Unter Katholiken findet man ja bei einigen Dingen eine gewisse Meinungsvielfalt, z. B. auch bei der Politik. Und das ist auch manchmal ganz schön. Aber manchmal geht das in etwas seltsame Richtungen, z. B. wenn Leute unironisch den Libertarismus annehmen.
Der Libertarismus ist ja nicht nur einfach wirtschaftsliberal, sondern leugnet komplett die Notwendigkeit des Staates: Die Autorität des Staates soll z. B. durch freie Privatstädte ersetzt werden, wo die Besitzerfirma die Regeln aufstellt und Verbrechen entsprechend bestraft; Krankenversorgung und Ähnliches ganz durch private Versicherungen und Krankenhäuser; Schulbildung ganz durch private Schulen. Idee dahinter: Man spart sich die Steuern und zahlt nur für das, was man will; dabei sorgt der Wettbewerb für angemessene Preise und Qualität und jeder kann zu dem wechseln, was er gerade will. Nur freiwillige Verträge zwischen grundsätzlich Gleichberechtigten sollen die, die sie abschließen, binden, keine übergeordnete Staatsmacht soll ihr untergeordneten Bürgern etwas befehlen. Der Libertarismus versteht sich quasi als vollendete Form der Selbstregierung; nicht wie die standardmäßige Demokratie, bei der auch in der direkten Demokratie Mehrheiten über Minderheiten herrschen und letztere nicht selbstbestimmt sind.
Das kann in der Theorie erst mal ok klingen, funktioniert in der Praxis freilich nicht (dazu unten), aber für Katholiken kommt es grundsätzlich sowieso nicht in Frage, weil es sich einfach nicht mit der kirchlichen Lehre vereinbaren lässt. (Was einem ja schon mal sagen sollte, dass er nicht funktionieren wird, ebenso wie beim Sozialismus.)
Einige Katholiken, insbesondere liberal oder libertär Gesonnene, scheinen ja die Ansicht zu haben, die Kirche solle sich nicht in die Politik einmischen, sondern sich rein um die Seelen kümmern und sich auf diesen ihren Bereich beschränken. Da ist ein ziemlicher Denkfehler drin. Zwar sollen Bischöfe sich nicht in sämtliche tagespolitischen Fragen einmischen, aber bzgl. der Grundsätze gilt, dass jede politische Gemeinschaft sich nach dem Guten richten sollte, und nicht nach dem Schlechten, und das Gute ist nun einmal identisch mit Gott. Christus soll nicht nur im stillen Kämmerlein herrschen, sondern auch über die Taten der Menschen, ob das jetzt individuelle oder gemeinschaftliche Taten sind. Die Seelen der Menschen werden ja beeinflusst durch das, was sie in der Öffentlichkeit tun, erlangen dadurch Verdienst oder werden dadurch mit Schuld belastet. Und die Kirche Christi kann nun mal nicht den Libertarismus gutheißen, und war immer sehr klar in Bezug darauf, dass der Staat erstens notwendig ist und zweitens nicht nur dazu da ist, Freiheiten zu verteidigen, sondern z. B. auch dazu, die Schwachen zu schützen und die objektive Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten.
Damit man sieht, dass ich mir das nicht aus den Fingern sauge, hier mal eine Zusammenfassung von ein paar lehramtlichen und biblischen Aussagen dazu:
Die Kirche lehrt, dass es zwei natürliche Gesellschaften gibt – die Familie und den Staat – und eine übernatürliche – die Kirche – und dass diese drei alle von Gott gewollt und für das Wohlergehen des Menschen nötig sind. Andere Gesellschaften, z. B. Gewerkschaften, Vereine etc., können auch sehr gut und nützlich sein, aber sie sind von Menschen gemacht, nicht so grundlegend nötig und könnten auch völlig umgestaltet werden.
Bei der Familie dürfte es offensichtlich sein; alle Menschen werden in Familien geboren, da fühlt man sich verbunden und es gibt in den meisten Fällen zumindest ein gewisses Maß an Zuneigung und Fürsorge. Aber Familien können in den allerwenigsten Fällen völlig autark leben; in jedem Fall brauchen sie auch immer wieder Neuzugänge von außen und Verbindungen mit anderen Familien, damit die Menschheit weiterbesteht. Familien leben in einer größeren Gemeinschaft, und auch hier braucht es eine gewisse Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Diese Gemeinschaft kann so klein wie ein Stamm aus 200 Personen sein, oder so groß wie ein Volk aus einer Milliarde Personen. Hier identifiziert man sich mit einer gewissen Gemeinschaft, lebt nach gemeinsamen Regeln, kümmert sich gemeinsam um gewisse Aufgaben. Die Kirche, das Volk Gottes, bietet dann noch eine darüber hinausgehende Verbindung und natürlich die Verbindung mit Gott.
Manche Staaten sind schlecht oder nur rudimentär organisiert oder es ist unsicher, welche Legitimität sie haben, z. B. wenn die Ansprüche einer Separatistenregierung und einer Zentralregierung einander entgegenstehen. Aber so etwas wie Staatlichkeit existiert überall, wo es Menschen gibt und nicht völliges Chaos herrscht. Leute gehören von ihrer Geburt an zu einer größeren Gemeinschaft, es wird von ihnen erwartet, deren Regeln zu folgen, auch wenn sie denen nicht zugestimmt haben, und es gibt eine Autorität, die diese Regeln vorgibt oder jedenfalls durchsetzt.
Die Bibel ist zur Notwendigkeit und Legitimität von Staaten ziemlich klar. Der Apostel Paulus schreibt:
„Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalt unter. Denn es gibt keine staatliche Gewalt außer von Gott; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen. Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten; willst du also ohne Furcht vor der staatlichen Gewalt leben, dann tue das Gute, sodass du ihre Anerkennung findest! Denn sie steht im Dienst Gottes für dich zum Guten. Wenn du aber das Böse tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht nämlich im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der das Böse tut. Deshalb ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Das ist auch der Grund, weshalb ihr Steuern zahlt; denn in Gottes Auftrag handeln jene, die Steuern einzuziehen haben. Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid, Steuer, wem ihr Steuer schuldet, Zoll, wem ihr Zoll schuldet, Furcht, wem ihr Furcht schuldet, Ehre, wem ihr Ehre schuldet!“ (Röm 13,1-7)
Damit, dass die staatliche Gewalt von Gott eingesetzt ist, ist nicht gemeint, dass Gott sich in jedem Staat den idealen Kandidaten herauspickt (man kann davon ausgehen, dass Paulus das nicht glaubte, angesichts der Tatsache, dass die römische Regierung ihn lange Zeit in Haft hielt und später hinrichtete). Hier ist erstens gemeint, dass es von Gott gewollt ist, dass Menschen in staatlichen Gemeinschaften leben und irgendjemand dort staatliche Autorität ausübt. Zweitens ist auch gemeint, dass die konkreten Träger dieser Macht quasi von Gott gestützt werden. Um das deutlich zu machen: Wenn jemand ein Kind zeugt, wird er dadurch zum Vater und hat eine gewisse Autorität und Fürsorgepflicht in Bezug auf das Kind, und Gott stützt und bejaht diese konkrete Autorität und Verantwortung dieses konkreten Vaters, unabhängig davon, ob es eine gute Idee für ihn war, Kinder zu bekommen, oder ob er als Vater auch Fehler macht (diese Fehler unterstützt Gott nicht, aber sie machen ihn nicht zum Nicht-Vater). Und genauso sieht es aus, wenn jemand Staatsoberhaupt oder Regierungsmitglied wird: Damit bekommt er eine objektive Autorität und Verantwortung, für die ihn Gott wiederum zur Verantwortung ziehen wird und die Gott auch stützt. Er hat damit einen Anspruch auf Gehorsam vonseiten der Staatsbürger, die irgendwer anders nicht hat. (Jedenfalls solange er keine Gesetze einführen will, die gegen Gerechtigkeit und Allgemeinwohl verstoßen: „Ein ungerechtes Gesetz ist kein Gesetz“. Gegen solche Gesetze ist zumindest passiver Widerstand erlaubt, und im äußersten Notfall, wenn eine Regierung sich völlig gegen das Gemeinwohl wendet und nur noch willkürlich und tyrannisch ist, während sie ihre eigentlichen Aufgaben kaum erfüllt, wäre auch die Absetzung einer Regierung und die Einführung einer neuen Staatsverfassung erlaubt – genauso, wie man, wenn es entsprechend schlimm wird, Kinder aus ihrer Familie nehmen und die Vormundschaft jemand anderem übertragen darf, weil die Eltern durch die Verletzung ihrer Pflichten ihre Rechte verwirkt haben.)
Wie Familien ihre Angelegenheiten unterschiedlich regeln können, können das auch Staaten. Ob es eine Monarchie oder eine Republik ist, oder ein parlamentarisches oder präsidiales System, ist nicht so wichtig. Ein Staatsoberhaupt kann durch Erbfolge bestimmt werden, durch ein Gremium oder eine Gruppe gewählt werden, durch das Volk gewählt werden, oder sonstwie bestimmt werden. Aber in jedem Fall ist dann seine Autorität von Gott gewollt und gestützt, genau wie die Autorität der Eltern von Gott gewollt und gestützt ist, egal auf welche Weise sie Eltern geworden sind und wie genau sie ihre Familie leiten.
Diese Autorität hängt auch nicht davon ab, ob die Regierung christlich ist oder nicht; auch eine nichtchristliche Regierung bleibt Regierung. Bei der Familie ist es ja dasselbe. Wenn ein Sechzehnjähriger nichtchristliche Eltern hat, muss er ihnen zwar nicht gehorchen, wenn sie ihm verbieten wollen, in die Kirche zu gehen; aber sehr wohl, wenn sie ihm sagen, er soll um zwölf Uhr zu Hause sein.
Diese Lehre machen die Päpste deutlich; z. B. Leo XIII. in „Diuturnum Illud“ (1881). Er lehnt hier die Theorie, dass die staatliche Ordnung nur ein Vertrag zwischen den Bürgern wäre, den sie jederzeit völlig auflösen könnten, wenn sie wollten, überdeutlich ab:
„Denn die Not selbst zwingt jede menschliche Vereinigung und Gemeinschaft, einen Vorgesetzten zu haben, damit die Gesellschaft ohne Haupt und leitende Gewalt nicht zerfällt und nicht den Zweck verfehlt, weswegen sie entstanden ist und sich gebildet hat. […]
Ja, sehr viele, die in neuerer Zeit in die Fußstapfen derer traten, die im vorigen Jahrhundert sich Philosophen nannten, lassen alle Gewalt vom Volk ausgehen. Jene, welche diese Gewalt im Staate ausüben, üben sie demgemäss nicht als eine ihnen zukommende Gewalt aus, sondern nur als vom Volk übertragene, und zwar unter der Bedingung, dass sie durch den Willen des Volkes, von dem sie übertragen wurde, widerrufen werden kann. Diesen gegenüber leiten die Katholiken das Recht zu befehlen, von Gott als seinem natürlichen und notwendigen Ursprung ab.
Hierbei ist jedoch zu bemerken, dass in vollem Einklang mit der katholischen Lehre jene, welche an die Spitze des Staatswesens zu treten haben, in bestimmten Fällen durch den Willen und nach dem Urteil des Volkes gewählt werden können. Durch eine solche Wahl wird nun allerdings der Gewaltinhaber bezeichnet, aber die obrigkeitlichen Rechte werden hiermit nicht verliehen; auch wird die Befehlsgewalt nicht übertragen, sondern es wird nur bestimmt, wer dieselbe auszuüben hat. Ebenso handelt es sich hier nicht um die Formen der politischen Gewalt; denn die Kirche findet weder in der Herrschaft eines Einzigen, noch in der von vielen etwas Unangemessenes, wenn diese nur gerecht ist und durch sie das allgemeine Wohl besorgt wird. Wenn daher die Gerechtigkeit nicht verletzt wird, ist es den Völkern unbenommen, jene Regierungsform bei sich einzuführen, die ihrem Charakter oder den tradierten Einrichtungen und Gewohnheiten am meisten entspricht.
[Es werden Bibelstellen und Kirchenväter zitiert]
Denn es ist in der Tat ein Gebot der Natur oder, richtiger, Gottes, des Urhebers der Natur, auf dem das Zusammenleben der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft beruht; einen Beweis hierfür bieten sowohl die Sprache, die in höchster Weise ein gesellschaftsbildendes Prinzip ist, als auch aus so vielen der Seele innewohnenden Neigungen und so vielfache und höchst wichtige Bedürfnisse, die der Mensch in seiner Vereinzelung nicht befriedigen kann, wohl aber im Verband und gesellschaftlichen Verkehr mit anderen. Eine Gesellschaft kann nun aber gar nicht bestehen, ja nicht einmal gedacht werden, in der nicht einer die Bestrebungen ihrer Glieder derart leitet, dass aus vielen gewissermaßen ein Einziges wird und die vielen Bestrebungen in rechtmäßiger und geordneter Weise einen Impuls nach dem Gemeinwohl hin empfangen. Darum wollte Gott, dass in der bürgerlichen Gesellschaft Herrscher seien, die der Menge zu gebieten haben. – Daher wollte es Gott so, dass jene, die durch ihr Ansehen das Gemeinwesen verwalten, derart die Bürger zum Gehorsam zu zwingen die Befugnis haben müssen, dass für diese der Ungehorsam eindeutig Sünde ist. Niemand aber hat in sich oder aus sich die Macht, durch die Bande der Befehlsgewalt in solcher Weise den freien Willen anderer zu binden. Gott allein, dem Schöpfer aller Dinge und Gesetzgeber, kommt diese Gewalt zu; wer sie darum ausübt, kann sie notwendigerweise nur als eine von Gott ihm übertragene ausüben. ‚Einer ist Gesetzgeber und Richter, der die Macht hat, zu retten und zu verderben‘. Dasselbe gilt bezüglich jeder Art von Gewalt. Dass jene, die den Priestern innewohnt, von Gott stammt, ist so bekannt, dass die Priester bei allen Völkern als Diener Gottes gelten und auch so genannt werden. Ebenso ist die Gewalt der Familienväter gewissermaßen ein Abbild der Autorität, die in Gott ist, von dem ‚alle Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen hat‘. So haben auf diese Weise die verschiedenen Arten von Gewalt eine wunderbare Ähnlichkeit untereinander, da, was irgendwo an Befehlsgewalt und Autorität gefunden wird, von ein und demselben Schöpfer und Herrn, von Gott, ausgegangen ist.
Jene, welche die bürgerliche Gesellschaft von einer freien Übereinkunft der Menschen ausgehen lassen und in ihr den Ursprung der Gewalt selbst erblicken, nehmen an, ein jeder habe etwas von seinem Recht abgetreten, und so hätten die einzelnen sich freiwillig unter die Herrschaft dessen begeben, der jene Rechte in ihrer Gesamtheit in sich vereinigt hat. Es ist jedoch ein großer Irrtum, die offenkundige Tatsache nicht zu erkennen, dass der Mensch von Natur aus nicht einzeln umherschweift, sondern vor jeder freien Willensentscheidung zur natürlichen Lebensgemeinschaft geboren ist; auch ist jener Vertrag, von dem sie reden, offenbar ganz willkürlich erfunden und erdichtet und vermag nicht, der politischen Gewalt so viel Kraft Würde und Festigkeit zu verleihen, wie der Schutz des Staates und der allgemeine Nutzen der Bürger es erfordern. Nur dann wird die bürgerliche Gewalt solche Beachtung und solchen allseitigen Schutz erlangen, wenn man anerkennt, dass ihr Ursprung aus Gott, der erhabensten und heiligsten Quelle herkommt.
Nur einen Grund haben die Menschen, nicht zu gehorchen, wenn nämlich etwas von ihnen gefordert werden sollte, was dem natürlichen oder göttlichen Gesetz offenbar widerspricht; denn nichts von allem, wodurch das Naturgesetz oder der Wille Gottes verletzt wird, ist zu gebieten oder zu tun erlaubt. Sollte daher einer in die Lage kommen, dass er sich gezwungen sieht, eines von beiden zu wählen, nämlich entweder Gottes oder des Staatsoberhauptes Gebote zu verletzen, dann hat er Christus zu gehorchen, der gebietet, ‚dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, Gott aber, was Gottes ist‘, und nach dem Beispiel des Apostels mutig zu antworten: ‚Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen‘. Auch gibt es keinen Grund, jene, die so handeln, wegen Verweigerung des Gehorsams anzuklagen; denn wenn der Wille der Staatsoberhäupter Gottes Willen und Gesetzen widerspricht, dann überschreiten sie ihre Machtbefugnis und verletzen die Gerechtigkeit; dann kann eben ihre Autorität keine Anwendung finden, denn wo keine Gerechtigkeit, da keine Autorität.
Damit aber in der Regierung die Gerechtigkeit gewahrt werde, müssen die Lenker der Staaten vor allem erkennen, dass die politische Gewalt ihrer Natur nach nicht dem Vorteil eines einzelnen zu dienen hat und dass das Staatswesen zum besten derer verwaltet werden muss, die ihnen anvertraut sind, nicht jener, denen es anvertraut ist. Möchten doch die Staatsoberhäupter Gott, das höchste und beste Wesen, von dem sie ihre Gewalt zu Lehen empfangen haben, sich zum Beispiel nehmen und, nach seinem Vorbild den Staat verwaltend, ihr Volk regieren in Gerechtigkeit und Treue, indem sie mit der Strenge, wenn sie notwendig ist, väterliche Liebe verbinden. Deswegen werden sie durch die Aussprüche der Heiligen Schrift ermahnt, dass auch sie dereinst dem König der Könige, dem Herrn der Herrscher Rechenschaft ablegen müssen, dass sie aber, wenn sie ihre Pflicht versäumten, Gottes Strenge nicht entgehen werden. ‚Der Allerhöchste wird euere Werke untersuchen und euere Gedanken erforschen. Denn wenn ihr als Diener seines Reiches nicht recht gerichtet habt, … wird er schrecklich und schnell über euch kommen, weil das strengste Gericht über die ergeht, die andern vorstehen … Denn Gott wird niemandes Person ausnehmen, noch irgendeines Größe scheuen, weil er den Kleinen wie den Großen gemacht hat und auf gleiche Weise sorgt für alle; dem Stärkeren aber steht eine größere Strafe bevor.‘ […]
Die Kirche war immer bestrebt, diese christliche Anschauung von der bürgerlichen Gewalt nicht nur dem Bewusstsein der Menschen einzuprägen, sondern sie auch im öffentlichen Leben der Völker und in deren Sitten zum Ausdruck zu bringen. Solange heidnische Kaiser an der Spitze der Regierung standen, die, in Aberglauben befangen, zur christlichen Auffassung vom Wesen der bürgerlichen Gewalt, wie Wir sie skizziert haben, nicht gelangen konnten, suchte sie dieselbe dem Bewusstsein der Völker einzuflößen. Sobald diese aber in den Lehren des Christentums unterwiesen waren, musste ihnen daran liegen, danach auch ihr Leben zu ordnen.“
Man kann auch das libertäre „Steuern sind Raub“ einfach kontern mit Jesu Kommentar zu Steuern: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Wenn Jesus die libertäre Ansicht gebilligt hätte, hätte er dann zu Pilatus (!) gesagt: „Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre“ (Joh 19,11)?
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Die Kirche hat außerdem auch einfach immer die Ansicht abgelehnt, dass etwas dadurch gut wird, dass Leute sich freiwillig darauf einigen.
Leute könnten sich freiwillig auf eine Ehe auf Zeit oder auf Probe einigen; aber das macht diese Beziehung nach Ansicht der Kirche zu einer verkehrten und ungültigen Pseudo-Ehe. (Entsprechend schreibt Pius XI. in „Casti Connubii“: „Wenn nun aber auch die Ehe ihrem Wesen nach von Gott stammt, so hat doch auch der Wille des Menschen, und zwar in hervorragender Weise, seinen Anteil an ihr. Denn die einzelne Ehe entspringt, sofern sie die eheliche Verbindung zwischen diesem Mann und dieser Frau ist, dem freien Jawort der beiden Brautleute. Diese freie Willensentscheidung, durch die jeder Teil das der Ehe eigentümliche Recht gibt und nimmt, ist zu einer wahren Eheschließung derart notwendig, daß sie durch keine menschliche Macht ersetzt werden kann. Diese Freiheit hat jedoch nur das eine zum Gegenstand, ob die Eheschließenden wirklich eine Ehe eingehen und ob sie dieselbe mit dieser Person eingehen wollen. Dagegen ist das Wesen der Ehe der menschlichen Freiheit vollständig entzogen, so daß jeder, nachdem er einmal die Ehe eingegangen hat, unter ihren von Gott stammenden Gesetzen und wesentlichen Eigenschaften steht. Denn der Doctor Angelicus sagt da, wo er von der ehelichen Treue und der Nachkommenschaft handelt: ‚Sie gehen in der Ehe aus dem Ehevertrag hervor, und zwar so, daß, falls in dem Jawort, durch das die Ehe zustande kommt, etwas ihnen Entgegengesetztes Ausdruck fände, überhaupt keine wahre Ehe vorläge.'“)
Leute könnten mehr oder weniger freiwillig ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und Löhnen zustimmen, aber das macht laut Kirche diese Verträge ungerecht, da der Arbeitgeber den gerechten Familienlohn schuldet. (Leo XIII. schreibt in „Rerum Novarum“, einer Enzyklika, in der er sowohl die Fehler des Sozialismus darlegt als auch den Arbeitgeber und den Staat an seine Pflichten gegenüber den Arbeitern erinnert: „Da der Lohnsatz vom Arbeiter angenommen wird, so könnte es scheinen, als sei der Arbeitgeber nach erfolgter Auszahlung des Lohnes aller weiteren Verbindlichkeiten enthoben. Man könnte meinen, ein Unrecht läge nur dann vor, wenn entweder der Lohnherr einen Teil der Zahlung zurückbehalte oder der Arbeiter nicht die vollständige Leistung verrichte, und einzig in diesen Fällen sei für die Staatsgewalt ein gerechter Grund zum Einschreiten vorhanden, damit nämlich jedem das Seine zuteil werde. Indes diese Schlußfolgerung kann nicht vollständigen Beifall finden; der Gedankengang weist eine Lücke auf, indem ein wesentliches, hierher gehöriges Moment übergangen wird. a ist das folgende: Arbeiten heißt, seine Kräfte anstrengen zur Beschaffung der irdischen Bedürfnisse, besonders des notwendigen Lebensunterhaltes ‚Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen‘. Zwei Eigenschaften wohnen demzufolge der Arbeit inne: sie ist persönlich, insofern die betätigte Kraft und Anstrengung persönliches Gut des Arbeitenden ist; und sie ist notwendig, weil sie den Lebensunterhalt einbringen muß und eine strenge natürliche Pflicht die Erhaltung des Daseins gebietet. Wenn man nun die Arbeit lediglich, soweit sie persönlich ist, betrachtet, wird man nicht in Abrede stellen können, daß es im Belieben des Arbeitenden steht, in jeden verringerten Ansatz des Lohnes einzuwilligen; er leistet eben die Arbeit nach persönlichem Entschluß und kann sich auch mit einem geringen Lohne begnügen oder gänzlich auf denselben verzichten. Anders aber stellt sich die Sache dar, wenn man die andere, unzertrennliche Eigenschaft der Arbeit mit in Erwägung zieht, ihre Notwendigkeit. Die Erhaltung des Lebens ist heilige Pflicht eines jeden. Hat demnach jeder ein natürliches Recht, den Lebensunterhalt zu finden, so ist hinwieder der Dürftige hierzu allein auf die Händearbeit notwendig angewiesen.Wenn also auch immerhin die Vereinbarung zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, insbesondere hinsichtlich des Lohnes, beiderseitig frei geschieht, so bleibt dennoch eine Forderung der natürlichen Gerechtigkeit bestehen, die nämlich, daß der Lohn nicht etwa so niedrig sei, daß er einem genügsamen, rechtschaffenen Arbeiter den Lebensunterhalt nicht abwirft. Diese schwerwiegende Forderung ist unabhängig von dem freien Willen der Vereinbarenden. Gesetzt, der Arbeiter beugt sich aus reiner Not oder um einem schlimmeren Zustande zu entgehen, den allzu harten Bedingungen, die ihm nun einmal vom Arbeitsherrn oder Unternehmer auferlegt werden, so heißt das Gewalt leiden, und die Gerechtigkeit erhebt gegen einen solchen Zwang Einspruch.“)
Leute können sich freiwillig auf Inzest einlassen, das macht ihn auch nicht gut. Bei vielen Dingen ist es wichtig, dass die Leute freiwillig zustimmen (z. B. bei Eheschließung und Arbeitsvertrag; das macht sie erst gültig), aber das heißt nicht, dass man den Inhalt des Vertrags beliebig aushandeln darf.
Der Libertarismus übersieht, dass es Grenzen der Freiwilligkeit gibt. Manche Leute lassen sich leicht überrumpeln oder beeinflussen, oder stimmen etwas aus Not und Überforderung zu, oder werden durch Scheingründe und Schlagworte verführt. Besonders absurd wird der Libertarismus, sobald es um Kinder geht, also abhängige Menschen, die meistens gar nicht wissen können, was gut für sie ist, sprich solche Menschen, mit denen der Libertarismus einfach nichts anfangen kann. Da kommt dann bei Libertären völlig unironisch z. B. die Ansicht heraus, Eltern dürften mit ihren Kindern Handel treiben und sie an den Meistbietenden verkaufen. Umgekehrt sollen dafür die Kinder weglaufen dürfen und sich ein neues Zuhause aussuchen, sobald sie dazu physisch fähig sind, und es wäre Gewalt, wenn die Eltern sie zurückholen. (Es wäre auch interessant, zu wissen, was Libertäre dazu zu sagen hätten, ob Kinder sich freiwillig auf sexuelle Beziehungen einlassen könnten.)
Ich will hier nicht darüber streiten, ob der Libertarismus schon Häresie ist oder nur „nahe an der Häresie“ oder „zur Häresie hinführend“, oder welche der Zensuren, die die Kirche früher für falsche Meinungen vergab, er nun genau verdienen würde. Tatsache bleibt: Der Libertarismus widerspricht der konstanten Lehre der Päpste, und der Bibel, die nach katholischer Lehre frei von jedem Irrtum ist, daher kann kein Katholik libertär sein.
Bei manchen – nicht allen – bloß liberalen Ideen können Leute eher noch nach Schlupflöchern suchen und mit „lässt sich das nicht doch irgendwie mit diesen Enzykliken vereinbaren“ kommen; beim Libertarismus sehe ich nicht, wie auch nur das möglich sein sollte. Und selbst bei den meisten Liberalen ist das Problem, dass sie erst den Liberalismus als Grundsatz hernehmen und dann versuchen, ihn in die Kirchenlehre hineinzuzwängen, statt von der Kirchenlehre auszugehen und zu schauen, was nach dieser Lehre die beste politische, wirtschaftliche, soziale Ordnung sein könnte. Das ist gefährlich.
Zuletzt noch ein paar praktische Gründe gegen den Libertarismus aus meiner Sicht:
Kaum einer will wirklich in einer Welt leben, in der alles ein großer Markt ist. Ich jedenfalls will nicht, dass aus meiner Heimat eine Privatfirma wird. Es ist nicht alles durch den Markt bestimmt, und Menschen verlassen ihre Städte nicht gleich, wenn die Angebote irgendeiner „Privatstadt“ besser sind, weil es nun mal ihre Heimat ist; eine Besitzerfirma könnte also mit sehr viel durchkommen. Der Staat dagegen ist immer noch in gewisser Weise „unserer“ – auch wenn man praktisch keinen Einfluss auf seine Politik hat (was meistens der Fall ist), gehört man hier trotzem zu einer größeren Gemeinschaft, die einen nicht einfach rausschmeißen kann. Jemandem zu verbieten, eine Privatstadt zu betreten, ist sehr viel leichter, als jemandem die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, vor allem, wenn er nur diese eine Staatsbürgerschaft hat. Ein Volk, eine Nation, ein Staat ist mehr als ein Unternehmen.
Der Libertarismus würde nicht mal immer praktische Vorteile bieten in dem Sinne, dass der Markt für beste Preise und Bedingungen sorgen würde. Bei einigen Dingen tut der Markt das, weil es viel Konkurrenz gibt, aber es gibt Monopole, die sich automatisch entwickeln: Straßen, Eisenbahnen, Wasserversorgung. Wenn das örtliche Wasserwerk die Preise extrem erhöht und an Reparaturen spart, werden die wenigstens anfangen, sich einen Brunnen im Garten zu graben und sich Wasserfilter zu kaufen. Und wer in einer Mietwohnung wohnt, hätte höchstens noch die Möglichkeit, Regenwasser in einer Wanne auf dem Balkon zu sammeln – nicht gerade die beste Alternative. Bei solchen Dingen, wo oft auch stetige Aufgabenerfüllung wichtiger ist als Effizienz und technische Verbesserung, ist der Staat tatsächlich besser als der Markt.
Der Staat hat seine Nachteile; aber Großfirmen – die immer entstehen, wenn man den Markt völlig frei lässt – haben auch ihre Nachteile. Haben es Arbeiter bei Amazon denn besser als die Postbeamten beim früheren Staatsmonopol? Sind private Versicherungen großartig und kundenorientiert?
Die totale freie Marktwirtschaft der Libertären ist ebenso eine Illusion wie der Kommunismus. Eigentlich lernt man schon in der Schule in Wirtschaft und Recht, dass ein „vollkommener Markt“, auf dem sich alle nur nach objektiven Vorteilen richten und einen gesamten Überblick über den Markt haben und alle Anbieter die gleichen Chancen haben, nicht existiert.
Und noch ein sehr wichtiger Grund:
Leute hören auch nicht auf, Meinungen zu haben und sie durchsetzen zu wollen, wenn man den Staat abschafft. Es kann genauso ideologische Zensur und Bespitzelung der Nachbarn geben, wenn man in einer „Privatstadt“ lebt. Der Libertarismus ist nicht stabil; er rechnet nicht mit Überzeugungen. Und Überzeugungen, die sich gegenseitig ausschließen, sorgen nun mal dafür, müssen dafür sorgen, dass es Konflikte gibt.
Freiheit ist etwas Gutes; das merkt man gerade dann, wenn man sie nicht mehr hat (z. B. jetzt gerade in vielen Angelegenheiten), oder wenn man nur daran denkt, sie zu verlieren (z. B. wenn man sich vorstellt, entmündigt und in ein Heim gegeben zu werden). Aber man kann sie wie alle guten Dinge – wie Ordnung, wie Sicherheit, wie Barmherzigkeit – nicht verabsolutieren und als einzigen Wert hinstellen.
Kurz gesagt: Freiheit gehört zum Guten; aber Freiheit ist nicht das ganze Gute.