Aber Jesus war doch Jude!

„Aber Jesus war doch Jude!“ Diesen reflexhaft ausgesprochenen Satz kann man öfter mal hören, z. B. dann, wenn es um die Frage geht, wieso es irgendwann christlichen Antisemitismus geben konnte. Aber dabei wird nie ganz klar, was damit gemeint ist.

Ist gemeint: Jesus war Jude im Sinn der Volkszugehörigkeit/Nationalität? Das weiß eigentlich jeder – gut, es gab mal ein paar Nazis, die mit der Verschwörungstheorie um die Ecke kamen, Jesus wäre unehelich von einem römischen (arischen) Soldaten gezeugt worden und somit nur Halbjude, aber da wir nicht mehr im Jahr 1936 leben, kann man die wohl vernachlässigen.

Ist gemeint: Jesus war Jude im Sinn der Religionszugehörigkeit? Und wenn ja: Im Sinn der damaligen oder der heutigen? „Jesus war Jude“ in dem Sinn, dass Er ziemlich genau dasselbe geglaubt hätte wie heutige Juden, kann man nun mal nicht ganz sagen.

Dass Jesus sich selbst für den Messias hielt und beanspruchte, einen Neuen Bund aufzustellen, der den Alten Bund erfüllte, muss man auch anerkennen, wenn man selbst Jesus nicht für den Messias hält. Jesus gründete etwas Neues, und die Juden seiner Zeit spalteten sich dann auf in die, die Ihm und Seinen ersten Anhängern dabei folgten, und die, die Ihn für einen falschen Propheten und Gotteslästerer hielten. (Das ist übrigens viel logischer, als Jesus für einen netten Rabbi und weiter nichts zu halten; Jesus beanspruchte weit mehr, und entweder war Er wirklich Gottes Sohn oder ein schlimmer Gotteslästerer.)

Oft schwingt in dem Satz „Jesus war doch Jude“ unterschwellig die Idee mit: Er wollte doch bestimmt keine neue Religion gründen, war halt ein Rabbi innerhalb des Judentums, der dann von Seinen Anhängern so aufgebauscht wurde. Und diese Idee ist lächerlich falsch. In den Evangelien hat man keine vagen Erinnerungen an einen weisen Meister, sondern die klar hervortretende Persönlichkeit eines Mannes, der Seine Jünger zu einer Aufgabe beruft und aussendet, und der klare Ansprüche über Seine eigene Sendung aufstellt, die viel zu unglaublich wirken, als dass andere sie Ihm einfach zuschreiben würden (ja, Er beanspruchte, Gottes Sohn zu sein, Er sagte „Ehe Abraham wurde, bin ich“, und beanspruchte die Vollmacht, Sünden zu vergeben), und die Seine Gegner empören und zu Seiner Hinrichtung führen. Wieso, denken manche Leute, hätte man Ihn hinrichten sollen, wenn Er bloß ein gewöhnlicher Rabbi gewesen wäre, und man Ihn keiner Gotteslästerung für schuldig befunden hätte? Denn eine Bedrohung für die weltliche Macht stellte Er in keiner Weise dar; nach allem, was wir von Ihm wissen, kümmerte er sich nicht groß um Politik und forderte die Leute nur mal dazu auf, brav ihre Steuern zu zahlen („dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“). Auch jüdische Berichte über sein Leben, wie die einige Jahrhunderte nach seiner Lebenszeit entstandene „Toledot Jeshu“, stellen Ihn übrigens als Wundertäter (durch seltsame unlautere Mittel, wie z. B. die Kenntnis eines geheimen Gottesnamens, der Ihn Wunder tun lässt) und Messiasprätendenten dar.

Und auch wenn wir mal von alldem absehen, und uns nur die Religion ansehen, wie sie Jesu Familie und Seine späteren Anhänger praktizierten, bevor Er als Messias auftrat und starb und auferstand, muss man sagen, dass sie nicht einfach komplett identisch mit der heutigen jüdischen Religion ist; es gab seitdem auch eine Weiterentwicklung im Judentum.

Die damalige jüdische Religion war auf den Tempel und die Opferrituale dort zentriert; der Tempel wurde 70 n. Chr. zerstört und im Judentum haben seitdem notgedrungen die Synagoge und die „Wortgottesdienste“ der Rabbis die Opferzeremonien der Priester und Leviten ersetzt. Dann wäre da die Rolle des Talmuds, einer Sammlung von Aussagen und Diskussionen bekannter jüdischer Gelehrter, die in der Spätantike zusammengestellt wurde. Der Talmud wurde ganz entscheidend für die Auslegung des Alten Testaments im Judentum, zur Zeit Jesu existierte er noch gar nicht. (Und im Talmud finden sich übrigens auch ein paar sehr beleidigende Äußerungen über Jesus, da er zu dieser Zeit ja schon als der falsche Prophet par excellence galt. Auch im Achtzehnbittengebet, das religiöse Juden dreimal täglich beten, wurde um 100 n. Chr. eine Verwünschung der Christen („Nazarener“) eingefügt.) Natürlich entwickelten sich auch noch Äußerlichkeiten und Bräuche weiter, wie man das überall findet, aber auch die jüdische Theologie entwickelte sich im Lauf der Zeit, auch nach der Abfassung des Talmud noch. Man sieht z. B. bei spätantiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Theologen eine stärkere Betonung der jüdischen Auserwähltheit als noch im Alten Testament. Im Mittelalter entwickelte sich auch die Kabbala, die auch einen gewissen Einfluss hatte. Im Judentum gibt es heute auch Lehren über die Wiedergeburt, und das ist keine ganz randständige Idee. Die Jenseitsvorstellungen unterscheiden sich oft mehr von denen der Christen, als man das erwarten würde. (Wobei es im Judentum zu vielen Fragen ja auch große Uneinigkeit gibt.)

Kurz gesagt: Das heutige Judentum ist komplizierter als einfach nur „Altes Testament ohne Neues Testament“. Unabhängig davon, ob man diese theologische Entwicklung bejaht oder sie ablehnt, es gab sie nun mal. (Am ehesten vertritt die heute ziemlich winzige, früher etwas einflussreichere Gruppe der Karäer, die den Talmud ablehnen, eine Form des Judentums, die einfach Altes ohne Neues Testament ist.)

Die Aussage „Jesus war doch Jude!“ wird manchmal dazu gebraucht, zu vermitteln, wie absurd die historische Feindseligkeit von Christen gegenüber dem Judentum gewesen sei. So einfach ist es damit aber auch nicht geklärt; die Leute „früher“ wussten schon, dass sie sich um etwas Reales stritten (manchmal mit recht heftigen Mitteln und großer Feindseligkeit), nämlich darum, was dieser Jude Jesus bedeutete.

Die jüdisch-christlichen Beziehungen im Lauf der Geschichte sind nicht ganz einfach auf einen Nenner zu bringen, selbst wenn man nur Gruppendynamiken anschaut und Individuen ignoriert. Die beiden Gruppen waren sich schon bei ihrer Aufspaltung – als sich wohl viele Angehörige des jüdischen Volkes noch nicht mal ganz sicher waren, ob sie diesem Jesus oder den jüdischen Autoritäten folgen sollten – bald spinnefeind. Der jüdische Hohe Rat ließ die Apostel auspeitschen, Stephanus steinigen, später noch Jakobus töten; noch beim Bar-Kochba-Aufstand im 2. Jahrhundert gingen jüdische Eiferer gewaltsam gegen Christen vor. Die Christen wiederum waren erwartbarerweise nicht gut auf diejenigen Juden zu sprechen, die Jesus ablehnten, und bezeichneten die Zerstörung des jüdischen Tempels im Jahr 70 n. Chr. und die Zerstreuung der Juden als göttliche Strafe dafür.

Die Machtverhältnisse änderten sich langsam, nachdem die Juden mit den beiden verlorenen Aufständen gegen die Römer ihren Tempel und ihre Heimat verloren hatten. Nach diesen desaströsen Kriegen (135 n. Chr. war der zweite zu Ende) waren sie eine heimatlose zerstreute Minderheit im Römischen Reich (und den Ländern darum herum), aber immerhin noch eine zahlenmäßig große Minderheit, deren Religion offiziell toleriert war, während das Christentum noch verfolgt wurde. Das Christentum gewann allerdings immer mehr Anhänger (nicht nur Heiden, sondern auch immer noch so einige Juden) und wurde Anfang des 4. Jahrhunderts schließlich legalisiert und von den Kaisern bald favorisiert. In dieser Zeit, als beide Religionen jetzt legal waren, kann man durchaus noch solche Vorkommnisse beobachten wie zum Beispiel, dass Juden eine Kirche anzünden und als Rache dafür Christen eine Synagoge niederbrennen; man war sich eher feindselig gesonnen. (Vielleicht auch deshalb, weil das Christentum doch relativ viele Juden abspenstig machte: Zur Zeit Jesu gab es ca. 5-6 Millionen nicht-christliche Juden im Römischen Reich, ein paar Jahrhunderte später nur noch etwa eine Million.)

Das Christentum gewann immer mehr Anhänger und Einfluss, auch nachdem die kleinen Fürstentümer der Germanen im Westen das Römische Reich abgelöst hatten, und war schließlich die einzige Seite, die wirklich eine Verfolgerposition hätte einnehmen können. (Mit wenigen Ausnahmen; im Frühmittelalter hat man z. B. noch einen südarabischen Fürsten, der zum Judentum konvertiert war und Christen umbringen ließ.) Im Hoch- und Spätmittelalter hat man in Europa die Situation, dass die Juden eine eher kleine, abgegrenzt im Ghetto lebende Gemeinschaft sind, die gesetzlich toleriert, aber nicht gerade besonders beliebt ist und gegen die es auch mal spontane Pogrome durch die Stadtbevölkerung geben kann (was übrigens kirchlicher- und staatlicherseits verurteilt wurde). Die Abneigung war auch da immer noch gegenseitig; und z. B. die Anschuldigung, dass die Juden bei der maurischen Eroberung Spaniens, und bei der spanischen Rückeroberung, ab und zu den Mauren halfen, ist wohl nicht ohne Grundlage. Das ist nicht ganz unlogisch; sie sahen die Christen als besondere Gotteslästerer und hatten in deren Gesellschaft ja auch sonst nicht viel zu erwarten, standen immer am Rand. Die Grundlage der mittelalterlichen Gesellschaft war der katholische Glaube, und eine wirkliche Zugehörigkeit konnten auch tolerierte Andersgläubige, wie die Juden im Ghetto oder die Muslime in den Kreuzfahrerstaaten, nicht haben. (Eine „jüdisch-christliche“ Kultur gab es in Europa nie, sondern immer eine christliche Mehrheitskultur und eine jüdische Minderheitskultur, die einander nicht nur feind, sondern oft auch ganz fremd waren. Interessanterweise mögen manche Juden den in gewisser Weise vereinnahmenden Begriff der „jüdisch-christlichen Kultur“ gar nicht.)

Sowohl vorher in der Antike als auch noch im Mittelalter bestand die Auseinandersetzung übrigens nicht nur aus gewalttätigen Aktionen und politischen Intrigen, sondern auch aus intellektuellen Auseinandersetzungen. Ein mittelalterliches Beispiel wäre die Disputation von Paris am 12. Juni 1240. Nicholas Donin, ein Konvertit vom Judentum zum Christentum und Franziskanermönch, hatte erstmals den Talmud übersetzt und Vorwürfe über die darin enthaltenen Angriffe gegen Jesus und Maria (und ein paar andere Stellen) aufgestellt. Bei der Disputation diskutierte er mit vier Rabbis, die den Talmud verteidigten. (Das Ende der Geschichte war, dass zwei Jahre später jüdische Bücher wie der Talmud öffentlich verbrannt wurden. Die Kirche hatte bisher nicht viel über eigene Auslegungstraditionen der jüdischen Seite gewusst.) Auch über die Frage, welche Gründe für oder gegen Jesus als Messias sprachen, wurde natürlich immer mal wieder diskutiert. Die Juden meinten z. B., er habe nicht das endgültige, vollkommene Königreich Gottes aufgerichtet; die Christen antworteten darauf, dass im Alten Testament, wenn es um den Messias geht, sowohl vom leidenden Gottesknecht, der sein Leben hingibt (s. z. B. Jesaja 53) die Rede ist, als auch vom König, der in Herrlichkeit kommt, und dass der Messias deswegen zweimal kommen müsse, einmal leidend, später dann triumphierend, und verwiesen au durch Jesus erfüllte Prophezeiungen. Außerdem wiesen sie auf die Wunder Jesu hin; Juden erklärten diese Wunder zwar nicht für nichtexistent, aber für Hexerei und Teufelswerk und Jesus für einen Betrüger. Aus christlicher Sicht waren die Juden von Gott abgefallen, als er nicht mehr ihren weltlichen Vorstellungen entsprach, aus jüdischer Sicht waren die Christen einem Irrlehrer hinterhergelaufen und praktizierten Götzendienst.

[Vielleicht an dieser Stelle noch kurz eine Bemerkung zum Thema: „Wer ist schuld am Tod Jesu?“ Auch früher (z. B. im Römischen Katechismus aus dem 16. Jahrhundert) sagte die Kirche klipp und klar, dass im wichtigsten Sinn alle Menschen durch ihre Sünden verantwortlich für den Tod Jesu sind, Heiden wie Juden; und dass die Schuld der Christen u. U. größer sein kann, weil sie wissen, was das Richtige wäre und dass wegen ihrer Sünden Jesus ans Kreuz ging. Wenn man die Leute ansieht, die zusätzlich noch direkt an seiner Kreuzigung damals beteiligt waren, waren es Juden (nicht „die Juden“, aber eben einfach „Juden“), die Seinen Tod wollten und ihre Forderung bei Pilatus durchsetzten; der Römer Pilatus war ein feiger Mensch, der bereit war, einen erkennbar unschuldigen Menschen hinrichten zu lassen, um dem einflussreichen Hohen Rat entgegenzukommen; beides Schuld, und beides eine unterschiedliche Sorte Schuld. Jesus sagte über sie alle: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Ähnliches Unwissen wird man evtl. denen zuschreiben können, die auch später noch Jesu Kreuzigung für eine gerechte Strafe hielten, wie z. B. den Autoren des Talmuds.]

Diese Zeit bot bekanntlich noch andere Nachteile für die Juden. Oft durften sie keinen Grundbesitz haben, und auch nicht den Zünften beitreten (die religiöse Vereinigungen waren, die ihre eigenen Schutzpatrone hatten und für ihre verstorbenen Mitglieder Messen lesen ließen), und wurden in die paar anderen verbliebenen Berufe abgedrängt, wozu u. a. der des Geldverleihers gehörte (wenn auch nicht nur; ein Jude konnte z. B. auch Arzt werden). Dazu kam, dass die Kirche den Christen die Zinsnahme verbot und Juden von ihren jüdischen Brüdern keinen Zins verlangen durften; die pragmatische Lösung war oft, dass sich Christen von Juden Geld für Zinsen liehen, und oft nicht unbedingt geringe Zinsen. Die Rolle des Geldverleihers war keine schöne; man konnte damit reich werden, aber auch die Wut der Schuldner auf sich ziehen, die sich, nicht immer ohne Grund, ausgebeutet fühlten und vielleicht auch mal mit Gewalt reagierten. Abgesehen von den sporadischen Gewaltakten, die von Päpsten, Bischöfen, Kaisern verurteilt wurden, gab es auch immer wieder offizielle Ausweisungen der Juden aus verschiedenen Städten, Regionen oder ganzen Ländern, sodass sie sich irgendwie eine neue, vielleicht auch nur vorübergehende, Heimat suchen mussten.

Im späten 18., im 19., im frühen 20. Jahrhundert, als sich die westlichen Gesellschaften säkularisierten, blieb dieser Grund für Abneigung gegen Juden; sie wurden als sich bereichernde, privilegierte Elite gesehen, außerdem weiterhin als eine sich absondernde Parallelgesellschaft, die sich einfach nicht mit den Grundsätzen der Gesellschaft identifizierte und auf deren Loyalität man sich deswegen nie verlassen konnte. Manche Juden reagierten darauf damit, zu erklären, dass sie ebenso gute Deutsche oder Franzosen sein konnten wie jeder andere, auch mit einer anderen Religion, viele nahmen damit zusammenhängend eine liberale Einstellung an, wonach man religiöse Unterschiede nicht zu wichtig nehmen sollte, und befürworteten säkularere Politik (eine Tendenz, die viele Christen natürlich noch mehr ablehnten als das streng religiöse Judentum). Andere sagten, ja, die Juden seien eine eigenständige Nation, und deshalb sollten sie ihren eigenen Staat haben, damit diese Situation endlich geklärt wäre; der Zionismus entstand. Kurz gesagt: Man hatte auch hier noch einfach zwei Gruppen, die jetzt – nachdem die Ghettos verschwunden waren und Juden gleiche politische Rechte bekommen hatten – ein wenig enger zusammenlebten, zu wenig gemeinsame Grundsätze für ein Zusammenleben hatten, und an ein langes Gegnertum gewöhnt waren.

Der Nationalsozialismus (und Vorläuferideen) brachten dann eine recht neue Idee hinein, den auf Rasse basierenden Hass gegen die Juden. Nach dieser Ansicht waren sie praktisch determiniert dazu, Schaden anzurichten, und eine Konversion zum Christentum (oder wozu auch immer) machte keinen Unterschied. Das war weit entfernt von den religiösen Streitigkeiten; und obwohl man die Päpste dieser Zeit sicher nicht als die größten Zionisten bezeichnen kann, ließ Pius XII etliche Juden verstecken und vor der Deportation durch die Nazis retten. Nach dem Schock des Holocausts – vor allem ab den 1960ern, als sich der erste Schock gesetzt hatte – wollte man dann freundlicher zueinander sein und irgendwie Dialog und Zusammenarbeit haben, auch wenn vielleicht nicht so ganz klar war, wie.

Miteinander menschlich gut auskommen zu wollen, sich gegenseitig als normale Menschen statt als Feindbilder zu sehen, ist ja auch sehr lobenswert; aber wenn man dabei möglichst krampfhaft verschweigt, wobei man sich in den letzten zwei Jahrtausenden nicht einig war, ist auch niemandem geholfen. Wenn man denkt, man kann sich nur gegenseitig als Menschen sehen, wenn man alle Uneinigkeiten über wichtige Fragen beiseite schiebt, na ja, das ist eine komische Vorstellung.

Juden und Christen sind sich einfach nicht einig dabei, ob Jesus der Messias ist, und ehrliche Auseinandersetzungen darüber wären hilfreicher als Verschweigen. (Ich habe auch den Verdacht, dass oft die eine Seite die Argumente der jeweils anderen Seite gar nicht wirklich kennt, und manchmal nicht mal die der eigenen.) Die Juden und Christen früherer Zeiten waren auch nicht so blöd, dass sie sich wegen Nebensächlichkeiten die Köpfe eingeschlagen hätten. Nein, wer der Messias ist, was Gott von uns will, wozu Gott die nichtjüdischen Völker beruft, usw. usf., das alles sind wichtige Fragen (die man idealerweise ohne Köpfeeinschlagen klären kann). Und dass Jesus aus dem jüdischen Volk stammte, wussten sowohl Juden als auch Christen auch früher schon, da muss man nicht als Gotcha „Jesus war übrigens Jude!“ rufen. Die Christen warfen den Juden ja gerade vor, dass sie den Messias, der aus ihrem Volk kam und an erster Stelle zu ihrem Volk gesandt war, abgelehnt hatten (wobei es genau genommen ja so war, dass die große Mehrheit der Juden schon in der Antike Christen wurde und in der Kirche aufging, was später nur nicht mehr weiter auffiel), während die Juden Jesus als einen Verräter an der Religion seines Volkes sahen, als jemanden, der sich gegen den Willen Gottes selbst zum Messias ernannt hatte und Leichtgläubige dazu brachte, ihn anzubeten.

Einen ganz seltsamen Mittelweg hat neuerdings eine theologische Strömung im Christentum versucht zu finden, die behauptet, dass Gott sozusagen zwei Bünde mit der Menschheit am Laufen hat; für die Juden gelte der Alte Bund noch (mit Beschneidung und Mosaischem Gesetz usw.), sie müssten nicht unbedingt Jesus anerkennen oder sich taufen lassen – aber er sei trotzdem Gottes Sohn und zumindest für die Heiden gekommen. Damit würde man aber ja gerade sagen, dass der Messias gerade für die, die am längsten auf ihn gewartet hatten, nicht wirklich gekommen wäre; dabei ging Jesus selber zuerst zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“, bevor Er Seine Jünger zu allen Völkern sandte. Wer „Judenmission“ ablehnt, will im Endeffekt den Messias den Heiden vorbehalten. Wenn Gott einen Neuen Bund aufstellt, macht es auch keinen Sinn, beim Alten bleiben zu wollen, als wüsste Gott nicht, was Er tut. Und was sagt man damit den vielen Judenchristen, die das Gesetz des Mose aufgegeben haben – allen voran mal den Aposteln? Hätten Sie zu Jesus sagen sollen: Ach, nein danke, wir haben schon den Alten Bund, dich brauchen wir jetzt nicht unbedingt? Und schließlich: In welche Situation bringt das die Juden, die Jesus nicht nur kaum kennen oder ihm gegenüber gleichgültig sind, sondern Ihn wirklich klar ablehnen? Auch die würden kaum sagen, ja, ja, der könne schon Messias sein, aber eben nur für die Heidenvölker. Sie sagen klipp und klar, Er sei nicht der Messias, für niemanden.

Kurz: Man kann hier keinen Kompromiss finden, mit dem alle zufrieden sind, ohne ihre Ansichten ändern zu müssen. Manche Uneinigkeiten müssen zwangsläufig bestehen bleiben. Zumindest so lange, bis alle endlich sehen, dass Jesus der Messias ist.

Nikolai Koshelev, Kopf Christi.

13 Gedanken zu “Aber Jesus war doch Jude!

  1. „Interessanterweise mögen manche Juden den in gewisser Weise vereinnahmenden Begriff der ‚jüdisch-christlichen Kultur‘ gar nicht.“

    Das halte ich für absolut nachvollziehbar und berechtigt. Wenn ich Sie richtig verstehe, liebe Crescentia, teilen Sie das mit Verweis auf die historische longue durée.

    Ich würde dem noch etwas hinzufügen wollen. Dieser Begriff ist nämlich ein treffender Ausdruck davon, was Eike Geisel mal als „Wiedergutwerdung der Deutschen“ bezeichnet hat.

    Provokant gesagt:

    Wir können als Deutsche nicht 6 Millionen Juden umbringen – egal, ob sie liberale, assimilierte Frankfurter oder Bürger aus dem Schtetl im Rayon sind – und dann einfach mal zwei, drei Generationen später in politischen Sonntagsreden ein „jüdisch-christliches“ Europa konstruieren, quasi ein mitteleuropäisches Disneyland des Kulturaustausches, wie es angeblich das muslimische Spanien gewesen ist.

    Der Begriff ist in der Tat vereinnahmend, und zwar auf die übelste Art. So kann man die Aschehaufen, die wir angerichtet haben, mit einem weißen Taschentuch zudecken.

    (In diesen Zusammenhängen verwende ich ganz bewusst ein „wir“, weil ich immer wieder den Verdacht hege, dass ein guter Teil unserer ‚Erinnerungskultur‘ und ‚nie-wieder‘-Rhetorik ein perfektes Mittel ist, um einer echten Auseinandersetzung mit dem Grauen, das wir veranstaltet haben, aus dem Weg zu gehen.)

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    1. Na ja, ich finde es tatsächlich z. B. nicht so sinnvoll, „wir“ zu sagen, wenn es um Dinge geht, die keiner hier auch nur miterlebt hat. So was wie Kollektivschuld gibt es nun mal nicht. Und ich finde auch, man kann nicht sagen, dass es keine jüdisch-christliche Kultur gab, hat gleich mal zum Holocaust geführt. Ich habe mich nicht auf eine „longue durée“ bezogen, Mittelalter und 20. Jh. waren in der Hinsicht doch schon zu verschieden, oder?

      Aber klar, ich finde den Begriff schon auch vereinnahmend ggü. den Juden, und halt einfach falsch. (Und Kulturaustausch ist eh normalerweise nicht Disneyland.)

      – Crescentia.

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      1. „Und ich finde auch, man kann nicht sagen, dass es keine jüdisch-christliche Kultur gab, hat gleich mal zum Holocaust geführt.“

        Liebe Crescentia, vielen Dank für Ihre Antwort – wenn Sie mir aber Widerspruch erlauben: Ich habe nicht gesagt, die Ursache des Holocaust sei, dass es keine christlich-jüdische Kultur gegeben habe, und ich weiß offen gestanden auch nicht, wo man aus das aus meinem Beitrag herauslesen könnte. Es ging mir allein um den unreflektierten politischen Gebrauch, wie man ihn besonders in den letzten 20 Jahren beobachten konnte. Ich gehöre nicht zu der Fraktion, die aus dem Antisemitismus eines Martin Luther die Shoa ableitet.

        Sie haben natürlich recht, dass es keine „Kollektivschuld“ gibt. Aber sind Sie wirklich dieser Meinung? – Zumindest wenn man in Politik und Medien schaut, wird zumindest häufig so argumentiert und gehandelt, als gäbe es eine solche. Aber das ist eigentlich auch nicht der springende Punkt. Die Nachgeborenen haben die Verbrechen natürlich nicht begangen und nicht miterlebt. Aber eine kollektive Verantwortung und ein kollektives vererbtes Trauma qua Geburt, das gibt es meiner Meinung nach schon. Vor allem mit der kollektiven Verantwortung wird inzwischen ja ziemliches Schindluder getrieben.

        Drei Generationen, die seitdem vergangen sind, sind in der Geschichte nichts (vielleicht ist das aber nur die déformation professionelle des Althistorikers). Jetzt setze ich noch mal das ganz bewusst das „wir“ (nicht im Sinne von „Crescentia und Sokleidas“): Ich glaube, „wir“ haben eigentlich noch gar keine richtige Ahnung davon, was im 20. Jahrhundert kaputt gegangen ist. „Wir“ sind mit der Unverzeihbarkeit der Shoa noch nicht mal ansatzweise fertig geworden.

        Ich weiß natürlich, dass meine Ausführungen nicht so differenziert sind, wie sie es sein sollten. Vielleicht sollten es die Leser, die meinen Blick auf die deutsche Gesellschaft in dieser Angelegenheit nicht nachvollziehen können, es dabei bewenden lassen, dass ich da eine ziemliche Last mit mir herumschleppe und ich hier mit ganz persönlichen Belangen herumspame.

        Herzlichst,
        Ihr Sokleidas

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      2. Es tut mir leid, dass ich so spät antworte – stressige Woche – ich bin mir auch nicht sicher, was ich antworten soll. Ja, drei Generationen sind definitiv eine kurze Zeit, aber, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Menschen konnten immer sehr böse sein, es gab schon einige Völkermörde (Haman damals konnte seinen Völkermord an den Juden sogar wesentlich offener planen als Hitler), und ich bin mir ziemlich sicher, dass es auch in Zukunft noch Völkermorde geben wird. Menschen sind böse, und ich habe offen gestanden keine Ahnung, wie man das am besten – wie sagt man? – „aufarbeitet“.

        – Crescentia.

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      3. Liebe Crescentia, vielen Dank für Ihre Antwort und für Ihre tolle Arbeit – da macht es auch nichts, wenn Sie mal eine Woche keine Zeit haben.

        „Menschen sind böse, und ich habe offen gestanden keine Ahnung, wie man das am besten – wie sagt man? – ‚aufarbeitet‘.“

        Sie haben vollkommen recht. Es so einfach und so schrecklich zugleich.

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      4. Die sich zurecht finden wollende Abteilung des Hirns schreit: „Wenn sie wenigstens böse wären!“

        Tatsächlich ist es natürlich so, was das ganze vielleicht auch erst so grauenvoll da unverständlich macht, daß die Menschen insgesamt so böse gar nicht sind, eigentlich ganz (nur eben nicht „ganz-ganz“) nette Leute sind, *und trotzdem* der ganze Scheiß passiert. Und das ist natürlich dann doch besser, als wenn sie alle abgrundböse wären… aber schwieriger.

        „Es kànnt so schee sei, wenn oiß mecht; der Mensch ist guat. Bloß d’Leut sàn schlecht.“ (Michl Ehbauer)

        „The Earth: Mostly Harmless.“ (Douglas Adams, der abgekürzte Eintrag zur Erde aus dem Hitchhiker’s Guide to the Galaxy)

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  2. Verbesserungsvorschlag: Die Passage

    „gut, es gab mal ein paar Nazis, die mit der Verschwörungstheorie um die Ecke kamen, Jesus wäre unehelich von einem römischen (arischen) Soldaten gezeugt worden und somit nur Halbjude, aber da wir nicht mehr im Jahr 1936 leben, kann man die wohl vernachlässigen.“

    scheint mir sowohl in Ton als auch Inhalt schlecht.

    Ton: Zu herablassend den „paar Nazis“; ferner Gebrauch des CIA-Kampfbegriffes „Verschwörungstheorie“ (der außerdem noch inhaltlich unzutreffend ist, denn es handelt sich ja nicht um die Behauptung irgendeiner Verschwörung, sondern um eine Tatsachenbehauptung (Vaterschaft usw.).

    Inhalt: Die Behauptung, Jesus sei Sohn einer jüdischen Hure und eines römischen Soldaten haben sich nicht die „Nazis“ ausgedacht, sondern das behauptet bekanntlich der Talmud in Verbindung mit (nur als Zitat in Origines erhaltenen) schriftlichen Behauptungen des heidnischen Philosophen Celsus. (Da der Talmud im obigen Artikel vorkommt, diese Verbindung aber nicht, scheint besonders verbesserungsbedürftig). Das ist allgemein bekannt und ausgiebig dokumentiert. Z.B. in

    https://en.wikipedia.org/wiki/Panthera_(Jesus%27s_father)
    https://en.wikipedia.org/wiki/Jesus_in_the_Talmud
    • Peter Schäfer, Jesus in the Talmud, Princeton University Press 2007, ISBN 9780691129266; vor allem Seite 21, wo steht „The most pungent counterargument against the evangelists‘ narrative is, of course, the assertion of Jesus‘ illegitimate birth from an adulterous mother and some insignificant lover. It parries the claim of Jesus‘ noble Davidic lineage to which the New Testament attaches such great value [..] No, the Jewish counternarrativ argues, this is all nonsense; he is anything but of noble origins. His father was by no means a descendant of David but the otherwise unknown Panthera/Pandera (just a Roman soldier [i.e., probably ‚Aryan‘ in some vague sense LG,I], according to Celsus, in other words a non-Jew and a member of the hated Roman Empire that so visibly and horribly oppressed the Jews).

    Genauergesagt ist die Grundlage dieser Behauptung nicht nur BabylonischerTalmud + Celsus, sondern sogar zusätzlich noch einige palästinensiche rabbinische Texte ausserhalb des Babylonischen Talmud. [Schäfer 2007] gibt dazu Details z.B. auf S. 141, und fasst das auf S. 19 op. cit. so zusammen: „The only difference between the versions in the Talmud an in Celsus is the fact that Celsus makes it explicit that the child, born from the poor Jewish adulteress and the soldier Panthera, was the very Jesus whom the Christians regard as the founder of their faith, whereas the. Talmud keeps silent about the proper name of the child. But this does not pose a real problem because tthe Talmud, as we have seen, is not concerned about the identity of the child but about the strange phenomenon of two different names used for his father. Moreover, several [Palestinian LG,I] rabbinic sources do mention Jesus as the son of Pandera, and it can be safely assumed, therefore, that the Talmud presupposes the knowledge of this identity. The punch line of this attribution, of course, is the fact that Jesus, through his father Panthera/Pandera, becomes not only a bastard but even the son of a non-Jew.“ [Schäfer 2007; p.19]

    LG,I

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    1. Der Absatz war schlecht formuliert, das stimmt – hier ging es mir erst mal drum, dass in jüngerer Zeit praktisch niemand mit so einer Behauptung Jesu jüdische Nationalität leugnen wollte. Und „Verschwörungstheorie“ habe ich eher so umgangssprachlich im weiteren Sinn von „Erfindung“ verwendet 😉 Aber ja, war etwas unverständlich geschrieben.

      – Crescentia.

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