen, dass mehr oder weniger alle Christen den Papst und alle Muslime den Kalif anerkennen mussten, die Religionsfrage also zu einer Konkurrenzfrage zwischen Papst und Kalif erklären; aber die Muslime waren schon zu Saladins Zeiten zersplittert, und die Juden passen natürlich überhaupt nicht in dieses Konzept.

Und natürlich ist es ganz grundsätzlich so, dass es bei der Wahrheitsfrage nicht um Herrschaft geht. Wenn ich jemanden von der Wahrheit überzeugen will, dann aus Wahrheitsliebe und weil ich meine, dass es gut für denjenigen ist, die Wahrheit zu kennen, nicht, weil ich dann irgendwie über ihn herrschen könnte. (Das gilt übrigens auch dann, wenn man, wie Lessing, meint, dass Deismus und religiöser Indifferentismus die Wahrheit wären.)

5. Wie gesagt, die Parabel mit den drei Söhnen, von denen nur einer den Ring haben kann, macht keinen Sinn. Aber selbst im Kontext der Parabel, was ist das für ein Vater, der seine Söhne täuscht und den abzusehenden Zank billigend in Kauf nimmt? Aber natürlich macht auch der eine Vater keinen Sinn. Der Vater scheint ja im Kontext der Parabel für die Vorfahren – nicht etwa für Gott; die Annahme eines Gottes, der verschiedene Offenbarungen sendet, wäre ja auch gar zu dämlich – zu stehen; das sind allerdings eben nicht dieselben für Juden, Christen und Muslime. Lessing müsste in seiner Parabel verschiedene Familien haben, die miteinander streiten, nicht drei Söhne desselben Vaters.

6. Und hier kommen wir jetzt zur Entstehung der Religionen laut Nathan/Lessing:

„Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte?
Geschrieben oder überliefert! – Und
Geschichte muß doch wohl allein auf Treu
Und Glauben angenommen werden? – Nicht? –
Nun, wessen Treu und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?“

NEIN, NEIN, UND NOCHMALS NEIN.

Nein, es ist nicht recht, das, was einem die eigenen Leute sagen, ohne Belege anzunehmen, und das, was einem andere sagen, ohne Belege zu verwerfen. Geschichte muss nicht auf Treu und Glauben angenommen werden, und es ist in Ordnung, anzuerkennen, dass die eigenen Vorfahren sich geirrt haben könnten.

Ich kann die Argumente dafür und dagegen, dass Jesus der Messias oder Mohammed ein Prophet war, ansehen. Schauen wir mal zur Entstehung der Religionen hin, ins 1. Jahrhundert etwa. Ein Jude in Ephesus oder Korinth, dem Paulus erzählte, der Messias sei gekommen – ein gewisser Jesus von Nazareth -, konnte sich die Berichte von der Auferstehung anhören, von Pfingsten, von den Wundern Jesu; er konnte Jesu Leben mit den Prophezeiungen über den Messias vergleichen; usw. (Übrigens sind, entgegen anderslautender Gerüchte, sehr viele Juden im antiken Römischen Reich Christen geworden.) Ähnlich ein Jude oder Christ in Mekka im 7. Jahrhundert: Er konnte sich anhören, was dieser neue Prophet sagte und ob es einen Anhaltspunkt dafür gab, dass der ein wahrer Prophet Gottes war, konnte sehen, ob er Wunder wirkte, ob er von früheren Propheten angekündigt worden war, usw. (was nicht der Fall war).

Wir sind heute ja im Vergleich zu damals z. T. in einer noch besseren Position. Wir können z. B., anders als Mohammeds Zeitgenossen in Arabien, frühe Bibelhandschriften, andere frühchristliche Werke aus dem späten 1. oder dem 2. Jahrhundert, und Ähnliches, vergleichen und sehen, ob irgendwann im frühen Christentum diese Verfälschung, dieser Abfall von dem, was Jesus laut Mohammed gepredigt habe, geschehen ist. Das Ergebnis ist einfach zu sehen: Es gab diesen Abfall nicht. Die Evangelien sahen im 1. Jahrhundert schon genauso aus wie im 7. oder im 21.

Es ist kein Zeichen der Bescheidenheit, nicht nach der Wahrheit suchen zu wollen, sondern eins intellektueller Feigheit. Man muss im Leben nach irgendwelchen Prinzipien handeln – etwas anderes bleibt einem gar nicht übrig, man wird immer mit Situationen konfrontiert, in denen man Entscheidungen treffen muss -, und da kann man sehr wohl versuchen, herauszufinden, welches denn die richtigen wären.

Lessing behauptet einfach, die drei Religionen seien ja eh praktisch dasselbe, und eh alle nur unbewiesene Traditionen, die man eben aus Respekt vor den eigenen Ahnen weiterpflegen solle (aber wohl, ohne sie eigentlich ernst zu nehmen, denn sie sind ja letztlich doch nur Anleitungen zum moralisch guten Leben, und alles andere an ihnen ist unwichtiger Mythos). Aber jeden Beleg dafür bleibt er schuldig. Er verurteilt damit auch Konvertiten, die die Suche nach der Wahrheit ernst genommen und die Religionen ihrer Eltern verlassen haben.

Kurz gesagt, er ist ein typischer „Aufklärer“: Undurchdachte Schlagworte und Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit und dem lebendigen Gott, der „gesprochen hat durch die Propheten, und die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“.

Halloween, und so

Ein nachträglicher Gastbeitrag zu Halloween und dem Reformationstag von Nepomuk.

 

I. Feste am Ende des Oktober

Die deutsche Sprache kennt den Ausdruck „Matthäi am Letzten“, der ungefähr so viel bedeutet wie: „Es wird zappenduster.“ Wenn man so im Internet nachforscht, dann kann man die absurdesten Theorien über dessen Herkunft feststellen (angeblich habe er etwas mit dem hl. Apostel Matthias – dessen Genitiv „Matthiae“ wäre – zu tun, dessen Fest gegen Ende des Februars stattfindet, wenn auch nicht an dessen Ende), welche Herkunft doch dem Kirchgänger eigentlich offen auf der Hand liegend sein müßte: Im alten römischen Ritus, im Lesejahr A nach der Liturgiereform, und (wie man hört) auch bei den Protestanten werden am letzten Sonntag des Kirchenjahres jeweils Evangelien nach Matthäus verlesen, die alle unterschiedlich sind und alle vom Weltgericht handeln. Dann ist Matthäi am letzten; und wenn wir in die Apostelgeschichte schauen, wird es auch in der Tat zappenduster werden (Apg 2,19f).

Soweit sind wir noch nicht; es ist erst Oktober. Matthäi am Letzten ist eben am letzten Sonntag des Kirchenjahres – oder wäre es traditionell, wenn nicht die Liturgiereform in einem ihrer offenkundigsten Fehler uns an diesem Sonntag das Christkönigsfest beschert hätte (dessen in der Enzyklika Quas primas festgelegter Festinhalt eben nicht die vom Festtermin offensichtlich nahegelegte Aufrichtung des Himmelreiches am Jüngsten Tage ist, sondern die weniger, aber eben auch wichtige Herrschaft Christi im Hier und Jetzt, wie sie teils besteht, teils von uns nach unseren Möglichkeiten durchzusetzen ist). Christkönig, nach dem alten Ritus, war gerade eben; und man kann es vielleicht zu einer halben Ehrenrettung der Liturgiereform sagen: daß wir nun darauf im Zusammenhang mit einem ganz anderen Thema darauf zu sprechen kommen (der Zusammenhang wird, so hoffe ich, noch deutlich werden) ist vielleicht ein Hinweis darauf, daß das natürlich auch zusammenhängt.

Ziemlich genau mit dem November setzt die Besinnung der Kirche auf die sogenannten Letzten Dinge ein. (Für die liturgischen Feinschmecker: eigentlich, ausweislich des Festevangeliums, im alten Ritus schon mit dem Apostelfest der hll. Simon und Judas; und in gewisser Weise seit dem achtzehnten Sonntag nach Pfingsten, oder auch schon dem Samstag des Septemberquatembers, der nicht von ungefähr, obwohl er ganz verschieden fällt, im Meßbuch genau vor diesem Sonntag steht). Und am letzten Sonntag, an dem die Hauptfeste des Kirchenjahres vorbei sind, aber wir eben noch nicht mit dem Allerheiligenfest in die eigentliche Letzte-Dinge-Phase eingetreten sind, ist eben im alten Ritus das Christkönigsfest; so die Argumentation bei der Einführung 1925. – Ich schweife ein wenig ab; das ist so meine Art.

Am 1. November ist Allerheiligen, an dem wir die Heiligen des Himmels feiern; am 2. November ist Allerseelen, wo wir der Armen Seelen im Fegfeuer gedenken. Und am 31. Oktober? Da steht eine Menge von Dingen an.

Die Regensburger, natürlich, kümmern sich um den Lauf der restlichen Welt wenig; für sie ist erstmal, vor allem und überhaupt das Fest des hl. Wolfgang, ihres Diözesanpatrons, dann kommt eine ganze Weile nichts. Das ist ja auch schön und gut. Die lokalen Dinge sind sehr wichtig, und nur die wichtigsten Dinge sind wichtiger; so immer der gesunde katholische, subsidiäre Instinkt. Aber davon wollen wir ersteinmal nicht reden (außer es sollte sich eine ganz seltsame Parallele auftun).

Vor allem aber geht regelmäßig das obligatorische Gejammer los, das unsere Brüder und Schwestern Protestanten anstimmen, weil ihr Reformationstag von dem amerikanischen und, so heißt es, unchristlichen Import Halloween verdrängt wird. Ein kleiner Nebenkriegsschauplatz ist das Tanzverbot: an dem Fest Allerheiligen, auch wenn es für sich genommen ein Freudenfest ist, soll wegen des Themenkomplexes, das es einläutet, und wegen des doch ernsten Charakters, das es selbst auch irgendwo hat, und vor allem deswegen, weil Allerseelen nun einmal kein Feiertag ist und das öffentliche Totengedenken deshalb weitgehend an Allerheiligen stattfindet, keine Tanzveranstaltung stattfinden. Dies heißt auch, daß die Halloweenparties rechtzeitig enden müssen.

– Ich kann an dieser Stelle einschieben: Die vor einigen Jahren gefundene Lösung, daß im Freistaat Bayern an Allerheiligen bis zwei Uhr früh, aber nicht länger, getanzt werden darf – während es am Karfreitag ausdrücklich bei Mitternacht bleibt! – mag äußerlich wie ein Kompromiß aussehen, stellt einen der tatsächlichen Komplexität der Ereignisse vollkommen gerecht werdende und uneingeschränkt zu bejubelnde Lösung da. Manchmal schafft so etwas auch heute noch die Politik; dann darf man es auch anerkennen. –

Ich muß an dieser Stelle gestehen, was mir vielleicht hernach keiner glauben wird: Ich bin zwar Antiprotestant, nehme mir aber vor, es mir an Respekt für den Gegner nicht fehlen zu lassen. Auch ist Dr. Martin Luther OSA ohne jede Frage eine bedeutende Persönlichkeit, und der Reformationstag war zweifellos ein bedeutendes Ereignis der Geschichte, wenn auch ein verhängnisvolles; schließlich kann der religiöse Ernst zumindest Luthers, um den es am Reformationstag ja primär geht, nicht bestritten werden. Ein besonderes Faible für Halloween habe ich hingegen nie gehabt und habe es immer noch nicht (nein, tatsächlich nicht), schon allein deswegen nicht, weil ich ganz banalerweise beim Ausgehen lieber schöne Gesichter von Frauen als häßlich-geschminkte Gesichter von Frauen sehe. Ich argumentiere also im folgenden nicht für meine persönlichen Vorlieben; aber der große G. K. Chesterton hat einmal den Zölibat, als eine Einrichtung der Kirche, verteidigt und dabei offen eingestanden, daß er selbst diesen nicht verstehe (aber jeden Tag vielleicht noch begreifen könnte). In diesem Geiste bin ich zu der überraschenden Einsicht gekommen, daß bei diesen zwei „Rivalen“ Gut und Böse vielleicht doch anders verteilt sind, als es der von seinem Milieu geprägte gläubige Christ es sich im ersten Augenblicke so vorstellt.

 

II. Die Kritik gewisser frommer Kreise an Halloween

Ein Indiz sind gerade die Attacken, die von seiten der Frommen sehr gerne gegen Halloween gefahren werden. „Fromm“ ist als Lob gemeint, aber „vollständig beraten“ heißt es nun einmal tatsächlich nicht immer; wenn ein Trend aufkommt, sagen wir in den Freikirchen Amerikas – da diese nun einmal, was man neidlos, aber nicht resigniert, anerkennen muß, zur Zeit die „fromme Szene“ weitgehend beherrschen – dann kann man darauf wetten, daß er ersteinmal übernommen wird, zumindest wenn seine Unrichtigkeit nicht offenkundig ist. „Je religiöser, desto besser“ – das stimmt ja sogar; aber kann man es dem gläubigen Volke verdenken, wenn es daraus „je religiöser scheinend, desto besser“ macht?

In besseren Zeiten der Kirche waren die Pfarrer und Prediger streng genug, daß die Laien – clericis laicos semper inimicos esse constat – ein wenig dagegenhielten und vielleicht auch dagegenhalten durften; „im Grunde hat der Herr Pfarrer mit seiner Vorsicht ja schon einen Punkt, aber ganz so muß man das auch nicht alles machen“. (Wenn es wirklich krawotisch werden sollte, dann kann die Kirche ja immer noch mit Ausschluß von der Kommunion, Kirchenstrafen usw. daherkommen. – Es sei hier sicherheitshalber angemerkt: Wenn ich sage „vielleicht auch dagegenhalten durften“, so ist damit nichts gemeint, was tatsächliche Todsünden betrifft. Klar ist ja auch, daß die Gläubigen, sofern sie wenigstens ein bißchen gläubig waren, vor der tatsächlichen konkreten Todsünde immer einen heilsamen Schrecken hatten, und wenn nicht vor ihr, so doch wenigstens davor, nach ihr die Heilige Kommunion zu empfangen – Graham Greenes „Das Herz aller Dinge“ ist ein hervorragendes literarisches Zeugnis für letzteres).
Heute ist es – man hat manchmal fast den Eindruck – umgekehrt; wo ist denn die Strenge noch? Umso weniger kann man es dem Volk verdenken, wenn es „je religiöser scheinend, desto besser“ sagt. Machen wir uns nichts vor: Es gibt durchaus die Kreise, in denen der als der religiösere Mensch gilt, der mehr oder weniger gedankenlos die Argumente des Vulgärkreationismus nachbetet. (Ich beabsichtige damit übrigens nicht, jede Kritik oder jede explizit religiös oder biblisch begründete Kritik am Standardmodell der Physik etc. für unzulässig zu erklären – nur müßte das wenndann auf vernünftige Weise gemacht werden und übrigens erstmal jedenfalls auf der theologischen Seite frei von Irrtümern sein: der heutige Kreationismus fußt wesentlich auf der Behauptung, daß es vor dem Sündenfall keinen Tod gegeben haben könne, und dies ist, auch völlig unabhängig von physikalischen Tatsachen, zunächst einmal schlichtweg schriftwidrig. Bei Bedarf kann ich das gern auch noch begründen.) Es gibt ja obendrein auch die Kreise, in der auf Grund einer allgemeinen Unzufriedenheit damit, wie die heutige Politik zu Gottes Gesetz und der heiligen Religion steht (was nur allzu berechtigt ist!) jemand als umso religiöser gilt, je radikaler er politisch ist. Es gibt, auf deutsch, jede Menge Mist.

Der Punkt ist nun: Die feine katholische Nase riecht bei der herkömmlichen Anti-Halloween-Propaganda genau diese Art Mist heraus. Handeln wir diese Punkte kurz ab; sie sind nicht das eigentliche Thema dieses Textes hier.

1. „Halloween ist satanisch, weil sich Leute als Teufel und Hexen verkleiden.“

Hierzu braucht man eigentlich nichts zu sagen. Mit dem gleichen Recht ist Faust satanisch und zwar nicht wegen problematischer Einstellungen Goethes, die es transportiert (worüber man sicherlich bei Goethe generell reden kann, allerdings scheint mir zumindest der Tragödie erster Teil tatsächlich ganz unproblematisch zu sein), sondern allein schon deswegen, weil dort der Teufel auf der Rollenliste aufscheint. Mit dem gleichen Recht hätte Der Untergang nie produziert werden dürfen, weil es bedauerlicherweise nicht denkbar ist, ohne daß ein Schauspieler in die Rolle Adolf Hitlers schlüpft. Also lassen wir das.

2. „Halloween ist eines der Feste im ‚Festkalender der Satanisten’“.

Ich glaube nicht, daß man das bestreiten kann, zumindest nicht, was den Pseudo-Satanismus betrifft; aber ebensowenig kann man bestreiten, daß die fromme Kritik zuerst, die Einvernahme durch einzelne Satanisten, eine im übrigen marginale Bewegung, die eben präzise das tut, was die Frommen besonders verabscheuen, danach kam. Was übrigens den echten Satanismus betrifft, die wirklich gefährliche Bewegung, über die man am besten wenig sagt und über die ich im übrigen auch gar nichts sagen kann, – aber allem Vernehmen eine Bewegung, die das Licht des Tages scheut, und wirklich gefährlich ist – so sei da einmal dahingestellt, ob die Leute sich wirklich Ende Oktober mit Fratzen bemalen und fleißig Suppe vom zuvor ausgehöhlten Kürbis essen. Ich würde eher vermuten, sie wären dazu viel zu hoffärtig.

3. „Halloween ist ein heidnisches Fest“.

Näherhin ein keltisches; das stimmt von alledem noch am ehesten. Zumindest gab es meinen Informationen nach an diesem Datum tatsächlich ein heidnisches Fest (das bekannte Samhain), das vielleicht tatsächlich etwas mit einer heidnischen Version von „Letzten Dingen“ zu tun hatte. Wir hören ja immer, das Weihnachtsfest gehe auf ein germanisches Fest zurück: was bei Weihnachten Unsinn ist – Weihnachten ist ein rein christliches Fest und allenfalls im Datum von einem römischen beeinflußt – könnte in bezug auf Allerheiligen tatsächlich gewissermaßen „stimmen“. Das Fest Allerheiligen wurde – recht offen – zunächst auf den Termin des römisch-heidnischen Lemurenfestes (das durchaus etwas mit dem Thema „Geister von Verstorbenen“ zu tun hat) am 13. Mai gelegt, indem an diesem Tag der alte allen heidnischen Göttern gewidmete Tempel, das berühmte Pantheon oder die Rotonda, gereinigt und dann zur Ehre aller Heiligen geweiht wurde. Und wenn im 8. Jahrhundert Papst Gregor III. eine allen Heiligen geweihte Kapelle in Alt-St. Peter am 1. November einweihte und dies zum Anlaß nahm, das Festdatum zu verschieben, so liegt der Gedanke durchaus nahe, daß er das dem römischen Lemurenfest ähnliche keltische Fest bewußt zum Datum nahm, zumal die Kelten damals in der Sphäre des Christentums aufgetaucht waren und es auch jahreszeitlich schlicht besser paßte. Dafür, daß er die Weihe einer Nebenkapelle zum Anlaß nahm, ein Fest zu verschieben, das in der Weihe einer bedeutenden Basilika gründete, habe jedenfalls auch ich noch keine geeignetere Erklärung gefunden.

Und natürlich können hier außer dem Datum auch einzelne Bräuche übergegangen sein (auch bei Weihnachten wird sich wohl kaum jemand auf den Standpunkt stellen, der christliche Festgehalt sei mit überhaupt keinem mit ihm vereinbaren Brauch germanischer Herkunft angereichert worden).

Hier kommt aber schon einmal der erste von den Punkten ins Spiel um die es mir hier geht, wenn auch noch nicht das Kernthema: Wir Katholiken haben eben nicht vergessen, was Paulus in Apg 17,23 gesagt und gemacht hat; und wenn uns nun jemand sagt: „aber gerade damit war er in Athen ja nicht erfolgreich“, dann antworten wir stolz: „Das ist nachrangig; jedenfalls hatte er damit Recht.“ Das Taufen oder, mit einem vielleicht etwas zu modisch gewordenen Wort, die „Inkulturation“ von Bräuchen heidnischen Ursprungs, sofern sie nicht selbst götzendienerisch sind, ist keine anrüchige, sondern eine hervorragende Sache; nicht nur, um durch solche „Zugeständnisse“ noch mehr Seelen für Christus zu gewinnen – was aber doch bitte, um alles in der Welt, schon ausreichen sollte! –, sondern auch um der Wahrheit willen.

Ich gehe davon aus, daß an dieser Stelle die Protestanten lautstark das tun, was ihr Name besagt: „bei uns aber nicht!“. Schön und gut. Ich war seit meiner Zweitbeichte nie ein besonderer Freund des ökumenischen Gedankens, wie man ihn landläufig versteht (aber der Autor der Enzyklika Mortalium animos, von der einige disziplinarische, aber kein einziger doktrinärer Punkt aufgehoben ist, war das auch nicht); und hier wird man wohl den überstrapazierten Satz, daß die Toleranz logischerweise vor den Intoleranten wenigstens notwendig halt machen müsse, einmal richtig anwenden müssen. Wenn es recht ist zu inkulturieren, dann ist es nicht recht, auf Grund eines Kompromisses mit den Inkulturationsgegnern darauf zu verzichten.

Daher: Die Johannisfeuer müssen weiter brennen, auch wenn der protestantische Nachbar das nicht mag.

Mein Verweis auf die Johannisfeuer mag überraschend gekommen sein; damit komme ich schön langsam zu meinem eigentlichen Thema, weil zwischen den Johannisfeuern und Halloween eben doch ein Unterschied besteht. Das Johannisfeuer wurde auf den Festtag eines großen Heiligen gelegt und auch mit einer Deutung, die sich auf ihn bezieht, versehen und mit einem eigenen Abschnitt im Rituale Romanum geehrt. (Das ist, um die Anspielung nicht auszulassen, natürlich auch das gleiche Buch, in dem die Exorzismen enthalten sind.) Das Johannisfeuer ist damit heute eine christlich-gottesdienstliche Handlung, und Schluß.

Ist Halloween nicht doch etwas anderes? Ist Halloween nicht so etwas wie der „Harry Potter des Festkalenders“ (in der Buchreihe kommt es ja übrigens tatsächlich auch relativ prominent vor), also ein offenkundig mit viel Unfug als un- und widerchristlich verschmähtes Ding, das die Leute lesen bzw. feiern, weil es halt Spaß macht, das aber trotzdem ebenso offenkundig nicht besonders religiös und christlich ist? Die Bemühungen, etwa „Harry Potter“ auch als letzteres zu deuten, sind ja nicht viel weniger peinlich als die, die auf das Gegenteil aus sind.

Nun; die Feststellung wäre naheliegend; aber ich glaube nicht. Und damit komme ich auf den Reformationstag zu sprechen.

 

III. Reformation und Reformationstag

Es kommt hier übrigens nicht darauf an, ob „der Reformationstag so passiert ist“. „If the legend becomes fact, print the legend“; daß Martin Luther um diese Zeit herum die 95 Thesen zur Diskussion stellte und damit zwar in diesen Thesen selbst nur in den wenigsten Fällen der katholischen Lehre widersprach, aber doch für den heutigen Leser einen zweifellos unkatholischen Geist durchblicken ließ und dafür, daß er durch seine Unbelehrbarkeit den Protestantismus auslöste, den Anstoß gab, das ist ja unstrittig. Wir wollen ihm also durchaus den Dramatismus gönnen, daß er selbst diese Thesen an die Tür der Universitätskirche anschlug – zumal das, wie man hört, eine gängige Methode der wissenschaftlichen Auseinandersetzung war. Vielleicht tat es auch der Universitätshausmeister, aber lassen wir es ruhig einmal Luther selbst getan haben. Es ist gleichgültig.

Was war denn der Auslöser der Reformation? Ich rede jetzt nicht von den Dingen, die sie, leider Gottes, begünstigten; ohne die sie in der religionspolitischen Praxis ziemlich schnell ihr Ende gefunden hätte. Natürlich hätte es die Reformation mit diesem Erfolg nicht gegeben, wenn der insbesondere hohe Klerus weniger Gelegenheit zum Anstoßnehmen gegeben hätte – aber was diese von Katholiken, die aus ökumenischer Höflichkeit ums Verrecken irgendetwas Freundliches dazu sagen wollen, viel zu sehr betonte Tatsache betrifft, hat Luther immer darauf bestanden, daß nicht das der eigentliche Hintergrund der Reformation war; „wir müssen unterscheiden Lehre und Praxis; in der Praxis sind die unsrigen nicht besser als die Katholiken“, soweit Luther selbst. Natürlich wäre die Reformation ohne den Eifer von Fürsten, sich Kirchengüter unter den Nagel zu reißen (und in einem Fall sogar um der lieben PR willen eine Bigamie genehmigt zu bekommen), im Sande verlaufen und bloß zu einem allerdings wohl nicht ganz unbedeutenden Kapitelchen der Häresiegeschichte geworden. Und natürlich – was viel zu wenig beachtet wird: Hätte man dem deutschen Volk glaubwürdig erklärt, was tatsächlich den Tatsachen entsprach, nämlich daß der Abriß von Alt-St. Peter, der Baufälligkeit dieser Kirche wegen, nicht nur und nicht vor allem ein Prestigeprojekt eines etwas ruhmsüchtigen (vielleicht zu ruhmsüchtigen?) Papstes, Julius‘ II., sondern tatsächlich dringend erforderlich war und der Neubau in all seinem Prunk (der bei einer Kirche dieser Bedeutung natürlich unverzichtbar ist) vermutlich ja auch immer noch billiger kam als eine kostspielige Sanierung – wir kennen so etwas bei Bauten ja auch in unseren Tagen –, dann hätte Luther gegen die vor allem auf den Bau von Neu-St. Peter gerichteten Ablässe gewiß nie so eine Stimmung mobilisieren können.
Das alles ist richtig; aber es hat nichts mit dem theoretischen Fundament des Protestantismus zu tun.

Dieses Fundament ist die Angst.

Damit sage ich nichts, was ein ernstzunehmender Protestant wird bestreiten wollen; er wird nur sagen, gemäß seinem damaligen katholischen Glauben habe Luther eben Angst haben müssen und durch seinen Protestantismus den dann notwendigen Ausweg gefunden. Daß aber Luther an der Frage „wie bekomme ich einen gnädigen Gott“ fast verrückt geworden ist, bis er seine spezielle „Lösung“ der Frage gefunden hatte, die bis heute in allen Spielarten des Protestantismus maßgeblich ist, ist eine offenkundige Tatsache. (Unter anderem deswegen ist wohl das Pfingstkirchlertum wie auch sicher der Mormonismus nicht zum Protestantismus zu rechnen.)

Und damit komme ich zu der im Liturgiejahr eher seltsamen Einleitung des Artikels. Ist es nicht natürlich, vor dem Jüngsten Gericht Angst zu haben?

„Tagt der Rache Tag den Sünden, wird das Weltall sich entzünden, wie Sibyll und David künden. / Welch ein Graus wird sein und Zagen, wenn der Richter kommt, mit Fragen streng zu prüfen alle Klagen! / Laut wird die Posaune klingen, durch der Erde Gräber dringen, alle hin zum Throne zwingen. / Schaudernd sehen Tod und Leben sich die Kreatur erheben, Rechenschaft dem Herrn zu geben. / Und ein Buch wird aufgeschlagen: treu darin ist eingetragen jede Schuld aus Erdentagen. / Sitzt der Richter dann zu richten, wird sich das Verborgne lichten; nichts kann vor der Strafe flüchten. / Weh! Was werd ich Armer sagen? Welchen Anwalt mir erfragen, wenn Gerechte selbst verzagen?“
Soweit die ersten sieben Strophen der achtzehneinhalb des Dies irae.

Dann wird’s zappenduster; dann ist Matthäi am letzten.

Die scheinbare Lösung Martin Luthers für dieses echte Problem kennen wir: wir tun einfach so als ob. (Sicher würde das nun ein Protestant nicht so formulieren.) Etwas salbungsvoller ausgedrückt: Aus dem mißverstandenen Bibelvers „der Gerechte lebt aus dem Glauben“ bastelt er sich, dem offenkundigen Sinn zuwiderlaufend, seine Lehre, die in all ihrer Zugespitztheit letztlich so lautet „wie du glaubst, so hast du“: also sinngemäß „wer sich die Sünden vergeben glaubt, dem sind sie vergeben; wer sich die Sünden behalten glaubt, dem sind sie behalten“. (Wir lesen natürlich in Joh 20,23, an das ich mich mit der Formulierung zugegeben angelehnt habe, etwas ganz anderes.)

In einer Formulierung, die meines Wissens auf Paul Hacker zurückgeht: Erlösung durch Selbstsuggestion.

Es ist übrigens nicht meine Absicht, diese neue Theorie lächerlich zu machen. Wer von echter, ernsthafter Verzweiflung umnachtet ist und dann mit dem vielberedeten „Mut der Verzweiflung“ den, um es einmal unangemessen modern auszudrücken, „Sprung ins Ungewisse wagt“, das „Wagnis des Glaubens eingeht“, dem kann man eine gewisse Größe nicht bestreiten – nur Recht hat er eben nicht. Lächerlich ist höchstens Luthers Behauptung, daß diese Lehre von Anfang an die christliche gewesen sei oder gar – zumindest vom Tonfall her klingen seine ersten, noch halbkatholischen Aussagen so – von der Kirche erst allerkürzlichst aufgegeben worden sei.

Da er diese Doktrin aber einmal so aufgestellt hat, folgt mit einer gewissen Logik, daß er die Lehre vom Verdienst verwirft. Wenn andere diesen sogenannten „Fiduzialglauben“ (wie mindestens die katholische Theologie ihn später nennen würde) auch als Wesensbestandteil des „Evangeliums“, d. h. der christlichen Lehre annehmen sollen (es ist übrigens etwas komisch, eine Theorie „Evangelium“ zu nennen, selbst nach den Behauptungen ihres Begründers aus einer Auslegung der Paulusbriefe hervorgeht und im Evangelium gar keinen Anhaltspunkt hat), dann müssen sie vorher auch in Verzweiflung geführt werden oder doch wenigstens vom Katecheten vordemonstriert bekommen, daß sie, wenn sie nicht fromme Protestanten wären, in ebendiese Verzweiflung geraten müßten. Dann aber muß mit aller Gewalt die falsche Lehre gepredigt werden, die im englischen Sprachraum später auf den Begriff utter depravity gebracht werden würde (der Begriff ist calvinistisch, die Wurzel liegt aber tatsächlich bei Luther); der Mensch sei von Natur aus verdorben (wir Katholiken bestehen darauf, daß das erstens nicht die Natur ist und daß zweitens von einer bedauerlichen Hinneigung zur Sünde, aber, zumindest mit Notwendigkeit, nicht von mehr die Rede ist und vor allem daß drittens der Mensch, solange er lebt und bei Bewußtsein ist, immer eine gewisse Empfänglichkeit für das Gute beibehält). Ist er aber verdorben, dann kann er auch nichts Gutes tun; und hat man einmal die Erbsünde, aus der ja die Sünden folgen, so erklärt, dann folgt aus der unbestreitbaren Erfahrungstatsache, daß auch Getaufte sündigen, daß sich daran durch die Taufe nichts Grundlegendes ändert. (Luther erklärt dann die Erlösung gewissermaßen als „Augenzudrücken“ Gottes in dieser Beziehung.) Und wenn das so ist, dann ist der Fall, daß jemand etwas Gutes tut – vor allem, wenn es etwas Gutes ohne innerweltlichen Sinn ist – ein Anlaß für den dringenden Verdacht, daß er diese wesentliche Lehre des Protestantismus nicht akzeptiert und damit auch den nach protestantischer Ansicht wahren Glauben nicht haben kann.

Solche Handlungen faßt der Protestantismus unter den Begriff „Werkgerechtigkeit“. Es gibt natürlich – worauf wir Katholiken mit unserem Harmoniebedürfnis gern bestehen – etwas, das man auch „Werkgerechtigkeit“ nennen könnte und das tatsächlich falsch ist: sich durch Werke den Himmel (oder die Gnade) verdienen wollen, so daß man hernach ein Anrecht darauf hätte, und zwar allein des natürlichen Wertes der Werke wegen, nicht deswegen, weil diese selbst bereits unter dem Anhauch der Gnade geschehen sind, von der die erste immer unverdient ist. Die Frage muß aber ehrlich gestellt werden, ob das seit dem Sieg über die Häresie des Pelagius (also im 5. Jahrhundert) überhaupt nennenswerte Gruppen in der katholischen Kirche geglaubt haben; daß das bis Luther die gängige katholische Lehre gewesen sei, ist jedenfalls ein protestantisches oder versöhnlerisches Märchen.

Von dieser Ablehnung der verdienstlichen Werke – für die Luther sich mit aller Geschicktheit eines von der Verzweiflung wohl entschuldigten, aber an und für sich betrügerischen Kaufmanns etliche Stellen bei Paulus zunutze macht, die „Werke“ für jetzt ungültig erklären: womit aber textlich eindeutig die Zeremonien des mosaischen Gesetzes gemeint sind, mithin ein Thema, das mit dem Luthers gar nichts zu tun hat – kommt er dann zur Verwerflichkeit des Ablaßgewinnens. (Diese steht nicht in den 95 Thesen, die ausdrücklich das Gegenteil proklamieren, etwa in These 67; ich meine aber, daß man sie zwischen den Zeilen lesen kann.) Er sucht sich dabei einen systematisch denkbar ungeeigneten, propagandistisch denkbar geeigneten Gegner aus. Systematisch einen ungeeigneten: Denn gerade der Ablaß ist das genaue Gegenteil von Werkgerechtigkeit. Wenn ich eine Wallfahrt mache, dann ist das ein verdienstliches Werk, gewissermaßen; bitteschön. Die Wallfahrt für sich! Wenn es aber auf die Wallfahrt einen Ablaß gibt, dann ist das ausdrücklich eine Dreingabe der Kirche; der entscheidende Punkt beim Ablaß ist gerade eben, daß das, was daran Ablaß ist, nicht das Werk des Ablaßnehmers, sondern eben ein bei gewissen Anlässen unter gewissen Bedingungen von der Kirche gespendetes Geschenk ist. Aber natürlich gaben damals auf Grund der publizistischen Tagesmeinung die Ablässe in Deutschland ein geeignetes Ziel ab.

Vielleicht hat ja auch Luther tatsächlich vor allem gestört, daß erstens die Ablässe, selbst wenn sie empfangen werden, in der Regel von „Ungläubigen“ im Sinne des Protestantismus empfangen werden und damit gar nichts nützen (so ausdrücklich These 31), und vielleicht auch, daß diese wohl damals schon gern, wie auch heute, ganz selbstlos den Verstorbenen zugewendet wurden. Dies ist auf Seiten des Ablaßnehmers ein gutes Werk (!); und was könne es dem Verstorbenen nach protestantischer Auffassung schon nützen: auf das, worauf es nach diesem Glauben eigentlich ankommt, den Fiduzialglauben zu Lebzeiten, haben sie doch keinen Einfluß.

– Anders als beim Ablaß nehme ich Luther ab, daß er an das Fegfeuer, als er die 95 Thesen schrieb, tatsächlich noch glaubte, wie er dort ausdrücklich sagt (etwa: These 16). Letztlich konnte der Protestantismus aber nicht aus seiner Haut heraus, und da er an seiner Gründungslegende „gegen den Ablaß!“ festhalten mußte, mußte er letztlich auch das Fegfeuer trotz eindeutigem biblischen Beweis (1 Kor 3,15) verleugnen, zumal es, wenn die Sünden ohnehin nur zugedeckt würden, in der Tat nicht recht einzusehen ist, warum, und wenn ja wie, Gott nach Bemäntelung der Sünden noch zeitliche Strafen übrig ließe. Richtig zu erklären ist das, auch wenn es einen Augenblick paradox klingt, nur vom katholischen Standpunkt: Gott vergibt die Sünden ganz, es kommt hinten ein neuer, heiliger Mensch heraus; und eben deshalb hat es Sinn, daß die Rückstände und Verflechtungen, die nach Vergebung der Schuld noch verbleiben, durch Läuterung erst noch beseitigt werden müssen (wo dann „einer des anderen Last tragen“ kann).

Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum Luther für seine Thesen gegen den Ablaß ausgerechnet den Vorabend von Allerheiligen, der damals – und noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts – als Vigil (mit Fasten! Werkgerechtigkeit!) ausgestattet war, wählte.

Nach diesem Versuch einer Erklärung der Reformation kehre ich etwas zum Thema zurück:

Durch das Sicheinreden des Erlöstseins kann man natürlich die Angst nicht eigentlich loswerden. Man kann sie nur verdrängen; und man will dann unter keinen Umständen etwas damit zu tun haben, sonst kommt sie wieder hoch. (Wenn sie verdrängt bleibt und nicht hochkommt, reicht das für den Protestanten.)

 

IV. Das Gruseln als Freizeitgenuß der Katholiken

Völlig anders sehen die Dinge in der heiligen Mutter Kirche aus.

An dieser Stelle möchte ich eine Geschichte von G. K. Chesterton zitieren (Alarums and Discursions: On Gargoyles). Es geht um ein Volk, das auf heidnische, aber nicht bös-heidnische, nur noch unerleuchtet-heidnische, Weise den Sonnengott verehrt; und ihr Priester baut dem Sonnengott einen Tempel in wunderschöner klassischer Architektur. Doch dann werden sie von Piraten überfallen, wären fast vernichtet worden, und nach einem langen Krieg erst werden sie wieder frei.

Und aus irgendeinem Grunde begannen die Leute nach diesen Geschehnissen, vom Tempel und der Sonne anders zu reden. Manche gewiß sagten: „Man darf den Tempel nicht anrühren; er ist klassisch; er ist vollkommen; denn er läßt keine Unvollkommenheiten zu.“ Aber die anderen antworteten: „Und darin unterscheidet er sich von der Sonne, die über Böse und Gute scheint, und über den Schlamm und über die Ungeheuer überall. Der Tempel ist ein Mittagstempel; er ist aus weißen Marmorwolken und einem Edelsteinhimmel gemacht. Aber die Sonne ist nicht immer Mittagssonne. Die Sonne stirbt Tag für Tag; jede Nacht wird sie in Feuer und Blut gekreuzigt.“
Und der Priester hatte den ganzen Krieg hindurch gelehrt und gewehrt, und sein Haar war weiß, seine Augen jedoch jung geworden. Und er sagte: „Ich war im Unrecht, sie sind im Recht. Die Sonne, das Symbol unseres Vaters, gibt Leben all jenen irdischen Dingen, die voller Häßlichkeit und Energie sind. Alle Übertreibungen sind recht, wenn sie das Rechte übertreiben. Lasset uns zum Himmel weisen mit Stoßzähnen, mit Hörnern, mit Finnen, mit Rüsseln, mit Schwänzen – solange sie nur alle zum Himmel zeigen. Die häßlichen Tiere preisen Gott ebenso, wie die schönen es tun. Dem Frosch stehen die Augen aus dem Kopf heraus, weil er den Himmel anstarrt. Der Hals der Giraffe ist so lang, weil sie sich zum Himmel ausstreckt. Der Esel hat Ohren zum Hören; er höre.“

Und das Ende vom Lied ist, daß eine Kathedrale im gotischen Stil gebaut wird – ein Baustil, den wir heute nicht ganz von ungefähr im Namen einer bestimmten Musikrichtung nebst zugehöriger Szene wiederfinden.

Weil der Katholik – zumindest im Idealfall – keine Angst hat, ist er frei, auch all die häßlichen Dinge zu gebrauchen. Weil der Katholik weiß, daß er keine Angst haben sollte, wird ihn das offene Ansprechen der Düsternis eher dazu bringen, keine zu haben. Und übrigens: Weil der Katholik auch ans Fegfeuer glaubt, braucht er sich nicht so sehr vor der Hölle fürchten – und wenn wir es einmal genau nehmen, kann dazu nur je mehr beitragen, je schrecklicher man sich ihre Schrecken vorstellt. Das ist auch paradox; und doch klar, wenn man es sich einmal überlegt.

Es ist die Lehre der Kirche, daß wenigstens Leute, die – wie es technisch heißt – „den Vernunftgebrauch“ (d. h. im großen und ganzen: den 7. Geburtstag) erreichen, letztlich nur drei Möglichkeiten haben: Himmel ohne Fegfeuer; Fegfeuer und dann Himmel; und Hölle. (Die getauft verstorbenen Kleinkinder sind sicher im Himmel; für die ungetauft verstorbenen gilt „nichts Genaues weiß man nicht“, aber wenn sie nicht im Himmel sind, d. h. Gott nicht schauen können, so sind sie jedenfalls doch zumindest in natürlicher Glückseligkeit, d. h. es geht ihnen uneingeschränkt gut.)
Je schrecklicher also die Hölle ist, umso naheliegender der Gedanke: „Na so schlimm, daß ein gütiger und barmherziger Gott mit dahin schicken wird, werde ich ja doch wohl nicht gewesen sein werden. Natürlich muß ich bestraft werden; aber dafür gibt es ja das Fegfeuer, aber das ist ja einmal vorbei, und obendrein“ – denn das ist ebenfalls Lehre der Kirche – „werde ich auch im Fegfeuer schon sicher wissen, daß ich der Hölle ein für alle mal ausgekommen bin“.

(Das entbindet natürlich nicht von der Pflicht, die Todsünden zu meiden und, wenn man das Unglück gehabt haben sollte, in eine zu fallen, zu bereuen und bis zur nächsten Beichte, die spätestens um nächste Ostern herum sein soll, nicht zu kommunizieren.)

Deshalb ist überall dort, wo der Katholizismus lebendig ist und die apologetische Auseinandersetzung mit dem Protestantismus (die ein wenig die Betonung auf die Vermeidung vermessener Heilsgewißheit setzen mußte) relativ fern war, die stillschweigende Unterstellung lebendig geblieben, daß die ewige Höllenstrafe (zumindest unter Katholiken – wobei diese Frage vor Augen gar nicht steht) eine seltene Sache ist. (Eine nicht ganz orthodoxe, aber mentalitätsmäßig umso aufschlußreichere Darstellung der Sache ist in dem Theaterstück Himmelwärts von Ödön von Horvath zu finden.) „’Ja, kommt denn der Flori hierher?‘ ‚Marei, du bist im ewigen Frieden; und wie lange es auch dauern mag, bis dein Flori dir folgt, es wird für dich nur eine kurze Weile sein.’“
Und im Mittelalter galt, habe ich wenigstens gehört, der Teufel (etwa im damaligen Äquivalent unseres Kasperltheaters) als zwar abgrundtief böse, aber auch jämmerliche und irgendwo fast zu bemitleidende Figur. Ein wenig davon wirkt noch nach in Goethes Faust, wenn Mephisto, wie es offensichtlich vorgesehen ist, von dem Mitglied des Ensembles gespielt wird, das vorher im Vorspiel als „Lustige Person“, d. h. als Ausfüller des komödiantischen Parts, vorgestellt wurde.

Übrigens fällt in diesem Zusammenhang eine Figur auf, die die Imagination des christlichen Volkes anscheinend beschäftigt zu haben scheint: jemand, der weder in den Himmel noch in die Hölle hineinpaßt. Zur orthodoxen Antwort darauf komme ich gleich, aber das Konzept ist interessant. Der Protagonist in Himmelwärts muß, weil er weder hierhin noch dorthin paßt, zunächst nochmal auf die Erde. Der Schneider im Himmel kann nicht in den Himmel und in die Hölle auch nicht, also zieht er, heißt es im Märchen, nach „Warteinweil“, wo die frommen Soldaten sind – also die, die einerseits fromm waren, andererseits immerhin das Kriegshandwerk betrieben haben. – Die orthodoxe Antwort darauf ist natürlich „Fegfeuer, und dann in den Himmel; und im übrigen ist das Soldatenhandwerk, bei aller nicht abzustreitenden Problematik, ebensowenig Sünde wie jeder andere notwendige Beruf auch“ (sollte übrigens das Fegfeuer im Ausdruck „Warteinweil“ schon anklingen?), aber interessant ist es schon, welche Blüten die authentische Phantasie des Volkes da so getrieben hat.
Und in diese Kategorie gehört auch Jack O’Lantern, der sich aus dem gleichen Grund an dem Licht einer brennenden Rübe wärmen darf, oder außerhalb Irlands einem Kürbis. Apropos Irland: Seit etwa vierhundert Jahren ist in Irland die pro-keltische und die katholische, die anti-keltische und die protestantische Sache jeweils ungefähr (ich sagte ungefähr) die gleiche.

Wir haben gesehen: Wer keine Angst hat, weil er weiß, daß er einen gnädigen Gott jetzt schon hat – denn Gott ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Gnade – der kann sich daran erfreuen, sich zu gruseln; der kann auch Horrorfilme anschauen, und der kann auch vor der Feier des Himmels und der Fürbitte fürs Fegfeuer dafür zu haben sein, die Hölle gewissermaßen repräsentiert zu bekommen. Wir, so hoffen wir, kommen ja nicht hinein! (Dazu helfe uns Gott in seiner großen Güte durch Christus unseren Herrn. Amen.)

Der hl. Papst Johannes Paul II. hat gesagt, der Paradiesmensch hätte nicht zu arbeiten brauchen, sich aber nach der Arbeit wie nach einem Genusse gesehnt. In der Lage sind wir bei der Arbeit nicht – oft genug nicht bei den reichen Arbeitenden, wohl kaum bei denen, die nicht wissen, ob sie ihr tägliches Brot zusammenbekommen; beim Grusel aber anscheinend schon. Es macht ja auch Freude, wenn man die Geschichte von Beren und Luthien in der Eisenhölle hört, vorausgesetzt, man sitzt gemütlich am Kaminfeuer von Imladris.

Denn das oben anzitierte Dies irae geht noch weiter; man darf eben Lieder nicht immer nach ein paar Strophen abbrechen. „König schrecklicher Gewalten, frei ist Deiner Gnade Schalten: Gnadenquell, laß Gnade walten! / Milder Jesus, wollst erwägen, daß Du kamest meinetwegen, schleudre mir nicht Fluch entgegen. / Bist mich suchend müd gegangen, mir zum Heil am Kreuz gehangen: mög dies Mühn zum Ziel gelangen. / Richter Du gerechter Rache, Nachsicht üb in meiner Sache, eh ich zum Gericht erwache. / Seufzend steh ich schuldbefangen, schamrot glühen meine Wangen: Laß mein Bitten Gnad erlangen. / Hast vergeben einst Marien, hast dem Schächer dann verziehen, hast auch Hoffnung mir verliehen. / Wenig gilt vor Dir mein Flehen; doch aus Gnade laß geschehen, daß ich mög der Höll entgehen. / Bei den Schafen gib mir Weide, von der Böcke Schar mich scheide, stell mich auf die rechte Seite. / Wird die Hölle ohne Schonung den Verdammten zur Belohnung, ruf mich zu der Sel’gen Wohnung. / Schuldgebeugt zu Dir ich schreie,
Tief zerknirscht in Herzensreue: sel’ges Ende mir verleihe. /Tag der Zähren, Tag der Wehen, da vom Grabe wird erstehen zum Gericht der Mensch voll Sünden. / Laß ihn, Gott, Erbarmen finden. / Milder Jesus, Herrscher Du, schenk den Toten ew’ge Ruh. Amen.“

Ist einer unter euch, der seinem Sohn einen Stein gibt, wenn er ihn um Brot bittet? Um wieviel mehr wird der Vater im Himmel, usw.

Daher: beichten; die Allerseelenablässe gewinnen; und Halloween zumindest wohlwollend zur Kenntnis nehmen – dies erscheint auf Grund des Gesagten als hervorragende katholische Reaktion auf das Elend der Reformation, die an einem 31. Oktober begonnen hat und leider viel Grusel, irdischen (wenn man an die Kriege denkt), aber vor allem theologischen, in die Welt gebracht hat, der leider nicht am warmen Kaminfeuer genossen werden kann.

Zumindest noch nicht. Wer weiß, wie wir einmal im Himmel darüber denken werden.