Was habe ich eigentlich gegen die sog. Aufklärung? Teil 1: Zu Menschenwürde und Vernunft

In meinem letzten Artikel habe ich ein bekanntes Werk der sog. Aufklärung kritisiert – Lessings Ringparabel – und mich dabei auch allgemein kritisch zu dieser Bewegung geäußert. Unter diesem Artikel wurde ein Kommentar hinterlassen, in dem es heißt:

„Die meisten Menschen haben positive Assoziationen zu dem Begriff ‚Aufklärung‘ wie Freiheit, Vernunft oder Gleichheit.

Die Argumente lauten dabei meist wie folgt: […]

Was sagst du zu diesen Argumenten, die in der öffentlichen Meinung weit verbreitet sind?“

Das war eine sehr gute Frage und der nötige Anstoß zu ein paar Artikeln, die ich schon lange einmal schreiben wollte. Der Kommentar fasst gängige Argumente für die Aufklärung gut zusammen, deshalb hier jetzt ausführliche Antworten auf sie. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass:

  • die Aufklärer sich für ein paar gute Ziele einsetzen, für die sich aber auch schon vor ihnen rechtgläubige Christen eingesetzt hatten; sie werden extrem überbewertet.
  • die Aufklärer gleichzeitig mehrere falsche und z. T. absolut toxische neue Ideen aufbrachten.

Heute erst einmal zu den ersten zwei mutmaßlichen Errungenschaften der Aufklärung, die der Kommentar nennt; zu den übrigen zwei im nächsten Beitrag; und im übernächsten dann noch ein paar weitere eigene Gedanken.

1) Menschenwürde und Menschenrechte

„1) Die Aufklärung ist die Grundlage für die heutigen Menschenrechte. Die Intellektuellen der Aufklärung haben immer wieder betont, dass alle Menschen frei und gleich sein sollen. Ebenso wurde die Humanitätsidee, die besagt, dass alle Menschen eine Würde haben und entsprechend behandelt werden sollen, entwickelt. Auf der Grundlage dieser aufklärerischen Prinzipien wurden Folter und Leibeigenschaft abgeschafft. Religiöse Toleranz und Religionsfreiheit wurden eingeführt, sodass ab dem Zeitalter der Aufklärung erste Ansätze zur Judenemanzipation sichtbar wurden.“

Gehen wir das Ganze nacheinander durch.

Die Idee der Menschenwürde ist eine christliche Idee. Sie beruht darauf, dass Gott alle Menschen mit einer unsterblichen Seele ausgestattet und nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Sie ist eine Kirchenlehre, die sich aus atheistischer, agnostischer oder heidnischer Sicht nicht begründen lässt. Es ist kein Wunder, dass es sie in vorchristlicher Zeit nicht gab und auch die großen Philosophen der Antike auf Sklaven, Frauen, Ungebildete, geistig Behinderte etc. herabsahen. Nun waren viele der Aufklärer des 18. Jahrhunderts immerhin noch Deisten (d. h. sie glaubten an einen Gott, der die Welt irgendwann einmal gemacht, geordnet, mit Gesetzen ausgestattet, dann aber sich selbst überlassen hatte), oder manchmal auch noch Theisten (d. h. sie glaubten an einen Gott, der auch noch persönlich ansprechbar war), aber auch gemäß einem solchen Weltbild ist es, wenn man den christlichen Glauben abgelegt hat, nicht so einfach, abzuleiten, wieso z. B. ein schwer geistig Behinderter dieselbe Menschenwürde haben soll wie alle anderen Menschen.

Mit anderen Worten: die Aufklärer redeten zwar von Menschenrechten, hatten aber oft keine theoretische Grundlage, auf der sie diese Menschenrechte aufbauen konnten, sondern zehrten von einem christlichen Weltbild, das viele von ihnen (nicht alle – es gab auch christliche Aufklärer) gleichzeitig ablehnten; und sie waren definitiv nicht die Erfinder der Idee der Menschenwürde.

Gutes Anschauungsmaterial für die Entwicklung der Ideen von Menschenwürde und Menschenrechten – und für deren Umsetzung – bietet die Entwicklung der Sklaverei.

Um Christi Geburt war sie auf der ganzen Welt eine normale Gegebenheit. Im Christentum wurde sie zu einer Folge der Sünde erklärt und es fanden sich schon in Antike und Frühmittelalter vereinzelte Stimmen, die sie für grundsätzlich unrechtmäßig hielten und ihre Abschaffung forderten, etwa im 4. Jahrhundert Gregor von Nyssa („Wenn ein Mensch das ‚Eigentum‘ Gottes zu seinem eigenen Eigentum macht und sich die Herrschaft über seine eigene Gattung anmaßt, so daß er sich für den Herrn von Männern oder Frauen hält, was macht er dann anderes als hochmütig die Natur überschreiten, indem er sich für etwas anderes als die Beherrschten hält?“*) und Johannes Chrysostomus; die Synode von Chalons um 650; oder etwas später Atto von Vercelli (885-960). Das war nicht die generelle Sicht; aber die war, dass auch, wenn manche Menschen unfrei waren, diese Menschen grundsätzliche Rechte hatten, ihr Herr sie also nicht einfach totschlagen, ihnen ihre Nahrung verweigern oder das Heiraten verbieten durfte, und eher ihre Arbeitskraft ihrem Herrn gehörte, nicht sie als Person.

Papst Gregor der Große erklärte in einer Freilassungsurkunde im Jahr 595, es sei heilsam gehandelt, „wenn Menschen, welche die Natur als Freie hervorbrachte und die vom Recht der Völker unters Joch der Sklaverei gezwängt wurden, durch die Wohltat eines Freilassers in jene Freiheit zurückversetzt werden, in der sie geboren wurden“**. In Nordwesteuropa wurde aus der Sklaverei allmählich die Leibeigenschaft, wo der Leibeigene zumindest einige Rechte hatte (dieser Prozess geschah etwa in England zwischen 1066 und ca. 1120); und Städte führten das Recht „Stadtluft macht frei“ ein. Der Sachsenspiegel von 1235 erklärt die Unfreiheit grundsätzlich für Unrecht und begründet das mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Der französische König Philipp der Schöne erklärte 1299 alle Leibeigenen auf seinen Krongütern für frei, und seine Ordonnanz beginnt mit „Berücksichtigend, daß jegliches menschliche Geschöpf, welches nach dem Bild unseres Herrn geformt ist, kraft des natürlichen Rechts im allgemein frei sein muß“***. Wir sehen also: die Begriffe und Argumente zur Menschenwürde sind da, auch wenn sich – was nicht verwunderlich ist – nicht alle Herrscher bequemen, sich in der Praxis danach zu richten. Das ist ja heute nicht anders; in wie vielen Staaten, die die ein oder andere Menschenrechtserklärung unterschrieben haben, gelten denn die Menschenrechte tatsächlich?

Als die Portugiesen und Spanier dann die „Neue Welt“ entdeckten und gleich mal zu erobern begannen, geschah wieder ein Rückschritt: So legten sie dort auch Plantagen an, wofür sie Arbeitskräfte brauchten; also wurden in Südamerika und der Karabik die Einheimischen unterjocht und an der westafrikanischen Küste afrikanischen Fürsten Sklaven abgekauft und nach Amerika importiert (weil die Indios zu schnell wegstarben). In Europa brachen kirchliche und juristische Dispute darüber aus; 1537 schrieb Papst Paul III. folgende Enzyklika:

„Der höchste Gott hat das Menschengeschlecht so sehr geliebt, dass Er den Menschen in einer solchen Weise geschaffen hat, dass er nicht nur an den Gütern, an denen sich andere Geschöpfe erfreuen, teilhaben sollte, sondern ihn mit der Möglichkeit ausgestattet hat, das unzugängliche und unsichtbare Höchste Gut [= Gott] zu erreichen und von Angesicht zu Angesicht zu sehen […]

Der Feind des Menschengeschlechts [= der Teufel], der sich allen guten Werken entgegenstellt, um den Menschen zu zerstören, hat, da er dies sah und neidisch war, ein Mittel erfunden, von dem nie zuvor gehört wurde, durch das er die Verkündigung von Gottes rettendem Wort zu den Menschen verhindern könnte: er stiftete seine Anhänger an, die, um ihm zu Gefallen zu sein, nicht zögerten, in der Fremde verlauten zu lassen, dass die Indianer des Westens und Südens und andere Völker, von denen wir vor kurzem erfahren haben, wie stumpfsinnige Tiere behandelt werden sollten, die zu unserem Dienst geschaffen wären, wobei sie vorgaben, diese wären unfähig, den katholischen Glauben zu empfangen.

Wir, die wir, obgleich unwürdig, auf Erden die Macht unseres Herrn ausüben und mit all unserer Kraft versuchen, die Schafe seiner Herde, die draußen sind, in den Pferch zu bringen, der unserer Verantwortung untersteht, sagen allerdings, dass die Indianer wirklich Menschen sind und dass sie nicht nur fähig sind, den katholischen Glauben zu verstehen, sondern dass sie sich laut unseren Informationen auch außerordentlich nach ihm sehnen. Da wir wünschen, diesen Übeln abzuhelfen, bestimmen und erklären wir mit diesen unseren Briefen, oder mit jeglicher Übersetzung derselben, die von irgendeinem öffentlichen Notar unterschrieben und mit dem Siegel irgendeines Würdenträgers der Kirche versiegelt sind, welche genauso angesehen werden sollen wie die Originale, dass, gleich, was Gegenteiliges gesagt worden sein mag oder gesagt werden möge, die besagten Indianer und alle anderen Völker, die vielleicht später von Christen entdeckt werden mögen, auf keine Weise ihrer Freiheit oder ihres Besitzes beraubt werden sollen, selbst wenn sie sich außerhalb des Glaubens Jesu Christi befinden; und dass sie frei und rechtmäßig ihre Freiheit und ihre Besitztümer genießen sollen, und nicht auf irgendeine Weise versklavt werden sollen; sollte das Gegenteil passieren, soll es nichtig sein und keine Wirkung haben.“

(Paul III., Sublimus Dei, Übersetzung von mir aus der englischen Übersetzung.)

In Spanien wurde die Versklavung der Indios schließlich verboten; afrikanische Sklaven wurden allerdings in begrenztem Maß noch importiert (wenn auch weniger als bei den Portugiesen in Brasilien). Auch der französische Staatstheoretiker Jean Bodin, obwohl einer der Vordenker des Absolutismus, forderte schon 1570, man solle die Sklaverei völlig abschaffen und den ehemaligen Sklaven das Bürgerrecht geben. Und auch wenn die Sklaverei in den Kolonien noch weiter bestand, wurde sie in den europäischen Mutterländern – außer in Portugal und einigen italienischen Städten – nicht mehr geduldet; wer als Sklave dorthin kam, wurde frei.

Die Idee natürlicher Rechte, die allen Menschen zustehen, war also definitiv nichts, auf das erst im 18. Jahrhundert jemand gekommen wäre.

Das Thema Sklaverei bietet übrigens auch ein gutes Beispiel für die Zwiespältigkeit der Aufklärung: Es waren gar nicht alle Aufklärer gegen die Sklaverei und Unterdrückung der Einheimischen in den Kolonien (bzw. besonders engagiert dagegen). Thomas Jefferson etwa hielt selbst Sklaven – jawohl, Thomas Jefferson, Mitautor einer gewissen Unabhängigkeitserklärung, in der es heißt: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ Oder sehen wir die sog. „Jesuitenreduktionen“ an. In Südamerika bauten die Jesuiten, die als Missionare zu einigen entlegenen Stämmen gingen, eigene kleine selbstverwaltete Quasi-Staaten auf, zu denen Weiße keinen Zutritt hatten und in denen die Indios vor Sklavenjägern geschützt waren. Unter den Kolonialisten gingen bald Gerüchte um, diese seien unheimlich reich; und überhaupt wurden die Jesuiten zu dieser Zeit ziemlich angefeindet. Was geschah? 1750 ging das Gebiet, auf dem einige dieser Reduktionen lagen, von Spanien an Portugal, Portugal ließ die Reduktionen auflösen, ein Aufstand der Indios dagegen wurde niedergeschlagen, und 1759 wurden die Jesuiten aus den portugiesischen Gebieten ausgewiesen. Verantwortlich für all das war der Erste Minister Portugals, der Marques de Pombal – ein besonders überzeugter Aufklärer und Kirchenfeind.

(Louis-Michel van Loo und Claude Joseph Vernet, Darstellung der Ausweisung der Jesuiten durch den Marques de Pombal. Gemeinfrei.)

Der Abolitionismus des 18. und 19. Jahrhunderts dann war eine Bewegung, die vor allem von englischen und nordamerikanischen Evangelikalen und Quäkern geprägt war; einer der wichtigsten englischen Abolitionisten, John Newton, ein bekehrter Sklavenhändler, ist der Autor des berühmten Kirchenliedes „Amazing Grace“; William Wilberforce, der nach endlosen Bemühungen in England das Verbot des Sklavenhandels erreichte, war ein Erweckungsprediger.

Natürlich waren auch einige Aufklärer gegen die Sklaverei und die Leibeigenschaft. Sie erreichten manchmal auch etwas; die Leibeigenschaft in Frankreich wurde, wo sie noch bestand, zu Beginn der Französischen Revolution abgeschafft; in den deutschen Gebieten geschah das zu Napoleonischer Zeit ebenfalls unter französischem Einfluss. Aber prinzipiell hätte es keine „Aufklärung“ gebraucht, um beides abzuschaffen (mancherorts war die Leibeigenschaft damals auch schon fast verschwunden), und ob der Beitrag von Aufklärern in der Praxis entscheidend war, oder ob dasselbe auch ohne sie geschehen wäre, ist fraglich. Tatsache ist, dass die sog. Aufklärung keine neuen Argumente auf den Tisch gebracht hat, die man vorher nie gehört gehabt hätte.

Was die Folter angeht, gegen die sprach sich schon Papst Nikolaus I. im 9. Jahrhundert aus. Ja, ich weiß; viele Gerichte in Europa wendeten sie noch lange Zeit weiter an, weil sie Angeklagte nur nach einem Geständnis, nicht aufgrund von Indizien verurteilen wollten; also mussten Geständnisse eben erzwungen werden. Allerdings gab es auch Regeln und Begrenzungen für ihre Anwendung (wie lange / womit gefoltert werden durfte, dass ein Geständnis ohne Folter wiederholt werden musste o. Ä.). Für einige Zeit (zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert) übernahmen auch Kirchengerichte die Folter in begrenztem Maß. Die Römische Inquisition stellte ihre Anwendung allerdings schon im frühen 17. Jahrhundert ganz ein; und jemand, der sich besonders gegen sie einsetzte, war auch der Autor der Cautio Criminalis – der Jesuit Friedrich Spee. (Weier unten mehr zu ihm.) Ja: Auch Aufklärer setzten sich gegen die Folter ein, und ich meine (ich müsste das genauer recherchieren), dass ihr Beitrag hier auch bedeutender war als bei der Sklaverei. Aber auch hier hätte es sie nicht gebraucht, und sie brachten keine prinzipiell neuen Argumente.

Zur Judenemanzipation und zur Religionsfreiheit im Allgemeinen unter Punkt 3 (Meinungsfreiheit) im nächsten Post.

2) „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – Die Aufklärer und die Vernunft

„2) Philosophen der Aufklärung wie Immanuel Kant haben immer wieder darauf hingewiesen, dass wir unseren Verstand benutzen und kritisches Denken üben sollen. Aufgrund dieses wichtigen Prinzips der Aufklärung wurde Schulbildung gefördert und Aberglauben eingedämmt, sodass ab dem 18. Jahrhundert keine Hexen mehr in Europa verbrannt wurden. Rationale Instrumente der Beweisführung wurden nun eingeführt und auf Aberglauben basierende Praktiken wie die Wasserprobe wurden dafür eingestellt.“

Den eigenen Verstand benutzen ist etwas sehr Gutes. Das sollten die Leute tatsächlich öfter tun. Freilich ist es auch manchmal nötig, anzuerkennen, dass der eigene Verstand und das eigene Wissen begrenzt sind und andere vielleicht klüger sein oder mehr Ahnung haben könnten als man selber, aber ja: Natürlich sollten die Leute prinzipiell öfter selber denken. Aber nicht jeder, der mal gesagt hat „Denkt selber!“ oder, etwas fancier, „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, hat sich selber auch gute Gedanken gemacht, wenn er selber gedacht hat.

Zudem ist es ja nicht so, dass die Kirche eine Feindin des vernünftigen Denkens wäre – das genaue Gegenteil ist der Fall. Man lese mal Thomas von Aquin und behaupte, der habe nicht selber gedacht. Wir brauchen die Vernunft – sie ist uns von Gott gegeben; wieso sollte sie also von Ihm wegführen? Die Kirche hat die Vernunft immer als eine der höchsten Fähigkeiten des Menschen betrachtet und ihr z. B. auch zugetraut, Gottes Existenz und das Naturrecht zu erkennen.

Freilich kann man es mit dem Rationalismus auch mal übertreiben. Wenn man meint, es gäbe nichts in der Welt, was der Vernunft widersprichen kann, dann hat man Recht; aber wenn man meint, es gäbe überhaupt nichts, was die begrenzte Vernunft des Menschen übersteigen kann, keine Mysterien, denen er sich mit ihr nur annähern kann, dann hat man Unrecht.

Die Aufklärer hatten ein sehr simples Weltbild. Man hat ihren deistischen Gott zu Recht als „Uhrmachergott“ bezeichnet: Er richtet eine simple mechanische Welt ein, in der alles nach ganz einfachen Regeln funktioniert. Das Weltbild der Aufklärer passt gut zum Universum von Newton – allerdings weniger zum wirklichen Universum, dem komplizierteren Universum, das die Quantenphysik erforscht. Und ihre Theologie passt eben auch nicht zum wirklichen Gott, der ebenfalls etwas komplizierter ist, als sie Ihn sich vorstellten – in einem Wesen drei Personen, und eine der drei Personen noch dazu aus Liebe zu den Menschen Mensch geworden. Die Newtonschen Gesetze sind nicht falsch, sie sind nur nicht alles; ebenso ist die deistische Gottesvorstellung nicht direkt falsch, aber sie ist defizitär.

Auch die Bildung fördern kann man ohne die Ideen der Aufklärer. Im Mittelalter wurden in Europa zahlreiche Universitäten gegründet, während der Reformation und der Gegenreformation förderte man die Schulbildung weiter. Der Fortschritt der Bildung war eher eine Sache des technologischen Fortschritts – z. B. konnten ab 1450 Bücher mit der Druckerpresse leichter produziert werden – als geänderter Weltanschauungen. Aber ja, auch einige Aufklärer machten sich darum verdient, Schulbildung für breitere Schichten des Volkes zugänglich zu machen. Freilich taucht hier auch das Problem auf, dass sie die Schulen unter der Kontrolle des Staates haben und vor allem treue und nützliche Staatsdiener heranziehen wollten und z. B. von Ordensgemeinschaften geführte Schulen am liebsten aufgelöst sehen wollten.

Was die Hexenverfolgungen angeht, so endeten sie nicht unbedingt wegen irgendwelcher Aufklärer. In den deutschen Gebieten war der oben bereits erwähnte Jesuit Friedrich Spee besonders einflussreich, der 1631 sein Buch „Cautio Criminalis oder Rechtliche Bedenken wegen der Hexenprozesse“ veröffentlichte. Darin argumentiert er übrigens wie folgt gegen die Folter:

„27. Ist die Folter ein geeignetes Mittel zur Enthüllung der Wahrheit?

Bei der Folter ist alles voll von Unsicherheit und Dunkel […]; ein Unschuldiger muß für ein unsicheres Verbrechen die sichersten Qualen erdulden.

28. Welches sind die Beweise derer, die sofort die auf der Folter erpressten Geständnisse für wahr halten?

Auf diese Geständnisse haben alle Gelehrten fast ihre ganze Hexenlehre gegründet, und die Welt hat’s ihnen, wie es scheint, geglaubt. Die Gewalt der Schmerzen erzwingt alles, auch das, was man für Sünde hält, wie lügen und andere in üblen Ruf bringen. Die dann einmal angefangen haben, auf der Folter gegen sich auszusagen, geben später nach der Folter alles zu, was man von ihnen verlangt, damit sie nicht der Unbeständigkeit geziehen werden. […] Und die Kriminalrichter glauben dann diese Possen und bestärken sich in ihrem Tun. Ich aber verlache diese Einfältigkeit. […]

29: Muss die so gefährliche Folter abgeschafft werden?

Ich antworte: entweder ist die Folter gänzlich abzuschaffen oder so umzugestalten, dass sie nicht mit moralischer Sicherheit Unschuldigen Gefahr bringt. […] Man darf mit Menschenblut nicht spielen, und unsere Köpfe sind keine Bälle, die man nur so hin und her wirft. Wenn vor dem Gericht der Ewigkeit Rechenschaft für jedes müßige Wort abgelegt werden muss, wie steht’s dann mit der Verantwortung für das vergossene Menschenblut? […]“

(Titelblatt des Erstdrucks der Cautio Criminalis, 1631. Gemeinfrei.)

Auch um Hexenproben abzulehnen braucht es keine Aufklärer: Die Kirche erklärte schon im Mittelalter sog. Gottesurteile (bei Prozessen im Allgemeinen, nicht nur bei Hexenprozessen) für unzulässig, da man hier Gott zwingen wollte, ein Wunder zu wirken – und es gilt ja: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.“

Auch andere wichtige Gegner der Hexenprozesse waren Theologen, etwa der reformierte Geistliche Anton Praetorius, der schon 1598 ein Buch gegen die Verfolgungen veröffentlichte, und der ebenfalls die Folter ablehnte.

Die Argumentation christlicher Gegner der Hexenprozesse konnte lauten, dass es gar nicht möglich sei, durch einen Pakt mit Dämonen wirkliche Macht z. B. für Wetterzauber zu erhalten, weil Gott in seiner Allmacht den Dämonen keine solche Macht einräume. Nun ist das eine Frage, in der sich die Theologen im Lauf der Kirchengeschichte nicht ganz einig waren; aber selbst diejenigen, die geglaubt hätten, dass Schadenszauber wirksam sein können, weil Gott den Dämonen schon eine begrenzte Macht einräume, hätten deswegen trotzdem gegen die Massenpanik sein können, die in der Frühen Neuzeit einsetzte.

Schon in der Antike glaubten die Leute ja an Schwarze (und Weiße) Magie, fürchteten sich vor ihr und praktizierten sie selber; und die Kirchenväter sagten dazu: Christus hat die Dämonen besiegt, sie können euch nichts mehr anhaben, wenn ihr Ihm nur vertraut. Im Frühmittelalter unterband die Kirche Hexenverfolgungen direkt – die Synode von Paderborn im Jahr 785 legte fest, dass, wer vom Teufel verleitet nach Art der Heiden behaupte, dass es Hexen gäbe, und diese verbrenne, selbst mit dem Tod bestraft werden sollte; auch den noch mehr oder weniger heidnischen Sachsen wurde von Kaiser Karl dem Großen die Hexenverfolgung untersagt.

Gegen Aberglauben – die Verwendung von Talismanen und Ähnliches – war die Kirche schon immer. Das wurde den Leuten auch immer gepredigt. Freilich hielten sie sich nicht immer daran – auch wenn ich mich frage, ob sie sich zumindest mehr daran hielten als heutzutage, wo sie ja auch ziemlich gerne Traumfänger und Heilkristalle im Wohnzimmer deponieren und zum Warzenabbeten und Pendeln gehen.

Die moderne wissenschaftliche Methode – wiederholbare Experimente, Falsifizierbarkeit usw. – stammt übrigens schon spätestens aus dem 17. Jahrhundert und von Leuten wie Galilei oder Newton, die ohne Zweifel fromme Christen waren (auch wenn Galilei sich mal ein wenig mit seinem Gönner, dem Papst, überwarf, weil er die heliozentrische Theorie nicht als Hypothese, sondern als bereits bewiesen dargestellt hatte; zur Galilei-Angelegenheit ausführlicher hier, wenn es jemanden interessiert). Natürlich prägte die neue Wissenschaft auch die Aufklärung – aber die Aufklärung erfand nicht diese Wissenschaft.

Zuletzt eine Frage: Haben die Leute denn inzwischen gelernt, wirklich kritisch zu denken? Hinterfragen sie denn immer das, was in den Schulbüchern oder der Bravo Girl! steht, was in der Tagesschau oder bei RTL News gesagt wird, was die gute Bekannte oder der Heilpraktiker oder die Sozialberatungsstelle erzählt oder die Leute, denen man auf Twitter folgt, schreiben, usw.?

Nun ja, sagen wir mal so. Es gibt sehr viele Leute, die homöopathische Medikamente – also Zuckerkügelchen – nehmen. Manche meinen, man solle Kinder um der „frühkindlichen Bildung“ willen im Alter von einem Jahr von den Eltern trennen. Es gibt sogar Leute, die an eine flache Erde glauben. Und eine Mehrheit der Leute in Deutschland ist nicht katholisch. Nein, ich meine tatsächlich, dass die Menschheit allgemein nicht sehr viel besser im kritischen Denken geworden ist.

Die Aufklärung hat eher für ein zusätzliches Problem gesorgt: Die Leute meinen, sie wären besser im kritischen Denken, weil sie ja schließlich nach dem 18. Jahrhundert geboren sind und deshalb aufgeklärt sein müssen – oder so. Das macht sie erst recht blind für ihre Vorurteile, z. B. auch derer zugunsten der Meinungen der sog. Aufklärer.

* zitiert nach: Egon Flaig, Weltgeschichte der Sklaverei, 3. Aufl., C. H. Beck 2018, S. 81.

** Ebd., S. 82.

*** Ebd., S. 159.

28 Gedanken zu “Was habe ich eigentlich gegen die sog. Aufklärung? Teil 1: Zu Menschenwürde und Vernunft

  1. Danke für diesen interessanten Beitrag !!

    Ich freue mich, dass du meinen Kommentar als Grundlage für deinen Artikel genommen hast.

    Ich stimme dir zu, dass die Menschenwürde sich sehr gut aus den Grundsätzen des Christentums ableiten und begründen lässt. Nun gibt es aber viele Menschen, die dies bestreiten und dabei auf das sog. finstere Mittelalter verweisen. Die gängige Argumentation besagt, dass die Menschenrechte im Mittelalter mit Füßen getreten wurden und der christliche Glaube die Hauptschuld daran trug. Gemäß dieser Argumentation wurden Frauen ihrer Rechte beraubt und als Eigentum des Mannes behandelt, da man sich nicht nur auf die entsprechenden frauenfeindlichen Bibelstellen stützen konnte, sondern auch auf die Lehre der Kirche, die schon seit der Antike predigte, dass Frauen kein Ebenbild Gottes sind (Eva wurde laut Bibel aus Adams Rippe erschaffen) und damit als seelenlose und minderwertige Wesen zu gelten haben. Weiterhin lautet die Argumentation, dass Homosexuelle im Mittelalter kein Lebensrecht besaßen, da schon die Bibel die Todesstrafe für Homosexuelle forderte.

    Was sagst du zu dieser Argumentation?

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    1. Einstweilen nur so viel:

      1. „als seelenlose […] Wesen“ ist *sicher* formal falsch. Auf so einen grotesken Irrsinn ist nie jemand gekommen.

      2. „daß Homosexuelle im Mittelalter kein Lebensrecht besaßen, da schon die Bibel die Todesstrafe für Homosexuelle forderte“ wirft eine ganze Menge Dinge durcheinander.

      a) Es war im Mittelalter, wenigstens unter den Gelehrten, klar, daß die Justizialbestimmungen des Alten Testaments als solche ebenso aufgehoben waren wie die Zeremonialbestimmungen – auch wenn es den Leuten heute nicht klar ist.
      D. h.: Wenn in der Bibel steht „Ein Mann, der bei einem Mann liegt, muß getötet werden“, dann wußte ‚das Mittelalter‘, wenn wir es einmal so nennen wollen, daß daraus für die Gegenwart genau *der* Gehalt zu entnehmen ist: „Wenn ein Mann bei einem Mann liegt, begeht er eine Todsünde“ (mit der Argumentation „sonst hätte das AT keine so schwere Strafe angeordnet“). Das ist aber *bis heute* so.

      b) Wenn also Homosexuelle bestraft wurden, dann nicht auf Grund einer Strafbestimmung im AT, sondern auf Grund eines Gesetzes des damaligen jeweiligen Herrschers. Dies wird in der Tat meist der Fall gewesen sein.

      c) Man muß die Dinge in Relation sehen. Wenn der hl. Thomas über die Todesstrafe für Glaubensverfälscher diskutiert, dann kommt als Argument in einem Nebensatz mit der allergrößten Selbstverständlichkeit „sogar ein lausiger Falschmünzer wird doch schon verbrannt!“. Fast alles, was überhaupt bestraft wurde, wurde damals mit der Todesstrafe bestraft. Nochmal: Fast alles, was damals überhaupt bestraft wurde, wurde mit der Todesstrafe bestraft. [*]

      Insofern ist die Nachricht, daß das Mittelalter Homosexuelle hinrichtete, für sich genommen etwa auf der gleichen Ebene zu bewerten, wie, daß die Bundesrepublik Deutschland sie bis Ende der 1960er Jahre ins Gefängnis sperrte (worauf bekanntlich übrigens das Verfassungsgericht damals seinen „ist o.k.“-Stempel setzte).

      d) Und vor allem ging es nicht um Homosexuelle (homosexuell Empfindende), sondern um den *Tatbestand* der Sodomie, unabhängig davon, ob er nun von homosexuell Empfindenden ausgeübt wurde oder aus ganz anderen Gründen (Experimentierlust, Reiz des Verbotenen, was auch immer).

      Und aus genau dem Grund werden diese Hinrichtungen kaum vorgekommen sein, in der Praxis, weil schon die Strafandrohung durch Abschreckung wirkte und es wohl homosexuell Empfindende, aber eben kaum Sodomiter gab. Das war ja auch der Sinn des ganzen. Noch in „Berlin Alexanderplatz“ besteht ein Angeklagter darauf, ja, er sei homosexuell, ja, er habe eine Beziehung mit dem und dem gehabt, aber „etwas Strafbares sei nicht vorgefallen“.

      [* In England z. B. war es dann z. B. die Kirche, die sich der Flut von Todesurteilen ein wenig in den Weg stellte; wer zum Tode verurteilt war, konnte sich bei ihr „unterstellen“ und galt dann in einer Art Fiktion gewissermaßen als „Kleriker“, außer das Urteil war wegen Hochverrats, und später wegen Mordes. Eine Ausnahme für Homosexualität gab es im Mittelalter nicht. – Dieser „benefit of clergy“ wurde erst vom nachreformatorischen England für alle nennenswertenund etliche nicht nennenswerte Verbrechen aufgehoben, so daß in der frühen Neuzeit dann dort wieder alles gehängt wurde, was nicht bei drei aufm Baum war.]

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    2. Erst einmal etwas Grundsätzliches zum Mittelalter:

      Zum Mittelalter gibt es viele schwarze Legenden (z. B. glauben manche immer noch, es habe ein „Recht der ersten Nacht“ gegeben, das ist eine reine Erfindung) und sehr übertriebene Vorstellungen. Allerdings sollte man auch im Hinterkopf behalten: Natürlich war nicht alles im Mittelalter ideal – und nicht alle mittelalterlichen Zustände kamen vom Christentum her. Dadurch, dass eine Gesellschaft eine andere Religion annimmt, ändert sie nicht von jetzt auf gleich ihr Gesicht. Das kann man auch heutzutage beobachten. Z. B. ist in einigen afrikanischen Ländern eine Mehrheit der Bevölkerung christlich – was übrigens oft erst seit dem 20. Jahrhundert so ist -, und trotzdem gibt es da noch Korruption, Aberglaube, auch die Polygamie ist nicht ganz verschwunden; aber das kommt eben nicht aus dem Christentum. In der Antike wurden die Gladiatorenkämpfe erst hundert Jahre, nachdem das Römische Reich christlich geworden war, abgeschafft. Später mehr.

      – Crescentia.

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    3. Also, erstmal: Sokleidas‘ Empfehlung für Angenendt kann ich mich nur anschließen – ich habe das Buch auch daheim und muss es endlich mal fertig lesen, es ist sehr spannend (und sehr dick, aber sehr spannend).

      „Gemäß dieser Argumentation wurden Frauen ihrer Rechte beraubt und als Eigentum des Mannes behandelt, da man sich nicht nur auf die entsprechenden frauenfeindlichen Bibelstellen stützen konnte, sondern auch auf die Lehre der Kirche, die schon seit der Antike predigte, dass Frauen kein Ebenbild Gottes sind (Eva wurde laut Bibel aus Adams Rippe erschaffen) und damit als seelenlose und minderwertige Wesen zu gelten haben.“

      – „ihrer Rechte beraubt“

      Nun, rauben konnte man ihnen wohl nicht mehr viel, wenn man sich mal anschaut, was sie in der Antike so für Rechte gehabt hatten…

      – „als Eigentum des Mannes behandelt“

      Nein, Frauen galten nicht als Eigentum, und Männer hatten weniger Rechte über sie als z. B. in der Antike. Bei den Römern hatte der pater familias sogar das Recht über Leben und Tod von Frau, Kindern und Sklaven gehabt, das galt jetzt nicht mehr. Väter und Ehemänner hatten das Züchtigungsrecht, das stimmt. Aber wie Nepomuk schon gesagt hat: das muss man alles in Relation sehen. An Körperstrafen war man im Mittelalter total gewöhnt, Dienstboten wurden gezüchtigt, der Staat benutzte sehr harte Körperstrafen, usw.

      Was für Frauen auch sehr wichtig war: Die Kirche hat immer darauf bestanden, dass für eine gültige Ehe die Zustimmung von Braut und Bräutigam nötig war (und nicht die der Eltern!), weshalb auch Zwangsehen annulliert werden konnten. Ich denke, dass die kirchliche Ehelehre, die die monogame, treue Ehe als Grundlage der Familie herausgestellt hat, wirklich wichtig und prägend war und viel Gutes für die Frauen gebracht hat.

      Und wenn Frauen nicht heiraten wollten, hatten sie die Möglichkeit, ins Kloster zu gehen – wir haben wohl nicht ohne Grund unzählige Legenden von heiligen Jungfrauen, die sich geweigert haben, zu heiraten, als ihre Eltern das wollten. Diese Möglichkeit hat den Frauen erst die Reformation in einigen Gebieten genommen.

      Ich habe mich übrigens mal näher mit der Waisenversorgung im (Ost-)Römischen Reich beschäftigt, und das Interessante daran ist: Bei Halbwaisen, die den Vater verloren hatten, wurde in heidnischen Zeiten immer ein männlicher Vormund – z. B.ein Onkel – bestellt, auch wenn die Waisen noch bei der Mutter lebten; in christlichen Zeiten (Spätantike-Frühmittelalter) änderten sich die Gesetze langsam und auch Mütter, Großmütter oder Tanten konnten das übernehmen.

      – Zu den „frauenfeindlichen Bibelstellen“ habe ich hier ausführlich was geschrieben. https://nolitetimereweb.wordpress.com/2017/10/26/ueber-schwierige-bibelstellen-teil-16-was-in-den-apostelbriefen-und-in-der-genesis-ueber-ehefrauen-und-die-rolle-der-frau-in-der-kirche-gesagt-wird/

      – Wo soll die Kirche gepredigt haben, dass Frauen kein Ebenbild Gottes seien? Die Ebenbild-Stelle steht nicht bei der Rippengeschichte und bezieht sich ganz eindeutig auf den Menschen an sich, auf Mann UND Frau. „Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.“ Gen 1,27. (Der Text der im Mittelalter gebrauchten Vulgata entspricht hier auch ziemlich genau dem der Einheitsübersetzung: „Et creavit Deus hominem ad imaginem suam: ad imaginem Dei creavit illum, masculum et feminam creavit eos.“)

      – „seelenlos“. Selbstverständlich nicht. Frauen galten ebenso als Menschen, wurden ebenso als Heilige verehrt wie Männer.

      – „minderwertig“. Nun ja, da kommt es wohl drauf an, ob man den heutigen Sprachgebrauch nimmt und „minderwertig“ als Synonym für „wertlos“ versteht. In dem Fall: nein, dass Frauen wertlos wären, glaubte keiner. Und dass sie *vor Gott* nicht gleich viel wert wären, glaubte auch keiner – damals glaubten die Leute ja grundsätzlich, dass alle Menschen, ob Bettler oder König oder Papst, vor Gott gleich viel wert wären. Aber die Ansicht, dass Frauen z. B. weniger zum Vernunftgebrauch fähig wären als Männer, die haben schon viele geglaubt, das muss man zugeben. Aber die kam nicht aus der Bibel, sondern eher z. B. von Aristoteles.

      Zu den Homosexuellen hat Nepomuk eigentlich schon alles gesagt, ich möchte nur noch eins hinzufügen: Wir heute haben meistens die Vorstellung, dass der Staat nur das bestrafen soll, was direkt und eindeutig andere Menschen schädigt. Nach mittelalterlicher Vorstellung sollte der Staat auch Dinge bestrafen, die an sich „gegen die natürliche Ordnung“ (hier: gegen die gegenseitige Hinordnung von Mann und Frau aufeinander und den Zusammenhang der Sexualität mit dem Kinderkriegen) verstießen und Gott beleidigten – dazu gehörten „Sodomie“ ebenso wie z. B. Gotteslästerung.

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    4. PS zu Frauen: Thomas von Aquin schreibt übrigens zu der Rippengeschichte: „Dies war ein äußeres Zeichen dafür, wie Mann und Weib in besonderer Weise verbunden sein sollen. Denn das Weib soll nicht den Mann beherrschen; deshalb ist sie nicht aus einem Teile des Kopfes geformt worden. Sie soll aber auch nicht vom Manne wie eine Sklavin gehalten werden; deshalb ist sie nicht aus einem Teile der Füße geformt worden.“

      PS zu Homosexualität: Im Mittelalter ging man übrigens mit der Todesstrafe allgemein schon deshalb unbefangener um, weil man ja an ein ewiges Leben glaubte. Der zum Tod Verurteilte durfte vorher beichten, auf dem Schafott noch eine kleine Ansprache halten und die Leute um ihr Gebet für seine Seele bitten, wurde dann aufgehängt oder geköpft oder verbrannt, war dann vielleicht noch eine Zeitlang im Fegefeuer und kam dann in den Himmel, so in etwa.

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      1. >>Im Mittelalter ging man übrigens mit der Todesstrafe allgemein schon deshalb unbefangener um, weil man ja an ein ewiges Leben glaubte.

        Interessanter Punkt.

        Dahinein gehört auch etwas, was für sich genommen (damit wir uns nicht falsch verstehen) sicher eine gräßliche, abergläubisch-kannibalistische Leichenschänderei ist, aber trotzdem (wer sich antun will, über so ein Thema überhaupt eine Sekunde nachzudenken):

        Wenn die Leiche dann z. B. am Galgen baumelte, machten sich die Leute – ob im Mittelalter weiß ich nicht, aber jedenfalls in der frühen Neuzeit (die durchaus um einiges abergläubischer gewesen sein könnte als das Mittelalter selbst) eifrig daran, ihr das sogenannte „Armsünderfett“ abzuzapfen. Warum? Aus Haß auf sie? Nein, man schrieb ihm allerlei Heilkräfte usw. zu. Und warum tat man das? – Weil es sich, per allgemeiner Annahme, bei dem Gehenkten um einen bekehrten Sünder handelte, also grad mal ein paar Stufen unter einem Heiligen.

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    5. PPS: Es hilft auch immer, auf im Mittelalter so verehrte und einflussreiche Frauen hinzuweisen wie die hl. Hildegard von Bingen, die hl. Katharina von Siena, die hl. Jeanne d’Arc, die hl. Blanca von Kastilien… sowie natürlich auf die allgemeine Marienverehrung!

      Ach ja, ein Beitrag, der vielleicht noch interessant sein könnte:

      Aus dem Denzinger: Die mittelalterliche Kirche über den Ehekonsens und heimliche Ehen (und Luthers Ansichten dazu)

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  2. Noch zum Thema Menschenwürde:

    Ich habe auch gehört, dass es im Mittelalter erlaubt war, Kinder mit Down Syndrom auszusetzen oder zu töten, da sie aufgrund ihrer äußeren Erscheinung als Geschöpfe des Teufels betrachtet wurden.

    Entspricht das den Tatsachen? Oder handelt es sich dabei um eine schwarze Legende?

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    1. 1. Der Ausdruck „Geschöpfe des Teufels“ klingt sehr nach schwarzer Legende. Der Teufel hat keine Schöpfungsmacht, und im Mittelalter war man in solchen Dingen genau.

      Der Sache nach:

      2. Es gibt etwa im Codex Maximilianeus – das ist aber hohe Neuzeit – Bestimmungen darüber, was passiert, wenn die Frau „Monster“ usw. gebiert. Was damit und was z. B. auch mit dem aus Märchen sehr bekannten Ausdruck „Wechselbalg“ jeweils gemeint wurde, weiß ich nicht. Meines Wissens sehen aber z. B. Kinder mit Down-Syndrom *unmittelbar bei* der Geburt fast so aus wie nichtbehinderte Kinder.

      3. Ich weiß nicht, ob Kinder mit Down-Syndrom im Mittelalter ausgesetzt wurden. *Wenn* aber, so würde ein Mensch des Mittelalters sagen: „Zugegeben, das war schlecht von uns. Aber ihr! Ihr seid ja sogar zum Töten, ja sogar zum Aussetzen zu feige! Wir haben gemordet; ihr mordet auch und habt nicht einmal den Hintern in der Hose dazu! Ihr, um eure Ausdrücke zu bemühen, laßt euch ’so etwas‘ von einem Doktor ‚wegmachen‘, unter Vollnarkose.“

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      1. Zum Thema Abtreibung. Mal abgesehen davon, dass die gängige Tötungsmasche die „Verbrechen“ des Mittelalters längst in den Schatten gestellt hat, was die absoluten Zahlen angeht, hat auch hier die Aufklärung (so es sie denn gegeben haben soll) kläglich versagt. Es gibt immer noch Zeitgenossen die nicht wissen, was eine Abtreibung zur Folge hat.

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    2. Mit dem Umgang mit Behinderten im Mittelalter kenne ich mich gar nicht aus, aber allgemein dazu ist es vielleicht ganz interessant, zu wissen, dass es in der heidnischen Antike absolut legal war, neugeborene Kinder auszusetzen oder zu töten, wenn man sie aus irgendeinem Grund nicht haben wollte, was erst christliche Kaiser unter Strafe stellten. Soweit zur Menschenwürde…

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  3. @nolitetimereweb

    Nun, ich habe schon häufiger gehört, dass auf einer Synode im Frühmittelalter festgelegt wurde, dass Frauen keine Seele besitzen und Maria die einzige Ausnahme von dieser Regel darstellt. Außerdem habe ich schon unzählige Male gelesen, dass sowohl antike als auch mittelalterliche Theologen frauenfeindliche Aussagen getätigt haben u.a., dass Frauen lediglich das Ebenbild des Mannes sind, da sie aus Adams Rippe erschaffen wurden.

    Es würde mich natürlich sehr freuen, wenn es sich dabei um schwarze Legenden handelt.

    Deine Interpretation der Bibelstellen, die frauenfeindlich scheinen, ist sehr überzeugend und macht aus meiner Sicht sehr viel Sinn. Dennoch frage ich mich, ob antike und mittelalterliche Theologen diese Stellen auch so ähnlich interpretiert haben wie du es tust oder ob sie sie immer wortwörtlich, wie sie in der Bibel zu finden sind, verstanden haben.

    Meiner Meinung nach kann man harte Körperstrafen nicht auf christlichem Fundament begründen. Unser Körper ist der Tempel des Heiligen Geistes und daher sind schwere Schläge und Folter der Würde des Menschen nicht angemessen. Wie also diejenigen, die sich als Christen sehen, harte Körperstrafen legitimieren wollen, ist mir ein Rätsel.

    Genauso ist es mir unverständlich, warum es immer noch etliche Christen gibt, die die Todesstrafe befürworten. Wir haben nicht das Recht, über das Leben anderer Menschen zu verfügen. Es ist uns nicht gestattet, Gott zu spielen. Wir sollen lediglich dafür sorgen, dass die Bevölkerung vor Verbrechern geschützt ist, und dafür reichen Gefängnisse vollkommen aus. Dazu ist eher zweifelhaft, ob sich ein Verbrecher wirklich bekehrt, wenn er die Todesstrafe erhält. Eine Hinrichtung kann also den Weg in die Hölle ebnen… Im Gefängnis hat der Verbrecher wenigsten ein Leben lang Zeit, seine Taten ernsthaft zu bereuen.

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    1. Na ja, bei den Bibelstellen habe ich ja zwei bekannte Theologen mit Aussagen zur Bedeutung der Rippengeschichte zitiert, Thomas von Aquin aus dem 13. Jahrhundert und Franz von Sales aus dem 16./17. Ich kenne jetzt natürlich auch nicht alle Aussagen früherer Theologen zu dem Thema.

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    2. Nun ja, es gibt ja auch ein Notwehrrecht, das u. U. auch zur Tötung eines ungerechten Angreifers berechtigt, wenn man sich nicht auf andere Weise gegen ihn wehren kann. Es gibt auch gerechte Kriege (Beispiel: Polen verteidigt sich gegen den ungerechten Angriff durch Hitlers Armee, da ist es absolut legitim für einen polnischen Soldaten gewesen, einen Wehrmachtssoldaten zu töten. Ein paar unserer Heiligen haben in Kriegen gekämpft, z. B. Jeanne d’Arc.) Und auch die Todesstrafe kann – wohlgemerkt, kann – berechtigt sein. Das ist katholische Lehre. Ein Staat wie die BRD kommt auch ohne sie aus, aber das heißt nicht, dass sie prinzipiell illegitim ist. Nur die direkte Tötung eines unschuldigen Menschen ist immer, egal in welchen Umständen falsch; bei solchermaßen schuldigen Menschen ist es etwas anderes.

      Ich möchte übrigens hinzufügen, dass ich lange Gefängnisstrafen nicht unbedingt für leichtere Strafen halte als z. B. einen schnellen Tod durch Köpfen oder Giftspritze o. Ä. Und im Mittelalter hatte man wohl erstens keine so sicheren Gefängnisse, und zweitens waren die Zustände in diesen Gefängnissen auch nicht so schön. Ich würde also sagen, man kann den Leuten im Mittelalter nicht vorwerfen, dass sie z. B. gemeingefährliche Mörder mit dem Tod bestraften. Dass sie das auch schon mit Falschmünzern taten, ist wieder etwas anderes.

      Man kann auch argumentieren, dass Gefängnisstrafen der Seele eines Menschen eher schaden: Heutzutage z. B. gibt es viel islamistische Radikalisierung innerhalb mancher Gefängnisse, und manche Leute werden auch im Gefängnis durch die Gesellschaft anderer Straftäter erst dazu angestiftet, noch weitere, schlimmere Verbrechen zu begehen, wenn sie wieder raus kommen. Eine drohende Hinrichtung bringt einen vielleicht eher dazu, an Gottes Gericht zu denken und zu bereuen. Aber man kann auch anderer Meinung sein. Manche brauchen vielleicht Zeit, um zur Reue zu finden; das weiß ich nicht.

      Was Körperstrafen angeht: Für prinzipiell illegitim halte ich die auch nicht. (Folter bei Befragungen, um jemanden zu zwingen, irgendetwas zu erzählen, ist etwas ganz anderes!) Manche Dinge müssen bestraft werden; Strafen müssen unangenehm sein und abschrecken; ob man dafür im Mittelalter jetzt Rutenschläge oder eine gewisse Zeit in einem mittelalterlichen Gefängnis wählte – ob das so ein großer Unterschied gewesen ist? Mir wären da die Rutenschläge vielleicht auch eher lieber gewesen. Aber extrem quälende Strafen (Rädern und dergleichen) sind natürlich etwas anderes, da haben Sie Recht. Und z. B. die öffentliche Demütigung bei einem Pranger finde ich auch nicht so toll – auch deshalb, weil man dabei die Gaffer zu Hass und Überheblichkeit und demütigendem Verhalten usw. anstiftet.

      Aber natürlich ist es, wie oben gesagt, grundsätzlich nicht so, dass alles, was im Mittelalter geschehen ist, gut war – genauso wenig wie alles, was heute in irgendwelchen katholischen Kreisen passiert, gut ist! Wenn ich sage, ich will zurück ins Mittelalter, heißt das nicht, dass ich zu Pranger und Scheiterhaufen zurück will 😉

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    3. Scheiterhaufen – o.k.

      Was den Pranger betrifft: wenn man mir einigermaßen garantieren kann, daß die Leute dort nicht mit Steinen, sondern nur mit Schimpfwörtern, Tomaten und faulen Eiern werden, dann würde ich mit Handkuß die Möglichkeit wählen, mich achtundvierzig Stunden in so einen Pranger zu stellen, wenn ich – sagen wir – mit Alkohol im Straßenverkehr erwischt worden bin und mir dafür die MPU erlassen würde. A fortiori wenn das auf einem Fahrrad passiert ist, bei der diese Bestrafung, die nicht einmal Bestrafung heißen darf, ohnehin manifest ungerecht ist.

      Tatsächlich dürfte einem auch heute (ich selber kann da allerdings nur Gerüchte weitergeben) jeder Jurist sagen, daß ein wesentlicher Aspekt des Strafurteils (übrigens nicht des Bußgeldbescheids wegen Ordnungswidrigkeiten) das sogenannte soziale Unwerturteil ist.

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    4. Was die Todesstrafe betrifft, so hat ein Mensch ganz richtig an sich nicht das Recht, einen Menschen zu töten, sondern nur, wenn er von Gott ausdrücklich dazu delegiert worden ist. Das ist in bezug auf die legitim bestehende Staatsgewalt der Fall, siehe Röm 13,4.

      Es ist dabei durchaus nicht unwahrscheinlich, daß das heutige Unbehagen, die Todesstrafe zu verwenden, im wesentlichen daher kommt, daß man nicht mehr an Gott oder zumindest nicht mehr an Gott als den Herrscher auch über das öffentliche Leben glaubt und daher eine solche Delegation nicht annehmen kann. Einer Demokratie sieht man es halt nicht so sehr an der Nasenspitze an, daß sie eine Demokratie von Gottes Gnaden ist, wie einem König.
      Das alles unbeschadet dessen natürlich, daß es durchaus auch gute christliche Gründe gibt, – wie sie sich etwa der hl. Papst Johannes Paul II. zu eigen gemacht hat – sie einzuschränken und (im Frieden*) am besten gar nicht anzuwenden.

      Ob übrigens in einem gegebenen Zustand „Gefängnisse ausreichen“, ist kein Dogma, sondern eine Einschätzung der Sachlage. (Man muß sich dazu z. B. so Fragen stellen wie die: Könnte in Mexiko der Kampf gegen Drogenkartelle nicht doch effektiver geführt werden, wenn man hin und wieder den einen oder anderen Boß, oder auch Handlanger, an eine Starkstromleitung anschließen könnte?)

      – Und bevor das aufkommt, erwähne ich es lieber gleich: der Heilige Vater befindet sich in dieser Frage in Irrtum; was unterhalb seiner Dogmen ja vorkommen kann und in diesem Fall z. B. auf Grund von Röm 13,4 offenkundig ist.

      [* Wie eine Armee einen Krieg führen will, ohne hin und wieder Leute es den eigenen Reihen hinzurichten, die z. B. Verrat begangen oder Zivilbevölkerung eines besetzten Gebiets umgebracht oder vergewaltigt haben, muß mir erst mal jemand erklären; daß man die eigenen Leute natürlich nicht reihenweise wegen Nichtigkeiten umbringen kann, wie es Hitlers Wehrmacht getan hat, steht auf einem anderen Blatt. – Die Frage, ob hin und wieder als besonders schwere Waffe in der Hinterhand die Todesstrafe auch gegen bloße Deserteure – ein an sich nicht besonders ehrenrühriges Vergehen – eingesetzt werden sollte, bitte offenlassen, das weiß ich nicht.]

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      1. (Ich sage lieber gleich noch dazu: Selbstverständlich darf kein Staat, auch für noch so gute Zwecke, eine bis zur Unmenschlichkeit grausame Strafe anwenden.

        Die Todesstrafe ist das, wie gesagt, für sich genommen nicht, auch wenn sie mit Zurückhaltung, und wenn nicht nötig gar nicht, eingesetzt werden sollte. Wohl aber halte ich es für *tatsächlich* bis zur Unmenschlichkeit grausam, wenn die zum Tode Verurteilten über jede sinnvolle Zeit für Berufung, Revision und Gnadengesuch hinaus in der Größenordnung von Jahrzehnten in Todeszellen festgehalten werden.)

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  4. @Nepomuk

    Was du beschreibst, ist wirklich ein ekelerregender Aberglaube, der sich auch noch gegen christliche Grundlagen richtet, denn im Christentum sind Leichenschänderei und Kannibalismus verboten. Außerdem ist noch nicht einmal klar, ob es sich bei der hingerichteten Person um einen bekehrten Sünder handelt. Es könnte genauso gut der Fall sein, dass der Gehenkte seine Taten nicht bereut hat und damit im Stand der Todsünde gestorben ist…

    Was hat die Kirche der Frühen Neuzeit dazu gesagt? Wurde dieses bizarre Vorgehen tatsächlich geduldet?

    Die Abtreibungsmentalität unserer Gesellschaft ist wirklich ein Irrsinn, den ich nicht nachvollziehen kann. Warum spricht man von Inklusion, treibt aber gleichzeitig massenhaft Kinder mit Behinderungen ab? Warum ignoriert man die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Entwicklung im Mutterleib und spricht dauernd vom nichtmenschlichen Zellklumpen?

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    1. Mit diesem speziellen Thema kenne ich mich nicht aus, aber es ist allgemein wichtig, daran zu denken, dass auch in Mittelalter und Früher Neuzeit vieles passiert ist, was nicht von der Kirche gutgeheißen wurde. Z. B. haben sich adlige junge Männer gerne duelliert – klar zog man sich damit die Exkommunikation zu, aber das hat die Leute nicht dran gehindert.

      Zur Abtreibung: Weil man sie einfach nicht haben will.

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  5. Vielen Dank für die Beiträge über die Aufklärung!
    Ich habe einige der Argumente davon weitererzählt und gesagt, dass die Menschenwürde eine christliche Idee ist und sich nicht von heidnischer/agnostischer/atheistischer Seite begründen lässt. Dann habe ich allerdings hinzugefügt, „zumindest in Europa“, von anderen Gegenden wisse ich nichts. Da ich auch an Skrupulosität leide, habe ich mich später gefragt, ob ich damit das Christentum relativiert habe…

    Ich habe nachgelesen und bin im moraltheologischen Werk „Das Gesetz Christi“ von Bernhard Häring darauf gestoßen, dass Menschenwürde zum Naturrecht gehört. Bedeutet das nicht, dass auch z. B. Heiden die Menschenwürde kennen müssten? In „Das Gesetz Christi“ schreibt Häring, dass die Stoiker die Menschenwürde aller Menschen (auch Sklaven) anerkannten.

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    1. Ich glaube, das passt schon so; was man nicht weiß, dazu kann man stehen. 🙂

      Ja, Sie haben schon Recht. Ich kenne keine Originaltexte der Stoiker und sag deshalb mal lieber gar nichts zu ihnen, aber generell gilt schon: *Prinzipiell* kann man eine gewisse Begründung für die Menschenwürde auch ohne die Offenbarung finden. So ähnlich, wie man auch ohne die Offenbarung darauf kommen kann, dass es einen einzigen vollkommen guten Gott gibt (worauf z. B. Plato auch kam). Es könnte evtl. ein bisschen schwieriger werden, die Menschenwürde von Menschen, die nicht des Vernunftgebrauchs mächtig sind (Babys, schwer geistig Behinderte…), zu begründen, aber auch das geht an sich, denke ich.

      Allerdings ist es ohne Offenbarung *schwieriger*, die Menschenwürde zu erkennen, weil Menschen auf sich gestellt leicht in die Irre gehen, und die Offenbarung gibt noch tiefere Gründe für das Konzept der Menschenwürde (Gottesebenbildlichkeit, Aussicht auf den Himmel für alle).

      Und aus atheistischer/nihilistischer/materialistischer Sicht lässt sie sich jedenfalls nicht begründen, würde ich sagen.

      – Crescentia.

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    2. Jedenfalls – als eine kleine Ergänzung, die weniger wichtig als die philosophischen Prinzipien ist, aber vielleicht auch nicht ganz uninteressant:

      In deutschen Schulen wird ja aus naheliegenden Gründen in höheren Klassen relativ viel über Menschenwürde gesprochen. Und wenn da ein Lehrer die Diskussion anstößt „warum Menschenwürde“, dann sind unter den Schülern quasi nur zwei Positionen vertreten: 1. „weil Gott das so gewollt hat“ (alt genug für die Unterscheidung von positiv göttlichem Recht und Naturrecht sind die Leute am Gymnasium noch nicht – und wie viele werden es denn jemals?); 2. „in der Vergangenheit ist viel Scheiße passiert, deswegen hat man das so festgelegt, weil das für alle am besten ist; man hat sich schon bemüht, den Knoten recht fest zu zurren, aber im Prinzip könnte man das auch wieder ändern“.

      Ganz grob überschlagen und natürlich ohne Anspruch auf Richtigkeit kommt man in katholischen Gegenden auf 15% für Position 1, 20% für Position 2 und 65% für „ziehe vor, der Diskussion mehr oder weniger interessiert zuzuhören“.

      (In Position 2 steckt, allerdings, immerhin auch ein tatsächlicher naturrechtlicher Gesichtspunkt drin – aber nicht die Menschenwürde, sondern das Gemeinwohl: *das* scheint tatsächlich mehr oder weniger allgemein instinktiv akzeptiert zu werden.)

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