Wieso wir schöne Kirchen brauchen

Meine Pfarrkirche ist eine typische 60er-Jahre-Kirche: Viel Grau, viele nackte Wände, wenig Kunst und die in eher dunklen Farben und etwas verfremdet. Es gibt schlimmere Kirchen; aber sie macht alles in allem einen etwas deprimierenden Eindruck und kein Nichtkatholik würde je auf die Idee kommen, sie sich aus Spaß an der Freud anzusehen, wenn er als Tourist in der Gegend unterwegs ist. Meistens gehe ich (aus hier nicht weiter zu diskutierenden Gründen) dort zur Messe; in der Osternacht war ich dieses Jahr nach längerer Zeit wieder einmal in einer Rokokokirche. Die Osternacht mit allem drum und dran ist natürlich immer etwas Besonderes; die Osterkerze, die Erneuerung des Taufversprechens, sämtliche Lesungen, die Heiligenlitanei, und was eben sonst noch dazu gehört – und das dann noch in einer Kirche, in der man umgeben ist von triumphalen Deckenfresken, Bildern verzückter Heiliger, überall Gold, Weiß, Stuck, überbordende Pracht, als würde der Himmel offenstehen, vorn ein unglaublich lebensechtes Kruzifix über dem silbergeschmückten Tabernakel –

Man fühlt sich daheim. Man fühlt sich angekommen. Man setzt sich aufrecht hin und lächelt spontan. Man muss, bevor die Messe beginnt, ständig umherblicken, um die ganze Pracht anzusehen. Man hat dann keine Schwierigkeiten, sich auf die Liturgie zu konzentrieren. Alles passt zusammen. Ich bin eigentlich eine Verfechterin der Ansicht, dass die Gotik der Höhepunkt der katholischen Baukunst ist, aber im Vergleich zu grauen Modernistenkirchen ist der Rokoko eine so krasse Erleichterung, dass man gar nicht mehr weiß, wie man jemals irgendetwas an ihm auszusetzen haben konnte.

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(Nicht die Kirche, in der ich Ostern war, aber ein noch schöneres Beispiel für den Rokoko. Bildquelle hier.)

Eine schöne Kirche ist nicht alles; das ist mir völlig klar. Eine schöne Kirche sorgt von selbst noch nicht für eine Begegnung mit Gott. Und die Messe ist ebenso gültig und Jesus ebenso gegenwärtig, wenn die Kirche scheußlich aussieht; selbstverständlich. Aber was eine schöne Kirche tut: Sie bietet Hilfestellungen und räumt Hindernisse aus dem Weg, damit man sich leichter auf Gott einlassen kann. Vielleicht können Heilige völlig gleichgültig gegenüber ihrer Umgebung sein, solange nur Jesus wirklich da ist. Aber als nicht so fortgeschrittene Katholikin hat man ein bisschen Hilfe gern: lauter Zeichen, die einem überdeutlich sagen: HIER IST GOTT. SCHAU AUF IHN HIN. DA IST ER, UND GROSS UND HERRLICH IST ER.

Manche Katholiken ziehen vielleicht schlichtere Kirchen vor, wie die Kichen vieler Zisterzienserklöster. Aber auch die sind in ihrer Schlichtheit klar, schön und harmonisch. Sie haben etwas auszusagen. Sie weisen ebenso auf den Gott hin, zu dessen Ehre sie gebaut wurden. Gegen solche schlichten Kirchen soll hier kein Wort gesagt werden – solange man mir nur auch meine überbordend prunkvollen lässt.

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(Abteikirche im Kloster Kamp. Gemeinfrei.)

Was genau wollen viele nach 1960 gebaute Kirchen eigentlich aussagen?

(Kirche des sel. Rupert Mayer in Poing. Bildquelle hier.)

Was sagt z. B. ein unförmiges weiß-graues Gebilde über Gott? Tatsache ist, dass es den meisten modernen Kirchenarchitekten vermutlich gar nicht darum geht, etwas über Gott auszusagen, sondern eher darum, irgendwie originell und modern zu sein. Und dann haben wir im Endergebnis graue Klötze und Innenräume mit dem ganzen Charme einer Tagungshalle, die bei der Einweihung vermutlich als „mutig“ und „innovativ“ (oder so ähnlich) gelobt werden. Wer unbedingt originell sein will, ist es meistens nicht.

(Canisiuskirche, Berlin-Charlottenburg. Bildquelle hier.)

Die Erbauer älterer Kirchen legten es nicht darauf an, auf Gedeih und Verderb originell zu sein. Sie wollten Gott verherrlichen, wollten den Leuten, die ihre Kirche betreten würden, helfen, sich auf Gott einzulassen, hatten vermutlich auch einfach Vergnügen am Erschaffen von Schönheit, wollten etwas Bleibendes hinterlassen und sich vielleicht ein wenig Ruhm erwerben, und sie gaben sich dafür tatsächlich Mühe und schämten sich nicht, von Vorbildern zu lernen.

Aber krampfhaftes Bemühen um Originalität – nur ja nicht etwas nachmachen, das den Leuten seit Jahrhunderten gefällt – ist ja nicht das Einzige. Manchmal scheint bei modernen Architekten und Künstlern geradezu ein Vergnügen daran da zu sein, den Leuten Hässliches vorzusetzen und Erwartungen an sakrale Kunst zu enttäuschen (zu „dekonstruieren“) – eine Lust am Destruktiven; eine enorme Verachtung und Überheblichkeit gegenüber den Leuten, die sich nach lebensechter und konventionell-schöner Kunst sehnen; Überdruss gegenüber dieser Art Kunst, Lustlosigkeit, Faulheit.

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(Schmerzensmann. Abtei Seckau, Engelskapelle. Gemeinfrei.)

Wer solche Bilder malt, macht sich ganz offensichtlich keine Gedanken darum, ob seine Bilder anderen beim Gebet helfen könnten – oder er kennt die Leute nicht, was immerhin nicht ganz so schlimm wäre. Aber diese Leute müssen seine Bilder in der Kirche trotzdem ansehen. Wenn eine Kirche einfach nur kahl ist, bietet sie keine große Hilfe; wenn eine Kirche hässliche Bilder oder Statuen enthält, die man erst zwanzig Minuten lang analysieren müsste, um zu verstehen, was sie überhaupt möglicherweise sagen wollen, stört sie, irritiert sie, lenkt sie ab von dem eigentlichen Geschehen, anstatt darauf hinzuweisen; man muss sich anstrengen, um das alles auszublenden. Kein Mensch mag diese Art moderner Kunst tatsächlich (ja, ich weiß, dass es auch andere Arten moderner Kunst gibt); nur manche Menschen tun so, um nicht ungebildet zu wirken.

Ich nehme nicht an, dass hässliche Kirchen immer nur von Hochmut und Geltungssucht kommen. Vielleicht meinen manche dafür Verantwortliche wirklich, heutzutage müsste man so etwas bauen, um den „modernen“ Menschen den Glauben in ihrer „Lebenswirklichkeit“ zu vermitteln – offensichtlich falsch, wie man schon daran sieht, dass kein einziger Nichtkatholik von der Heiligkeit oder Schönheit modernistischer Kirchen beeindruckt ist und sie sich mal ansehen will, aber immer noch halbwegs verständlich.

Aber generell kann ich mir vorstellen, dass das nicht unbedeutende Motive hinter diesen Neuerungen sind.

 

Es sage niemand, es sei unmöglich, heute Kirchen wie früher zu bauen. Es wird getan. Das zum Beispiel ist eine russische Kirche, die 2012 fertiggestellt wurde. Was fehlt, ist der Wille – oder der Glaube, aus dem früher Kirchen gebaut wurden.

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(Bildquelle hier.)

Es sage auch niemand, es koste zu viel. Modernistische Kirchen sind nicht billig, nur wird hier das ganze Budget für bewusste Hässlichkeit (und Sitzheizungen und Soundanlagen – nein, gegen die habe ich prinzipiell gar nichts) verwendet. Was würde wohl herauskommen, wenn man versuchen würde, mit genau demselben Budget etwas so Schönes wie möglich zu bauen? Und mit „schön“ meine ich etwas, bei dem ein fünfjähriges Kind spontan „wow“ sagen würde.

Es sage auch niemand, das alles sei unnötig. Menschen brauchen Schönheit. Ich kann gut verstehen, wieso gerade im Barock – dieser schweren Zeit mit schlimmen Kriegen, Seuchen und der Kleinen Eiszeit* – jeder noch so kleine Weiler sich eine prächtige Kapelle oder zumindest einen Marienschrein oder etwas Ähnliches bauen wollte. Es ist so tröstlich. Es gibt einen kleinen Vorgeschmack auf den Himmel und das ewige Leben dort, das viel wichtiger und unglaublich viel schöner sein wird als alles hier.

Wenn materialistische Atheisten etwas gegen Schönheit und gegen diese weltlich betrachtet sinnlose Jenseitsfixierung haben, gut. Aber wie könnte irgendein Christ das so sehen?

 

* Die Frühe Neuzeit war definitiv eine schwerere Zeit als z. B. das Mittelalter.

Was tun als Skrupulant ohne regelmäßigen, vertrauenswürdigen Beichtvater?

Der klassische Rat der Kirchenlehrer und Theologen für Skrupulanten ist bekanntlich: sich einen Beichtvater suchen und dem gehorchen. Wenn der Beichtvater einem sagt, man hat keine Sünde begangen, dann akzeptiert man das Urteil unhinterfragt und sucht nicht zur Sicherheit noch einen zweiten Priester auf, den man fragen kann. Man ersetzt das eigene, gestörte Urteil, zumindest für einige Zeit, durch das Urteil eines anderen und übt sich in Demut und Gehorsam.

Das ist so weit ein guter Rat; aber leider nicht immer einer, der so leicht umgesetzt werden kann, jedenfalls heute nicht mehr so leicht wie früher. Wenn man zur Beichte zu einem „liberalen“ Priester gehen muss, bei dem man froh sein kann, wenn er die Absolutionsformel ohne Änderungen spricht, wird man den nach der Aufzählung der Sünden nicht um weiteren Rat bitten, geschweige denn, seinen Ratschlägen gehorchen wollen, sondern sich lieber nur schnell die Lossprechung holen und wieder aus dem Beichtstuhl verschwinden. Und mit gutem Grund.

Jetzt könnte man natürlich sagen „such dir doch einen guten Beichtvater“. Aber das ist manchmal nicht so einfach, und manchmal geht es fürs erste gar nicht. Vielleicht lebt man in der Diaspora auf dem platten Land ohne Auto und hat in der näheren Umgebung keinen Priester, dem man so weit vertrauen würde und der Zeit für einen hat, vielleicht wird der bisherige Beichtvater in eine weiter entfernte Pfarrei versetzt, oder man hat einfach noch zu viel Angst, um irgendeinen Priester zu fragen. Aus welchem Grund auch immer: Manchmal muss man sich fürs erste auf andere Weise behelfen.

Zudem kann man nicht ständig, wenn man wegen irgendetwas in Panik ist, den Beichtvater nerven; es ist auch dann, wenn man einen Beichtvater hat, gut, wenn man selbst daran arbeitet, die Skrupulosität zu überwinden. Was also tun?

In diesem Fall muss man sich zunächst mal konsequent selbst dazu zwingen, die allgemeinen Regeln für Skrupulanten einzuhalten. Vor allem (ich wiederhole hier auch einiges, was ich in diesem alten Post vom Beginn meiner Bloggerzeit schon gesagt habe):

  • Zweifel verachten. Das ist die wichtigste Regel für Skrupulanten überhaupt: Wenn man zweifelt, ob man eine schwere Sünde begangen hat, wird sie nicht als schwere Sünde gezählt; wenn man Zweifel hat, ob eine Beichte gültig war, wird sie als gültig gezählt; wenn man Zweifel hat, ob man verpflichtet ist, etwas zu tun, muss man sich nicht verpflichtet fühlen. Punkt.
  • Der Gedanke „Aber vielleicht betrüge ich mich selbst und bin gar nicht skrupulös / es ist nicht wirklich zweifelhaft, ob diese Sünde schwer war / in meinem Fall gelten diese Regeln nicht, weil es da ganz besondere Umstände gibt, an die die, die diese Regeln aufgestellt haben, vielleicht nicht gedacht haben“ ist typisch für alle Skrupulanten. Ignorieren. Nein, man ist kein Sonderfall. Die Kirchenlehrer wussten schon Bescheid.

Betreffs Beichte und Kommunion:

  • Die Kirche schreibt nur vor, einmal im Jahr die schweren Sünden zu beichten. Ja, tatsächlich, nur einmal im Jahr. Wenn man eine (mutmaßlich) schwere Sünde begangen hat, muss man nicht schauen, dass man in den nächsten zwei Tagen zur Beichte kommt; nein, man begeht keine weitere Sünde, wenn man länger wartet. Sinnvoll ist es, in regelmäßigen Abständen zu beichten (z. B. einmal im Monat).
  • Man muss nur die Sünden, bei denen man schwören könnte, dass sie schwer sind, beichten. Wenn man zweifelt, ob man eine Tat begangen hat, oder ob eine begangene Tat eine Sünde war, muss sie nicht gebeichtet werden.
  • In der Beichte sind nicht sämtliche Details notwendig; man muss nur das nennen, was die Art und (so weit man sie weiß, eine ungefähre Schätzung genügt) Zahl der schweren Sünden betrifft.
  • Bereits gebeichtete Sünden werden nicht noch einmal gebeichtet.
  • Eine Beichte ist nur dann ungültig, wenn man eine sicher schwere Sünde absichtlich und bewusst verschwiegen hat, oder vorhatte, eine sicher schwere Sünde weiterhin zu begehen. „Ich glaube, meine Reue war nicht stark genug“ ist kein Grund, an der Gültigkeit der Beiche zu zweifeln.
  • Man sollte sich immer wieder daran erinnern, dass Liebesreue genügt, um in den Himmel zu kommen, solange man noch nicht zur Beichte gekommen ist, d. h. Reue über die Sünde, weil man Gott beleidigt hat, der in höchstem Maß unsere Liebe verdient, gekoppelt mit dem Vorsatz, zumindest die schweren Sünden und die nächste Gelegenheit zur schweren Sünde zu meiden. Diese Reue ist eine Sache des Willens, es macht nichts, wenn man es nicht fertigbringt, dabei etwas zu fühlen. Man sollte auch nicht zögern, sie zu erwecken, weil man sich z. B. unwürdig fühlt, gleich wieder Gottes Vergebung zu erlangen. Gott will einen sofort zurück bei sich haben. Gut ist es, sie jeden Abend beim Abendgebet zu erwecken. (Bei der Erweckung der Liebesreue hilft z. B. ein Gebet wie der Akt der Reue aus dem Kompendium des Katechismus: „Mein Gott, aus ganzem Herzen bereue ich alle meine Sünden, nicht nur wegen der gerechten Strafen, die ich dafür verdient habe, sondern vor allem, weil ich dich beleidigt habe, das höchste Gut, das würdig ist, über alles geliebt zu werden. Darum nehme ich mir fest vor, mit Hilfe deiner Gnade nicht mehr zu sündigen und die Gelegenheiten zur Sünde zu meiden. Amen.“)
  • Das Bußgebet nach der Beichte wird nicht wiederholt, auch wenn man glaubt, dass man beim ersten Mal nicht andächtig genug war. Es wird aus keinem Grund wiederholt. (Die Sünde ist im Übrigen schon mit der Absolution weg.)
  • (Die Nicht-Wiederholungs-Regel gilt auch sonst für alle Gebete, die man verrichtet.)
  • Keine Generalbeichten ablegen. Wenn es unbedingt sein muss, dann einmal und nie wieder. Auch nicht bei einem anderen Beichtvater. Nie wieder.
  • Wenn man in der Stunde vor der Kommunion (vor der Kommunion, nicht vor Beginn der Messe) nicht mit voller Absicht Essen in den Mund steckt und es kaut und schluckt, oder mit voller Absicht etwas trinkt (was nicht Wasser und Medizin ist, das ist erlaubt), indem man eine Flasche oder ein Glas an die Lippen nimmt und schluckt, kann man das Fasten vor der Kommunion nicht brechen. Eine verschluckte Schneeflocke oder ein verschluckter Krümel, den man schon länger zwischen den Zähnen hatte, zählen zum Beispiel nicht. Das Fastengebot gilt im Übrigen für ältere Menschen und für Kranke (nicht nur für akut, sondern auch für chronisch Kranke) nicht.
  • Wenn man sich nicht so sicher ist, dass man darauf schwören könnte, dass man eine noch nicht gebeichtete schwere Sünde auf dem Gewissen hat: zur Kommunion gehen. Nicht vorsichtshalber wegbleiben; man braucht die Nähe zu Jesus.
  • Wegen möglichen Hostienbröseln an den Lippen oder Zähnen sollte man sich nicht zu viele Gedanken machen. Zunächst mal: Das tut Jesus selbst nichts. Natürlich müssen wir das Allerheiligste ehrfürchtig behandeln, aber nicht deshalb, weil wir Jesus schaden könnten, wenn wir es nicht tun. Und wenn trotz aller Sorgfalt (und Gott verlangt keine übermenschliche, sondern praktisch leistbare, menschliche Sorgfalt) doch einmal ein winziger Krümel unbemerkt außen an den Lippen hängen bleibt o. Ä., ist das kein Sakrileg.
  • Es ist allerdings keine Skrupulosität, wenn man die Handkommunion aus Ehrfurcht vor Jesus lieber vermeidet.
  • Als Laie ist man nicht dafür zuständig, zu überwachen, dass der Priester sorgfältig genug mit dem Allerheiligsten umgeht. Wenn man eindeutig sieht, dass ihm eine Hostie auf den Boden fällt und er nicht reagiert – natürlich, dann muss jemand eingreifen. Aber wenn man meint, aus dem Augenwinkel gesehen zu haben, dass er am Altar mit dem Ärmel über die Hostien gestreift sein und jetzt vielleicht einen Krümel am Ärmel hängen haben könnte: Nein, man ist nicht zuständig, ihn nach der Messe darauf anzusprechen.
  • Manchmal hat man als Skrupulant Angst davor, dass irgendjemand anders bei der Kommunion eine Hostie nicht essen, sondern in die Tasche stecken und mitnehmen könnte, o. Ä. Am klügsten ist es, wenn diese Angst einen plagt, bei der Kommunion gar nicht umherzuschauen und, sobald man wieder in der Bank ist, die Augen zu schließen, um sich auf die eigene Begegnung mit Jesus konzentrieren zu können.
  • Ein Sakrileg gemäß Can. 1367 („Wer die eucharistischen Gestalten wegwirft oder in sakrilegischer Absicht entwendet oder zurückbehält, zieht sich die dem Apostolischen Stuhl vorbehaltene Exkommunikation als Tatstrafe zu“) meint eine absichtliche, schwere Verunrehrung des Allerheiligsten. Damit sind solche Verbrechen gemeint, wie hier von Einbrechern in eine Kirche aus Nîmes berichtet. Wer – zum Beispiel – nach der Messe irgendwo auf dem Kirchenboden einen kleinen weißen Punkt sieht, sich fragt, ob das ein Hostienkrümel sein könnte, sich aber nicht sicher ist, weil es auch ein Steinchen sein könnte, und dann heimgeht und nichts tut, hat kein solches Sakrileg begangen und ist deshalb nicht exkommuniziert.

Außerdem ist zu beachten:

  • Das Beste ist nicht immer das einzig Richtige. Im Bereich des Erlaubten gibt es oft mehrere Optionen, und auch wenn eine besser ist als andere, heißt das nicht, dass man eine Sünde begeht, wenn man eine andere wählt. Nur das Verbotene ist verboten; nur das Verpflichtende ist verpflichtend. Man sollte sich vor der „Aber-ich-könnte-ja-noch-mehr-tun“-Falle hüten.
  • Das Unmögliche ist grundsätzlich nicht verpflichtend. Es gibt zudem nicht nur „physische Unmöglichkeit“ (also absolute Unmöglichkeit), sondern auch „moralische Unmöglichkeit“, d. h. etwas kann praktisch unzumutbar sein. Bsp.: Jemand mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, der furchtbar in Panik gerät, wenn er eine Kirche betritt, wäre genauso von der Sonntagspflicht entschuldigt, wie jemand, der physisch nicht aus dem Haus kommt, weil er krank ist. Natürlich gibt es auch gewisse Unterschiede: Von manchen Pflichten kann man sich wegen weniger schlimmer Dinge entbunden sehen (z. B. von der Pflicht, zur Sonntagsmesse oder zur Arbeit zu gehen), von manchen nicht so leicht (z. B. von der Pflicht, sein eigenes Kind zu versorgen). Aber das Prinzip bleibt. (Das heißt nicht, dass es keine Regeln geben würde, die immer und überall gelten – aber diese völlig ausnahmslos immer und überall geltenden Regeln sind dann Regeln, die sich auf in sich schlechte Handlungen beziehen, also Unterlassungspflichten festlegen. Die Unterlassung einer in sich schlechten Handlung (wie z. B. Mord, Glaubensverleugnung, Ehebruch…) ist immer möglich, die Erfüllung einer Handlung dagegen nicht immer.)

Betreffs anderer spezieller Fragen:

  • Intrusive blasphemische Gedanken ignorieren, oder es gleich Jesus anvertrauen, wie sehr sie einen belasten. Die sind keine Sünde (Sünde liegt im Willen), sondern eine unfreiwillige Belastung.
  • Gedanken, Wünsche und Fantasien, die man nicht willentlich herbeiholt / da behält / sich an ihnen freut, können keine Sünde sein. Gefühle, die man nicht willentlich herbeiholt / da behält / sich an ihnen freut, können keine Sünde sein.
  • Man sollte nicht darüber nachgrübeln, ob man Gedanken, Wünschen, Fantasien oder Gefühlen innerlich zugestimmt hat. Wenn man grübeln muss, zweifelt man; und Zweifel zählen bekanntlich nicht. Außerdem würden die belastenden Gedanken durch das ganze Grübeln erst recht wieder hochkommen. Man kann Reue für die mögliche Sünde erwecken und das Ganze dann gut sein lassen.
  • Es ist besser, sich nicht zu viele Gedanken um die eigene Berufung machen und darum, ob man Gottes Willen in der Hinsicht verpassen könnte. Es muss nicht immer nur einen Weg geben; oft legt Gott einem auch mehrere vor und lässt einem die freie Auswahl. Es ist auch nicht schlimm, wenn man einen Beruf hat, bei dem man das Gefühl hat, nichts Nützliches für Gott / die Kirche zu tun. Auch diese Art von Berufen muss auf der Welt gemacht werden und damit leistet man etwas Gutes für die Welt. Und man sollte, wenn man wegen bestimmten äußeren Umständen (z. B. gesundheitlichen Problemen) ein Berufsziel oder eine Berufung nicht erreichen kann, auch wenn man meint, das wäre das, wofür man ansonsten am besten geeignet gewesen wäre, sich darum erst recht keine Gedanken machen. Und man sollte im Gedächtnis behalten: Gott kann immer noch andere Wege finden, auch wenn man einen guten Weg bereits verpasst hat.
  • Es ist nötig, sich klarzumachen, dass der eigene Einfluss auf andere begrenzt ist. Man fühlt sich als Skrupulant oft gedrängt, andere auf ihre (möglichen) Sünden hinzuweisen, um ihnen zu helfen. Bevor man das tut, sollte man sich aber klar machen, dass die allermeisten Menschen auf Ermahnungen, jedenfalls von Leuten, die ihnen nicht sowohl nahestehen als auch ihre wichtigsten Überzeugungen teilen, nicht besonders aufnahmebereit reagieren, und vielleicht eher genervt sein und noch weniger auf einen hören werden, wenn man das zu oft versucht. Jemandem, der nicht vom Katholizismus überzeugt ist, braucht man mit Dingen, die er nicht nachvollziehen kann, oft gar nicht erst zu kommen. Außerdem: Jeder hat einen freien Willen. Letztlich ist es zwar möglich, anderen Leuten dabei zu helfen, in den Himmel zu kommen, ihnen diesen Weg ein wenig leichter zu machen, aber sie sind letztlich selbst dafür verantwortlich, wo sie am Ende landen; Gott gibt allen eine reale Chance und sie müssen sie selbst ergreifen; das kann ihnen niemand abnehmen.
  • Wegen einer psychischen Störung gemachte Versprechungen/Gelübde gegenüber Gott binden nicht.

Wenn man einzelne Gewissensfragen selbst, ohne Beichtvater, bewerten muss, hilft evtl. Folgendes:

  • Generell wird das erste, was man tut, sein, Bücher/Internetseiten, von denen man weiß oder meint, dass sie nicht im Konflikt mit der kirchlichen Lehre stehen, zu Rate zu ziehen. Manchmal braucht man einfach Antworten auf konkrete Fragen, und das ist auch normal und gut so; aber das sollte kein endloses, panisches Suchen werden; irgendwann muss einfach Schluss sein. Genau dieses endlose, panische Suchen soll die Beichtvater-Regel eigentlich verhindern; und wenn man keinen Beichtvater hat, muss man sich selbst irgendein Limit setzen. Gott verlangt von uns nicht mehr als normales, angemessenes Forschen danach, was das Richtige ist (man muss schließlich auch noch Energie dafür haben, es zu tun). Man sollte es daher gut sein lassen, nachdem man eine oder zwei vertrauenswürdige Quellen zu Rate gezogen hat.
  • Die Fragen sollte man so bewerten, wie man sie bewerten würde, wenn jemand anderer sie einem unterbreiten und einen um Rat fragen würde. Das hilft einem, wieder zu einem objektiveren Urteil zu finden. Wenn eine Freundin einem dieselbe Situation unterbreiten würde, was würde man ihr dann sagen?
  • Es kann auch helfen, vertrauenswürdige Freunde um Rat zu fragen. Wenn man alles laut erklären muss, sieht man die Situation vielleicht dadurch schon klarer; und sie wissen vielleicht mehr und können einem weiter helfen. Sie stecken nicht so tief drin und und blicken objektiver darauf.
  • Entscheidungen sollte man treffen, während man klar denken kann, nicht während man gerade in Panik ist, und sich dann später, wenn man in Panik gerät, daran halten.

Und immer dran denken: Wenn man sich dann trotzdem einmal irrt, rechnet Gott einem das nicht als Schuld an.

Ein paar weitere Ratschläge, die bei der Besserung der allgemeinen Situation helfen könnten:

  • Leiden kann man aufopfern, auch psychisches Leiden (und zwar egal, wie schlimm oder wie trivial es einem vorkommt). Dann wird daraus noch etwas Gutes, und so trickst man den Teufel aus.
  • Kurze Stoßgebete im Lauf des Tages beten.
  • Sich ab und zu in eine Kirche vor den Tabernakel setzen und einfach eine Zeit lang bei Jesus sein, ohne etwas zu tun. Nach der Sonntagsmesse, vor der Sonntagsmesse, am Werktag, wenn die Kirche leer ist… irgendwann eben, wann man gerade Zeit hat.
  • In der Bibel lesen. Gottes Wort hilft und tröstet.
  • Das Stundengebet oder zumindest einen kleinen Teil davon beten. Auch das hilft und tröstet. (Das gibt es als App, im Internet sowie in Buchform.)
  • Sich kleine Vorsätze machen, wenn man etwas ändern will, vor allem, wenn man im Moment nicht die Kraft für große Veränderungen hat. „Ich will jeden Samstagabend die Vesper beten“ hält man eher ein als „ich will jeden Tag Laudes, Vesper und Komplet beten“, und dann ist man auch nicht entmutigt. Kleine Fortschritte sind wesentlich besser als gar keine. Es kommt einem trivial und lächerlich vor, was man sich vornimmt? Na und? Soll man lieber nichts verändern? Außerdem: Sich konkrete Vorsätze machen. Also statt „ich will mehr in der Bibel lesen“ lieber „ich will jeden Sonntag, bevor ich ins Bett gehe, ein Kapitel in der Bibel lesen“.
  • Geduld haben. Gott arbeitet an einem ein Leben lang.
  • Sich einen oder mehrere Heilige suchen, vor denen man keine Angst hat – solche, bei denen man das Gefühl hat: die wären freundlich und gut zu mir. Ich hätte z. B. vor dem hl. Padre Pio eher Angst als vor dem hl. Franz von Sales, dem hl. Joseph, dem hl. Petrus, oder dem hl. Thomas. Natürlich müsste man eigentlich vor keinem Heiligen Angst haben; aber wenn man sie doch hat, sucht man sich eben erst einmal andere Patrone; die Auswahl ist schließlich groß genug. Übrigens ist der hl. Aphons von Liguori der Patron der Skrupulanten und die hl. Dymphna die Patronin der psychisch Kranken im Allgemeinen; der hl. Ignatius von Loyola könnte auch helfen. Fürsprecher sind gut.
  • Zum eigenen Schutzengel beten. Gott hat einen eigenen Engel abgestellt, um einen zu beschützen; wieso sich nicht mal an den wenden?
  • Es mit der Herz-Jesu-Verehrung probieren.
  • Sich der eigenen Würde als Christ bewusst werden. Wir sind Kinder Gottes, Tempel des Heiligen Geistes, Glieder des Leibes Christi, der durch uns handeln will. Wir sind getauft und „besiegelt durch die Gabe Gottes, den Heiligen Geist“ in der Firmung. Gott ist mit uns.
  • Wenn man Angst vor der Beichte entwickelt: Sich ein wenig „Auszeit“ nehmen, in der man versucht, zur Ruhe zu kommen, und sich dann ruhig auf die Beichte vorbereiten. Sich einen festen Termin setzen, und sich, wenn möglich, mit einem Freund oder Familienmitglied verabreden, um gemeinsam hinzugehen – da ist die Hemmschwelle größer, es wieder abzusagen, wieder zurückzuschrecken. Oder einen Beichttermin mit dem Priester ausmachen, dafür gilt das Gleiche. Wenn man niemanden hat, mit dem man sich dazu verabreden kann, oder sich nicht traut, extra einen Termin auszumachen – nicht so schlimm, dann versucht man es eben auf andere Weise. Sich deswegen weiter zu stressen, hilft nicht. Dann: Versuchen, überpünktlich zu sein, wenn es so weit ist; vielleicht schon eine halbe Stunde vorher in die Kirche zu kommen und noch vor dem Tabernakel zu sitzen. Wenn man dann vor Angst Bauchschmerzen bekommt und sich der Aufbruch verzögert, hat man damit immer noch einen zeitlichen Puffer. Und wenn es wieder einmal nicht geklappt hat: Nicht verzweifeln. Es ist nie zu spät. Gott gibt uns nie auf.

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(Käthe Kollwitz, Betende Frau. Gemeinfrei.)

Moraltheologie und Kasuistik, Teil 4b: Das 1. Gebot – was die Tugend der Hoffnung praktisch bedeutet

Die praktische moraltheologische Bildung der Katholiken muss dringend aufgebessert werden – ich hoffe, da werden meine Leser mir zustimmen. Und ich meine hier schon auch ernsthafte Katholiken. In gewissen frommen Kreisen wird man heutzutage ja, wenn man Fragen hat wie „Muss ich heute Abend noch mal zur Sonntagsmesse gehen, wenn ich aus Nachlässigkeit heute Morgen deutlich zu spät zur Messe gekommen bin?“ oder „Darf ich als Putzfrau oder Verwaltungskraft in einem Krankenhaus arbeiten, das Abtreibungen durchführt?“ oder „Wie genau muss ich eigentlich bei der Beichte sein?“ mit einem „sei kein gesetzlicher Erbsenzähler!“ abgebügelt. Und das ist nicht hilfreich. Gar nicht. Weil das ernsthafte Gewissensfragen sind, mit denen manche Leute sich wirklich herumquälen können. Und andere Leute fallen ohne klare Antworten in einen falschen Laxismus, weil sie keine Lust haben, sich ewig mit diesen Unklarheiten herumzuquälen und meinen, Gott werde es eh nicht so genau nehmen, und wieder andere in einen falschen Tutiorismus, wobei sie meinen, die strengste Möglichkeit wäre immer die einzig erlaubte.

 Auf diese Fragen kann man sehr wohl die allgemeinen moraltheologischen Prinzipien – die alle auf das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe zurückgehen – anwenden und damit zu einer konkreten Antwort kommen. Man muss es sich nicht schwerer machen, als es ist. Und nochmal für alle Idealisten: „Das und das ist nicht verpflichtend“ heißt nicht, dass man das und das nicht tun darf oder es nicht mehr empfehlenswert oder löblich sein kann, es zu tun. Es heißt nur, dass die Kirche (z. B. in Gestalt des Beichtvaters) nicht von allen Katholiken verlangen kann, es zu tun.

 Zu alldem verweise ich einfach mal noch auf einen meiner älteren Artikel. Weiter werde ich mich gegen den Vorwurf der Gesetzlichkeit hier nicht verteidigen.

 Jedenfalls, ich musste öfters lange herumsuchen, bis ich zu meinen Einzelfragen Antworten gefunden habe, und deshalb dachte mir, es wäre schön, wenn heute mal wieder etwas mehr praktische Moraltheologie und Kasuistik betrieben/kommuniziert werden würde; aber manches, was man gerne hätte, muss man eben selber machen, also will ich in dieser Reihe solche Einzelfragen angehen, so gut ich kann, was hoffentlich für andere hilfreich ist. Wenn ich bei meinen Schlussfolgerungen Dinge übersehe, möge man mich bitte in den Kommentaren darauf hinweisen. Nachfragen sind auch herzlich willkommen. Wenn es an die kleinteilige Kasuistik, sprich, die Bewertungen, was verpflichtend oder nicht verpflichtend, schwere oder lässliche oder überhaupt keine Sünde ist („schwerwiegende Verpflichtung“ heißt: eine Sünde, die wirklich dagegen verstößt, ist schwer), stütze ich mich auf den Katechismus der katholischen Kirche, den hl. Thomas von Aquin, den hl. Alfons von Liguori, und/oder Theologen wie Adolphe Tanquerey oder Heribert Jone; besonders aber auf letzteren. Eigene Spekulation werden i. d. R. als solche deutlich gemacht. Alle diese Bewertungen betreffen die objektive Schwere einer Sünde; subjektiv kann es immer Schuldminderungsgründe geben.

Wer nur knappe & begründungslose Aufzählungen von christlichen Pflichten und möglichen Sünden sucht, dem seien diese beiden Beichtspiegel empfohlen. (Bzgl. dem englischen Beichtspiegel: Wenn hier davon die Rede ist, andere zu kritisieren, ist natürlich ungerechte, verletzende Kritik gemeint, nicht jede Art Kritik, und bei Ironie/Sarkasmus ist auch verletzende Ironie/Sarkasmus gemeint.)

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 (Der hl. Alfons von Liguori (1696-1787), der bedeutendste kath. Moraltheologe des 18. Jahrhunderts. Gemeinfrei.)

Alle Teile hier.

Die wichtigsten ethischen Pflichten kann man anhand der 10 Gebote durchgehen. Das 1. lautet: Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Es gibt nur einen Gott; und dem gebührt der vorrangige Platz im Leben. Im dritten Teil bin ich schon darauf eingegangen, wieso es richtig und geboten ist, an Gott zu glauben, auf Gott zu hoffen und Gott zu lieben; außerdem schreibt das 1. Gebot vor, Gott zu ehren und anzubeten, und verbietet, irgendetwas Ihm in dieser Hinsicht gleichzustellen.

In Teil 4a habe ich mehr zum Glauben gesagt; jetzt etwas mehr zur göttlichen Tugend der Hoffnung.

(Noch einmal zur Erinnerung: Pflichten gegenüber Gott ergeben sich nicht daraus, dass Gott Menschen bräuchte oder es Ihm schaden würde, wenn sie Ihn nicht angemessen verehren würden. Gott kommt sehr gut ohne uns aus. Sie ergeben sich schlicht daraus, dass das die angemessene Haltung gegenüber Gott ist. Ein Vergleich: Wenn man über einen Toten Lügen verbreitet, kann man ihm damit auch nicht mehr schaden; trotzdem ist es eine Sünde ihm gegenüber. Und letztlich schadet es immer dem Menschen selbst, wenn er Gott durch etwas anderes ersetzt (egal welche falsche Religion oder Ideologie das ist); die Gebote sind um unseretwillen da.)

Definieren kann man die Hoffnung folgendermaßen: „Die Hoffnung ist eine übernatürliche, eingegossene Tugend, durch die wir die ewige Seligkeit und die zu ihrer Erlangung notwendigen Mittel von der Allmacht, Güte und Treue Gottes vertrauensvoll erwarten.“* Sie beruht darauf, dass Gott in Seiner Offenbarung Seinen allgemeinen Heilswillen deutlich gemacht hat, dass er ein bestimmtes Versprechen gegeben hat; Gott ist vertrauenswürdig und gut, also ist es das einzig Richtige, auf Ihn zu bauen. Gott wird nie jemanden ohne die hinreichende Gnade lassen, um zu Ihm zu kommen – egal, was derjenige getan hat.

Wie der Glaube es von Zeit zu Zeit erfordert, „Akte des Glaubens zu setzen“, erfordert die Hoffnung es, „Akte der Hoffnung“ zu setzen, also sich für die Hoffnung zu entscheiden. Nötig ist das jedenfalls: Wenn man das Leben bei Gott als Ziel des Lebens erkennt hat; „ebenso wenn man gesündigt hat durch Verzweiflung; wenn man eine Versuchung anders nicht überwinden kann; wenn man ein Gebot erfüllen muß, das einen Akt der Hoffnung zur Voraussetzung hat“**; außerdem öfter mal im Leben.

Ebenso wie beim Glauben tut man das in der Regel schon automatisch und sollte sich deswegen kein Kopfzerbrechen machen. Wenn man es ausdrücklich tun will, kann ein Gebet wie das folgende helfen: „Herr und Gott, ich hoffe, dass ich durch deine Gnade die Vergebung aller Sünden und nach diesem Leben die ewige Seligkeit erlange. Denn du hast das versprochen, der du unendlich mächtig, treu, gütig und barmherzig bist. In dieser Hoffnung will ich leben und sterben. Amen.“

Sünden gegen die Hoffnung gibt es dreierlei:

1) Völlige Gleichgültigkeit gegenüber Gott; kein Verlangen danach, Gott zu schauen. Das wäre gegeben, wenn jemand irgendetwas Niedrigeres Gott vorziehen würde, also z. B. lieber ewig auf der Erde leben oder ausgelöscht werden wollen würde als in den Himmel zu kommen. Die Schuld liegt hier darin, dass jemand nicht wirklich darauf vertraut, dass Gott ihm etwas Besseres geben will, in mangelndem Vertrauen, mangelnder Ehrfurcht, mangelnder Dankbarkeit. – Wenn jemand nur so daherredet, ohne es ernst zu meinen, wäre das nur eine lässliche Sünde. Wenn jemand sich nur aus Angst, in die Hölle kommen zu können, denkt, lieber ewig auf der Erde leben zu wollen, fällt das nicht in diese Kategorie, sondern eher unter Nr. 2).

2) Verzweiflung: Diese Sünde besteht darin, dass jemand alle Hoffnung aufgibt, die ewige Seligkeit oder die Mittel dazu erlangen zu können. Sünde ist das deshalb, weil man dem guten Gott abspricht, dass Er gut zu einem sein und Seine Versprechen halten will. Wenn jemand sagt „meine Sünden sind so schwer, dass Gott sie nicht vergeben kann“, ist das nichts anderes als eine schwere Beleidigung Gottes. Gott kann und will alles gut machen, wenn nur der Mensch auch mitmacht, gibt dem Menschen ausreichende Gnade, um mitmachen zu können, und verlangt von ihm nichts, was über seine Kräfte geht.

Es ist wichtig, die Verzweiflung von Dingen zu unterscheiden, die ihr ähnlich sehen. Bloße Angst, Zustände der Apathie, und auch das Gefühl der Verzweiflung sind noch keine Sünde der Verzweiflung, jedenfalls keine schwere, solange die wirkliche Zustimmung des Willens fehlt. Auch wenn jemand, der z. B. versucht, eine bestimmte Gewohnheitssünde aufzugeben, mutlos ist und an seiner eigenen Mitwirkung zweifelt, ist das auch noch nicht gleich dasselbe wie die völlige Verzweiflung. „Verzweiflung“ mit rein irdischen Bezügen (wenn jemand sich z. B. keine Hoffnung mehr macht, jemals von jemand anderem geliebt zu werden, oder es ihm gesundheitlich so schlecht geht, dass er die Hoffnung auf Heilung aufgibt und sich den Tod wünscht) ist das nicht die Sünde der Verzweiflung, weil man hier nicht die Wahrhaftigkeit von Zusagen Gottes leugnet, weil Gott keine derartigen Versprechen über irdische Dinge gemacht hat; Optimismus ist etwas anderes als die Tugend der Hoffnung und nicht von Gott geboten. Diese Art der Verzweiflung ist zwar nicht immer gut, und wenn jemand sich z. B. den Tod wünscht, ist das manchmal eine Sünde gegen eine andere Tugend (meistens nur eine lässliche), aber keine Sünde gegen die göttliche Tugend der Hoffnung. Manchmal ist sie auch gar keine Sünde, wenn die Motive keine Sünden sind und man sich dabei immer noch Gottes Vorsehung unterwirft (z. B. wenn ein schwer, unheilbar Kranker sich den Tod wünscht, aber keine Selbstmordpläne hegt).

Auch wenn die Zustimmung des Willens da ist, kann die Schuldfähigkeit bei der Verzweiflung gemindert sein; aber an sich ist die Verzweiflung eine schwere Sünde. (Ein Fall geminderter Schuldfähigkeit wäre wohl z. B. bei jemandem wie dem englischen Dichter William Cowper vorhanden, der sich von seiner calvinistischen Theologie einreden ließ, er wäre verworfen, und außerdem unter schweren Depressionen litt.)

3) Vermessenheit (Präsumption). Vermessenheit meint die Einstellung, man hätte das Heil schon sicher. Man kann zwei Arten unterscheiden: Einerseits zu hohes Vertrauen auf die eigenen Kräfte, zu meinen, man bräuchte die Hilfe von Gottes Gnade auf dem Weg zu Ihm nicht; andererseits ein pervertiertes Vertrauen auf Gott; die Einstellung, Gott würde einem sicher das Heil geben, egal, ob man seine Schuld bereut oder was man noch weiterhin tut. Wenn sich also jemand denken würde „ach, ich kann weiterhin meine Frau betrügen, ich bin Gottes Liebling und komme damit davon, Er sieht es mir schon nach“, wäre das Vermessenheit. Der hl. Thomas bewertet übrigens die zweite Art von Vermessenheit als die schwerere: „Die Sünde gegen Gott selbst unmittelbar ist schwerer wie die übrigen. Also ist das freventliche Vornehmen, das ungeregelterweise auf Gottes Kraft sich stützt, schwerer wie jenes, das sich auf die eigene Kraft stützt. Denn sich stützen auf die göttliche Kraft, um zu erreichen das, was Gott nicht zukömmlich ist, heißt die göttliche Kraft vermindern. Schwerer aber sündigt jener, der die göttliche Kraft mindert als jener, der die eigene überhebt.“ (Summa Theologiae II/II,21,1) Sowohl die von vielen Protestanten vertretene Rechtfertigungslehre (sola gratia, „once saved, always saved“) als auch der antike Pelagianismus enthalten also streng genommen Sünden der Vermessenheit. (Auch wenn das vielen Protestanten nicht bewusst sein mag und daher keine subjektive Schuld besteht.)

Zur Vermessenheit zitiere ich einfach noch einmal Heribert Jone, der es ganz prägnant ausgedrückt hat, was sie ausmacht – und was sie nicht ausmacht:

Vermessenheit ist vorhanden, wenn man entweder beim Streben nach der ewigen Glückseligkeit zu sehr auf die eigenen Kraft vertraut oder Dinge von Gott hofft, die er nach seinen Eigenschaften nicht geben kann oder nach der von ihm fest gesetzten Ordnung nicht geben will.

Durch Vermessenheit sündigt daher, wer hofft, den Himmel durch eigene Kraft erlangen zu können oder einzig auf die Verdienste Christi hin ohne gute Werke; ebenso wer hofft, Gott werde ihm helfen bei Ausführung eines Verbrechens usw., endlich wer sündigt aus dem Grunde, weil Gott barmherzig ist.

Keine Vermessenheit ist es, zu sündigen mit der Hoffnung auf Verzeihung, weil in einem solchen Falle die Ursache der Sünde die menschliche Schwäche ist, nicht aber die Hoffnung auf Verzeihung. Selbst in dem Falle, in welchem jemand nicht so leicht sündigen würde, wenn die Hoffnung auf Verzeihung ihm nicht vorschweben würde, ist dieser Umstand nicht Ursache, sondern nur Gelegenheit zur Sünde. – Ebenso ist es keine Vermessenheit, wenn man dieselbe Sünde öfters begeht, weil es gerade so leicht ist, sich über viele wie über eine einzige Sünde anzuklagen, oder wenn man die Buße verschiebt in der Hoffnung, später auch noch beichten zu können. Wohl aber kann man dabei sündigen gegen die christliche Selbstliebe.“***

Der hl. Thomas schreibt in ähnlicher Weise zur Vermessenheit (Hervorhebung von mir):

„Denn wie es falsch ist, daß Gott den Reuigen nicht verzeiht; so ist es desgleichen falsch, daß er den Sündern, die sich nicht bessern wollen, verzeiht und daß er denen, die nichts Gutes tun, die Seligkeit gibt.

Also ist das freventliche Vornehmen [die Vermessenheit] Sünde; aber nicht eine so große wie die Verzweiflung. Denn Gott entspricht es mehr zu verzeihen und sich zu erbarmen, wie zu strafen; da Jenes Gottes Wesen an sich zukommt, Dieses aber auf Grund unserer Sünden. […]

II. Nicht daß jemand zu viel von Gott hofft, ist die Sünde des freventlichen Vornehmens; sondern daß er das hofft, was sich für Gott zu geben nicht geziemt. Das ist aber eigentlich weniger hoffen; denn das heißt die göttliche Kraft vermindern.

III. Sündigen mit dem Vorsatze, in der Sünde zu bleiben gestützt auf die Hoffnung der Verzeihung heißt ‚freventliches Vornehmen‘. Sündigen aber mit dem Vorsatze, von der Sünde sich später zu enthalten, sie zu bereuen und so Verzeihung zu erhalten, vermindert das Sündhafte; denn dies macht offenbar, daß der Wille wenig gefestigt ist in der Sünde.“ (Summa Theologiae II/II 21,2)

(Gut ist natürlich auch letzteres nicht; und man weiß ja nicht, ob man noch die Gelegenheit zum Bereuen haben wird. Aber es ist dann nicht die eigenständige Sünde der Vermessenheit.)

Diese Gleichgültigkeit, Verzweiflung und Vermessenheit sind nicht nur Sünden und bringen Schuld mit sich, sondern können auch Anlass zu Sünden werden und Gefahren mit sich bringen – sie senken die Hemmschwelle ab, andere Sünden zu begehen. Wenn jemand meint, der Himmel sei egal, er käme sowieso in den Himmel oder er käme sowieso nicht in den Himmel, wird er leichter andere Dinge tun, die gegen Gottes Gebote verstoßen.

Hier würden viele jetzt vermutlich den (von Luther geprägten) Einwand vorbringen: Aber ist es nicht schlecht, wenn das Gute nur aus Hoffnung auf Lohn oder Furcht vor Strafe getan wird? Wäre es nicht besser, ganz ohne selbstsüchtige „Hintergedanken“ Gottes Geboten zu gehorchen?

Die Antwort ist ganz einfach: Es geht hier nicht darum, etwas nur aus Hoffnung bzw. Furcht zu tun, sondern  Hoffnung und Furcht können hilfreiche motivierende Faktoren dafür sein, etwas zu tun, von dem einem bewusst ist, dass es das Richtige ist. Und moralisch verurteilenswert sind diese Motivationen gerade nicht, weil es völlig in Ordnung – und sogar gut ist – für sich selbst (wie für alle anderen) etwas Gutes zu wünschen (auch wenn es noch bessere Motivationen gibt). Und diese Art von Hoffnung und Furcht beruhen schließlich, wie gesagt, auch darauf, dass man weiß, dass Lohn und Strafe, die Gott austeilt, gerecht und verdient sind (der Lohn ist natürlich immer mehr, als jemand verdienen kann, aber die Leser verstehen schon, was ich meine), und darauf, dass man seinen ausdrücklichen Zusagen vertraut.

Im nächsten Teil zur Gottesliebe und den Sünden gegen sie.

* Aus: Heribert Jone, Katholische Moraltheologie.

** Ebd.

*** Ebd.

Ein paar Gedanken zum verlorenen Sohn

Ein Gastbeitrag von Nepomuk.

 

Wir kennen das Gleichnis vom Verlorenen Sohn; fast, möchte ich sagen, kennen wir es zu gut, wir interpretieren immer gleich sofort, haben sofort ein Bild vor Augen: was wohl für den Hausgebrauch vielleicht auch genügt; aber es lohnt sich dennoch, sich das einmal genauer anzuschauen.

Als Vorbemerkung sei gesagt: Unser Heiland hat das Gleichnis als Gleichnis erzählt; wir brauchen nicht glauben, daß die vorkommenden Personen gelebt haben: aber auch wenn wir ein Buch Unterhaltungslektüre lesen, wenn wir den Herrn der Ringe lesen, wenn wir, sagen wir, Father Brown lesen, dann sagen wir ja auch: Die Personen in der Geschichte verhalten sich so und so; das entspricht ihrem Charakter, das wieder nicht und so weiter. Springen wir also für diesesmal nicht sofort zu Interpretationen nach dem Motto: der Vater ist natürlich Gott usw. Die Interpretationen kommen dann schon noch! Im übrigen: der Erzähler dieses Gleichnisses ist unser Heiland, der allwissende Herrgott, selbst – so unwahrscheinlich ist das Verhalten der Beteiligten im realen Leben dann auch wieder nicht, daß Er, der von jeder einzelnen Bauernfamilie, die seit der Schöpfung auf Erden gelebt hat, über jeden Augenblick ihres Lebens Bescheid weiß, nicht einen tatsächlich vorgekommenen Fall aus Seinem allwissenden Gedächtnis hervorgekramt haben könnte. Wir wissen das nicht, aber es könnte immerhin sein.

Zäumen wir einmal das Pferd von hinten auf. Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn war, wie gesagt, immer populär unter den Katholiken – der ältere Sohn wird gerne vergessen, aber da komme ich noch darauf – und mancherorts kommt er ja als ziemlich sympathische Figur herüber. Verschwendung ist eine Sünde, aber es ist bei weitem weder die schlimmste noch die unsympathischste Sünde. Die reiche Geizhals ist, und ist in Teilen zu Recht, eine verhaßte Figur; der Prasser, auch wenn einige Moralisten (die nicht notwendig, Verschwendung ist ja tatsächlich eine Sünde, aber doch in einigen Fällen selbst des Neides schuldig sind) keine Gelegenheit auslassen, den Abstand durch ihren Tadel zu verringern, gibt doch eine viel sympathischere Figur ab. Und im Englischen heißt unser Verlorener Sohn denn auch nicht „der Verlorene Sohn“ (the Lost Son), sondern „der Verschwenderische Sohn“ (the Prodigal Son), und wer, der etwa gerne seine wohlverdiente entspannende Unterhaltung in geselliger Runde in Irish Pubs verbringt, könnte dabei nicht an ein berühmtes Lied denken, das den Verlorenen Sohn zum Protagonisten hat?

I’ve been a wild rover for many’s the year
and I’ve spent all my money on whiskey and beer.
But now I’m returning with gold in great store
and I never will play the wild rover no more.
– I’ll go home to my parents, confess what I’ve done
and I’ll ask them to pardon their prodigal son.
And when they’ve caressed me as oft times before
I’ll never will play the wild rover no more
and it’s: no!! nay!! Never!! – !!!!
no, nay never, no more
will I play
the wild rover;
no, never!
no more.

Zu deutsch: Ich war viele Jahre lang ein wilder Herumtreiber und habe all mein Geld für Whiskey und Bier ausgegeben. Aber nun kehre ich heim mit jeder Menge Gold und werde niemals mehr den wilden Herumtreiber spielen. Ich geh heim zu meinen Eltern, bekenne ihnen, was ich getan habe, und bitte sie, ihrem Verschwenderischen (bzw. Verlorenen) Sohn zu vergeben. Und wenn sie mich umarmt haben wie so oft zuvor, dann werde ich nie mehr den wilden Herumtreiber spielen. An der Nord – See – Küste…. Am plattdeutschen Strand – halt, falsches Lied, Humoreinlage. Also, der Refrain heißt: Und ich sag: nein! Keineswegs! Niemals! Nein, nein, niemals nicht mehr spiele ich den wilden Herumtreiber, nein niemals nicht mehr.

Das ist natürlich nicht die Situation im Gleichnis, darauf komme ich noch. Aber er ist doch ganz sympathisch, nicht, unser Verlorener Sohn?

Natürlich: das irische Volkslied stellt ihn so dar, wie er sich das wohl vorgestellt hätte; nicht, wie es tatsächlich gekommen ist. Aber sind diese Wünsche so verquer? Er will endlich von zu Hause ausziehen. Kann man das nicht auch als Vater – vielleicht sogar als Mutter – nachvollziehen? (Es ist übrigens interessant, daß die Mutter im Gleichnis nicht vorkommt. Ich weiß es nicht, aber ist vielleicht die Mutter der Grund, warum er, bei aller Liebe zu ihr, herauswill: daß er bei aller Liebe zu ihr sich denkt, er ist zu alt, um noch bemuttert zu werden?) In den Märchen ist es oft so, daß ein Vater seine (meistens drei) Söhne um sich versammelt, sie seien jetzt alt genug, um loszuziehen und in der Welt ihr Glück zu machen. Wollte unser Verlorener Sohn auch in die Welt, um sein Glück zu machen? Und ist es nicht naheliegend anzunehmen, er hätte es sich eben auch so vorgestellt, dann eines Tages als erfolgreicher Geschäftsmann, Erfinder oder was weiß ich, als young professional mit abgeschlossenem Studium (wenn es damals schon Universitäten gegeben hätte) mit jeder Menge Geld zurückzukehren, „ich hab’s geschafft“ zu sagen, um Verzeihung zu bitten für das eine oder andere böse Wort, das bei der Trennung gefallen sein mag (ich komme noch drauf) und dann in seine liebende Familie zurückzukehren? Und brauchte er für seinen Einstieg in die wirtschaftliche Welt nicht Startkapital?

Und warum nicht – in der Zwischenzeit durchaus auch freigiebig sich selbst gegenüber sein, gerne Wein, Bier, Schnaps (wenn es den damals schon gegeben hat), Zigaretten (wenn es die damals schon gegeben hätte) zu kaufen, ausgiebige Mahlzeiten usw. zu sich zu nehmen, ohne, daß jeden Augenblick jemand Erziehungsberechtigtes von außen hineinschaut und ihm sagt, hier geht’s aber ein bißchen zu weit, reiß dich zusammen, benimm Dich usw.?

Er ist dann mit alledem ein bißchen weitgegangen. „Er führte ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen.“ Das hat der Heiland in seinem Gleichnis gesagt; es gehört also zur Geschichte hinzu. Und auch dies ist nicht abwegig vorzustellen: wenn das Auge der Erziehungsberechtigten, der Bekannten usw. weg ist und man mit sich – zunächst legitim – etwas großzügiger umgeht, als man es unter Aufsicht täte, wie es sicherlich jede Menge junger Menschen auch heute, die etwa für ein Studium in die Großstadt ziehen, tatsächlich tun, daß dann der eine oder andere, wie man es nennt, „abdriftet“, wenn die größere Freiheit dazu führt, daß man auch die Grenzen, die beim anständigen Menschen die Moral der Freiheit setzen würde, überschreitet? Der jüngere Bruder, der vermutlich schon als Kind etwas großzügiger behandelt wurde als der ältere, das kommt häufig vor, „führte ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen.“

Das war falsch. Da müßte er (würden wir seit der Gründung der Kirche sagen) dafür beichten gehen.

Dennoch bemerken wir, daß unser jüngerer Sohn anscheinend auf die ganz schiefe Bahn nicht geraten ist. Sein älterer Bruder (und diesmal nicht der allwissende Erzähler des Gleichnisses – im wörtlichen wie im literaturtheoretischen Sinn) behauptet, daß er das Vermögen unter anderem „mit Dirnen durchgebracht hat“. Anders als beim zügellosen Leben generell wissen wir aber nicht, ob denn auch das gestimmt hat, ob er wirklich (wie man es sich vielleicht durchaus als im Bilde und lebensecht vorstellen kann) leichten Mädchen, die er mit seinem Charme (den er vermutlich hatte) bezirzt hatte und die sich ihm körperlich hingegeben hatten, reichlich Geschenke gemacht hat, ob er vielleicht gar (wie ich mir persönlich eher weniger vorstellen kann) Bordelle aufgesucht hat, oder ob das alles vielleicht bloß der Phantasie seines älteren Bruders entspringt, der gerne bereit ist, diesem Ausreißer, da er nun einmal schon ausgerissen ist, da er sich dabei (ich komme noch darauf) unmöglich gegen seine Eltern aufgeführt hat, da er nun einmal offensichtlich sein Vermögen tatsächlich verschleudert hat, bezüglich der Art-und-Weise dieses Verschleuderns auch noch jede beliebige Schandtat zu unterstellen.

Trotzdem beobachten wir auch hier, daß zum einen unser Heiland es für notwendig befindet – und in den Gleichnissen unseres Herrn ist nichts überflüssig – festzustellen: „Eine Hungersnot kam in das Land.“ Er hat sein Vermögen verschleudert, aber daß es ihm nachher so schlecht geht, daran sind teilweise auch die Umstände schuld. Auch das kommt in ähnlichen Fällen natürlich zumeist tatsächlich genau so vor. Wir stellen zum anderen fest: in jeder 08/15-moralischen Warngeschichte der Fräulein Rottenmeiers und Sidonie von Grasenabbs dieser Welt wäre er dann, um die üblichen Redewendungen zu gebrauchen, „auf die schiefe Bahn geraten“, hätte eine kriminelle Laufbahn eingeschlagen. Nun spielt aber, bei allem Respekt vor den Fräulein Rottenmeiers und Sidonie von Grasenabbs dieser Welt, unser Heiland in einer anderen Liga. Der verlorene Sohn mag ein Verschwender, ein Säufer, vielleicht ja tatsächlich gemäß den Vorwürfen seines Bruders auch ein Hurenbock gewesen sein; ein Krimineller ist er nicht, und er wird es auch nicht.

Er „ging zu einem Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte ihn auf das Feld zum Schweinehüten“. Es wird präzise notiert, daß er gerne „seinen Hunger gestillt hätte mit den Futterschoten, die die Schweine fraßen“ – in anderen Bibelübersetzungen: mit den Trebern, d. h. mit den Preßrückständen von Trauben, keine gute Nahrung, aber doch eine, die Menschen tatsächlich essen könnten und die vielleicht nicht ausgeben, aber das unmittelbare Hungergefühl stillen könnte – „aber niemand gab ihm davon“. Er läßt sich also nicht einmal dazu herab, seinem Chef, der es sich herausnimmt, trotz Hungersnot Schweine (die anders als grasfressende Rinder mit Futter gefüttert werden müssen, das der menschlichen Nahrung dann fehlt) zu halten und seinem Angestellten nicht einmal so viel zu essen zu geben, daß er keinen Hunger leiden muß, um ein paar Handvoll Schweinetreber pro Tag zu bestehlen!

(Schweinehirt war ein unreiner Beruf; Schweine waren unter dem Alten Testament unrein, und wer mit ihnen Umgang hatte, machte sich unrein. Aber in rituelle Unreinheit zu geraten, war, obwohl es ein Jude normalerweise natürlich nicht wollte, nicht an und für sich eine Sünde, und solange das Schwein nicht oder nur zufällig an Juden verkauft werden würde, war er auch nicht an einer Sünde beteiligt: das Alte Testament galt in seinen Ritualbestimmungen eben nur für Juden. Was ich damit sagen will: auch das Schweinehirtsein war nicht ein krimineller Beruf.)

Er sitzt jetzt also bei seinen Schweinen auf dem Feld und hat Hunger. Da denkt er sich: „Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen, und ich komme hier vor Hunger um.“ Das hat er sich vermutlich schon die ganze Zeit gedacht, zumindest seit sein Vermögen futsch war und die Hungersnot begonnen hat. (Wir wissen nicht, wie lange diese Zeitspanne gedauert hat. Der Natur der Sache entsprechend wohl durchaus etwas länger; unser Heiland als Erzähler faßt hier zusammen.) Und nun kommt es zur großen, mutigen Entscheidung: „Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen.“

Eine mutige Entscheidung, ja. Aber – so denke ich – nicht deswegen, weil er befürchtet hatte, sein Vater würde ihn in der Luft zerreißen (wie manche Prediger diese Stelle dem Tonfall nach interpretieren). Er weiß sehr wohl, daß bei seinem Vater sogar für die Tagelöhner (in einem Zeitalter vor Gewerkschaften und Mindestlöhnen) ausreichend gesorgt ist: seinen Vater mag er allgemein als streng in Erinnerung haben (wir wissen es nicht), ein Unmensch jedenfalls ist er nicht, und das weiß er auch. Auch wenn das Alte Testament in seinen Justizialbestimmungen tatsächlich, als ultima ratio, vorsah, daß Eltern, deren Kind ihnen den Gehorsam verweigerte, den Konflikt auf die staatliche Ebene (wir würden heute sagen: zum Jugendamt) eskalieren konnten, das dann für Bestrafung (die Todesstrafe nämlich) sorgen konnte, und dies nach dem Wortlaut anscheinend vor allem für Verschwender und Säufer vorgesehen war (Dtn 21,20) – das betraf Kinder, die nicht hörten. Er hört ja jetzt. Und auch wenn die Väter vergangener Zeiten strenger gewesen sein mögen als die Väter es heutzutage sind: so sehr ändern sich die Gefühle von Eltern für ihre Kinder in der Menschheit nicht. Eltern lieben ihre Kinder im allgemeinen, auch unverdient; sie tun es heute, sie taten es damals. Unser verlorener Sohn wird kein Trottel gewesen sein; er wird das gewußt haben.

Wovor er Angst hatte – ich weiß es natürlich nicht; aber ich glaube fast, er hatte Angst davor, daß sein Vater genau so reagieren würde, wie er dann tatsächlich reagiert hat.

Güte und Barmherzigkeit kann etwas Beängstigendes haben.

In Dürrenmatts Frank dem Fünften ruft eine Verbrecherin am Schluß den Staatspräsidenten an, gesteht ihre Verbrechen und sagt: „Ich fordere Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, auch wenn sie mich vernichtet.“ Worauf dann der Staatspräsident sagt: Gerechtigkeit? Mit Gerechtigkeit kann man einem kleinen Dieb, vielleicht auch einem kommen, der ein paarmal gemordet hat. Aber derart umfassende und entsetzliche Verbrechen, wie sie sie begangen hätte – „das hieße ja am Gerüst der Welt rütteln“ (oder so), wenn man da mit Gerechtigkeit käme. Deshalb wird sie dann letztlich begnadigt und in ein komfortables Altenteil geschickt. (Der Dürrenmatt-Kenner wird Querverbindungen zu Romulus dem Großen sehen, aber ich schweife ab.)

Ich hab‘ mir die Suppe eingebrockt, jetzt muß ich sie auch auslöffeln – aber mit dem Auslöffeln muß es dann bitte auch sein Bewenden haben. „Ich fordere Gerechtigkeit, auch wenn sie mich vernichtet“ – aber, ich sagte bereits, unserer jüngerer Sohn ist kein Dummkopf. Er ist ein Sünder, auch ein schwerer Sünder (im Sinne des terminus technicus), aber keiner von der ganz verderbten Sorte. Er hat sein Vermögen nicht geraubt, nicht gestohlen und nicht erschlichen, sondern geerbt (wenn auch – aber darauf komme ich noch); er hat es verloren, das ist sein Risiko gewesen, er wußte das, und nun hat er es eben nicht mehr. Das ist auf unverantwortliche Weise geschehen; aber hat er damit auch mehr als sein Vermögen verloren? Schlimm genug, das dann aber nicht, denkt er. Er ist, jedenfalls im wirtschaftlichen Sinne, nicht mehr der Sohn seines Vaters, soll heißen: er hat keinen Anteil am Familienbetrieb mehr: aber damit – so denkt er – müßte es dann sein Bewenden haben. Er ist immer noch ein Mensch, der, mag er auch als Kind des Chefs aufgezogen worden sein, durchaus fähig ist, geduldig, in Unterordnung und mit Einsatz zu arbeiten; und diese Arbeit würde Lohn verdienen. Und Arbeit wird auf dem väterlichen Bauernhof durchaus auch gebraucht – wäre das nicht so, denken wir uns, wäre es zu diesen (zugegeben:) abscheulichen Szenen bei seiner Abreise wohl gar nicht erst gekommen.

Gut, denkt er sich also in durchaus treffender Erörterung: die Sohnschaft (wenn wir diesen theologisch aufgeladenen Begriff gebrauchen wollen) habe ich verspielt; aber warum sollte ich dann bei mir zu Hause weniger sein als ein Tagelöhner? Meine Arbeitskraft habe ich ja noch; warum sollte sie mein Vater weniger schätzen als die eines wildfremden Arbeitssuchenden, die er ja auch einstellt? Er legt sich schon einmal das Sprücherl zurecht, mit dem er bei seinem Vater wieder aufkreuzen könnte: „Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen; mach mich zu einem deiner Tagelöhner.“

Der überfliegende Leser denkt sich in der Regel, das ist eins von zwei Alternativen: entweder eine notwendige Abwehrmaßnahme gegen damals viel strengere und im Bestrafen grausamere Eltern, oder, aus mehr heutiger Perspektive, ein frömmlerisches Getue, das ihm gleich um die Ohren fliegt, wenn er daheim ankommt. Ich selber hätte als Kind meine Eltern auf keine Weise mehr entsetzen können, als wenn ich mich getraut hätte, mit solch einem Sprücherl daherzukommen.

Aus den geschilderten Gründen denke ich, daß das eben nicht so war: es ist eine präzise Schilderung des Sachverhalts und auch eine präzise Schilderung dessen, was er vorhat – beziehungsweise, was er momentan noch erwägt, sich noch nicht ganz entschlossen hat, zu tun. Er will heimkehren, ja; aber er will seinem Vater sagen: Dein Vermögen habe ich in den Sand gesetzt und mich obendrein wie ein Verräter gegen dich und damit auch gegen Gott und das Naturgesetz, die uns befehlen, unsere Eltern zu lieben, benommen („ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt“). Aber ich bin noch da; und ich kann immer noch arbeiten. Als Arbeiter geht es mir nirgendwo so gut wie hier; aber auch du wirst an deinem eigenen Sohn (wenn ich mir diesen Ehrentitel auch nicht mehr zuschreiben mag) auch einen guten Arbeiter haben. „Mach mich zu einem deiner Tagelöhner.“

Warum übrigens „gegen den Himmel und gegen dich versündigt“? Nun, wir lesen dazu die Einleitung des Gleichnisses. „Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht. Da teilte der Vater das Vermögen auf. Nach wenigen Tagen packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land.“ Die Einheitsübersetzung der Bibel merkt in einer Fußnote an „das Vermögen des Vaters schon zu dessen Lebzeiten zu fordern, war erlaubt, galt aber als unschicklich.“ Und da tun sich dann schon Abgründe auf. Wenn einer sagt: „Vater, nimm’s mir nicht böse, aber ich will in die Welt ziehen und mein Glück machen. Kann ich dafür Geld haben?“ – das können wir nachvollziehen, das würden wir im allgemeinen auch verteidigen. Aber nichts dergleichen. „Gib mir das Erbteil, das mir zusteht“. Eines Tages wirst Du eh den Radieschen von unten beim Wachsen zusehen, dann gehört das alles meinem Bruder und mir. Da kann ich mein Geld dann schon gleich jetzt haben. Rück die Kohle heraus – ich darf das fordern, und daß das angeblich „unschicklich“ ist, sowas geht mir doch sowieso am Hinterteil vorbei.

Da wir gerade eben durchaus versucht haben, es hatte sich eben so ergeben, die Handlungen des verlorenen Sohnes in einem doch recht positiven Licht zu sehen (ohne über seine Fehler hinwegzusehen), könnten wir geneigt sein zu sagen: Dem ist bestimmt eine längere Geschichte vorausgegangen, er hat zuerst ganz höflich vorgesprochen, der Vater hat das dann verweigert, vielleicht mit dem Verweis auf die Ernte, vielleicht mit dem auf die Aussaat, vielleicht mit dem darauf, daß sein Taschengeld doch durchaus bereits ein Lohn für seine Arbeit auf dem Hofe darstellen würde, vielleicht würde er es noch etwas erhöhen, aber dann solle er erst dann abziehen, wenn er genügend eigenes Geld gespart hätte usw. Und der jüngere Sohn wird dann über solche Hinhaltetaktik immer wütender, bis er schließlich sagt: Dann scheiden wir eben im Unfrieden, und ich darf das Erbteil ja fordern (nach damaligem Recht; heute dürfte man das nicht) – wofür man ihn immer noch kritisieren könnte, aber was dann wenigstens als provoziert gelten dürfte. Wenn sein Vater dann später zu seinem älteren Sohn sagt, „alles, was mir gehört, gehört dir“, also jetzt schon, dann hätte eben auch er dazugelernt.

An dieser Stelle würde ich aber doch das Ganze mit dem Salz der offensichtlichen Interpretation würzen. Das Gleichnis vom Verlorenen Schaf unmittelbar davor endet mit „Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude sein über einen einzigen Sünder, der umkehrt“. Der Vater soll hier offensichtlich Gott repräsentieren; und Gott lernt nicht dazu, er ist von Ewigkeit her allweise. Daraus folgt dann, daß er zu seinem jüngeren Sohn auch schon „alles, was mir gehört, gehört dir“ gesagt hätte, wie er es später zu dem älteren tut.

„Alles, was mir gehört, gehört euch“ – wenn das die Maxime des Vaters ist, warum bittet ihn der jüngere Sohn dann nicht einfach um ein Startkapital (das übrigens nicht gleich die Hälfte des Erbes sein muß, auch mit weniger dürfte man sowohl in eine Geschäftsidee oder was es auch immer war, investieren können, und auch das eine oder andere Bier dürfte dabei herausspringen)? Er hätte es doch wohl bekommen? Es wäre vielleicht etwas weniger gewesen als die Hälfte des Vermögens – aber wäre es das nicht wert gewesen, mit seiner Familie im Frieden zu bleiben? Hätte er nicht auch um Nachschüsse bitten können? War ihm die Hoffart des „ich fordere nur, was mir zusteht“ wirklich wert, die Kontakte zu seiner Familie abzubrechen?

„Ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt“ – wohl wahr. Und umso mehr, als es nicht nötig gewesen wäre. Wir sind ja manchmal in Versuchung, Sünden zu tun, um gewisse Güter widerrechtlich zu erlangen, die wir sonst nicht erlangen könnten. Aber das ist nicht das Wesen der Sünde. In der gefallenen Welt müssen wir manchmal auf Dinge verzichten, die wir durch Sünde bekommen könnten, weil es keinen ehrlichen Weg gibt, sie zu erlangen; aber das geschieht accidentialiter: die Sünde als Sünde wird gerade dann besonders erkennbar, wenn wir dasselbe Gut durchaus hätten erlangen können, und auf legitimem Weg hätten erlangen können, aber den verbotenen Pfad vorziehen. Wenn – um nur zwei Beispiele zu nennen – ein Mensch sich in emotionaler Situation mit einer Gotteslästerung Luft macht, obwohl er genausogut „Herrschaftszeiten“ hätte sagen können oder „Jesus, Maria und Josef“ in frommem, wenn auch ein wenig informellem Gebet anrufen hätte können. Oder: Wenn ein Mensch gefragt wird, wo Hans Müller gerade ist, von einem, der das nicht wissen darf, und „ich weiß nicht, wo Hans Müller ist“ lügt, statt einfach „ja, der Hans Müller, wo der wohl ist“ zu sagen (was keine Lüge ist). – Es wäre so einfach gewesen, anständig zu bleiben, einfach ein bißchen die Liebe zu seinen Eltern bewahren, und sogar ohne dadurch sonst schlechter gestellt zu sein: die Sünde bringt nie einen Vorteil, im Angesicht der Ewigkeit sowieso nicht, aber sehr häufig nicht einmal kurzfristig; trotzdem wird sie getan. Das hat unsere gefallene Welt so an sich; und das ist auch der Grund, warum die Klugheit die erste Kardinaltugend ist.

Es ist insofern auch gar nicht so erstaunlich, wenn unser Verlorener Sohn, da er klug wird, zunächst an das ausreichende Essen der Arbeiter seines Vaters denkt, was viele Prediger ja sehr erstaunt. Dieser Gedankengang ist legitim; man kann das fast nicht genug betonen: aber er ist letztlich auch im tiefsten zur Sache gehörend, was vielleicht nicht so selbstverständlich ist. Gott will, daß es uns gut geht – was übrigens die Fastenzeit und andere Askese einschließt, die wir ja deswegen auf uns nehmen, um für das noch größere und noch angenehmere Gut, in der Nähe Gottes zu sein, freier sein zu können (und, warum nicht, als Nebeneffekt auch, um die Gaben Gottes besser wertschätzen zu können). Der Teufel hingegen will, daß es uns schlecht geht. Gott will uns Gutes, der Teufel Böses – auch materiell! Auch wenn in der gefallenen, wenn in der erlösten, aber von der Sünde noch gezeichneten Welt diese Verhältnisse bisweilen nicht klar erkennbar sind.

Aber kehren wir zu unserem Verlorenen Sohne zurück, nicht wahr? Er wird, jetzt endlich, klug. Die Sünde ist einmal geschehen, sie ist in der Welt, ob ich ihr nun aus dem Weg laufe oder nicht. Er entscheidet sich also, zu seinem Vater zurückzugehen, seinen Zustand anzuerkennen als nicht mehr würdig, sein Sohn zu heißen (da er die Verbindungen abgebrochen hatte), um dort dann als Tagelöhner zu arbeiten.

Und dann, endlich, tut er’s. Wir halten fest, daß in diesem Fall die Initiative von ihm, interpretativ gesagt also vom Sünder, ausgeht. „Der Vater sah ihn schon von weitem kommen“, er hat also wohl Ausschau gehalten; aber er hat eben Ausschau gehalten. Hier unterscheidet sich das Gleichnis ein wenig vom vorgehenden Gleichnis vom Verlorenen Schaf, wo der Hirt ganz allein aufbricht, um das Schaf zu suchen, wo die Initiative allein vom Hirten ausgeht. Es ist natürlich eine theologische Wahrheit; die Begnadigung geht immer von Gott zuerst aus (wenn wir also die Interpretation hineinlaufen lassen, dann hat unseren Verlorenen Sohn fern des Landes im Schweinestall schon der Strahl der Gnade getroffen); aber es ist die Rolle der Mitwirkung mit der Gnade, die dieses Gleichnis in den Mittelpunkt stellt. Vielleicht ist es deswegen, daß das Gleichnis vom Verlorenen Schaf zusammen mit dem von der Verlorenen Drachme an einem Sonntag nach Pfingsten, in der Heilig-Geist-Zeit, verlesen wird, während der Platz des Verlorenen Sohnes in der Fastenzeit (im alten Ritus am Samstag nach dem 2. Fastensonntag) ist. Die Fastenzeit nämlich gibt es für die, die bereits Christen sind, und für die Katechumenen, die sich bereits auf den Weg zur Taufe gemacht haben, sich bereits in die Kirche eingeschrieben haben und nun ihre letzten Schritte zurücklegen, bis sie – an Ostern – mit der Taufe ins Haus des Vaters zurückkehren. Und eben für uns arme Sünder, die wir es auch nötig haben, uns zu bekehren oder uns zumindest, nachlässig geworden, wieder am Riemen zu reißen, um ins Haus des Vaters entweder auch zurückzukommen oder zumindest unsere Beziehung zum Vater zu erneuern.

Er kommt daheim an, und während er sein Sprücherl aufsagt, denkt sich der Vater so: „bla bla bla“ und ignoriert das ganze; dann sagt er den Knechten, sie sollen ihn in allen Ehren wieder als Sohn aufnehmen und ein Fest feiern. Genau das, wenn meine Theorie stimmt, was er gefürchtet hatte; aber immerhin, er fährt ihm nicht über den Mund, er läßt ihn sein Sprücherl noch aufsagen … und auf einmal stellt sich heraus, daß auch die Versöhnung nicht so schlimm ist wie befürchtet. Es gibt einen Kalbsbraten, es gibt Wein (nehmen wir an), und ob nun die Geschichte mit dem Hurenbock stimmt oder nicht, vielleicht werden auch Mädchen aus der Nachbarschaft eingeladen, mit denen er sich auf keusche Weise unterhalten und von denen er vielleicht einmal eine zum Altar führen kann.

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(Jacopo Bassano, Die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Gemeinfrei.)

Und jetzt müssen wir uns natürlich die Geschichte mit dem älteren Sohn anschauen. „Ein Mann hatte zwei Söhne“, geht unser Gleichnis ja los. Der ältere Sohn wird volkstümlich gerne vergessen; im Wild Rover kam er gar nicht vor. Wo man an ihn denkt, so schimpft man entweder (gern auf liberaler Seite) über seine Engstirnigkeit, die man gerne mit der (angeblichen) Engstirnigkeit derjenigen in der Kirche vergleicht, die nicht über das erstbeste sentimentale Argument in Häresien verfallen; oder aber (auf konservativer Seite) hat man so den Eindruck, hier sind Leute auf einem hoffnungslosen Verteidigungsposten und müssen erklären, wie sie mit dieser sie so offensichtlich verurteilenden Figur im Gleichnis zurechtkommen. „Ein Mann hatte zwei Söhne“ – wenn das Gleichnis so losgeht, dann ist vielleicht das sogar der Hauptpunkt im Gleichnis, zumal der Heiland es ja im Kontext den Pharisäern und Schriftgelehrten erzählt, die sich empören, daß der Heiland sich mit Sündern abgibt und sogar mit ihnen ißt (Lk 15,2). Die im alten Ritus diesem Evangelium vorangehende Lesung behandelt denn auch ein uns wohlbekanntes Brüderpaar des Alten Testamentes, Jakob und Esau.

Jakob – der jüngere – hat bei Esau einen schwachen Moment ausgenützt, um sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht abzuhandeln, und nachher hat er sich als Esau verkleidet, um den Segen seines Vaters zu erschleichen. Nun kann man das vielleicht verteidigen; das Erstgeburtsrecht hat Esau freiwillig verkauft, und wenn er sich hernach beim Segen vorstellt mit „Ich bin Esau, dein Erstgeborener“, dann hat er nur die Position eingenommen, die ihm auf Grund dieses Verkaufs tatsächlich zustand. (So erklären das die klassischen Theologen. Immerhin ist Jakob ein heiliger Patriarch.) Der offensichtliche erste Eindruck ist aber: eine Trickserei und nicht die feine Art war es jedenfalls. Und er, der jüngere, steht jetzt mit dem Erstgeburtsrecht und dem Segen da und wird belohnt, indem er der Stammvater des Volkes Israel wird – so wie der jüngere Sohn im Gleichnis mit der willkommenen Wiederaufnahme in das Vaterhaus, nachdem er sich gegenüber seinem Vater bei der Erbteilung grauenhaft benommen und dann das halbe Vermögen verpraßt hatte.

Der ältere nun geht her und sagt: „So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich gegen deinen Willen gehandelt; mir aber hast Du nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte.“ (Wir bemerken nebenher: Man ißt Zicklein und dergleichen, aber Ziegenböcke, heißt es in einem älteren kulinarischen Werk, braucht man natürlich zur Ziegenzucht, doch als Speise werden sie sogar von den Armen verschmäht. Sie schmecken einfach nicht. „Nicht einmal einen Ziegenbock“ heißt also, daß er eben nicht einmal etwas in der Beziehung fast Wertloses bekommen hat.) Und: „kaum aber ist der hier gekommen, dein Sohn“ – vom Bruder ist nicht die Rede! – „der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat“ (ob das nun stimmt oder nicht), „da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet“.

Eine manifeste, für uns nur zu nachvollziehbare Ungerechtigkeit, die man eben so beantworten müßte, wenn Gott (wir interpretieren) großzügig sei, müßte man das eben hinnehmen und seinen Mund halten? Mit den Frommen kann’s Gott ja machen?

Aber der Vater gibt auf diesen Vorwurf auch eine Antwort, und es lohnt sich, diese Antwort genau zu betrachten.

„Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein.“

Ist man etwas zu gewohnt, dies als bloße Beschwichtigung zu betrachten, dann könnte einem die enorme Bedeutung dieses Satzes entgehen. Recht verstanden tun sich hier also erneut Abgründe auf.

Da hat also der ältere Bruder jahraus, jahrein für den Vater geschuftet und niemals mit seinen Freunden ein Fest gefeiert – und warum? Weil ihn der Vater an der kurzen Leine gehalten hat? Mitnichten: „alles, was mein ist, ist dein“. Hätte er – nicht unbedingt mit einem Ziegenbock, aber vielleicht mit einem Lamm (oder bei uns, für die die jüdischen Speisegesetze nicht gelten: mit einem Spanferkel) mit seinen Freunden ein Fest feiern wollen – wenn alles, was seines Vaters ist, auch seines ist, dann hätte er sich einfach eines nehmen können.

Und wenn er das nicht gewußt hat – oder aus Höflichkeit – dann hätte er fragen können. Hätte ihm sein Vater, der „alles, was mein ist, ist auch dein“ sagt, ein Lämmchen verweigert? Unmöglich (es sei denn, er würde hier lügen; aber da der Vater hier für Gott steht, können wir das durch die Interpretation wieder ausschließen).

Auch der ältere Sohn, der seinen Vater für einen Knauser gehalten haben muß und obendrein sich selbst zu schade war, unverbindlich nach dem nachzufragen, wonach ihn sein Herz sehnte (und wenn es nur eine Party mit Freunden war), dieses sein Verhalten, das man für sich genommen ja sogar eine löbliche Verzichtsleistung (wenn auch nicht unbedingt eine der menschlichen Freude sehr förderliche) nennen kann, dann aber ohne jede Rechtfertigung als Forderung an alle seine Mitmenschen ausdehnt – er war zwar nicht verloren („mein Sohn, du bist immer bei mir“), aber zum besten hat es auch nicht gestanden. Ein Bild vielleicht für das, was ich oben erwähnt habe: nicht jeder muß sich im eigentlichen Sinne des Wortes in der Fastenzeit bekehren (denn im eigentlichen Sinne betrifft Bekehrung die Ungläubigen und die schweren Sünder), aber aufbrechen und in vollerer Form zum Vater gehen, das muß jeder. Und manchmal müssen wir auch solche sogar sehr gewichtige Dinge erstmal noch neu lernen. Und sei es nur, daß (wenn wir wieder interpretieren) das Beim-Vater-Sein, also Bei-Gott-Sein, an sich schon genug ist, um jeden Verzicht (auch solchen, den man sich irrtümlich auferlegt, weil man denkt, daß der Vater strenger ist, als er tatsächlich ist) überreichlich aufzuwiegen.

Nebenbei: wird nun unser jüngerer Sohn, trotz Mastkalb und Ring am Finger, tatsächlich zum Tagelöhner oder doch angestellten Mitarbeiter? „Alles, was mein ist, ist dein“, sagt der Vater ja zum älteren. – Dies scheint mir nur dadurch auflösbar, daß es eben ein Gleichnis ist, das den Himmel zum Inhalt hat, und hier fängt der Vergleich eben zum Hinken an. Beim irdischen Vorgang endet entweder der jüngere Sohn als angestellter, gewiß hochgeschätzter, mit dem Ehrentitel „Sohn“ wieder belegter Mitarbeiter, der aber keinen Anteil, auch nicht als zu erwartendes Erbe, mehr hat, da dieser schon verspielt ist – oder aber der ältere Sohn muß doch von seiner Hälfte wieder eine Hälfte weggeben:

Hier aber geht es um den Himmel. Wenn man unendlich durch zwei teilt, kommt wieder unendlich heraus, sagt schon der Mathematiker. Was der Mathematiker nicht sagt, was in bezug auf den Himmel aber stimmt, ist das Sprichwort: geteilte Freude ist doppelte Freude. Der Himmel ist an sich schon himmlisch, und nichts kann das wesentliche Element der Glorie, die Gegenwart Gottes, auch nur annähernd aufwiegen. Aber mit jeder Seele mehr, die in der Glorie lebt, mit der man die Freuden des Himmels teilen kann, wird er – man gestatte die Ungenauigkeit im Ausdruck – noch ein bißchen himmlischer.