Die frühen Christen (bis 200 n. Chr.), Teil 10a: Die Auferstehung des Fleisches

Wer wissen will, was es mit dieser Reihe auf sich hat, möge bitte diese kurze Einführung hier lesen; knapp gesagt: ich habe Zitate aus christlichen Schriften vom Jahr 95 bis ca. 200 n. Chr. gesammelt, um einen Eindruck von der frühen Kirche zu vermitteln. (In der Einführung findet sich eine Liste mit allen herangezogenen Werken mitsamt ihrer Datierung.)

Alle bisher veröffentlichten Teile gibt es hier.

Bibelstellen zum Vergleich (Auswahl): 1 Kor 15; Ez 37,1-14; Lk 24,38-43; Joh 11,24; 2 Tim 2,18; Mt 27,52f.; Joh 12,24; 1 Kor 6,14-20.

Die ersten Christen redeten wesentlich häufiger als die heutigen über das Thema der „Auferstehung des Fleisches“ – mittlerweile ist ja sogar in der deutschen Übersetzung des Credos der Ausdruck „Auferstehung des Fleisches“ durch „Auferstehung der Toten“ ersetzt worden, was nicht direkt falsch, aber doch verschleiernd ist. Viele Christen sind sich heute gar nicht mehr so bewusst, dass wir eigentlich an mehr glauben als ein Weiterleben der Seele. Aber doch, das tun wir. Der Mensch besteht aus Körper und Seele, beides für sich ist unvollständig. Die Seele – da nicht materiell, nicht aus Teilen bestehend, also nicht zerstörbar – ist unsterblich und lebt weiter, wenn der Körper sich von ihr trennt und zerfällt. Sie wird gleich nach dem Tod gerichtet und kommt entweder in den Himmel (= zur beseligenden Anschauung Gottes) oder in die Hölle (bzw. vor dem Eintritt in den Himmel evtl. noch für eine Reinigungszeit ins Fegefeuer). Aber am Jüngsten Tag wird Gott auch die Körper wieder herstellen – in verwandelter Weise, jetzt unzerstörbar – und sie werden sich wieder mit den zu ihnen gehörenden Seelen vereinigen, sodass die Menschen wieder vollständig sind. Das Gericht über alle Menschen wird noch einmal öffentlich gemacht werden, und die einen werden dann mit Seele und Leib in der Hölle und die anderen mit Seele und Leib im Himmel sein.

Die frühen Christen machten immer wieder deutlich, dass es ihnen eben um eine wirkliche, leibliche, wundersame Auferstehung geht, so wie Jesus schon den Anfang gemacht hat, der auch mit Seele und Leib auferstanden ist, und seine Menschheit (aus Seele und Leib bestehend) mit in den Himmel genommen hat. (Die Evangelien zeigen das ja auch immer wieder: Jesus zeigt den Jüngern nach seiner Auferstehung, dass er eben kein bloßer Geist ist, sondern angefasst werden kann und sogar essen kann.)

Jetzt also die frühchristlichen Texte dazu:

Papst Clemens von Rom schreibt um 95 n. Chr.:

„Erwägen wir, Geliebte, wie der Herr fortwährend uns zeigt, dass es eine künftige Auferstehung geben werde, zu deren Anfang er den Herrn Jesus Christus selbst machte, da er ihn von den Toten erweckte.“ (1. Clemensbrief 24,1)

Im sog. 2. Clemensbrief, der aber vielleicht nicht von Clemens stammt, sondern ein paar Jahrzehnte später entstanden ist, heißt es:

„Und keiner von euch sage, dass dieses Fleisch nicht gerichtet wird und nicht aufersteht. Bedenket, worin seid ihr erlöst worden, worin ging euch das Licht auf, wenn nicht während eures Wandels in diesem Fleische? Deshalb müssen wir dieses Fleisch behüten wie einen Tempel Gottes. Wie ihr nämlich im Fleische berufen worden seid, so werdet ihr auch im Fleische (zu ihm) kommen. Wenn nämlich Christus, der Herr, unser Erlöser, der zuerst Geist war, Fleisch geworden ist und so uns berufen hat, so werden auch wir in diesem Fleische unseren Lohn bekommen.“ (2. Clemensbrief 9,1-5)

Tatian schreibt ca. um 170 n. Chr.:

„Und deshalb hegen wir den Gauben, daß nach der Vollendung aller Dinge auch die Leiber auferstehen werden, nicht, wie die Stoiker meinen, indem nach bestimmten zyklischen Perioden dieselben Dinge immer wieder zwecklos entständen und vergingen, sondern überhaupt nur einmal, nach Vollendung der gegenwärtigen Zeit, und zwar dazu, um einzig und allein die Menschen des Gerichtes wegen zu versammeln. Es richten uns aber nicht Minos und Rhadamanthys, vor deren Tod, wie man fabelt, keine Seele gerichtet worden sei, sondern Richter wird Gott der Schöpfer selbst sein. Mögt ihr uns auch für Schwätzer und Possenreißer halten, uns kümmert das nicht, da wir dieser Lehre Gauben geschenkt haben. Denn wie ich nicht war, bevor ich wurde, und deshalb auch nicht wußte, wer ich sein würde, sondern nur potentiell in der fleischlichen Materie existierte, dann aber, da ich ja nicht von Anfang an war, erst infolge meiner Geburt die Überzeugung von meiner Existenz erlangte: ebenso werde ich, der Gewordene und durch den Tod wieder Ausgelöschte und von keinem mehr Erschaute, abermals sein, wie ich ja dereinst, da ich nicht von Anfang an existiert habe, auch erst zum Leben geboren werden mußte. Ob auch Feuer mein Fleisch vernichte, das All nimmt die in Dampf verwandelte Materie auf; ob ich in Strömen oder in Meeren zugrunde gehe oder von wilden Tieren zerfleischt werde, in der Schatzkammer eines reichen Herrn werde ich geborgen. Der arme Gottesleugner freilich kennt die dort niedergelegten Schätze nicht; Gott aber, der Herrscher, wird, wann er will, die ihm allein sichtbare Potenz in den früheren Zustand zurückversetzen.“ (Tatian, Rede an die Bekenner des Griechentums 6)

Interessant sind auch die Paulusakten, die wohl aus der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts stammen, und die auch den apokryphen sog. 3. Korintherbrief enthalten, der nicht von Paulus stammt, aber dessen Autor auch einige Stellen aus den kanonischen Paulusbriefen mehr oder weniger übernimmt. Damals hatten verschiedene gnostische Sekten einige Anhänger; die Gnostiker waren Esoteriker, die der Meinung waren, dass man durch ein bestimmtes Wissen aus der Welt erlöst würde, und die die materielle Schöpfung für das Werk von untergeordneten Wesen, nicht Gott, hielten, und alles Materielle für schlecht hielten. Die christlichen Gnostiker, die auch diese besondere Figur Jesus für sich beanspruchen wollten, aber eigentlich sonst nicht sehr viel mit den anderen Christen gemeinsam hatten, behaupteten, Jesus wäre zwar ein überirdisches Wesen, aber wäre nicht wirklich Mensch geworden, sondern nur in einer menschlichen Gestalt erschienen (sog. Doketismus), und lehnten das Alte Testament, das Gott als Schöpfer der Welt bezeichnet, ab. Der Autor von 3 Korinther hielt es offenbar für nötig, einen noch deutlicheren Text als die schon vorhandenen neutestamentlichen Texte zu produzieren, und ihn Paulus zuzuschreiben, um die Gnostiker zu widerlegen:

„[Denn es] waren in [großer] Betrübnis die Korinther [wegen] Paulus, daß er aus der Welt gehen würde, ehe es an der Zeit wäre. Denn es waren Männer nach Korinth gekommen, Simon und Kleobius, die sagten, daß es keine Auferstehung des Fleisches gäbe, sondern (nur) die des Geistes, und daß der Körper des Menschen kein Gebilde Gottes sei; und von der Welt (sagten sie), daß Gott sie nicht geschaffen habe, und daß Gott die Welt nicht kenne; und daß Jesus Christus nicht gekreuzigt, sondern nur Schein gewesen sei und daß er nicht aus Maria noch aus dem Samen Davids geboren sei. Mit einem Wort: vieles war es, was sie in Korinth [verkündet?] haben, indem sie [viele andere] betrogen [… und] sich selber. [Deswegen] als [die Korinther] gehört hatten, [daß Paulus in Philippi wäre,] schickten sie einen [Brief an Paulus] nach Macedonien [durch] Threptus [und] Eutychus [die Diakonen]. Der Brief aber war [von dieser Gestalt]:

(Brief der Korinther an Paulus)

Stephanus und die Presbyter, die mit ihm sind, Daphnus, Eubulus, Theophilus und Xenon grüßen den Paulus [den Bruder] im Herrn.

Es sind zwei Männer nach Korinth gekommen, namens Simon und Kleobius, die verkehren etlicher Glauben durch verderbliche Worte, welche du prüfen sollst. Denn niemals haben wir solche Worte weder von dir noch von anderen Aposteln gehört; vielmehr was wir von dir und jenen empfangen haben, das bewahren wir. Da nun der Herr Erbarmen uns erweist, daß wir, während du noch im Fleische bist, solches noch einmal von dir hören sollen, so schreibe uns oder komme zu uns. Wir glauben nämlich, wie es der Theonoe offenbart ist, daß dich der Herr befreit hat aus der Hand des Gesetzlosen. Was sie sagen und lehren ist nun folgendes: Man dürfe nicht, behaupten sie, sich auf die Propheten berufen, und Gott sei nicht allmächtig, und es gäbe keine Auferstehung des Fleisches, und nicht sei die Schaffung des Menschen Gottes (Werk), und nicht sei der Herr ins Fleisch gekommen, auch nicht von Maria geboren, und die Welt sei nicht Gottes, sondern der Engel. Deswegen, Bruder, wende jeden Eifer auf, hierher zu kommen, damit die korinthische Gemeinde ohne Ärgernis bleibe und die Torheit jener offenbar werde. Lebe wohl im Herrn!

Es überbrachten die Diakone das Schreiben nach Philippi, Threptus und Eutychus, und übergaben es dem Paulus, der im Gefängnis war wegen der Stratonike, der Frau des Apollophanes; und er begann viele Tränen zu vergießen und zu klagen und rief aus: ‚Besser wäre es für mich, zu sterben und bei dem Herrn zu sein, als im Fleische zu sein und solche Reden zu hören, so daß Betrübnis über Betrübnis über mich kommt, und solches leidend angebunden zu sein und (sehen zu müssen, wie) die Geräte (Machenschaften?) des Bösen voranlaufen!‘ Und so schrieb Paulus unter Leiden den folgenden Brief.

(Brief des Paulus an die Korinther)

Paulus, der Gefangene Jesu Christi, an die Brüder in Korinth – Gruß! Während ich in vielen Bedrängnissen bin, wundere ich mich nicht, wenn so schnell die Meinungen des Bösen Boden gewinnen. Denn [mein] Herr Jesus Christus wird schnell kommen, da er verworfen wird von denen, die seine Worte verfälschen. Ich habe euch ja im Anfang überliefert, was ich von den Aposteln vor mir empfangen habe, die allezeit mit dem Herrn Jesus Christus zusammengewesen waren, nämlich daß unser Herr Jesus Christus von Maria aus dem Samen Davids geboren ist, indem der heilige Geist aus dem Himmel vom Vater in sie herabgesandt war, damit er in die Welt käme und alles Fleisch durch sein eigenes Fleisch erlöse und damit er uns Fleischliche von den Toten auferwecke, wie er selbst sich als Urbild erwiesen hat. Und weil der Mensch von seinem Vater geschaffen ist, deswegen wurde er auch, als er verloren gegangen war, gesucht, auf daß er lebendig gemacht würde durch die Annahme zur Kindschaft. Denn der allmächtige Gott, der Himmel und Erde gemacht hat, sandte zuerst die Propheten den Juden, daß sie ihren Sünden entrissen würden; er hatte nämlich beschlossen, das Haus Israel zu retten, deshalb sandte er einen Teil vom Geist Christi in die Propheten, welche die irrtumslose Gottesverehrung verkündeten zu vielen Zeiten. Aber da der Fürst, der ungerecht war, selbst Gott sein wollte, legte er Hand an sie und tötete sie, und so fesselte er alles Fleisch der Menschen an die Begierden [an seinen Willen, und die Vollendung der Welt trieb dem Gericht entgegen]. Aber Gott, der Allmächtige, der gerecht ist und sein eigenes Geschöpf nicht verstoßen wollte, sandte den [heiligen] Geist [durch Feuer] in Maria, die Galiläerin, die von ganzem Herzen glaubte, und sie empfing im Leibe den heiligen Geist, damit in die Welt Jesus einträte, damit der Böse, durch dasselbe Fleisch, durch das er sein Wesen trieb, besiegt, überführt wurde, daß er nicht Gott sei. Denn durch seinen eigenen Leib hat Jesus Christus alles Fleisch gerettet [und zum ewigen Leben geführt durch den Glauben], indem er den Tempel der Gerechtigkeit darstellte in seinem Leibe, durch den wir erlöst sind. Sie sind also nicht Kinder der Gerechtigkeit, sondern Kinder des Zorns, die sie die Vorsehung Gottes zurückstoßen, indem sie [fern vom Glauben] behaupten, Himmel und Erde und alles, was in ihnen ist, seien nicht Werke des Vaters. Sie selbst sind also Kinder des Zorns, denn sie haben den verfluchten Glauben der Schlange. Von denen wendet euch ab und vor ihrer Lehre fliehet! [Denn ihr seid nicht Söhne des Ungehorsams, sondern der geliebtesten Kirche. Deswegen ist die Zeit der Auferstehung gepredigt worden].

Die euch aber sagen, es gäbe keine Auferstehung des Fleisches, für die wird es keine Auferstehung geben, die nicht an den so Auferstandenen glauben. Denn, ihr Korinther, nicht wissen sie Bescheid über das Säen von Weizen oder anderen Samen, daß sie nackt in die Erde geworfen werden und wenn sie vergangen sind, stehen sie wieder auf nach dem Willen Gottes als ein Leib und bekleidet. Und nicht allein wird der Leib, der (in die Erde) geworfen ist, auferweckt, sondern (auch) vielfältig gesegnet. Und wenn man nicht nur von den Samenkörnern das Gleichnis hernehmen darf, [sondern von edleren Leibern], so wißt ihr ja, daß Jona, des Amathios Sohn, da er den Niniviten nicht predigen wollte, [sondern geflohen war,] von einem Walfisch verschlungen wurde, so und nach drei Tagen und drei Nächten hat Gott das Gebet des Jona aus der tiefsten Hölle erhört und nichts von ihm wurde verdorben, weder ein Haar noch ein Augenlid. Um wieviel mehr wird er euch, ihr Kleingläubigen, die ihr an Christus geglaubt habt, auferwecken, wie er selbst auferstanden ist. Und wenn ein auf die Gebeine des toten Propheten Elisa von den Kindern Israels geworfener Körper eines Menschen auferstand, so werdet auch ihr, die ihr auf den Körper und die Gebeine und den Geist des Herrn geworfen seid, an jenem Tage auferstehen mit unversehrtem Leibe.

Wenn ihr nun etwas anderes aufnehmt, so fallt mir nicht zur Last; denn ich habe diese Fesseln an mir, daß ich Christus gewinne, und seine Wundmale an meinem Leibe, daß ich gelange zur Auferstehung von den Toten. Und wer immer in dieser Regel, die er durch die seligen Propheten und das heilige Evangelium empfangen hat, bleibt, wird Lohn empfangen, [und wenn er von den Toten aufersteht, das ewige Leben erlangen]. Wer aber hiervon abweicht, – Feuer gibt es für ihn und für die, welche darin vorangegangen sind, die da sind Menschen ohne Gott, Otterngezücht; von denen wendet euch ab in der Kraft des Herrn, und Friede, [Gnade und Liebe] wird mit euch sein. Amen.“ (Paulusakten 8, in: Edgar Hennecke u. Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.): Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. 2. Band. Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, 4. Aufl., Tübingen 1971, S. 257-260)

Irenäus von Lyon schreibt um 180 n. Chr. einige schöne Stellen zur Auferstehung des Fleisches:

„Das aber ist unser Glaube, daß Gott auch unsere sterblichen Leiber, die die Gerechtigkeit bewahrten, auferwecken, unversehrbar und unsterblich machen wird. Denn Gott ist mächtiger als die Natur. Er will es, weil er gut ist; er kann es, weil er mächtig ist; er tut es, weil er unendlich gütig ist.“ (Irenäus, Gegen die Häresien II,29,2)

„Töricht in jeder Hinsicht sind die, welche die gesamte Anordnung Gottes verachten, die Heiligung des Fleisches leugnen und seine Wiedergeburt verwerfen, indem sie behaupten, daß es der Unvergänglichkeit nicht fähig sei. Wird aber dies nicht erlöst, dann hat uns der Herr auch nicht mit seinem Blute erlöst, noch ist der eucharistische Kelch die Teilnahme an seinem Blute, das Brot, das wir brechen, die Teilnahme an seinem Leibe. Blut stammt nämlich nur von Fleisch und Adern und der übrigen menschlichen Substanz, die das Wort Gottes in Wahrheit angenommen hat. Mit seinem Blute erlöste er uns, wie auch der Apostel sagt: ‚In ihm haben wir die Erlösung, durch sein Blut Nachlaß der Sünden.‘ Und da wir seine Glieder sind, werden wir durch seine Schöpfung ernährt werden, und er selbst gewährt uns seine Schöpfung: läßt seine Sonne aufgehen und regnen, sagt, daß er uns den Kelch von seiner Schöpfung als sein eigenes Blut reiche, mit dem er unser Blut erquickt, und versichert, daß das Brot seiner Schöpfung sein eigener Leib ist, mit dem er unsere Leiber erhebt.

Wenn nun also der gemischte Kelch und das zubereitete Brot das Wort Gottes aufnimmt und die Eucharistie zum Leibe Christi wird, woraus die Substanz unseres Fleisches Erhebung und Bestand erhält, wie können sie dann sagen, das Fleisch könne nicht aufnehmen die Gabe Gottes, die in dem ewigen Leben besteht, da es doch von dem Blute und Fleische des Herrn genährt wird und sein Glied ist? So sagt auch der selige Apostel Paulus in dem Briefe an die Epheser: ‚Wir sind Glieder seines Leibes, aus seinem Fleisch und seinem Gebein.‘ Das sagt er nicht von einem geistigen und unsichtbaren Leibe — denn ‚ein Geist hat weder Bein noch Knochen‘ — sondern von einem wahrhaft menschlichen Organismus, der aus Fleisch, Nerven und Knochen besteht, der von dem Kelch seines Blutes ernährt und von dem Brot seines Leibes erhoben wird. Und wie das Holz der Weinrebe, in der Erde wurzelnd, zu seiner Zeit Frucht hervorbringt, und wie das Weizenkorn in die Erde fällt, sich auflöst und vielfältig aufersteht durch den Geist Gottes, der alles umfaßt — und alsdann kommt dieses weisheitsvoll in den Gebrauch der Menschen, nimmt auf das Wort Gottes und wird zur Eucharistie, welche der Leib und das Blut Christi ist — so werden auch unsere Körper aus ihr genährt, und wenn sie in der Erde geborgen und dort aufgelöst sein werden, dann werden sie zu ihrer Zeit auferstehen, indem das Wort Gottes ihnen verleiht, aufzuerstehen für die Herrlichkeit Gottes des Vaters. Er umgibt dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit, schenkt dem Verweslichen aus Gnade seine Unverweslichkeit, da die Kraft Gottes in der Schwäche vollkommen wird, damit wir nicht in Undankbarkeit gegen Gott uns jemals hochmütig aufbliesen, gleich als ob wir das Leben aus uns selbst hätten. So sollte die Erfahrung uns lehren, daß wir aus seiner Größe, nicht kraft unserer Natur ewig fortdauern, so sollten wir Gottes Herrlichkeit, wie sie ist, uns vor Augen halten und unsere eigene Schwäche nicht verkennen. Sollten wissen, was Gott vermag, und was der Mensch Gutes empfängt, sollten niemals irre gehen in der wahren Erkenntnis der Wirklichkeit, d. h. des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen, Ja freilich, deswegen hat Gott zugelassen, daß wir in Erde uns auflösen, damit wir allseitig erzogen, in Zukunft in allem gewissenhaft seien und unsere Stellung zu Gott nicht verkännten.“ (Irenäus, Gegen die Häresien V,2,2-3)

„Es verachten also die Macht Gottes und betrachten nicht, was das Wort ist, die die Schwachheit des Fleisches, aber nicht die Kraft dessen, der es von den Toten auferweckt, berücksichtigen. Wenn Gott nämlich das Sterbliche nicht lebendig macht und das Vergängliche nicht zur Unvergänglichkeit zurückführt, dann ist er dazu nicht imstande. Daß er aber dies alles vermag, das haben wir gleich anfangs betrachtet. Nahm er doch Staub von der Erde und machte den Menschen. Aber viel schwieriger und unglaublicher ist es, aus nicht existierenden Knochen und Nerven und Venen und den übrigen menschlichen Organen den Menschen zum Dasein und Leben und Denken zu bringen, als das bereits Gewordene und später nur in Erde Aufgelöste aus den angegebenen Gründen wieder zu erneuern, da es doch nur dort hinübergegangen ist, von wo der Mensch, der noch nicht war, seinen Ursprung genommen. Der nämlich den, der noch nicht war, wann es ihm beliebte, ins Dasein rief, der wird noch vielmehr die, welche schon waren, nach seinem Wohlgefallen in das von ihm geschenkte Leben zurückrufen. Und siehe, das Fleisch ist fähig, Gottes Kraft aufzunehmen und festzuhalten. Zeigte es doch schon anfangs Gottes Kunst, indem das eine zum Auge wurde und sah, das andere zum Ohr and hörte, das andere Hand und arbeitete, das andere Nerven, um die Glieder von allen Seiten eng zusammenzuhalten, das andere Arterien und Venen, um das Blut and den Geist durchzuleiten, das andere verschiedenes Eingeweide, das andere Blut, das Bindeglied zwischen Leib und Seele, Doch, es ist ja nicht möglich, das ganze künstliche Gliedergefüge des Menschen aufzuzählen, das nicht ohne viel Weisheit zustande kam. Was aber teilnimmt an der Kunst und Weisheit Gottes, das nimmt auch teil an seiner Kraft.

Folglich ist das Fleisch von der künstlichen Weisheit und Kraft Gottes nicht ausgeschlossen. Wenn nun aber seine Kraft, die das Leben verleiht, in der Schwachheit vollkommen wird, d. h. in dem Fleische, dann mögen doch die, welche behaupten, das Fleisch könne das von Gott verliehene Leben nicht aufnehmen, uns sagen, ob sie dieses behaupten als solche, die jetzt leben und am Leben teilnehmen, oder ob sie als gänzlich leblose sich selbst gegenwärtig für tot erklären! Wenn sie aber tot sind, wie bewegen sie sich denn und sprechen und machen das übrige, was doch nicht Werke der Toten, sondern der Lebendigen sind? Wenn sie aber jetzt leben und ihr ganzer Leib am Leben teilnimmt, wie wagen sie dann zu sagen, das Fleisch könne das Leben nicht halten und daran teilnehmen, obwohl sie zugestehen, daß sie gegenwärtig das Leben haben? Das verhält sich fürwahr so ähnlich, als ob jemand, der einen Schwamm voll Wasser oder eine brennende Fackel in der Hand hielte, sagen wollte, der Schwamm kann kein Wasser, die Fackel kein Feuer fassen. Ebenso sagen diese, daß sie leben, sagen, daß sie Leben in ihren eigenen Gliedern in sich tragen, und dann widersprechen sie sich und behaupten, daß ihre Glieder nicht fähig sind, das Leben aufzunehmen. Wenn aber das gegenwärtige Leben, das doch viel schwächer ist als jenes ewige Leben, dennoch soviel vermag, daß es unsere sterblichen Glieder belebt, wie sollte dann das ewige Leben, das doch stärker ist als dieses, das Fleisch nicht beleben, das doch schon geübt und gewohnt ist, das Leben zu tragen! Daß nämlich das Fleisch fähig ist, das Leben aufzunehmen, zeigt sich doch darin, daß es lebt. Es lebt aber, insofern Gott es will. Daß aber Gott auch imstande ist, ihm das Leben zu verleihen, ist klar, da doch jener uns das Leben gibt. Wenn nun Gott imstande, ist, sein Geschöpf zu beleben, und das Fleisch fähig ist, das Leben zu empfangen, was sollte dann dieses hindern, an der Unvergänglichkeit teilzunehmen, die in einem glückseligen, endlosen Leben besteht, das Gott verleiht.“ (Irenäus, Gegen die Häresien V,3,2-3)

„Gott aber wird in seinem Geschöpfe verherrlicht werden, indem er es seinem Knecht gleichgestaltet und entsprechend anpaßt. Denn durch die Hände des Vaters, d. h. durch den Sohn und den Geist, wird der Mensch, aber nicht bloß ein Teil des Menschen, ein Ebenbild Gottes. Seele und Geist können wohl ein Teil des Menschen sein, aber nie der Mensch. Der vollkommene Mensch ist die innige Vereinigung der Seele, die den Geist des Vaters aufnimmt, mit dem Fleische, das nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen ist. Deshalb sagt auch der Apostel: ‚Weisheit reden wir unter Vollkommenen‘, indem er die vollkommen nennt, die den Geist Gottes empfangen haben und durch den Geist wie er selber in allen Sprachen reden. Hören wir doch auch von vielen Brüdern in der Kirche, daß sie prophetische Charismen haben, in allerhand Sprachen durch den Geist reden, das Verborgene der Menschen zu ihrem Vorteil ans Licht bringen und die Geheimnisse Gottes erklären. Diese nennt der Apostel auch geistig wegen ihrer Teilnahme am Geist, aber nicht etwa, weil sie des Fleisches entkleidet und beraubt wären, sondern nur aus dem angegebenen Grunde. Wollte nämlich jemand die Substanz des Fleisches, d.h. das körperliche Gebilde, streichen und nur den Geist allein bestehen lassen, dann hätten wir damit nicht mehr einen geistigen Menschen, sondern bloß den Geist des Menschen oder den Geist Gottes. Wenn nun dieser Geist sich vermengt mit der Seele und mit dem Körper vereint, dann entsteht der geistige und vollkommene Mensch, der nach dem Bild und Gleichnis Gottes erschaffen wurde. Fehlt aber der Seele der Geist, dann ist ein solcher Mensch nur psychisch, und da er fleischlich geblieben ist, wird er unvollkommen sein; er trägt zwar das Bild Gottes in seinem Körper, aber die Ähnlichkeit mit Gott nimmt er nicht an durch den Geist. Wenn aber solch ein Mensch schon unvollkommen ist, dann kann man auch nicht mehr von einem Menschen reden, wenn man noch das Bild wegnimmt und den Körper verachtet. Das ist dann höchstens ein Teil vom Menschen oder sonst irgend etwas anderes als der Mensch, wie wir schon gesagt haben. Denn das bloße fleischliche Gebilde ist kein vollkommener Mensch, sondern nur sein Leib und ein Teil des Menschen. Ebensowenig ist die Seele an sich der Mensch, sondern eben nur Seele und ein Teil des Menschen, noch ist der Geist der Mensch, sondern bloß Geist und kann nicht Mensch genannt werden. Die innige Vereinigung aber von all diesen macht den vollkommenen Menschen aus. […]

Daher nennt er auch das körperliche Gebilde einen Tempel Gottes. ‚Wisset ihr nicht‘, sagt er, ‚daß ihr ein Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes schändet, den wird Gott verderben. Denn der Tempel Gottes ist heilig, und das seid ihr.‘ Also nennt er deutlich den Körper einen Tempel, in welchem der Geist wohnt. So sprach auch der Herr von sich: ‚Löset diesen Tempel, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten.‘ Dies aber, heißt es, sagte er von seinem Leibe. Doch nicht nur als Tempel, sondern als Tempel Christi bezeichnet er unsere Körper, wenn er den Korinthern sagt: ‚Wisset ihr nicht, daß eure Leiber Glieder Christi sind? Werde ich also die Glieder Christi nehmen und sie zu Gliedern einer Hure machen?‘ Das sagt er nicht von irgend einem andern, geistigen Menschen, denn der umarmt nicht eine Hure; sondern unsere Körper nennt er Glieder Christi, wenn unser Fleisch in Heiligkeit und Reinheit verharrt, wogegen sie zu Gliedern einer Hure werden, wenn es eine Hure umarmt. Und deswegen sagt er: ‚Wenn jemand den Tempel Gottes schändet, wird ihn Gott verderben.‘ Da ist es gewiß eine sehr große Gotteslästerung, zu sagen, daß der Tempel Gottes, in dem der Geist des Vaters wohnt, und die Glieder Christi an der Erlösung keinen Anteil hätten, sondern verloren gingen! Daß nun unsere Leiber nicht kraft ihrer Wesenheit, sondern kraft der Macht Gottes auferstehen, sagt er den Korinthern: ‚Der Leib aber gehört nicht der Hurerei, sondern dem Herrn und der Herr dem Körper. Gott aber hat den Herrn auferweckt, auch uns wird er auferwecken durch seine Kraft.'“ (Irenäus, Gegen die Häresien V,6,1-2)

„Wie also Christus in der Substanz des Fleisches auferstanden ist und seinen Jüngern die Male der Nägel und die Öffnung der Seite zeigte — das aber sind die Anzeichen des Fleisches, das von den Toten auferstand— so wird er auch uns, heißt es, auferwecken durch seine Kraft. […] Denn derart sind die animalen Körper, die an der Seele, der Anima, teilnehmen, daß sie durch den Verlust derselben sterben; wenn sie dann aber durch den Geist auferstehen, werden sie geistige Körper, sodaß sie durch den Geist immerwährendes Leben haben.“ (Irenäus, Gegen die Häresien V,7,1-2)

„Die also das Pfand des Geistes haben, den Lüsten des Fleisches nicht dienen, sondern sich dem Geiste unterwerfen und in allem vernünftig wandeln, die nennt der Apostel mit Recht geistig, weil der Geist Gottes in ihnen wohnt. Unkörperliche Geister aber werden die geistigen Menschen nicht sein, sondern unsere Wesenheit, d. h, die Vereinigung von Seele und Fleisch, vollendet durch die Aufnahme des göttlichen Geistes den geistigen Menschen. Die aber den Rat des Geistes verwerfen, den Lüsten des Fleisches dienen, unvernünftig leben und zügellos sich in ihre Begierden stürzen, da sie keinen Hauch vom göttlichen Geiste besitzen, sondern nach Art der Schweine und Hunde leben, die nennt mit Recht der Apostel fleischlich, da sie nichts anders als Fleischliches kennen. Und die Propheten vergleichen aus ebendemselben Grunde mit den unvernünftigen Tieren diejenigen, welche so unvernünftig wandeln. ‚Hengste, rasend nach Weibern, sind sie geworden, ein jeder von ihnen wiehert nach der Frau seines Nächsten.‘ Und wiederum: ‚Der Mensch, da er in Ehre war, ist ähnlich geworden dem Vieh.‘ Aus eigener Schuld nämlich ist er dem Vieh ähnlich geworden, weil er sich einem unvernünftigen Leben ergeben. Und dementsprechend sagen auch wir von solchen Menschen, daß sie unvernünftiges Vieh und tierisch geworden sind!“ (Irenäus, Gegen die Häresien V,8,2)

„Denn dieser Seele Auferstehung geht an den Gläubigen vor sich, indem der Leib wiederum die persönliche Seele empfängt und mit ihr in der Kraft des Hl. Geistes aufersteht und einzieht in das Gebiet des Reiches Gottes.“ (Irenäus, Erweis der apostolischen Verkündigung 42)


(Auferstehung der Toten, Fresko aus der antiken Synagoge in Dura Europos.)

Theophilus von Antiochia schreibt etwa zur selben Zeit:

„Und nun deine Leugnung der Auferweckung der Toten. Du sagst nämlich: Zeige mir auch nur einen, der von den Toten auferweckt worden ist, damit ich sehe und glaube. Fürs erste: Was ist es Großes, wenn du das glaubst, das du gesehen hast? Und dann glaubst du auf der einen Seite, daß Herakles, der sich verbrannt hat, jetzt lebt, und daß Asklepios, der vom Blitze erschlagen worden, wieder sei auferweckt worden; auf der andern Seite bist du voll Unglauben den Aussprüchen Gottes gegenüber. Ich dürfte dir auch einen Verstorbenen, der von den Toten erweckt worden ist und lebt, vorzeigen, und du würdest auch da nicht glauben. Gott nun gibt dir viele Beweisgründe hierfür, auf daß du ihm glaubest. Denn betrachte gefälligst, wie die Jahreszeiten, die Tage, die Nächte ebenfalls endigen und wieder erstehen. Findet nicht auch bei den Samen und Früchten eine Wiederauferstehung statt, und zwar zum Nutzen der Menschen? Zum Beispiel das Getreidekorn oder das Korn anderer Samen wird in den Boden gelegt, erstirbt zuerst und zerfällt, dann aber wird es wieder auferweckt und wird zur Ähre. Bringen nicht ferner die Wald- und Fruchtbäume nach göttlicher Anordnung zu ihrer Zeit ihre Früchte, da, wo zuvor nichts sich zeigte und zu sehen war? Ferner sogar verschluckt manchmal ein Sperling oder irgendein anderer Vogel einen Apfel- oder Feigen- oder irgendeinen andern Kern, setzt sich auf einen felsigen Hügel oder auf ein Grabdenkmal, und gibt ihn dort wieder von sich; und der Kern schlägt Wurzeln und wächst zum Baume heran, obwohl er zuvor verschluckt worden und durch soviel Wärme durchgegangen ist. Das alles wirkt die göttliche Weisheit, um auch hierdurch zu zeigen, daß Gott die Macht hat, die allgemeine Auferstehung aller Menschen zu bewirken. Wenn du aber ein noch wundervolleres Schauspiel sehen willst, das zum Beweis der Auferstehung geschieht, nicht bloß auf Erden hier, sondern am Himmel, so betrachte die Auferstehung des Mondes, die allmonatlich eintritt: wie er nämlich abnimmt, verschwindet und wieder aufersteht. Höre weiter, o Mensch, auch von der Tatsache der Auferstehung, die in dir selbst vorgeht, wenn du sie auch nicht merkst. Du bist nämlich vielleicht schon einmal in eine Krankheit gefallen und hast dadurch die Fülle deines Körpers, die Kraft und das gute Aussehen verloren; aber du hast von Gott wieder Erbarmen und Heilung erlangt und damit wieder dein volles Fleisch, das gute Aussehen und die Kraft gewonnen. Und wie du zuvor nicht gewußt hast, wohin dein Fleisch gekommen, als es verschwunden war, so weißt du auch jetzt nicht, woher es dir wieder geworden oder gekommen ist. Du wirst freilich sagen: ‚Aus der Nahrung und den in Blut verwandelten Säften.‘ Gut! aber dies ist auch ein Werk Gottes, der es so eingerichtet hat, und nicht irgend eines anderen.“ (Theophilus, An Autolykus 13)

Die Heiden verachteten diesen Glauben und zerstörten deshalb die Leichname von ihnen getöteter Christen. Gallische Christen im 2. Jahrhundert schrieben, wie der Kirchenhistoriker Eusebius von Cäsarea um 300 zitiert, folgendes in einem Brief nach Kleinasien:

„‚Nachdem die Leiber der Märtyrer auf alle mögliche Weise geschändet worden waren und sechs Tage unter freiem Himmel gelegen hatten, wurden sie von den Frevlern verbrannt und ihre Asche in die nahe Rhone geworfen, damit auch kein Restchen mehr auf der Erde davon übrig bliebe. Ihr Handeln entsprang dem Wahne, Herr über Gott zu werden und die Auferstehung der Märtyrer zu verhindern. Diese sollten, wie sie sagten, mit nichten Hoffnung auf eine Auferstehung haben auf die vertrauend sie eine fremde, neue Religion bei uns einführen, die Qualen verachten und bereitwillig und freudig in den Tod gehen. Nun wollen wir sehen, ob sie auferstehen und ob ihr Gott ihnen helfen und sie aus unserer Hand erretten kann‘!'“ (Bericht gallischer Christen, zitiert in Eusebius, Kirchengeschichte V,1)

In der Petrusoffenbarung, einem Text über das Weltende, der sich als von Petrus geschrieben ausgibt, sagt Jesus zu den Jüngern:

„Und am Tage der Entscheidung des Gerichtes Gottes werden alle Menschenkinder vom Osten bis zum Westen vor meinem Vater, dem ewig Lebendigen, versammelt werden, und er wird der Hölle gebieten, daß sie ihre stählernen Riegel öffnet und alles, was in ihr ist, zurückgibt. Und den wilden Tieren und Vögeln wird er gebieten, daß sie alles Fleisch, was sie gefressen haben, zurückgeben, indem er will, daß die Menschen (wieder) sichtbar werden; denn nichts geht für Gott zugrunde und nichts ist ihm unmöglich, da alles sein ist. Denn alles (geschieht) am Tage der Entscheidung, am Tage des Gerichtes mit dem Sprechen Gottes, und alles geschieht, wie er die Welt schafft, und alles, was darin ist, hat er geboten, und alles geschah; ebenso in den letzten Tagen, denn alles ist Gott möglich, und also sagt er in der Schrift: ‚Menschenkind, weissage über die einzelnen Gebeine und sage zu den Knochen: Knochen zu den Knochen in Glieder, Muskel, Nerven, Fleisch und Haut und Haare darauf‘. Und Seele und Geist soll der große Urael [ein Engel] auf Befehl Gottes geben. Denn ihn hat Gott bestellt bei der Auferstehung der Toten am Tage des Gerichtes. Sehet und bedenkt die Samenkörner, die in die Erde gesät sind. Wie etwas Trockenes, das seelenlos ist, sät man sie in die Erde. Und sie leben auf, bringen Frucht, und die Erde gibt (sie) wieder wie ein anvertrautes Pfand. Und dieses, was stirbt, was als Same in die Erde gesät wird, lebendig wird und dem Leben zurückgegeben wird, ist der Mensch. Wie viel mehr wird Gott die an ihn Gläubigen und von ihm Erwählten, um derentwillen er (die Erde) gemacht hat, auferwecken am Tage der Entscheidung, und alles wird die Erde wiedergeben am Tage der Entscheidung, weil sie an ihm zugleich mit gerichtet werden soll und der Himmel mit ihr.“ (Petrusoffenbarung 4, in: Edgar Hennecke u. Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.): Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. 2. Band. Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, 4. Aufl., Tübingen 1971, S. 473f.)

In der Epistula Apostolorum, einer Schrift, die sich als Brief der zwölf Apostel ausgibt, sagt Jesus zu den Jüngern:

„‚Wahrlich, ich sage euch, wie mich der Vater von den Toten auferweckt hat, gleicherweise werdet auch ihr im Fleisch auferstehen, und er wird euch emporsteigen lassen über die Himmel an den Ort, von dem ich von Anfang an zu euch geredet habe, den euch bereitet hat, der mich gesandt hat. Und deshalb habe ich alle Barmherzigkeit vollendet: ohne gezeugt zu werden, bin ich von Menschen geboren (oder: gezeugt) und, ohne Fleisch zu haben, habe ich Fleisch angezogen und bin aufgewachsen, damit (ich) euch, die ihr im Fleisch gezeugt werden, (wiedergebäre,) und ihr in der Wiedergeburt die Auferstehung in eurem Fleisch erhaltet, einem Gewande, das nicht vergehen wird, mit allen, die hoffen und glauben an den, der mich gesandt hat; denn so hat mein Vater an euch Wohlgefallen gefunden, und denen, welchen ich will, gebe ich die Hoffnung des Reiches.‘ […]

Nachdem er dies zu uns gesagt hatte, sprachen wir zu ihm: ‚O Herr, steht es wirklich dem Fleisch bevor, mit der Seele und dem Geist (zusammen) gerichtet zu werden, und wird (die eine Hälfte davon) im Himmelreich ruhen und die andere ewiglich, indem sie (noch) leben, gestraft werden?‘ […]

Er antwortete und sagte zu uns: ‚Wahrlich, ich sage euch, das Fleisch jedes Menschen wird auferstehen mit seiner Seele [lebendig] und seinem Geiste.'“ (Epistula Apostolorum 21-24 (äthiopische Version), in: Edgar Hennecke u. Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.): Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. 1. Band. Evangelien, 4. Auflage, Tübingen 1968, S. 138f.)

Missbrauch in München-Freising: Genaueres/Klarstellung zu Benedikt, Fazit und sonstige Auffälligkeiten und Anmerkungen

Ich habe mich jetzt doch entschlossen, das Münchner Gutachten noch einigermaßen vollständig zu lesen (ausgenommen den Sonderband zu Fall 41, vielleicht mache ich das noch), inklusive das ganze Vorgeplänkel, wo die Gutachter z. B. ihre Begriffe definieren und langwierig ausführen, inwiefern sich kirchliche Funktionäre strafbar gemacht haben könnten, aber auch die konkreten Empfehlungen am Ende; hier also noch einmal ein paar Gedanken dazu, was mir dabei aufgefallen ist.

Zuerst noch einmal genau zusammengefasst, was Benedikt XVI. / Kardinal Ratzinger angeht: In seinen Stellungnahmen, auf die die Gutachter am Ende noch eingehen, nachdem sie dargelegt haben, wie sich die Fälle in den Akten darstellen (und die ich zuerst übersehen hatte), erklärt Benedikt durchgängig, in den vier Fällen, in denen ihm die Gutachter Fehlverhalten vorwerfen, von seinen Mitarbeitern nicht ordentlich informiert worden zu sein. In einem Fall glauben ihm die Gutachter das, nämlich in Fall 22, bei dem es um einen Priester geht, der vor Ratzingers Zeit Missbrauchstaten begangen hatte, und dem während Ratzingers Amtszeit vom Erzbistum lediglich der persönliche Titel „Pfarrer“ (nicht gerade ein besonderer Ehrentitel) verliehen wurde, und dem der Generalvikar etwas später einen netten Brief zu seiner Verabschiedung in den Ruhestand schickte, in dem er auch Dank vom Erzbischof für seine Dienste ausrichtete. Das sind ja auch Routinevorgänge, und es kann nicht wirklich von einem Erzbischof erwartet werden, die Vergangenheit aller Priester in seinem Bistum nachzuprüfen, bei denen irgendein Routinevorgang wie eine Versetzung in den Ruhestand anfällt, mit der er noch dazu kaum befasst ist. In den übrigen drei Fällen zweifeln die Gutachter an Benedikts Darstellung. In den Akten des Erzbistums heißt es in diesen Fällen an manchen Stellen, ihm sollte irgendein Schriftstück noch zur Kenntnis gebracht werden o. Ä., und wenn das nicht geschehen sein sollte, müsste man annehmen, dass die Mitarbeiter, besonders Generalvikar Dr. Gruber, die Akten falsch geführt und wichtige Dinge vor dem Erzbischof verheimlicht haben. Das ist allerdings vorstellbar; Dr. Gruber war auch vor und nach Ratzingers Amtszeit jemand, der Missbrauch lieber unter den Teppich kehrte. Es sieht zwar nicht danach aus, dass er Ratzingers Vorgänger Kardinal Döpfner und seinem Nachfolger Kardinal Wetter viel verheimlicht hätte, aber es wäre immerhin denkbar, dass er vielleicht dachte, Kardinal Ratzinger könnte strenger reagieren? Benedikt schreibt z. B., wenn Dr. Gruber notiert habe, er habe den neuen Einsatz eines Priesters mit ihm, dem Kardinal, besprochen, und der sei einverstanden gewesen, weil kein Skandal zu befürchten sei, dann zeige das doch, dass er nicht ordentlich informiert worden sein könne, denn wenn er alles gewusst hätte, hätte er ja nie gesagt, dass kein Skandal zu befürchten sei. Allerdings wäre es auch denkbar, dass Benedikt sich vielleicht einfach nicht erinnern will, und tatsächlich wenigstens ungefähr Bescheid davon wusste, was vorgefallen war, und dass die Täter vorerst nur versetzt, beurlaubt oder auf ihren Posten belassen wurden, und höchstens bei Rückfällen etwas mehr getan wurde. (Benedikt gibt an, dass sein Gedächtnis noch immer sehr gut sei, und dass er, wenn er sich an einen Menschen nicht erinnere, davon ausgehe, auch nicht mit ihm zu tun gehabt zu haben, daher schließe ich so etwas wie Altersdemenz aus – wobei es natürlich auch möglich ist, dass sein Gedächtnis an manchen Stellen nachlässt, ohne dass er es bemerkt. Bewusstes Lügen will ich ihm auch nicht unterstellen. Es geht um Vorgänge vor Jahrzehnten und der emeritierte Papst ist 94.) In diesen drei Fällen ging es um einen exhibitionistischen Priester, einen Priester, der anzügliche Fotos von 10-13jährigen Mädchen machte, und einen Priester, der vorher im Ausland schon wegen Kindesmissbrauchs verurteilt worden war und jetzt wieder auffälliges Verhalten (Nacktbaden, Kontakte mit Ministranten) zeigte, also im Vergleich zu anderen Taten noch eher minderschweren Fällen, aber trotzdem natürlich Fällen, für die ganz andere Strafen hätten kommen sollen, und in denen die Täter auch noch Schlimmeres hätten tun können (und vielleicht unentdeckterweise getan haben).

Es ist gut möglich, dass die Stellungnahmen nicht allein von Benedikt verfasst wurden (er ist immerhin, wie gesagt, 94 Jahre alt), aber ich würde mal zumindest davon ausgehen, dass der Inhalt mit ihm abgesprochen war.

Ansonsten wiederhole ich erst noch kurz mein Gesamtfazit aus dem letzten Artikel:

In den 1940ern und 1950ern unter Kardinal Faulhaber und Kardinal Wendel sieht man, dass durchaus Maßnahmen ergriffen werden und Verdachtsmomenten nachgegangen wird, allerdings wurde nicht in allen Fällen genug getan; vermutlich war den Verantwortlichen nicht ganz bewusst, wie groß der Schaden an den Kindern/Jugendlichen ist, und man verließ sich auf die Besserung von Tätern nach Abbüßung einer Strafe. Man hätte mehr tun können, Fälle wurden auch nicht nach Rom ans Heilige Offizium (Vorgängerorganisation der Glaubenskongregation) gemeldet. Die Gutachter bemerken kritisch, man sehe keine Bemühungen um Kontakt mit den Opfern; ich würde vermuten, dass die Erzbischöfe das einfach nicht als ihre Aufgabe wahrnahmen und sich auf die Täter konzentrierten, so wie man nicht unbedingt ein persönliches Gespräch eines weltlichen Richters mit Verbrechensopfern erwarten würde (auch wenn das vielleicht gar keine schlechte Idee wäre). Generalvikar Buchwieser ging es nach Ansicht der Gutachter offenbar zu sehr um die mögliche Rufschädigung für die Kirche, Generalvikar Dr. Fuchs konnte durchaus streng vorgehen, ging aber einem Anfangsverdacht auch nicht immer genug nach.

Ab den 1960ern wird die Situation dann katastrophal, man sieht durchgehend eine ziemliche Gleichgültigkeit beim Erzbistum, sowohl unter Kardinal Döpfner als auch unter Kardinal Wetter; Täter wurden oft einfach nur versetzt, und zwar als „Strafe“ höchstens mal in die Krankenhaus- oder Altenheimseelsorge, was ihnen neue Taten keineswegs unmöglich machte (auch da gibt es Ministranten und die Priester helfen mal in der örtlichen Pfarrei aus). Generalvikar Defregger war ziemlich gleichgültig, Generalvikar Dr. Gruber übernahm auch auffallend viele Missbrauchstäter aus anderen Diözesen. Generalvikar Dr. Simon agierte recht passiv, auch Offizial Dr. Wolf war noch zurückhaltend bei der Einleitung von Verfahren, auch wenn es zu seiner Zeit schon besser wurde.

Irgendwann nach dem Jahr 2000, etwa um 2010, beginnt dann wieder ein Umdenken, es werden Missbrauchsbeauftragte eingesetzt, auch ältere Fälle werden gemeldet und die mutmaßlichen Opfer erhalten Entschädigungen. Ganz einwandfrei ist das Vorgehen der Erzdiözese auch jetzt nicht immer, aber man sieht eine deutliche Änderung; es wurden auch viele Fälle gemeldet, die im Gutachten nicht aufgeführt wurden, weil die Gutachter kein Fehlverhalten bei den Leitungsverantwortlichen sahen. Die Gutachter sehen bei Kardinal Marx kein außergewöhnlich intensives Interesse oder entschlossenes Vorgehen, aber haben keine härteren Vorwürfe zu machen; er hat sich auch mehrmals mit Missbrauchsopfern getroffen. Generalvikar DDr. Beer scheint recht konsequent vorgegangen zu sein. Die Gutachter bewerten die Präventionsarbeit in diesem Zeitraum als vorbildlich.

Auffällig ist aber, dass im gesamten Zeitraum kaum eine kirchenrechtliche Verurteilung nach den Straftatbeständen im alten CIC von 1917 bzw. im neuen CIC von 1983 erfolgte, was sicher öfter möglich gewesen wäre. Das Kirchenrecht war da, aber oft ging man nur mit Disziplinarmaßnahmen vor.

Um ehrlich zu sein, diese Gesamtsituation überrascht mich nicht besonders. In den 1960ern begann allgemein eine Zeit, in der man mehr Verständnis mit Verbrechern haben wollte, in der auf ihre Therapierbarkeit gesetzt wurde, und in der der Schaden durch sexuellen Missbrauch verharmlost wurde, in manchen Kreisen sogar für die Legalisierung von Sex mit Kindern geworben wurde. Und in den 2010ern wurde dann überall über Missbrauch in der Kirche geredet und man konnte das Thema gar nicht mehr in dieser Weise ignorieren. Ein bisschen unerwartet ist höchstens, dass es auch in den 1990ern und 2000ern noch oft so schlecht war.

Die Frage nach der genauen Schuld der einzelnen Beteiligten ist wohl eine, die nur Gott beantworten kann.“

(Die 65 im Gutachten ausführlicher dargestellten Fälle sind die, bei denen die Gutachter Fehlverhalten auf der Leitungsebene sahen; bei den anderen Fällen sahen sie entweder kaum Fehlverhalten oder „nur“ bei niederrangigeren Mitarbeitern, was sie nicht öffentlich darstellen, sondern worüber sie einfach die Bistumsleitung informieren wollten. Sie hätten allerdings keine Hinweise auf bewusstes Vertuschen von Sachverhalten vor den Vorgesetzten durch die Mitarbeiter gesehen.)

Noch einmal wiederholen möchte ich auch, wie auffällig ich es fand, wie gering die staatlichen Strafen in den vielen Fällen ausfielen, in denen die Missbrauchsfälle vor Gericht landeten – Geld- oder Bewährungsstrafen waren nicht selten, die mit Abstand höchste Strafe, Anfang der 60er für mehrfachen Missbrauch verhängt, war eine fünfjährige Haftstrafe.

Ein bisschen Statistik ist hier vielleicht interessant.

„Untersuchungsgegenständlich waren Vorwürfe gegen 261 Personen (205 Kleriker und 56 Laien). Bei 235 Personen (182 Kleriker und 53 Laien) haben sich Hinweise auf insgesamt 363 untersuchungsrelevante Sachverhalte ergeben.

Die Gutachter sehen im Hinblick auf 65 Sachverhalte die erhobenen Vorwürfe als erwiesen, bei 146 Sachverhalten als zumindest plausibel und in 11 Sachverhalten als widerlegt an. Bei 141 Sachverhalten und damit ca. 38 % boten die vorliegenden Erkenntnisse jedoch keine ausreichende Beurteilungsgrundlage für eine abschließende gutachterliche Würdigung.

Insgesamt wurden 90 staatliche Ermittlungsverfahren durchgeführt; dies sowohl innerhalb (71) als auch außerhalb (19) des Gebiets der Erzdiözese München und Freising. In 46 Fällen (31 innerhalb / 15 außerhalb) kam es zu einem Strafurteil beziehungsweise Strafbefehl.

Insgesamt wurden 14 kirchliche Voruntersuchungen durchgeführt; dies sowohl innerhalb (10) als auch außerhalb (4) des Gebiets der Erzdiözese München und Freising. Fünf Fälle wurden an die Glaubenskongregation gemeldet. In zwei Fällen wurde ein kirchliches Strafverfahren durchgeführt.

Auf der Basis der geprüften Aktenbestände gehen die Gutachter von mindestens 497 Geschädigten aus, davon 247 männlichen und 182 weiblichen Geschlechts; in 68 Fällen war eine eindeutige Zuordnung nicht möglich. Sowohl bei den männlichen als auch bei den weiblichen Geschädigten war die Altersgruppe der 8- bis 14jährigen mit 59% beziehungsweise 32% deutlich überrepräsentiert.“ (S. 11f.)

Die Gutachter erwähnen auch, dass Laien anders behandelt wurden als Priester: „Im Vergleich dazu konnten die Gutachter feststellen, dass gegenüber des Missbrauchs verdächtigten Laienmitarbeitern durchgängig aus Sicht der Gutachter angemessene dienst- und arbeitsrechtliche Maßnahmen ergriffen wurden.“ (S. 12f.)

Der Anteil der widerlegten Fälle liegt also hier bei 3%; sie sind vorhanden, und sie machen einen ziemlich geringen Anteil aus.

Auffällig ist auch, dass es einige mehr männliche als weibliche Opfer gab.

Dann ein paar weitere Punkte zum Gutachten.

Es ist sehr interessant, was die Gutachter zu homosexuellen Cliquen im Klerus zu sagen haben.

„Die Problematik der reinen (Erwachsenen-)Homosexualität unter Klerikern berührt den Untersuchungsgegenstand zwar nicht unmittelbar. Mit Blick auf die Intensität der Sachverhaltsaufklärung durch die Kirche und deren Bewertung sind einige Anmerkungen hierzu jedoch unverzichtbar. […]

Mit dem gebotenen Nachdruck ist an dieser Stelle festzuhalten, dass sich in einer namhaften Zahl der uns zur Überprüfung vorgelegten Unterlagen Anhaltspunkte und Belege für eine ausgeprägte Homosexualität, insbesondere von Priestern und nicht nur im Bereich der allgemeinen Seelsorge, ergeben haben. Hinzu treten deutlichste Zeichen dafür, dass dergestalt sexuell orientierte Personen besonders enge Kontakte pflegten, sodass der Eindruck eng geknüpfter Netzwerke entsteht, die bis hin zu herausgehobenen Positionen in der Hierarchie des Ordinariats unterhalten wurden. Derartige Abschottungstendenzen treten auch anderwärts bei Minderheiten auf, die tatsächlich diskriminiert werden oder sich vermeintlich diskriminiert fühlen, wie den Gutachtern auch in anderem Zusammenhang bekannt wurde. Es liegt auf der Hand, dass das Wissen um die homosexuellen Tendenzen eines priesterlichen Mitbruders angesichts der rigiden Haltung der katholischen Kirche zu Fragen der Homosexualität demjenigen, der über dieses Wissen verfügt, eine erhebliche Einflussmöglichkeit beziehungsweise ein (gegebenenfalls sogar wechselseitiges) Erpressungspotential verleiht. Dies wiegt umso schwerer als auch innerhalb des Klerus unterschiedliche Gruppierungen beziehungsweise die erwähnten Netzwerke existieren, die einen (regen) Informationsaustausch betreiben und nachhaltig eigene Ziele um des beruflichen Fortkommens willen verfolgen. Derartiges Wissen oder Gerüchte haben daher durchaus einen nicht unerheblichen Verbreitungsgrad und müssen als eine wesentliche Mitursache für die ohne jeden Zweifel vorherrschenden Vertuschungstendenzen auch in die vorliegende Bewertung einbezogen werden. Hinzu tritt, dass eine wünschenswerte Kultur der Aufrichtigkeit und Offenheit über den gesamten von den Gutachtern untersuchten Zeitraum auch dadurch massiv verhindert wurde, dass in Fällen erkannter manifestierter und auch praktizierter Homosexualität diese hingenommen und somit entgegen eindeutigem Postulat toleriert wurde.“ (S. 423-425)

Das ist hier jetzt sicher noch etwas vage – ich gehe auch davon aus, dass die Gutachter keine Einzelpersonen an den Pranger stellen wollten, auch nicht anonymisiert, insbesondere, da sie selber, wie sie noch einmal betonen, nichts Falsches an Homosexualität sehen -, aber es ist trotzdem sehr interessant. Eine faktische heuchlerische Toleranz von Homosexualität, vernetzte Cliquen, die für eine Atmosphäre der Geheimhaltung sorgen, das ist ja kein ganz neuer Befund (z. B. wurde so etwas vor einiger Zeit erst von Prof. Dariusz Oko angeprangert), und das sorgt definitiv nicht für ein Klima der Offenheit und Aufklärung. Es ist auch zumindest denkbar, dass solche vernetzten Cliquen es für ein paar der Täter einfacher gemacht haben, ihre Taten, die zwar noch strafbarer Missbrauch waren, aber „in Richtung“ von Erwachsenenhomosexualität gingen, zu verheimlichen, nämlich bei solchen Fällen, in denen homosexuelle Kleriker Jungen im Verlauf der späteren Pubertät missbrauchten (z. B. der Priester aus Fall 50, der sich oft an Homosexuellentreffpunkten aufhielt, wo auch minderjährige männliche Prostituierte zu finden waren).

Ein bisschen seltsam ist der ganze Abschnitt, in dem die Gutachter, bevor sie auf die konkreten Fälle in München-Freising eingehen, einleitend die „gesellschaftliche Entwicklung“ skizzieren wollen, offenbar, um zu bewerten, was sie von Entschuldigungen/Rechtfertigungen für falschen Umgang mit Missbrauch wegen „des Zeitgeistes“ halten sollen. Und wie gesagt, hier kommen ein paar Abschnitte, wo man irgendwie den Eindruck hat, dass die Gutachter eher ein paar grobe Klischees zusammengefasst haben als hundertprozentig objektiv zu forschen.

So meinen sie z. B.: „Auch nach dem Ende des II. Weltkrieges war aufgrund der fortdauernden Prägung der Gesellschaft durch die Erziehung der Nationalsozialisten mit ihrem Keuschheits- und Mutterideal in der Bundesrepublik zunächst noch eine sehr konservative Moralvorstellung vorherrschend. Anders als beispielsweise die Rassenlehre wurde die Sexualmoral nicht als typisch nationalsozialistisch angesehen.“ (S. 45f.) Tatsächlich war die Sexualmoral nicht nur nicht „typisch nationalsozialistisch“, sie war nicht mal wirklich nationalsozialistisch. Die Nazis hatten z. B. sehr wenig gegen die uneheliche Geburt von Kindern, solange die Eltern gesunde Arier waren – man google nur mal den Lebensborn e. V. Die Nazis waren sogar so „sittenstreng“, dass sie einen Priester ins KZ steckten, der einer Frau die Ehe mit einem geschiedenen Nazi ausgeredet hatte, und dass Himmler überlegte, die Bigamie wieder einzuführen. Natürlich hielten sie von offensichtlichen Verdrehungen wie Homosexualität wenig (wie die allermeisten Menschen damals), und bezogen diese auch in ihre typischen brutalen Nazimethoden ein, und sie wären wohl auch nicht begeistert von totaler Promiskuität gewesen, aber insgesamt waren sie moralisch gesehen eher lax, im Vergleich zum Beispiel zur katholischen Kirche oder sogar noch anderen Kirchen. Die Keuschheit war kein typisches Naziideal, die Mutterschaft vielleicht schon eher, bis zu einem gewissen Grad.

Außerdem meinen sie, ebenfalls über die späten 40er und die 50er: „Weder die sexuelle Freiheit noch die psychische Entwicklung des Einzelnen waren Elemente, die Beachtung und erst recht nicht Schutz durch die Gemeinschaft und die Rechtsordnung beanspruchen konnten und erfahren haben. Minderjährige, die Geschädigten eines sexuellen Missbrauchs wurden und darüber sprechen wollten oder gesprochen haben, konnten nicht auf adäquate Hilfe und Unterstützung hoffen. Denn durch das Missbrauchsgeschehen wurden sie nun als ‚geschändet‘, als beschmutzt und stigmatisiert angesehen und nicht selten ausgegrenzt. Insbesondere weiblichen Missbrauchsopfern wurde oftmals eine Mit-, wenn nicht gar die Hauptschuld, etwa durch frühreifes Gebaren oder aufreizende Kleidung, zugewiesen. Dementsprechend genossen die geschädigten Minderjährigen allenfalls eine sehr geringe Glaubwürdigkeit, die jedenfalls dann vollständig entfiel, wenn sich die erhobenen Vorwürfe gegen Personen des öffentlichen Lebens richteten, für die allein schon kraft des von ihnen ausgeübten Amtes die vermeintlich unwiderlegbare Vermutung der Ehrhaftigkeit sprach. In besonderer Weise galt dies für einen Priester, der nach damaliger und auch heute noch anzutreffender Vorstellung die Inkarnation des über alle Zweifel Erhabenen darstellt.“ (S. 46f.)

Hier frage ich mich wirklich, was davon stimmt. Denn in den 40ern und 50ern gab es ja die erwähnten Verurteilungen und die erwähnten Nachforschungen, z. B. in Fall 3 im Gutachten, als die Kriminalpolizei und das Erzbistum schon ermittelten, weil ein Priester in einem Lehrlings- und Schülerheim ein ungewöhnlich nahes und seltsames Verhältnis zu den Jungen hatte, ohne dass ein Junge sich beschwert hätte (tatsächlich gaben die Jungen bei Befragungen an, dass es keinen Missbrauch gegeben habe). Dann meinen die Gutachter selber auch, dass natürlich auch schädliche Folgen für die Kinder bekannt und geächtet gewesen seien, wobei sie z. B. folgende Zitate aus Gerichtsurteilen bringen: „Der Schaden, den der Angeklagte an der geistigen, seelischen und moralischen Entwicklung der Kinder angerichtet hat, ist unermesslich und unübersehbar.“ „Dazu kommt noch, dass der Angeklagte seine hohe Aufgabe, Kinder zur Reinheit zu erziehen, in einer ganz verwerflichen Weise missbraucht hat und den Kindern dadurch zumindest seelischen Schaden zugefügt hat.“ (S. 50)

Irgendwie beißt sich das mit der Behauptung der totalen Stigmatisierung der Opfer. Hier wüsste ich mal wirklich gern, wie das von Opfern damals empfunden wurde – nicht wie Leute heute darüber schreiben, sondern wie jemand es damals empfand. Was die Mitschuld angeht: Mein – oberflächlicher – Eindruck ist, dass die Verführung von Jugendlichen zur Unzucht (nochmal unterschieden vom Missbrauch von kleinen Kindern) „früher“ vielleicht ungefähr so gesehen wurde wie die Verführung von Jugendlichen zum Drogenkonsum heute: Der Verführer ist der eigentliche Täter und gehört gehörig bestraft, für den Schaden, den er an ihnen angerichtet hat, aber man soll auch die Jugendlichen selber dazu erziehen, reif und verantwortungsvoll zu sein und sich solchen Verführungsversuchen zu widersetzen. Wie gesagt, das ist nur ein Eindruck, ich bin erst in den 90ern geboren. Aber hier wüsste ich wirklich gern mehr.

Dass die Gutachter z. B. den Begriff der „Schändung“ so auslegen, als beinhalte er eine Verachtung des geschändeten Opfers, wirkt auch nicht total plausibel. Schändung bedeutet, zu erniedrigen, Verachtung zu zeigen, zu verletzen. Man benutzt diesen Begriff auch bei Grabschändung oder Hostienschändung; und würde man ein Grab, bei dem, sagen wir, jemand ein Hakenkreuz auf den Grabstein gesprüht oder Plastiktüten mit Hundekacke auf die Grabplatte geworfen hat, von da an als igitt, tabu, zu verachten sehen, nur weil der Täter es so behandelt hat?

Ich kann mir schon vorstellen, dass es auch „früher“ falschen Umgang, evtl. sogar sehr falschen Umgang mit sexuellem Missbrauch gab, aber irgendwie kommt es mir so vor, als wäre dieses Früher eine Zeit, bei der es einem wahnsinnig schwer gemacht wird, wirklich etwas Verlässliches über sie zu wissen, statt nur zusammengestoppelte Klischees und begrenzt aussagekräftige Einzelinformationen.

Auch die Bewertung der späteren Änderungen durch die Gutachter ist, sagen wir, ein bisschen problematisch. Hier sieht man einfach, wie unfähig Leute sind, wirklich „neutral“ zu sein – die Gutachter sind es gewohnt, die Sexuelle Revolution als völlig positiv zu sehen, und müssen die Fakten, na ja, vielleicht nicht komplett verdrehen, aber doch irgendwie entsprechend framen. So meinen Sie: „Ab Ende der 1950er Jahre brachten erste Massenerhebungen zur sexuellen Praxis der Bevölkerung ans Licht, dass diese in weiten Teilen nicht mit den gesellschaftlichen Konventionen in Einklang stand, ohne dass sich Anhaltspunkte für eine gestörte Persönlichkeit oder einen gestörten Sexualtrieb bei den Betroffenen ergeben hätten.“ (S. 48) Hier frage ich mich, was genau sie meinen – die berühmten „Untersuchungen“ von Aflred Kinsey, der dafür insbesondere Häftlinge und Prostituierte befragte (nicht gerade der Durchschnitt der Bevölkerung), und auch kein Problem darin sah, Pädophile zu interviewen? Sie reden von dem „Paradigmenwechsel“ (S. 51) der 60er und loben ihn: „Ohne die entsprechenden Zwänge eröffnete sich die Möglichkeit, Reife auf dem Gebiet der Sexualität unbeschwerter zu erlangen.“ (S. 51) Es fragt sich wirklich, was hier mit Reife gemeint ist – offensichtlich ja nicht Selbstkontrolle und Unbeschwertheit im Umgang mit dem anderen Geschlecht, das man nicht gleich sexualisiert. Immerhin geben sie dann korrekterweise zu: „Die bislang als Bedingung für die Gesundheit an Körper und Seele geforderte Unterdrückung und Reglementierung der Sexualität wurde nun als krankmachend angesehen. Gegenstand der in diesem Zusammenhang geführten Diskussionen waren unter anderem auch die Sexualität von Kindern und Jugendlichen sowie insbesondere die Frage, ob sexuelle Handlungen Erwachsener an Kindern, die man auch als sexuelle Wesen begriff, in jedem Fall strafwürdiges Unrecht darstellen (sollen). Mitunter wurde sogar die – wohl auch damals als Außenseiter-Meinung zu qualifizierende – Behauptung aufgestellt, dass Kinder und Jugendliche vielfach selbst sexuelle Kontakte mit Erwachsenen wünschten und davon in ihrer Entwicklung profitierten. Deren tatsächliches Erleben blieb freilich im Dunkeln. Teilweise wird vermutet, dass der Gewaltaspekt von den Befürwortern einer liberalen Sexualmoral bewusst unterdrückt wurde, um zu verhindern, dass er von konservativen Kräften für ihre Zwecke und Ziele instrumentalisiert werden konnte. Die Folge war letztendlich eine neuerliche Tabuisierung sexueller Gewalt gegen Mädchen und Jungen.“ (S. 51f.) Sie sehen jedoch bereits Ende der 70er eine Besserung, wobei ich mich frage, ob sie hier nicht ignorieren, dass es trotz einer gewissen Gegenbewegung gerade damals erst viele Vorkommnisse gab, bei denen Pädophiliebefürworter Aufmerksamkeit erhielten. Die Karriere der Grünen hatte hier gerade erst begonnen. Und natürlich war die Befürwortung der totalen Legalisierung von Pädophilie eine Außenseitermeinung, aber auch Außenseitermeinungen haben Einfluss, und können z. B. dafür sorgen, dass auch andere, die dieser Meinung nicht ganz folgen, z. B. sexuellen Missbrauch nicht mehr als ganz so abscheulich sehen.

Ab Mitte der 80er sehen die Gutachter dann eine breitere Debatte in Deutschland über Missbrauch in Familien, und ab den 90ern auch in Schulen usw. „Gleichwohl nahm es nochmals einige Zeit in Anspruch, bis die Konturen einer weiteren spezifischen Gruppe von Tätern deutlich wurden, nämlich jener der Fachkräfte sämtlicher Disziplinen, denen Kinder und Jugendliche zur Erziehung, Fürsorge, Gesundheitssorge oder Bildung anvertraut sind und die eigentlich die Aufgabe haben, diese vor Beeinträchtigungen ihres Wohlergehens zu schützen und deren Folgen abzumildern.“ (S. 54)

Dann meinen sie, dass es auch innerhalb der Kirche zunächst ein Problembewusstsein gab, und erwähnen die Sittlichkeitsprozesse von 1936/37, auf die sie aber nicht näher eingehen (was sich aber sicher lohnen würde), und dann einige prominent gewordene Fälle ab Mitte der 80er, nämlich:

  • Die Fälle Gilbert Gauthe und Lawrence Murthy aus den USA (Gauthe hatte ab den 70ern etliche Kinder missbraucht und war immer nur versetzt worden, Gerüchten war nicht nachgegangen worden)
  • Den Fall von Kardinal Groer aus Wien, gegen den Mitte der 90er Missbrauchsvorwürfe aufkamen und der daraufhin von seinem Amt zurücktrat (zu den Vorwürfen schwieg er)
  • Den Fall von Marciel Macial Degollado, den Gründer der Legionäre Christi, gegen den ab Mitte der 90er zahlreiche Missbrauchsvorwürfe aufkamen, und der erst Mitte der 2000er nach einer Untersuchung durch die Glaubenskongregation aufgefordert wurde, sich zu einem Leben in Buße und Gebet zurückzuziehen
  • Den Fall John Geoghan; Anfang der 2000er wurde vom Boston Globe aufgedeckt, dass dieser Priester der Erzdiözese Boston zahlreiche Kinder missbraucht hatte und von Erzbischof Bernard Francis Law gedeckt worden war

Sie halten hier – wohl völlig korrekt – fest, dass man in den 90ern oder 2000ern nicht mehr sagen konnte, aufgrund des Zeitgeistes nicht zu wissen, wie schädlich sexueller Missbrauch sei, wie z. B. Kardinal Wetter das in seiner Stellungnahme angibt. Das sollte man definitiv beachten; es gab auch noch viele Versäumnisse, als man es hätte viel besser wissen müssen.

Dann kommt aber auch noch eine seltsame Stelle mit der Behauptung, dass der ältere pädagogische Zeitgeist, der von der Kirche mitgeprägt worden sei, Kindern keine Rechte zugestanden hätte, und Erwachsene die Verfügungsgewalt über sie gehabt hätten (vgl. S. 62). Und hier frage ich mich echt: Was soll der Scheiß? Gerade wurde oben doch darüber gesprochen, dass sexueller Missbrauch immer als bösartiger Übergriff gesehen wurde. Das ist letztlich dieselbe seltsame Relativierung von sexuellem Missbrauch, die man oft bei Journalisten sieht, indem sie es gleichsetzen, einem Kind eine Ohrfeige zu geben, weil es seinen Banknachbarn geärgert hat, und ein Kind anal zu vergewaltigen. Ja, auch in Ländern, in denen Körperstrafen heute noch legal sind (z. B. den USA) haben Kinder Rechte. Nein, wer Körperstrafen für rechtens hält oder sogar austeilt, ist nicht dasselbe wie ein Kinderschänder.

Ich fand es wirklich an einigen Stellen ein bisschen auffällig, wie erstaunt die Gutachter sich geben, dass es ausgerechnet in den 1960ern so schlecht wurde, obwohl sie selbst schon den pädophilieverharmlosenden Zeitgeist zugegeben haben. So schreiben Sie z. B. über Kardinal Döpfner: „Keine wesentlichen Unterschiede gegenüber seinem Amtsvorgänger sind hingegen in Bezug auf die mangelnde Geschädigtenfürsorge festzustellen. Dieser Umstand wiegt im Fall des Erzbischofs Kardinal Döpfner nach Einschätzung der Gutachter allerdings umso schwerer, als dieser nicht nur im Rahmen des für das kirchliche Selbstverständnis sehr bedeutsamen II. Vatikanischen Konzils eine wichtige Rolle spielte, sondern sich in dieser Zeit auch das Bewusstsein für die Tatfolgen bei den Geschädigten von Gewalttaten im Allgemeinen und Missbrauchshandlungen im Besonderen bereits zu vergrößern begann, diese Entwicklung kirchlicherseits allerdings ignoriert wurde.“ (S. 681f.) Und über seinen Generalvikar Defregger: „Dies erscheint den Gutachtern auch deshalb als in besonderer Weise bedauerlich und kritikwürdig, weil im fraglichen Zeitraum das II. Vatikanische Konzil mit wegweisenden Vorgaben zum allgemeinen kirchlichen Handeln abgehalten wurde und in der Kirche eine nicht unerhebliche Aufbrauchstimmung festzustellen war, die jedoch nicht auf den Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs ausstrahlen konnte.“ (S. 928)

Es erscheint irgendwie als ausgemacht, dass das 2. Vatikanum gut war, und deswegen alles irgendwie hätte verbessern müssen. Dabei war die zeitgeistliche Stimmung, die leider auch „das Konzil“ und seine Umsetzung beeinflusste, ja gerade: weg von der repressiven Sexualmoral, dieser Dumpfheit und Rigidität, Verständnis für Kriminelle, die selber irgendwie Opfer sind, und denen man mit Therapie und Resozialisierung helfen soll. Nicht zuletzt kamen, wie schon oben gesagt, in vielen Ländern Forderungen von linken atheistischen Intellektuellen nach der Legalisierung von „gewaltfreiem“ Sex mit Kindern auf. Noch bis in die 90er waren Pädophilenaktivisten in manchen Kreisen erfolgreich. Diese ganze Stimmung beeinflusste wahrscheinlich auch gerade die liberaleren Kirchenleute, zu denen auch ein Kardinal Döpfner gehörte. Ich will definitiv keinem liberalen Theologen unterstellen, ein überzeugter Pädophiliebefürworter gewesen zu sein, aber von einer solchen gesellschaftlichen Entwicklung kann man sich eben dahingehend beeinflussen lassen, etwas laxer zu sein, Missbräuche nicht mehr als Verbrechen, sondern als minderschwere Verfehlungen zu sehen, und auf die schnelle Resozialisierbarkeit von Tätern zu vertrauen.

Sie gehen bei ihrem ganzen Vorgeplänkel auch auf die strafrechtliche Entwicklung ein. Aus Straftaten gegen die Sittlichkeit wurden 1973 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, und das und die ganzen anderen Änderungen bewerten die Gutachter im Grunde immer als positiv. Aufgefallen sind mir in diesem Abschnitt aber vor allem auch folgende nach und nach erfolgte Änderungen: Sexuelle Handlungen an Kindern unter 14 waren immer strafbar, aber die Altersgrenze speziell beim Missbrauch von Schutzbefohlenen wurde von 21 auf 18 heruntergesetzt und die Verführung von Mädchen unter 16 wurde nach § 182 StGB nicht mehr generell unter Strafe gestellt, schließlich wurde der § 175 StGB abgeschafft, der homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt hatte, zuletzt allerdings nur noch Handlungen mit einem minderjährigen Beteiligten; insoweit wurde auch das Schutzalter für Jungen im Allgemeinen auf 14 heruntergesetzt (bzw. 16 beim Missbrauch von Jugendlichen unter Ausnutzung einer Zwangslage o. Ä., und 18 beim Missbrauch von Schutzbefohlenen). Die Möglichkeit einer Geld- statt einer Freiheitsstrafe wurde eingeführt. Auch wenn es neuerdings wieder ein paar (theoretische) Verschärfungen und das Schließen von Strafbarkeitslücken gab und die Verjährungsfrist mittlerweile bis zum 30. Lebensjahr des Opfers ruht statt gleich ab der Tat zu laufen beginnt, diese erstgenannten Änderungen waren m. E. nicht besonders schön. An positiven Änderungen könnte man aber noch benennen, dass die Rechte des Opfers im Prozess gestärkt wurden, z. B. durch die Einführung der Nebenklage; hier haben die Gutachter schon Recht damit, positive Änderungen zu sehen.

(Aber natürlich ist und bleibt es der pure Wahnsinn, wie gering der Strafrahmen war und ist, und wie gering die Strafen vor allem in der Praxis ausfallen.)

Sie schreiben auch über die kirchenrechtliche Entwicklung, aber das übergehe ich hier mal; die kirchenrechtlichen Grundlagen hätten ja sehr oft ein härteres und anderes Vorgehen erfordert, als geschah, und genauer kann man das vielleicht mal ein anderes Mal ansehen.

Interessant ist aber auch noch, dass sie kritisieren, dass auch noch in jüngerer Zeit die Mitarbeiter des Ordinariats ihre internen Plausibilitätsprüfungen zu wichtig nahmen und in Fällen, die augenscheinlich verjährt waren, bei denen es ihrer Bewertung nach nur um eine nicht strafbare Grenzüberschreitung ging oder bei denen Aussage gegen Aussage stand, selbst entschieden, dass sie sie nicht, wie eigentlich verpflichtend, an die Glaubenskongregation und die Staatsanwaltschaft melden sollten, weil das sowieso nichts bringen würde. (In neuerer Zeit, als auch viele Altfälle gemeldet wurden, waren in vielen Fällen hauptsächlich die Mitarbeiter und die Diözesanleitung kaum mit der Sachbearbeitung befasst.)

Dann zu den Empfehlungen der Gutachter am Ende des Gutachtens. Schon zu Beginn des Gutachtens benennen sie Probleme, die sie sehen: „Klerikalismus“, Geheimhaltungsbedürfnis bzw. Angst vor Skandalen, fehlende Sachkompetenz bei Kirchenrechtlern („Jedenfalls bis in die jüngere Vergangenheit hinein war für die Auswahl der Leitungsverantwortlichen nicht primär die Fachkompetenz und das Leistungsprofil des jeweiligen Amtsinhabers maßgeblich, sondern dessen mögliche Aufstiegschancen in weitere und höhere kirchliche Ämter“ (S. 15)), fehlende Anwendung des Kirchenrechts, fehlende Kontrolle und Rechenschaftspflicht bei den Mitarbeitern im Ordinariat. Daher schlagen sie am Ende folgendes vor, wovon das meiste ganz vernünftig wirkt (in der Kirche wie in anderen Institutionen):

Sie empfehlen erstens, die Belange der Geschädigten zu stärken. Daher sollten alle kirchlichen Verantwortungsträger, die mit Missbrauchsfällen zu tun haben, nicht nur einzelne Repräsentanten, Kontakt zu den jeweiligen Opfern aufnehmen, um ihrer Funktion als Seelsorger zu genügen, das Leid der Opfer zu sehen, und den Opfern zu zeigen, dass sie der Kirche nicht egal sind. Es solle eine unabhängige Ombudsstelle für Geschädigte eingerichtet werden; die Missbrauchsbeauftragten der Diözese könnten zumindest den Eindruck nicht ausreichender Unparteilichkeit erwecken, weil sie noch zu abhängig von der Diözese seien. Man könne den Geschädigten außerdem zumindest ein gewisses Recht zur Akteneinsicht in ihre Fälle geben. Man solle den Betroffenenbeiräten, deren Einrichtung vor kurzem beschlossen worden sei, eine starke Stellung geben, sie finanziell entsprechend ausstatten usw.

Zweitens schlagen die Gutachter Maßnahmen im Bereich der Rechtssetzung vor. Sie meinen dabei auch, es brauche eine Änderung der Einstellung, weil das kirchliche Recht oft quasi nicht als streng durchzusetzendes Recht angesehen, sondern gerne mit dem Hinweis auf Barmherzigkeit gemildert wurde. „Darüber hinaus muss aber auch ein neues Bewusstsein für die Bedeutung des Rechts in der Kirche geschaffen werden. Nach wie vor bestehende Vorbehalte gegen die mit einer ‚Kirche der Liebe und Barmherzigkeit‘ nicht beziehungsweise nur schwer zu vereinbarende rechtliche Überformung kirchlichen Handelns müssen endgültig und in allen Bereichen überwunden werden.“ (S. 1166) Bereits an anderer Stelle kritisieren sie den Can. 1341 im neuen CIC von 1983, der viel Spielraum dafür übrig lässt, Straftaten nicht vors Kirchengericht zu bringen: „Der Ordinarius hat dafür zu sorgen, daß der Gerichts- oder der Verwaltungsweg zur Verhängung oder Feststellung von Strafen nur dann beschritten wird, wenn er erkannt hat, daß weder durch mitbrüderliche Ermahnung noch durch Verweis noch durch andere Wege des pastoralen Bemühens ein Ärgernis hinreichend behoben, die Gerechtigkeit wiederhergestellt und der Täter gebessert werden kann.“ Und hier kann ich ihnen nur absolut zustimmen. Falsche Barmherzigkeit hat in den letzten Jahrzehnten so unglaublich viel Schaden angerichtet, und zu so viel Unbarmherzigkeit an anderen Stellen (in diesem Fall gegenüber den Missbrauchsopfern) geführt. Dieser Canon kann auch im richtigen Sinn angewandt werden, bei manchen kirchenrechtlichen Straftaten – sagen wir mal, finanziellen Vergehen oder was weiß ich – mag es wirklich besser sein, sie nicht sofort vor Gericht zu bringen, wenn der Täter wirklich reuig ist, aber er kann auch in einem sehr falschen Bereich angewandt werden.

Es brauche außerdem eine Konkretisierung der einzelnen Straftatbestände im kirchlichen Recht, da nicht immer klar sei, was schon als sexuell bestimmt und damit als Straftat gelten solle. Ebenso müssten die im Gesetz angedrohten Strafen konkreter werden, statt dass z. B. nur eine „gerechte Strafe“ angedroht würde. Das sei freilich Aufgabe des gesamtkirchlichen Gesetzgebers, d. h. des Heiligen Stuhls, Diözesanbischöfe könnten aber zumindest Auslegungshinweise schaffen. Die Fachkenntnis und Erfahrung der Kirchengerichte müsse gestärkt werden, weshalb es sich empfehle, diözesenübergreifende Gerichte zu schaffen, die sich auf solche Fälle spezialisieren sollten. An solche Gerichte solle man evtl. auch fachkundige Nicht-Kleriker berufen. Man solle die Beteiligtenrechte der Geschädigten im Strafverfahren stärken, und außerdem amtliche, anonymisierte Sammlungen der Entscheidungen von Kirchengerichten publizieren, damit Kirchenrichter eine Richtschnur hätten, und die Kirchenjustiz weniger „Geheimjustiz“ sei. Es brauche auch bzgl. der reinen Disziplinarmaßnahmen, die außerhalb von kirchlichen Strafverfahren erfolgen, eine möglichst konkrete Normierung, eine Vereinheitlichung.

Drittens empfehlen sie „Maßnahmen im administrativ-organisatorischen Bereich“ (S. 1174). Man solle genaue Ausführungsbestimmungen zu den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz schaffen; es brauche eine klare, verlässliche, nachvollziehbare Handlungsgrundlage für das Handeln der kirchlichen Verwaltung. Sie empfehlen auch zusätzlich zu den Missbrauchsbeauftragten einen weisungsunabhängigen „Interventionsbeauftragten“. Es brauche ein Compliance-Management- und Hinweisgebersystem, damit Mitarbeiter Fehlverhalten anderer (nicht nur im Bereich von sexuellem Missbrauch) leicht und niederschwellig melden könnten; erste Schritte hierzu habe die Erzdiözese München-Freising schon getan. Es solle auch in regelmäßigen Abständen eine Qualitätskontrolle stattfinden, bei der man auch Vergleiche mit anderen Diözesen machen könnte. Man solle darauf schauen, Leitungsfunktionen nicht mit fachfremden Personen zu besetzen, es brauche eine genaue Aufgabentrennung und eine bessere Weiterqualifizierung der Mitarbeiter, außerdem müsse die Aktenführung verbessert werden. Die Amtszeiten der Verantwortungsträger wie z. B. des Generalvikars sollten begrenzt werden.

Als viertes schlagen sie Maßnahmen in Bezug auf Täter bzw. potentielle Täter vor. Die Regelungen zur Führungsaufsicht über Kleriker, denen die Ausübung ihrer Weihebefugnisse untersagt ist, müssten konkretisiert werden. Man dürfe die Täter generell nicht einfach sich selbst überlassen, und müsse auch präventiv Vereinsamungstendenzen vorbeugen und darauf schauen, dass Priester ein stabiles soziales Umfeld „auch und gerade außerhalb des eigenen Standes“ (S. 1187) hätten. Hier werden die Gutachter wenig konkret, schlagen aber u. a. eine „Priesterausbildung, die dem gemeinsamen Leben im Seminar eine weniger große Bedeutung beimisst, als das heute der Fall ist“ (S. 1187) vor, was ich skeptisch sehe – gerade das Gemeinschaftsleben mit anderen in derselben Lebenssituation ist doch oft sehr gut. Vielleicht wäre ja mehr priesterliches Gemeinschaftsleben auch in der normalen Pfarrseelsorge (z. B. Zusammenleben der Priester aus zwei oder drei Nachbargemeinden) denkbar? Auch die „Hilflosigkeit“ der Verantwortlichen beim Sprechen mit Beschuldigten müsse überwunden werden, wobei es auch hier wenig konkret wird. Man dürfe Täter nirgends mehr in der Seelsorge (auch nicht z. B. nur in der Krankenhausseelsorge) einsetzen, aber könne ihnen trotzdem Hilfen zur „Bewältigung psychologischer sowie sonstiger Defizite“ (S. 1189) bieten. Wenn es darum ginge, Priester psychologisch begutachten zu lassen, solle man nicht immer dieselben einzelnen Psychologen heranziehen, sondern einen Gutachterpool aus einer größeren Zahl an auch außerhalb des Bistums angesiedelten Fachleuten. Dann geht es um die priesterliche Aus- und Fortbildung. Man solle mit Priesteramtskandidaten über Problemstellungen, z. B. eigene Missbrauchserfahrungen, sprechen, an ihrer Persönlichkeitsentwicklung arbeiten, sie psychologische Tests machen lassen, wie es sie auch in anderen Berufsfeldern gebe; man solle Priester aber auch nach ihrer Weihe bzgl. der Missbrauchsprävention fortbilden. An sich hört sich das alles mit Tests, Fortbildungen usw. nicht schlecht an, nur was mit dem Stichwort „Persönlichkeitsentwicklung“ gemeint ist, frage ich mich. Hier schreiben die Gutachter: „So legen insbesondere die Befunde der MHG-Studie nahe, dass die intensive, fachliche und persönliche Beschäftigung mit dem Thema Sexualität und sexuelle Identitätsbildung in den Priesterseminaren zeitlich und inhaltlich äußerst knapp bemessen ist.“ (S. 1191) Hier bleibt es für mich wirklich sehr schleierhaft, was gemeint ist, und wie man das nach Ansicht der Gutachter im Rahmen einer gesunden katholischen Einstellung zur Sexualität verwirklichen sollte.

Als fünftes kommen noch „sonstige Maßnahmen“ (S. 1192). Es solle eine Betreuung der Institutionen/Pfarreien, in denen es Fälle von Missbrauch gab, geben, u. a. durch die Weihbischöfe und Dekane, damit die Leute mit ihren Fragen nicht allein gelassen würden, vom Stand der Ermittlungen wüssten, und es weniger Spaltungen in den Pfarreien gebe zwischen denen, die zu ihrem Pfarrer halten, und denen, die es nicht tun.

Dann kommt ein vager Abschnitt zum Thema „Kritische Reflexion des priesterlichen Selbstverständnisses“. Dabei heißt es u. a.: „Nicht zuletzt stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Weihe- und Leitungsgewalt. […] Dahingehende Überlegungen und Auseinandersetzungen dürfen in Anbetracht der Einbettung des Priesterbildes in historische Entwicklungen nicht vorschnell unter Berufung auf kirchliches Lehramt und Tradition unterbunden werden.“ (S. 1193f.) Nun ist es aber – auch wenn das für die Gutachter keine Rolle spielen mag – einfach so, dass Jesus Christus den Aposteln und ihren Nachfolgern die Leitungs-, Lehr- und Weihegewalt übertragen hat. Wir brauchen im Bischof einen Hirten, der sich dafür verantwortlich weiß, seine Schafe zu leiten, zu lehren, zu heiligen, und bei dem alles zusammenläuft, nicht einfach nur irgendwelche Gremien mit streng abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen (die unter ihm natürlich gerne existieren sollen). Was Jesus eingesetzt hat, hat seinen Sinn, Punkt aus Ende.

Dann empfehlen sie vertiefende Forschung zu „missbrauchs- und vertuschungsbegünstigenden Faktoren“ (S. 1194). Hier könnte es kritisch werden – es geht jetzt an das Thema Zölibat. Sie geben erst einmal schon zu: „Nach derzeitigem Erkenntnisstand kann ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Pflichtzölibat und sexuellem Missbrauch zwar nicht hergestellt werden.“ (S. 1194) Allerdings halten sie einen indirekten Zusammenhang für möglich, z. B. in Bezug auf die Auswahl der Kandidaten, die sich für einen Beruf mit Pflichtzölibat zur Verfügung stellen. „Denkbar wäre dies beispielsweise im Hinblick auf die Frage, ob sich der psychosexuelle Reifegrad von Seminaristen (deutlich) von demjenigen der Altersgenossen unterscheidet, wie sich der psychosexuelle Reifegrad während der Ausbildung – wiederum im Vergleich zu Altersgenossen – entwickelt und worauf etwaige Unterschiede in den einzelnen Entwicklungsstadien zurückzuführen sind.“ (S. 1194) Und hier frage ich mich einfach nur: Bitte was? Der psychosexuelle Reifegrad des durchschnittlichen Zwanzigjährigen sieht wahrscheinlich so aus, dass er täglich Pornos konsumiert, und der psychosexuelle Reifegrad des durchschnittlichen Fünfundzwanzigjährigen wahrscheinlich haargenau so. Im Ernst: Was meinen die Damen und Herren Anwälte hier? Wenn sie z. B. meinen sollten, dass man – wie das Papst Benedikt klargestellt und streng vorgeschrieben hat – darauf achten muss, keine Seminaristen mit bleibenden (auch nicht offen ausgelebten) homosexuellen Neigungen aufzunehmen, weil das kein gesundes Verhältnis zur Sexualität zeigt und Probleme geben kann, dann stimme ich ihnen natürlich zu.

Außerdem habe eine überhöhte Ansicht vom Priester zu zu viel Geheimhaltungsbedürfnis geführt. Hier bin ich auch nicht überzeugt. Gerade bei einer besonders hohen Anforderung an Priester müsste man ja umso mehr darauf bestehen, die Vergehen schlechter Priester zu ahnden – gut, in dieser gefallenen Welt sind die Menschen vielleicht manchmal gerade eher darauf bedacht, bei idealisierten Personen nichts Schlechtes sehen zu wollen. Aber würde man z. B. sagen, man müsste die Arbeit von Ärzten nur möglichst bagatellisieren und heruntermachen, um endlich mal besser gegen ärztliche Behandlungsfehler und das Ignorieren der Beschwerden von Patienten vorgehen zu können? (Was m. E. ein Riesenproblem ist, aber darum geht es hier ja nun nicht.) Nein, man kann sehr gut sehen, dass jemand eine große, besondere Aufgabe hat, und ihm trotzdem oder gerade deswegen nicht alles durchgehen lassen. Es wird immer „herausgehobene“ Menschen mit besonderen Aufgaben geben. Die Gutachter selbst erwähnen das Beispiel der Polizeigewalt, und dass innerhalb der Polizei nicht gerne deswegen gegen Kollegen ermittelt wird. Die Lösung dafür kann auch nicht sein, die Aufgabe der Polizei herunterzusetzen; ohne sie wären wir ziemlich aufgeschmissen.

Die Gutachter beschweren sich hier: „Trotz intensiver Bemühungen kirchlicherseits insbesondere im Bereich der Prävention ist für die Gutachter eine Bereitschaft vor allem der kirchlichen Hierarchie, diese jenseits der öffentlichkeitswirksamen Frage nach einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen Pflichtzölibat und sexuellem Missbrauch liegenden strukturellen beziehungsweise systemischen Fragen kritisch und ergebnisoffen zu untersuchen, nur vereinzelt erkennbar, gleichwohl aber dringend geboten. Dieses Desiderat besteht unabhängig davon, ob der Anteil der Missbrauchstäter unter den Priestern höher ist als im Bevölkerungsdurchschnitt oder nicht. Beide Ansichten werden vertreten. Entscheidend ist insoweit die herausragende Verantwortung, die die Kirche dadurch trägt, dass sie mit einem besonderen Vertrauensvorschuss ausgestattete Personen in verantwortlicher Stellung gegenüber ihren Gläubigen einsetzt und auch diesen gegenüber eine Fürsorgepflicht hat.“ (S. 1195f.)

Eine der Stellen, an denen eben auffällt, dass sie doch nur halb verstehen, wie man denkt, wenn man an Jesus glaubt, der nun einmal den Zölibat sehr empfohlen hat. Seltsam auch, dass sie meinen, es komme gar nicht darauf an, ob das kirchliche System wirklich für eine höhere Zahl an Missbrauchstätern sorge als anderswo – woran würde man denn sonst sehen, ob der Zölibat oder andere kirchentypische Faktoren einen messbaren schlechten Einfluss haben?

An einer anderen Stelle wird auch schon kritisiert, dass „früher“ einfach nicht über Sexualität gesprochen worden sei, und sie regen sich ein wenig über die katholische Sexualmoral auf. Das ist sicher nicht ganz falsch – aber nicht über etwas zu reden und etwas als schlecht zu sehen ist nicht dasselbe. Im 16., 17., 18. Jh. beispielsweise wurde offener über Sexualität geredet als im 19., ohne dass sich die Maßstäbe geändert hätten, was im Bereich der Sexualität als gut oder schlecht gilt. Man kann offen genug über Sexualität reden, und trotzdem nicht Unzucht feiern.

Schließlich empfehlen sie auch noch die Stärkung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern (z. B. in kirchlichen Kitas und Schulen), damit sie sich Grenzüberschreitungen widersetzen können.

Zuletzt wird dann eine Stärkung der Rolle der Frauen in kirchlichen Leitungsfunktionen empfohlen, um ein männerbündlerisches System zu verhindern; hier habe die Erzdiözese München-Freising jedoch schon gehandelt und Frauen eingestellt. Ich bin hier nicht so ganz überzeugt – Frauen sind nicht per se bessere Menschen, wie man auch an den vielen Fällen von familiärem Missbrauch sieht, in denen die Mutter den Vater oder Stiefvater deckt. Andererseits kann es schon sein, dass es nicht schlecht ist, wenn im Ordinariat auch ein paar Frauen arbeiten, es kann schon sein, dass die weniger Anlass sehen würden, einen „Mitbruder“, mit dem sie nicht besonders verbunden sind, schonend zu behandeln, und mehr beschützerische Instinkte gegenüber den Opfern hätten – aber ich weiß es nicht.

Damit beenden die Anwälte jedenfalls ihr eigentliches Gutachten, und es kommt der Anlagenband mit den Stellungnahmen von Benedikt XVI., Kardinal Wetter, Kardinal Marx und DDr. Beer, und Synopsen der Rechtsgrundlagen, und schließlich der Sonderband zu Fall 41.

(Frauenkirche München, Bildquelle hier.)

Missbrauch in München-Freising: Fälle in den 2010ern

Heute zu den Fällen, die unter Kardinal Marx (ab 2008) begannen bzw. bekannt wurden. Ich fasse wieder erst einmal nur die Fälle zusammen, wie sie das Gutachten darstellt; unten dann das Fazit, und das Gesamtfazit zu allen Fällen. In diesem Zeitraum wurden dem Erzbistum relativ viele Fälle bekannt, und die Gutachter haben Fehlverhalten nur in relativ wenigen Fällen festgestellt (die Fälle ohne Fehlverhalten sind hier gar nicht aufgeführt).

Fall 18: Der fragliche Priester ist von den 1950ern bis in die 1980er geistlicher Direktor eines Kinderheims. Anfang der 2010er melden sich zwei ehemalige Heimkinder bei der Erzdiözese und geben an, von dem Priester und den Ordensschwestern im Heim körperliche Misshandlungen erlebt zu haben. Ein Jahr später meldet sich ein anderer Mann, der ebenfalls von Schlägen durch die Ordensschwestern berichtet, aber auch von sexuellem Missbrauch durch den Priester. Der Priester, der schon im Ruhestand ist und in einer anderen Diözese lebt, wird angehört und streitet die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs entrüstet ab und mutmaßt, das mutmaßliche Opfer sei eventuell durch antikirchliche Berichterstattung dazu gebracht worden, solche Vorwürfe zu erheben. Auch zwei Ordensschwestern werden befragt, die angeben, keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch durch den Priester gesehen zu haben, und bloß angeben, die Kinder geohrfeigt zu haben, was der Priester seinerseits auch zugibt. Offizial Dr. Wolf meint in einer E-Mail: „Resümee: ich glaube nicht, dass er nicht stärker zugeschlagen hat, bin aber nicht überzeugt, das [sic] es zu sexuellem Missbrauch gekommen ist.“ (S. 485) Da einfach Aussage gegen Aussage steht, entscheidet die Erzdiözese, auf ein weiteres Verfahren zu verzichten (auch eine eigentlich vorgeschriebene Meldung an die Glaubenskongregation erfolgt nicht), leistet aber dem mutmaßlichen Opfer eine Zahlung von 5.000 € und erstattet seine Therapiekosten.

Fall 30: Anfang der 2010er meldet sich ein Mann beim Missbrauchsbeauftragten der Erzdiözese. Er sei Mitte der 1960er durch einen Priester sexuell missbraucht worden; es habe noch mehr Opfer gegeben und das Verhalten des Priesters (damals als Kaplan tätig) sei in der Gemeinde bekannt gewesen. Der Missbrauchsbeauftragte erstattet gleich darauf Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, die aber nur die Verjährung des Sachverhalts feststellt. Außerdem bittet er Offizial Dr. Wolf, zu prüfen, ob ein kirchenrechtliches Verfahren eingeleitet werden soll. Ein Mitarbeiter hält für Generalvikar DDr. Beer fest, bei einer kirchlichen Untersuchung könne man auch nur die Verjährung feststellen, Dr. Wolf erhält eine Kopie der Aktennotiz. Kardinal Marx trifft sich mit dem mutmaßlichen Opfer, und Dr. Wolf befragt den Priester, der „sich wiederholt dahingehend einließ, dass er es sich ’nicht vorstellen‘ könne, dass er den mutmaßlichen Geschädigten sexuell missbraucht habe“ (S. 515). Schließlich befragt er auch das mutmaßliche Opfer, und hat dabei Zweifel an dessen Schilderung. Seine Angaben seien nicht widerspruchsfrei und zu unkonkret, er verlange Schadensersatz, weil wegen des Missbrauchs so viel in seinem Leben falsch gelaufen sei, wolle keinen Eid ablegen, sondern nur eine eidesstattliche Erklärung. Er erhält später 5.000 € und die Zusage zur Übernahme weiterer Therapiekosten; die Missbrauchsbeauftragten stufen seine Geschichte als plausibel ein. Schließlich will die Erzdiözese doch eine kirchenrechtliche Voruntersuchung durchführen. Ein weiterer Mann wird als Zeuge befragt, der berichtet, er sei im Alter von zwölf Jahren bei einem gemeinsamen Urlaub durch den Priester sexuell missbraucht worden, und dieser sei dann mit ihm zur Beichte in ein Kloster gefahren. „Der Priester wurde daraufhin erneut befragt. Im Rahmen dieser Befragung gestand er den äußeren Tatbestand der von dem zweiten mutmaßlich Geschädigten geschilderten Missbrauchshandlungen und die gemeinsame Beichte ein. Er habe dabei jedoch nicht mit einer sexuellen Absicht gehandelt. Hinsichtlich der Vorwürfe des ersten mutmaßlich Geschädigten gab er erneut an, dass er sich diese nicht ‚vorstellen könne‘. Ausweislich des Befragungsprotokolls reagierte Offizial Dr. Wolf auf diese Einlassung wie folgt: ‚[…] ‚Das kann ich mir nicht vorstellen‘ heißt nach Ihrer Diktion, dass es unvorstellbar ist ‚ich kann mich weder erinnern noch glaube ich, dass es so war‘? […]‘ Daraufhin antwortete der Priester: ‚[…] Bei Bewusstsein kann ich mir das nicht vorstellen. […]'“ (S. 519f.) Offizial Dr. Wolf übermittelt den Untersuchungsbericht schließlich an Generalvikar DDr. Beer: Beim ersten mutmaßlichen Opfer bestünden Zweifel, die Schilderung des zweiten Opfers sei wahrscheinlich, aber eine vollständige Aufklärung sei nicht mehr möglich, Sicherheit nicht zu erlangen. Generalvikar DDr. Beer gibt die Anweisung, den Bericht nach Rom zur Glaubenskongregation weiterzuleiten, die entscheiden solle, wie weiter zu verfahren sei. Der Bericht wird aber aus irgendeinem Grund nicht weitergeleitet, was man nach über drei Jahren merkt. (Jetzt wird auch bemerkt, dass der Priester immer noch in der Seelsorge hilft.) Die Glaubenskongregation wird schließlich doch unterrichtet und ein Antrag auf Aufhebung der Verjährung gestellt. „Die Kongregation entschied zwei Monate nach der Übermittlung des Berichts, dass die Verjährung aufgrund des hohen Alters des Priesters nicht aufgehoben wird. Die Glaubenskongregation wies Erzbischof Kardinal Marx gleichzeitig darauf hin, dass dieser eine disziplinarische Maßnahme oder eine Buße, diese gegebenenfalls strafbewehrt, verhängen könne. Von dieser Möglichkeit wurde aufgrund des Alters des Priesters kein Gebrauch gemacht.“ (S. 521f.)

Fall 33: Ein Ordenspriester ist seit Anfang der 1990er für die Erzdiözese tätig. „Anfang der 2010er Jahre ging bei dem Orden des Priesters eine Meldung von Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen ein. Die Taten sollen Ende der 1960er Jahre stattgefunden haben. Damals war der Priester Präfekt eines Knabenseminars seines Ordens. Ein ehemaliger Schüler des Seminars gab im Rahmen der Meldung an, dass er und andere minderjährige Schüler von dem Priester nachts im Schlafsaal mehrfach sexuell missbraucht worden seien. Sie hätten die Vorfälle damals beim Seminardirektor angezeigt, jedoch sei vonseiten des Knabenseminars daraufhin nichts unternommen worden. Vielmehr sei der Priester Präfekt geblieben.“ (S. 535) Der Priester gesteht die Übergriffe gegenüber einem Ordensoberen ein, und der Orden meldet es der Erzdiözese. Offizial Dr. Wolf und Generalvikar DDr. Beer planen Maßnahmen gegen ihn: Die Sache soll an die Staatsanwaltschaft und die Glaubenskongregation gemeldet werden, der Priester soll keinen Kontakt mehr mit Jugendlichen haben und eine Therapie machen müssen, usw. Der Vertrag mit ihm wird beendet, er wird von seinem Amt als Krankenhausseelsorger entpflichtet und zieht in eine benachbarte Diözese um. Leider ist nicht klar, wie es weitergeht. „Ob und inwieweit die weiteren geplanten Maßnahmen umgesetzt wurden, ergibt sich aus den Akten nicht.“ (S. 536)

Fall 48: Anfang der 2010er beschuldigt ein Mann einen Diakon, ihn sexuell missbraucht zu haben. Bei einer Befragung schildert er zwei Vorfälle: „Im Alter von sechs oder sieben Jahren, in einem Zeitraum von einem Jahr Anfang der 1980er Jahre, habe der Diakon den mutmaßlich Geschädigten in pfarrlichen Räumen auf die Toilette begleitet. Dort habe er vor dessen Augen uriniert und dabei versucht, seinen Penis in den Mund des mutmaßlichen Geschädigten zu stecken. Schließlich habe er auf den mutmaßlich Geschädigten ejakuliert. Der zweite Vorfall habe sich drei bis vier Jahre später ereignet. Beim Spielen in einem Hinterhof hätten der mutmaßliche Geschädigte und seine Schwester vier Männer wiederholt beim Sex beobachtet. Einmal seien sie dabei erwischt worden. Der mutmaßliche Geschädigte sei von einem der Männer in einen Raum gezogen und dort anal vergewaltigt worden. Während der Vergewaltigung seien insgesamt vier Männer anwesend gewesen. Dies seien der Diakon, der Ortspfarrer, der Hausmeister der Pfarrei und noch ein vierter Mann, den der mutmaßliche Geschädigte aber nicht erkannt habe, gewesen. Nähere Angaben zum Vergewaltiger habe der mutmaßliche Geschädigte nicht machen können, da er bäuchlings auf einer Bank gelegen habe. Nach der Tat hätten die Männer zu ihm gesagt, es dürfe niemandem etwas erzählen, da seiner Familie sonst etwas Schlimmes passiere. Dann habe er gehen dürfen. Zwei Jahre vor seiner Meldung an das Erzbischöfliche Ordinariat habe der mutmaßliche Geschädigte dann eine Arbeitsstelle in der Pfarrei angetreten und dort den Diakon als seinen Peiniger wiedererkannt. Eigentlich hätten sie ein gutes Verhältnis gehabt, aber der mutmaßliche Geschädigte habe starke Rachegefühle aufgebaut. Um diese Gefühle loszuwerden, habe er sich dem Stadtpfarrer anvertraut.“ (S. 581) Der Diakon wird nach diesen Anschuldigungen zunächst versetzt. Die mutmaßlichen Taten sind kirchenrechtlich schon verjährt, aber mit Blick auf die Möglichkeit der Aufhebung der Verjährung wird der Diakon befragt. Er bestreitet die Vorwürfe. „In der Folge nahmen die Eltern des mutmaßlichen Geschädigten Kontakt mit dem Missbrauchsbeauftragten auf und teilten mit, dass die ordinariatsseits zunächst als plausibel angesehenen Vorwürfe nicht der Wahrheit entsprächen. Der mutmaßliche Geschädigte sei seit geraumer Zeit ’sehr angeschlagen, phantasiere und kriege sein Leben nicht in den Griff‘. Nach den Feststellungen des Erzbischöflichen Ordinariates befand er sich zum fraglichen Zeitpunkt in stationärer fachärztlicher Behandlung. Die als erforderlich angesehene erneute Befragung des mutmaßlichen Geschädigten musste daher zunächst unterbleiben.“ (S. 582) Das Vorverfahren wird erst einmal eingestellt, weil man das mutmaßliche Opfer, das an Schizophrenie leidet, nochmals befragen will, aber sein Gesundheitszustand das nicht zulässt. Irgendein weiteres Vorgehen ergibt sich aus den Akten nicht. (Es klingt gut möglich, dass der Mann gelogen oder sich etwas eingebildet hat – die Geschichte mit der Gruppenvergewaltigung wirkt schon sehr drastisch -, aber natürlich kann man das nicht einfach so sagen; auch psychisch kranke Menschen können Opfer von Verbrechen werden, oder Verbrechensopfer psychisch krank werden.)

Fall 60: Ein Priester erstattet Anfang der 2010er auf Anraten eines hochrangigen Mitarbeiters der Erzdiözese Selbstanzeige gegen sich wegen sexuellem Missbrauch. „Gegenstand dieser Selbstanzeige waren eine Hotelübernachtung mit zwei Jungen (zwölf und 14 Jahre alt), die in einem Kinderdorf lebten, nach einem Musicalbesuch sowie einem Saunabesuch anlässlich eines Schwimmbadausflugs und Berührungen eines Jungen aus dem Dorf durch den Priester. Mit dem 14jährigen Jungen, seinem Patenkind, hatte der Priester in einem Hotel in einem Doppelbett geschlafen.“ (S. 607f.) Neun Monate nach Beginn der Ermittlungen werden dem Priester Auflagen durch Generalvikar DDr. Beer gemacht: Kein Kontakt mit Kindern mehr, monatliches Gespräch mit dem Personalreferenten, verpflichtende therapeutische und seelsorgerliche Begleitung. Außerdem soll ein forensisch-psychiatrisches Gutachten über ihn in Auftrag gegeben werden. Das wird dann allerdings auf Anraten von Offizial Dr. Wolf aufgeschoben. „Dem Priester wurde erklärt, dass eine Untersuchung nicht durchgeführt werden solle, solange noch keine Einsicht in die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft erfolgt sei. Sollte sich aus den Akten ergeben, dass ein Missbrauch nicht vorliege, dann werde die Sache beendet. Sei die Sache hingegen ‚unklar‘, werde die psychiatrische Untersuchung in Betracht gezogen.“ (S. 608) Zwei Monate später wird das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft eingestellt, und Generalvikar DDr. Beer hebt die Auflagen auf. Eine kirchenrechtliche Voruntersuchung findet nicht statt, auch die Glaubenskongregation wird nicht unterrichtet.

Fall 61: „Nachdem bereits unmittelbar nach seiner Priesterweihe fortlaufend Beschwerden gegen den Priester aufgrund seines zumindest fragwürdigen Nähe-Distanz-Verhältnisses vorgebracht worden waren und dieser keinerlei Einsicht in sein Fehlverhalten zeigte, wurde Ende der 2000er Jahre ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen den Priester wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger eingeleitet. Dem Priester wurde vorgeworfen, einen Monat vor Beginn der Ermittlungen ein minderjähriges Mädchen an der Brust massiert zu haben, während sich die beiden eine pornografische DVD angeschaut haben sollen.“ (S. 609f.) Er wird von seinem Amt beurlaubt und darf keinen Religionsunterricht mehr erteilen. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren allerdings ein, offenbar wegen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugin. Kardinal Marx veranlasst eine kirchenrechtliche Voruntersuchung. Offizial Dr. Wolf kommt zu dem Ergebnis, „dass eine Klageerhebung gegen den Priester vor dem kirchlichen Gericht nicht angezeigt sei, da es einen sexuellen Missbrauch eines minderjährigen Kindes auch im Sinne des kirchlichen Rechts nicht gegeben habe. Nach strenger Auslegung der Normen ‚Delicta graviora‘ sei der Sachverhalt, so Dr. Wolf, gegenüber der Glaubenskongregation anzuzeigen. Nach Recht und Billigkeit sei aber abzuwägen, ob durch das staatliche Verfahren der Verdacht nicht ausreichend ausgeräumt sei. Von erheblicher Bedeutung sei dabei aber die Tatsache, dass der Priester nicht zum ersten Mal in der Zeit seines priesterlichen Dienstes in den Verdacht unkorrekten Verhaltens gegenüber Minderjährigen gekommen sei. Es sei zudem festzustellen, dass dieser keine Einsicht betreffend die in Rede stehenden Vorfälle zeige und immer wieder im Zusammenhang mit Berührungen von Kindern damit argumentiere, sich in seinem seelsorgerischen Impetus durch Verdächtigungen nicht irritieren lassen zu wollen.“ (S. 610f.). Im Gutachten steht nichts dazu, wie es weiterging, offenbar waren die Akten hier zu Ende. Einige Akten zu diesem Fall wurden den Gutachtern erst verspätet auf ausdrückliche Anfrage zur Verfügung gestellt.

Fall 65: Mitte der 2010er teilt ein Priester dem Erzbistum mit, er habe eine Beziehung und wolle nicht mehr im Zölibat leben; er wird von Generalvikar DDr. Beer von seinem Amt als Kaplan entpflichtet. Gegenüber seinem Dekan räumt er ein, dass er die Beziehung mit einer 16jährigen führt (er habe erst Sex mit ihr gehabt, seitdem sie 16 sei, und ihre Eltern wüssten Bescheid und seien einverstanden). Der Dekan informiert Generalvikar DDr. Beer, der dem Priester eine Verwarnung erteilt. „Der Leiter der Abteilung Kirchenrecht kam wenige Tages später in einer E-Mail an die Missbrauchsbeauftragte und den zuständigen Fachreferenten zu der Einschätzung, dass sowohl die Einleitung einer kirchenrechtlichen Voruntersuchung als auch eine Meldung an die Glaubenskongregation zu erfolgen habe und er Generalvikar DDr. Beer hierüber in Kenntnis setzen werde. Einen Monat nach dieser Mitteilung erfolgte per Strafdekret – ebenfalls durch Generalvikar DDr. Beer – die Suspendierung gemäß c. 1331 CIC/1983 mit Untersagung der Ausübung aller Weihe- und Leitungsgewalt. Der Priester strebte in Folge seine Laisierung an. Ob diese mittlerweile vollzogen wurde, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Eine kirchenrechtliche Voruntersuchung sowie eine Meldung an die Glaubenskongregation sind nicht dokumentiert.“ (S. 620)

Fazit: Die Situation hat sich in dieser Zeit definitiv gebessert – was vermutlich an der allgemeinen Sensibilisierung für das Thema und der Existenz der Missbrauchsbeauftragten liegt, man konnte das Thema nicht mehr einfach so ignorieren. Es zeigt sich definitiv keine solche Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern mehr wie seit den 1960ern. Allerdings kann man schon noch Versäumnisse feststellen, z. B. dass verpflichtende Meldungen an die Glaubenskongregation nicht stattfinden, oder Offizial Dr. Wolf zögert, eine richtige Voruntersuchung einzuleiten, oder es ungewöhnlich lange dauert, bis Maßnahmen ergriffen werden. Kardinal Marx oder Generalvikar DDr. Beer wirken aber nicht wie entschiedene Vertuscher.

Gesamtfazit: In den 1940ern und 1950ern unter Kardinal Faulhaber und Kardinal Wendel sieht man, dass durchaus Maßnahmen ergriffen werden und Verdachtsmomenten nachgegangen wird, allerdings wurde nicht in allen Fällen genug getan; vermutlich war den Verantwortlichen nicht ganz bewusst, wie groß der Schaden an den Kindern/Jugendlichen ist, und man verließ sich auf die Besserung von Tätern nach Abbüßung einer Strafe. Man hätte mehr tun können, Fälle wurden auch nicht nach Rom ans Heilige Offizium (Vorgängerorganisation der Glaubenskongregation) gemeldet. Die Gutachter bemerken kritisch, man sehe keine Bemühungen um Kontakt mit den Opfern; ich würde vermuten, dass die Erzbischöfe das einfach nicht als ihre Aufgabe wahrnahmen und sich auf die Täter konzentrierten, so wie nicht unbedingt ein persönliches Gespräch eines weltlichen Richters mit Verbrechensopfern erwarten würde (auch wenn das vielleicht gar keine schlechte Idee wäre). Generalvikar Buchwieser ging es nach Ansicht der Gutachter offenbar zu sehr um die mögliche Rufschädigung für die Kirche, Generalvikar Dr. Fuchs konnte durchaus streng vorgehen, ging aber einem Anfangsverdacht auch nicht immer genug nach.

Ab den 1960ern wird die Situation dann katastrophal, man sieht durchgehend eine ziemliche Gleichgültigkeit beim Erzbistum, sowohl unter Kardinal Döpfner als auch unter Kardinal Wetter; Täter wurden oft einfach nur versetzt, und zwar als „Strafe“ höchstens mal in die Krankenhaus- oder Altenheimseelsorge, was ihnen neue Taten keineswegs unmöglich machte (auch da gibt es Ministranten und die Priester helfen mal in der örtlichen Pfarrei aus). Generalvikar Defregger war ziemlich gleichgültig, Generalvikar Dr. Gruber übernahm auch auffallend viele Missbrauchstäter aus anderen Diözesen. Generalvikar Dr. Simon agierte recht passiv, auch Offizial Dr. Wolf war noch zurückhaltend bei der Einleitung von Verfahren, auch wenn es zu seiner Zeit schon besser wurde.

(In die kurze Amtszeit von Kardinal Ratzinger fallen sechs Fälle, in denen die Gutachter bei ihm kein Fehlverhalten sehen, und vier Fälle, die sie näher behandelt haben. Hier ist für mich nicht klar, wie gut er informiert war; man sollte ihn weder gleich schon verurteilen noch gleich völlig freisprechen. Das Gutachten behandelt, wie ich erst verspätet gesehen habe, seine Stellungnahmen nochmals ab S. 682. Er bestreitet hier vor allem, angemessen informiert worden zu sein (und es ist durchaus vorstellbar, dass z. B. der negativ auffällige Generalvikar Dr. Gruber ihm wenig mitgeteilt hat). Ich will hier kein Urteil fällen; aber es ist auch möglich, dass er etwas wusste und nicht ausreichend reagiert hat, und sich einfach nicht erinnern will (bewusste Lügen will ich ihm nicht unterstellen). Die Gutachter selbst ziehen ihre Vorwürfe in einem Fall (Fall 22) zurück, erhalten sie aber in den anderen drei Fällen eher aufrecht.)

Irgendwann nach dem Jahr 2000, etwa um 2010, beginnt dann wieder ein Umdenken, es werden Missbrauchsbeauftragte eingesetzt, auch ältere Fälle werden gemeldet und die mutmaßlichen Opfer erhalten Entschädigungen. Ganz einwandfrei ist das Vorgehen der Erzdiözese auch jetzt nicht immer, aber man sieht eine deutliche Änderung; es wurden auch viele Fälle gemeldet, die im Gutachten nicht aufgeführt wurden, weil die Gutachter kein Fehlverhalten sahen. Die Gutachter sehen bei Kardinal Marx kein außergewöhnlich intensives Interesse oder entschlossenes Vorgehen, aber haben keine härteren Vorwürfe zu machen; er hat sich auch mehrmals mit Missbrauchsopfern getroffen. Generalvikar DDr. Beer scheint recht konsequent vorgegangen zu sein. Die Gutachter bewerten die Präventionsarbeit in diesem Zeitraum als vorbildlich.

Auffällig ist aber, dass im gesamten Zeitraum kaum eine kirchenrechtliche Verurteilung nach den Straftatbeständen im alten CIC von 1917 bzw. im neuen CIC von 1983 erfolgte, was sicher öfter möglich gewesen wäre. Das Kirchenrecht war da, aber oft ging man nur mit Disziplinarmaßnahmen vor.

Um ehrlich zu sein, diese Gesamtsituation überrascht mich nicht besonders. In den 1960ern begann allgemein eine Zeit, in der man mehr Verständnis mit Verbrechern haben wollte, in der auf ihre Therapierbarkeit gesetzt wurde, und in der der Schaden durch sexuellen Missbrauch verharmlost wurde, in manchen Kreisen sogar für die Legalisierung von Sex mit Kindern geworben wurde. Und in den 2010ern wurde dann überall über Missbrauch in der Kirche geredet und man konnte das Thema gar nicht mehr in dieser Weise ignorieren. Ein bisschen unerwartet ist höchstens, dass es auch in den 1990ern und 2000ern noch oft so schlecht war.

Die Frage nach der genauen Schuld der einzelnen Beteiligten ist wohl eine, die nur Gott beantworten kann.

PS: Um das noch einmal klarzustellen, ich habe das 2000seitige Gutachten nicht vollständig, sondern nur ausschnittsweise gelesen; ich hoffe, das hat trotzdem für einen gewissen Einblick gereicht. Die Stellungnahmen von Beteiligten wie Dr. Gruber beispielsweise habe ich nicht alle gelesen, sondern nur die Zusammenfassungen der Gutachter.

Missbrauch in München-Freising: Fälle in den 80ern, 90ern, 2000ern

Heute zu den Fällen, die unter Kardinal Wetter (1982-2007) begannen bzw. bekannt wurden. Ich fasse wieder einfach nur die Fälle zusammen, wie sie das Gutachten darstellt; unten dann das Fazit.

Fall 43: Der Generalvikar einer anderen Diözese bittet Generalvikar Dr. Gruber um Hilfe für einen Priester, der alkoholsüchtig sei und bei dem sich unter Alkoholeinfluss homosexuelle Tendenzen zeigten. Generalvikar Dr. Gruber und Kardinal Wetter beschließen, ihn im Erzbistum aufzunehmen und als Krankenhausseelsorger einzusetzen. Außerdem wird er Hausgeistlicher eines Mädchenwohnheims, später eines Altenheims. Mitte der 2000er tritt er in den Ruhestand. „Anfang der 2010er Jahre meldete sich eine männliche Person bei der Missbrauchsbeauftragten und schilderte durch den Priester in dessen Diözese Mitte der 1970er Jahre erlittenen sexuellen Missbrauch. Zugleich wies die mitteilende Person darauf hin, dass der Priester Anfang der 1980er Jahre in seiner Inkardinationsdiözese wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden sei und bat um Prüfung, ob in der Erzdiözese München und Freising Vergleichbares vorgefallen sei. Der Fall wurde schließlich erst fünf Jahre später weiterbearbeitet. Dabei kam es zum Austausch zwischen der Erzdiözese München und Freising und der Inkardinationsdiözese des Priesters. Letztere bestätigte daraufhin gegenüber der Erzdiözese München und Freising dessen strafrechtliche Verurteilung wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern.“ (S. 574) In München-Freising sind keine Opfer bekannt; aber Generalvikar Dr. Gruber und Kardinal Wetter haben sich offenbar nicht dafür interessiert, wie genau es mit der Vergangenheit des Priesters aussah, als die andere Diözese ihn loswerden wollte. Vor allem kann man hier aber dieser anderen Diözese Vorwürfe machen.

Fall 44: Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre gibt es Vorwürfe ans Erzbistum in Bezug auf einen Mann, der sich in der Ausbildung zum Diakon befindet. Er soll einige Jahre vorher, als er in seinen späten Zwanzigern war, eine Beziehung mit einem 14jährigen Mädchen gehabt haben. „Darüber hinaus wurde ihm auch vorgeworfen, sich anderen Mädchen aus der fraglichen Firmgruppe ungebührlich genähert, sie insbesondere geküsst zu haben.“ (S. 575) In seiner Personalakte finden sich handschriftliche Notizen, auf denen solche kurzen Bemerkungen stehen, wie etwa:

„‘Sie ist deswegen sehr schwer krank geworden‘.
Sie geht nicht mehr in die Kirche in […].
[…] [Anm.: damaliger Diakon] weiß davon, sie wartet auf die Zeit wo er weg ist. Da geht sie wieder in die Kirche.
Nicht gleich zur Polizei gehen.
Durch einen RA an Frau […] schreiben.
Zuerst spricht er mit dem Herrn Kardinal.“
(S. 575f.)

Der Mann wurde zwei Jahre später zum Diakon geweiht; irgendwelche Konsequenzen sind nicht ersichtlich.

Fall 45: Mitte der 1980er erhält die Erzdiözese anonyme Hinweise, dass ein Priester sich etwas mit Ministranten habe „zu Schulden kommen lassen“ (S. 576). „Über das Justiziariat wurde dem Priester ein Rechtsanwalt empfohlen, da die staatlichen Behörden in dieser Sache ermittelten. Kurz darauf ging eine Anklageschrift im Erzbischöflichen Ordinariat ein, in der dem Priester sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit der Vornahme homosexueller Handlungen vorgeworfen wurde. Der Priester bestritt die Vorwürfe gegenüber Generalvikar Dr. Gruber ausweislich einer handschriftlichen Notiz des Generalvikars. Dieser wandte sich einen Monat nach Eingang der Anklageschrift in einem Schreiben direkt an den Priester und drückte seine Hoffnung aus, dass er sich durch die, von Dr. Gruber als ‚Widerwärtigkeit‘ bezeichneten Vorwürfe gegen seine Person, nicht entmutigen lasse.“ (S. 576) Der Priester erhält eine Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 70 DM wegen sexueller Handlungen an und mit einem 15jährigen Ministranten. Es gibt keine kirchlichen Konsequenzen; der Priester bleibt noch zwölf Jahre in derselben Gemeinde. Lange später meldet sich ein weiteres Opfer. „Ende der 2010er Jahre meldete sich ein anonymer kirchlicher Mitarbeiter beim Missbrauchsbeauftragten der Erzdiözese. Dieser berichtete, dass er im Alter von 14 Jahren als Ministrant in der Gemeinde des Priesters durch diesen sexuell missbraucht worden sei.“ (S. 577) Der Vorwurf wird als plausibel eingestuft. Als in diesem Zusammenhang noch einmal die Akte des Priesters durchgesehen wird, wird festgestellt, dass sich die Unterlagen zum ersten Fall zunächst lange nur in der persönlichen Ablage von Generalvikar Dr. Gruber befunden haben und erst später, nachdem diese ins Archiv gegeben worden ist, der Personalakte hinzugefügt worden sind.

Fall 46: Ein Priester aus einer ausländischen Diözese ist seit Anfang der 1980er in München-Freising tätig. Es wird gegen ihn der nicht näher konkretisierte Vorwurf des unpriesterlichen Lebenswandels erhoben; Mitte der 1980er wird er vom Religionsunterricht entbunden, nachdem er einen Schüler körperlich gezüchtigt haben soll. „Aus dem gleichen Jahr stammt auch der Vorwurf, der Priester habe sich einer ca. 18jährigen Ministrantin auf der Rückreise von einer Ministrantenfahrt nach Rom in ‚eindeutiger‘ Absicht genähert. Aufgrund dieser Vorfälle kam es zwischen dem Priester, dem Personalreferenten und dem zuständigen Weihbischof wiederholt zu Gesprächen, über die Generalvikar Dr. Gruber sowie Erzbischof Kardinal Wetter informiert wurden. Der Priester bestritt dabei die gegen ihn erhobenen Vorwürfe.“ (S. 578) Die Diözese stellt fest, das Verhältnis zwischen ihm und der Gemeinde sei zerrüttet und entpflichtet ihn von seinem Amt. Er hält sich kurz in einem Kloster auf und wird dann in eine andere Diözese geschickt. „Aus einem der Akte beigefügten Zeitungsausschnitt ergibt sich, dass der Priester zeitlich nachfolgend in seiner neuen Diözese wegen Vergewaltigung in vier minderschweren Fällen zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Die Tat erfolgte nur ein Jahr nach seinem dortigen Dienstantritt. Die Geschädigte soll ausweislich des Zeitungsberichtes seine ehemalige Haushälterin und Geliebte gewesen sein. Die neue Diözese habe den Priester daraufhin seines Amtes als Pfarradministrator enthoben.“ (S. 578f.)

Fall 47: Ein ausländischer Priester ist Anfang der 2000er in der englischsprachigen Gemeinde in München-Freising tätig, als Kardinal Wetter von einem ausländischen Bischof ein Schreiben erhält, dass „eine
dort vorgenommene Aktendurchsicht ergeben habe, dass ein damals 16jähriges Mädchen Mitte der 1980er Jahre gegenüber seinem Amtsvorgänger den einer anderen ausländischen Diözese angehörenden Priester des sexuellen Missbrauchs beschuldigt habe“
(S. 579). (Der Priester war damals in der Diözese dieses Bischofs zu Besuch.) Der ausländische Bischof hat diesen Fall auch den staatlichen Behörden gemeldet. Das Opfer verzichtet jedoch auf eine Anzeige, nachdem der Priester mit ihr „eine Vereinbarung hinsichtlich einer finanziellen Zuwendung getroffen habe“ (S. 580), zieht die Vorwürfe aber nicht zurück. Der Priester bleibt weiterhin in seiner Gemeinde in München-Freising und scheidet Ende der 2000er aus Altersgründen aus.

Fall 48 wird im nächsten Artikel behandelt, weil die Vorwürfe erst in den 2010ern aufkamen.

Fall 49: Ein Ordenspriester ist seit Ende der 1980er in München-Freising, übernimmt dort Urlaubsaushilfen und ist in der Seelsorgemithilfe tätig. „Ein Jahr später bat er um die Übertragung einer eigenen Pfarrstelle, die sich jedoch nicht realisierte. In einer kurz darauf stattfindenden Ordinariatssitzung wurde in Anwesenheit von Generalvikar Dr. Simon festgehalten, dass ein Einsatz des Priesters in der Seelsorge der Erzdiözese aufgrund der vorliegenden Informationen nicht infrage komme, ohne dass dies näher konkretisiert wurde. Drei Monate später teilte der Provinzial des Ordens der Erzdiözese mit, dass der Priester strafrechtlich in Erscheinung getreten sei und eine homosexuelle Vergangenheit habe. Hintergrund dieser Angaben sind ein Strafbefehl der ein Jahr vor der Versetzung in die Erzdiözese München und Freising erging, sowie ein nicht näher konkretisierter Vorfall im Ausland, wo der Priester als Missionar tätig war. Zudem habe es in einer anderen deutschen Diözese einen Vorfall mit einem ‚jungen Mann‘ gegeben, der nicht näher erläutert wird. Im Strafbefehl wird eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit homosexuellen Handlungen festgesetzt. Bei dem Geschädigten handelt es sich um einen dem Priester aus dem Religionsunterricht bekannten und als Ministrant tätigen Jungen.“ (S. 583) Dennoch wird er in eine andere Gemeinde zur Aushilfe geschickt. Nachdem es nach zwei Jahren Beschwerden über ihn gibt, wird er teilweise von seinen Aufgaben entpflichtet. Sein Ordensprovinzial äußert sich über ihn wie folgt: „Es wird nirgendwo lange gut gehen. Er ist stets auf der Flucht vor sich selbst.“ (S. 584) Er wird daraufhin von Generalvikar Dr. Simon von allen seinen Aufgaben entpflichtet, woraufhin sich seine Befürworter in der Gemeinde beschweren. Er wird Hausgeistlicher in einem Altenheim und übernimmt zwischendurch Urlaubsvertretungen. Insgesamt bleibt er noch 18 Jahre im Dienst der Erzdiözese.

Fall 50: Ein Priester, der ursprünglich aus einer anderen Diözese stammt, ist von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Offizial in München-Freising. Es gibt bereits früh Gerüchte, er sei homosexuell. Mitte der 1990er weist Kardinal Wetter Generalvikar Dr. Simon an, hier genauer nachzuforschen. Die Nachforschungen ergeben, dass der Priester sich oft an Homosexuellentreffpunkten aufhält, wo auch minderjährige männliche Prostituierte zu finden sind. Außerdem: „Aus dem Umfeld einer Gruppe von Priestern und Ordensleuten, die sich selbst als homosexuell bezeichnen, gab es weitere Hinweise auf die Homosexualität des Priesters. Dieser sei im Kreis der ‚Familie‘ (der Homosexuellen) nicht ‚anerkannt‘, da er seine Homosexualität leugne. Auch aus dieser Gruppe wurde darüber hinaus bestätigt, dass der Priester regelmäßig eine als Treffpunkt von Homosexuellen genutzte öffentliche Toilette aufsuchte.“ (S. 586) Der Priester bestreitet die Vorwürfe und will sein Amt zuerst nicht aufgeben, gibt dann aber nach; er erhält eine großzügige Altersversorgung. In den 2000ern gibt es neue Vorwürfe: „In einem undatierten und anonymen Schreiben schildert ein anonymer Hinweisgeber, der angab, Mitarbeiter der Erzdiözese zu sein, dass er ab dem Ende der 1980er Jahre im Alter von 14 Jahren während seiner Zeit als Ministrant im Liebfrauendom für ca. drei Jahre von dem Priester berührt und sexuell genötigt worden sei. Zudem habe der Priester sich über Jahre hinweg an Jugendlichen, vorwiegend an der Domjugend, vergriffen. Darüber hinaus ist von Partys in seiner Wohnung die Rede, bei denen es neben übermäßigem Alkoholkonsum auch zu sexuellen Kontakten mit Heranwachsenden gekommen sei. Der anonyme Hinweisgeber schildert weiter, dass der Priester ihn mit finanzieller Unterstützung und der Anstellung in der Erzdiözese zum Stillschweigen über die vorgenannten Vorwürfe bewegt habe. Der Priester habe gegenüber dem Hinweisgeber zudem selbst erwähnt, dass Erzbischof Kardinal Wetter von diesen Vorgängen Kenntnis habe. Das Schreiben ist an den in den 2000er Jahren tätigen Missbrauchsbeauftragten der Erzdiözese adressiert. Der Eingang des Schreibens lässt sich damit auf diesen Zeitraum eingrenzen. Weitere Aktivitäten des Erzbischöflichen Ordinariats infolge dieser Mitteilung sind den Akten nicht zu entnehmen, insbesondere in Bezug auf die Einleitung eines formellen kirchlichen Verfahrens und die Unterrichtung der Glaubenskongregation.“ (S. 587) (Hier fragt sich, ob der Kardinal wirklich damals schon so genau davon wusste, oder der Priester das bloß behauptet hat, um sein Opfer einzuschüchtern.)

Fall 51: „Aufgrund eines außerehelichen Verhältnisses mit einer erwachsenen Frau wurde der Diakon mit Dekret des Erzbischofs Kardinal Wetter Mitte der 2000er Jahre ‚wegen wiederholter Verfehlungen‘ gemäß c. 1395 § 2 CIC/1983 und der damit einhergehenden Schädigung seines guten Rufes suspendiert. Soweit ersichtlich, betraf die Suspendierung lediglich die Stelle als Diakon. Der Diakon blieb zunächst weiterhin Religionslehrer und bis auf Weiteres auch Präses einer Kolpingsfamilie.“ (S. 589) Wenige Monate später meldet sich eine Frau, die angibt, er habe ihre jetzt 26jährige Tochter als Zehn- oder Elfjährige sexuell missbraucht, nämlich soll er sie „zwecks Notenaufbesserung zu sich ins Pfarrhaus bestellt und sie gezwungen haben, sich auszuziehen, sowie sie sodann überall berührt haben“ (S. 589) Er wird von der Erteilung des Religionsunterrichts freigestellt und Offizial Dr. Wolf zeigt die Vorwürfe bei der Staatsanwaltschaft an. Er wendet sich auch an die Familie des mutmaßlichen Opfers, mit einer Entschuldigung und einer Bitte um schriftliche Niederlegung des genauen Sachverhalts. Das mutmaßliche Opfer selber will jedoch keine Aussagen machen, und die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren wegen Verjährung ein. Bei den Ermittlungen kommen auch Behauptungen auf, der Diakon habe einmal in einem Sommerlager mit einer 15jährigen „geknutscht“ und „geschmust“, denen aber nicht weiter nachgegangen wird. Nachdem ein psychiatrisches Gutachten ihm bescheinigt, man könne ihn in der Krankenhausseelsorge einsetzen, wird das getan. Er selber bestreitet die Vorwürfe. „Ende der 2010er Jahre wurde abermals ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. In diesem Zusammenhang stellte sich heraus, dass die mutmaßliche Geschädigte an einer paranoiden Schizophrenie litt. Dieses Mal wurde darüber hinaus auch der Mitte der 2000er Jahre gemeldete Sachverhalt aus dem Sommerferienlager untersucht. Letztlich wurde jedoch auch dieses Verfahren, diesmal allerdings in Ermangelung eines Tatnachweises, eingestellt.“ (S. 591) Letztendlich ist hier nicht klar, ob die Vorwürfe stimmen oder nicht – das Mädchen kann sich einerseits etwas eingebildet haben, andererseits kann ein Pädophiler sich auch gerade ein psychisch krankes Mädchen als leichtes Opfer suchen.

Fall 52: Ein Priester wird Anfang der 1990er im Ausland zu einer Haftstrafe verurteilt wegen „sexuellen Missbrauchs eines Unmündigen, Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses, körperlicher Misshandlung und Zugänglichmachung pornografischer Inhalte an eine Person unter 16 Jahre“ (S. 591). Nachdem er sie verbüßt hat, bittet die ausländische Diözese die Erzdiözese München-Freising darum, den Priester aufzunehmen; dabei wird sie auch über die Vorgeschichte informiert. Im Erzbistum wird darüber beraten; Generalvikar Dr. Simon und Personalreferent Dr. Gruber haben bei einem Vorstellungsgespräch einen guten Eindruck, und ein Anstaltspsychologe bescheinigt dem Priester, bei ihm bestehe keine Rückfallgefahr. Man schickt ihn also in eine Pfarrei des Erzbistum. „Nur wenige Wochen nach Dienstbeginn fiel bereits auf, dass der Priester mit dem Thema (Homo-)Sexualität vor allem auch gegenüber Minderjährigen sehr freizügig umging; allem Anschein nach ein Hinweis und Warnsignal dafür, dass der Priester die zur Verurteilung führende Suche nach sexueller Nähe zu Kindern und Jugendlichen nicht überwunden hatte. Davon wurde auch der damalige Personalreferent Dr. Gruber unterrichtet. Daraufhin offenbarte der Priester den örtlichen Verantwortungsträgern seine Vorgeschichte. Dem zuständigen Weihbischof wurde vorgeworfen, die Verantwortlichen vor Ort seien hierüber nicht unterrichtet worden. Der Fall wurde in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit diesen Ereignissen erneut in der Sitzung der Ordinariatsräte behandelt. Es wurde entschieden, dass der Priester zunächst seinen Wohnsitz in einem Kloster nehmen und von dort in der Altenheimseelsorge tätig sein und in der Seelsorgemithilfe eingesetzt werden solle. Darüber hinausgehende inhaltliche Tätigkeitsbeschränkungen wurden ihm nicht auferlegt.“ (S. 592) Er selber lehnt später Aufgaben mit größerer Öffentlichkeitswirksamkeit ab, damit es nicht wieder Gerede über ihn gibt.

Fall 53: Ein Priester, der alkohol- und tablettenabhängig ist, und deswegen u. a. mehrmals betrunken zur Messe erschienen ist, wird Anfang der 1990er versetzt, und zwar wird er Hausgeistlicher in einer Betreuungseinrichtung für Menschen mit Behinderung der katholischen Jugendfürsorge. „Im Rahmen dieser Tätigkeit kam es nur vier Monate später zu einer Vielzahl von psychologisch auffälligen Verhaltensweisen des Priesters, die dem damaligen Personalreferenten mit einem Schreiben des Leiters der Einrichtung zur Kenntnis gebracht wurden. Darunter befand sich der Vorwurf, dass sich der Priester Heimbewohnerinnen, bei denen es sich aufgrund der Art der Einrichtung um Minderjährige und/oder Schutzbefohlene handelte, unangemessen genähert und sich mit diesen in einem Zimmer eingeschlossen habe.“ (S. 593) Generalvikar Dr. Simon teilt ihm mit, dass er von seinem Posten abgezogen wird und „sich, notfalls zwangsweise, einer Therapie unterziehen müsse“ (S. 594). Es wird jedoch nichts an die staatlichen Behörden gemeldet oder genauer nachgeforscht. Einige Monate später, nach ärztlicher Behandlung, befindet man ihn wieder für teilweise einsatzfähig, in die Einrichtung soll er aber nicht zurück. „Zeitlich nachfolgend versuchte der Priester jedoch, sich Zutritt zu der Betreuungseinrichtung zu verschaffen, woraufhin ihm ein Hausverbot erteilt wurde. Anschließend zeigten sich Bestrebungen, den Priester in den Ruhestand zu versetzen. Dieser erkrankte jedoch schwer und verstarb.“ (S. 594)

Fall 54: Mitte der 1990er ergeht ein Strafbefehl (Geldstrafe in Höhe von 10.000 DM) gegen einen in München-Freising tätigen Ordenspriester wegen etlichen Fällen von Beleidigungen, teilweise in Verbindung mit pornographischen Schriften. „Neben anderen Adressaten hatte der Priester auch einem 13jährigen, ehemaligen Ministranten sowie einem 17jährigen Jugendlichen per Post mit obszönen Bemerkungen versehenes pornografisches Material zugeschickt. Im Zuge des eingeleiteten Ermittlungsverfahrens stellte sich heraus, dass der Priester bereits längere Zeit an einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung litt.“ (S. 594) Nach Bekanntwerden der Vorwürfe, noch vor dem Urteil, reicht er ein Rücktrittsgesuch beim Erzbistum ein, und das Erzbistum kündigt den Vertrag mit ihm. Von seinen Ordensoberen wird er in eine afrikanische Diözese versetzt.

Fall 55: Mitte der 1990er wendet sich die Mutter eines elfjährigen Mädchens ans Erzbistum: Der Priester habe ihre Tochter auf dem Schulhof in sexuell motivierter Weise berührt und sich auch dementsprechend ihr gegenüber geäußert. Der Priester gibt an, er habe nur im Scherz an ihrem Schal gezogen und ihr mit dem Finger an den Hals getippt. Man vermittelt ihm einen Strafverteidiger. „Gegenüber der Mutter des betroffenen Mädchens reagierte das Erzbischöfliche Ordinariat zwei Monate nach Eingang mit einem Schreiben, in dem ausführt wurde, dass man für den von der Mutter des Mädchens gewählten ‚Aufklärungsweg‘ kein Verständnis habe und es bedauere, dass bei ihr ‚der Eindruck entstanden‘ sei, ‚dass ihre Tochter sich belästigt‘ fühle.“ (S. 596) Die Mutter erstattet Anzeige, die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren aber ein; der Grund ist unbekannt. In diesem Fall ist es immerhin möglich, dass der Priester keine sexuellen Absichten hatte; aber nach großer Aufklärungsbereitschaft sieht das Verhalten des Erzbistums auch nicht aus.

Fall 56: Ende der 1990er wird ein Priester wegen Kindesmissbrauch zu einer Bewährungsstrafe von 9 Monaten verurteilt; er hat in einem Freibad einen Jungen an seinem Penis berührt. Im Berufungsverfahren wird er freigesprochen, da es nicht genug Beweise gebe, dass er das absichtlich getan habe. Offizial Dr. Wolf nimmt an der Berufungsverhandlung teil, kirchliche Maßnahmen gibt es nicht. Anfang der 2010er gibt es auf Veranlassung von Generalvikar DDr. Beer noch einmal eine Voruntersuchung, die Offizial Dr. Wolf führen soll, der laut den Gutachtern jedoch befangen gewesen sein könnte, was man wegen der Anonymisierung im Gutachten nicht genauer ausführen könnte. Diese Voruntersuchung endet mit der Einschätzung, „dass sich der Verdacht eines sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im Sinne des kirchlichen Rechts nicht bestätigt habe und ein weiteres Verfahren nicht angezeigt sei; ebenso wenig eine forensische oder psychiatrische Begutachtung des Priesters“ (S. 599). Die Akten zum staatlichen Verfahren übergibt Generalvikar Dr. Simon im Jahr 2011 an Offizial Dr. Wolf, der sie aufheben oder vernichten könne. Kurz zuvor, bei einer Untersuchung für ein Gutachten im Jahr 2010, hat Dr. Simon fälschlich die Auskunft gegeben, er habe keine solchen Akten mehr.

Fall 57: Mitte der 1990er ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen einen Priester wegen des Verdachts auf Besitz von Kinderpornographie und zweifachem Kindesmissbrauch. Generalvikar Dr. Simon wird in Kenntnis gesetzt und hört den Priester an, der behauptet, er habe die bei ihm gefundenen Videos aus dem Nachlass seines verstorbenen geistlichen Begleiters (!). Er wird schließlich vorläufig beurlaubt und ihm wird die Ausübung priesterlicher Dienste untersagt; in einem Kloster darf er aber zelebrieren. Schließlich wird er wegen des kinderpornographischen Materials zu einer Geldstrafe (150 Tagessätze zu je 80 DM) verurteilt; das Verfahren wegen Kindesmissbrauch und Exhibitionismus wird eingestellt. „Der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern sei aufgrund des Überschreitens der Altersgrenze von 14 Jahren nicht verwirklicht und die Taten seien bereits verjährt.“ (S. 600) Er gibt seine Pfarrei auf, darf aber wieder als Priester tätig sein. Zwei Jahre später wird er in den Ruhestand versetzt. Anfang der 2000er wird der Fall jedoch aus irgendeinem Grund erneut aufgegriffen und in der Ordinariatssitzung behandelt. „Kardinal Wetter berichtete über ein von ihm mit dem Priester geführtes Gespräch. Dabei habe er dem Priester ausdrücklich untersagt, künftig priesterliche Dienste wahrzunehmen und ihm eindringlich die Laisierung nahegelegt. Es bestand Einverständnis mit der Suspendierung des Priesters. Man wollte jedoch bei der Suche nach einer neuen Stelle, vorzugsweise im außerkirchlichen Bereich, behilflich sein. Es wurde eine Beschäftigung bei einem kirchlichen Verlag und eine Subventionierung des Gehalts befürwortet. Die Suspendierung erfolgte einen Monat darauf. In dem Dekret wird dem Priester vorgeworfen, bei der Befragung durch den Regens vor seiner Weihe falsche Angaben gemacht und später bei der Verfolgung von Delikten durch die Staatsanwaltschaft dem Erzbischof wichtige Geschehnisse verschwiegen zu haben. Dem Priester wird dabei auch die Laisierung ‚von Amts wegen‘ angedroht.“ (S. 601f.)

Fall 58: Dieser Fall gehört eigentlich in den letzten Teil, weil er schon in den 1970ern begann, aber ich behandle ihn mal hier. Ein ausländischer Ordenspriester ist seit Mitte der 1970er in München-Freising; er hat sein Kloster verlassen müssen, nachdem bekannt wurde, dass er sich an Jungen vergangen haben soll. (In den Personalakten in München befindet sich ein Pressebericht darüber.) Anfang der 1980er möchte er eine eigene Pfarrei bekommen, aber der für ihn zuständige Dekan rät Generalvikar Dr. Gruber davon ab; er fügt seinem Schreiben ein Schreiben des Regens eines ausländischen Studienkollegs bei. Laut diesem Schreiben soll der Priester beim Klavier- und Orgelunterricht einen elfjährigen Jungen belästigt haben, dieser habe seinen Eltern erzählt, er habe dem Priester Küsse geben müssen; es habe auch weitere ähnliche Gerüchte gegeben. „In der Folge versuchte der Priester, juristisch nach staatlichem Recht gegen die Hinweisgeber vorzugehen. Dies wurde ihm seitens des Erzbischöflichen Ordinariates als kirchenrechtswidrig untersagt. Der Priester kündigte an, den Schuldienst in der Erzdiözese München und Freising aufgeben und in seine Inkardinationsdiözese zurückkehren zu wollen.“ (S. 603) Generalvikar Dr. Gruber teilt ihm allerdings mit, man könne ihn schon weiter beschäftigen, z. B. in der Krankenhausseelsorge. Er bestreitet die Vorwürfe weiterhin und will nicht in ein Krankenhaus abgeschoben werden. Dr. Gruber bietet ihm schließlich eine Kuratie an, was er aber ablehnt, weil er inzwischen eine ausländische Pfarrei bekommen konnte. Anfang der 1990er kommt er wieder zurück, um seinen Ruhestand in München-Freising zu verbringen, und wird in der Seelsorgemithilfe eingesetzt. „Ob die damals Verantwortlichen die Vorwürfe aus den 1980er Jahren kannten, lässt sich den Akten nicht entnehmen.“ (S. 604) Mitte der 1990er, er ist mittlerweile als hauptamtlicher Pfarradministrator tätig, berichten die Eltern eines Ministranten, dass er diesen wiederholt berührt habe, und es gibt Hinweise auf weitere Fälle. Er wird versetzt und bleibt bis zu seinem Tod im Erzbistum.

Fall 59: Ein Priester aus einer ausländischen Diözese kommt Anfang der 2000er ab und zu zur Urlaubsaushilfe nach München-Freising; schließlich verbringt er dort auch ein Sabbatjahr und erhält von Generalvikar Dr. Simon die Beichterlaubnis. Als er nach Ablauf dieses Jahres weiter in der Erzdiözese bleibt, zieht man bei der ausländischen Diözese Erkundigungen über ihn ein, und es stellt sich heraus, dass er ein mit ihm verwandtes 14jähriges Mädchen sexuell belästigt haben soll, und es noch weitere, nicht aufklärbare Vorwürfe aus der Schule seiner alten Gemeinde gibt. „Der Diözesanadministrator der Inkardinationsdiözese des Priesters führte in dem Schreiben weiter an, dass der Münchner Generalvikar Dr. Simon vorab über den Aufenthalt des Priesters informiert worden sei.“ (S. 605) Der Priester bestreitet die Vorwürfe gegenüber Kardinal Wetter, und bittet darum, noch in der Erzdiözese bleiben zu dürfen. Er wird jedoch aufgefordert, in seine ursprüngliche Diözese zurückzukehren. Er hat mittlerweile Unterstützer gefunden: „Als dies an seinem Aufenthaltsort bekannt wurde, kam es zu zahlreichen Schreiben von Gemeindemitgliedern an Erzbischof Kardinal Wetter, die den Verbleib des Priesters forderten. Aus einem dieser Schreiben geht hervor, dass der Priester dort regelmäßig einen Gottesdienst speziell für Kinder im Alter von drei bis neun Jahren feierte.“ (S. 606) Die Erzdiözese will ihn aber trotzdem loswerden, weist ihn auch noch einmal hin, auf seinen Umgang mit Kindern und Jugendlichen zu achten. Er soll in seine Diözese zurückkehren, weigert sich vorerst, darf noch für ein paar Monate bleiben, geht aber schließlich doch. „Anfang der 2010er Jahre erfolgte aus einer anderen deutschen Diözese der Hinweis an das Erzbischöfliche Ordinariat in München, dass der Priester mittlerweile seinen Ruhestandssitz im Bereich der Erzdiözese München und Freising genommen habe und in einem Altenheim, trotz eines von der anderen Diözese auferlegten Zelebrationsverbotes, die Messe gefeiert habe. Daraufhin wurden die Vorwürfe von Anfang der 2000er Jahre in seiner Inkardinationsdiözese nun erstmals kirchenrechtlich untersucht. Diese Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass kein kirchenrechtlich strafbares Verhalten vorliege. Der Priester solle sich dennoch einer Therapie unterziehen und dürfe nur mit Erlaubnis seiner Inkardinationsdiözese und des Ortsordinarius seines Aufenthaltsortes zelebrieren. Zudem wurde ihm der Kontakt zu Kindern und Jugendlichen untersagt.“ (S. 607)

Fall 60 und Fall 61 kommen im nächsten Teil dran.

Fall 62: Mitte der 2000er bittet ein Priester um Versetzung, weil es Konflikte mit einer Familie in seiner Pfarrei gebe; die Versetzung erfolgt einige Monate später. Unmittelbar vor der Versetzung meldet eine Mutter beim Missbrauchsbeauftragten des Erzbistums einen Vorfall, der sich zwei Jahre vorher ereignet haben soll. „In der wenige Tage später stattfindenden Anhörung gab die Mutter an, der Priester habe ihre Tochter im Alter von 16 beziehungsweise 17 Jahren sexuell missbraucht, indem er sie ausgezogen und ihr eine Ganzkörpermassage gegeben habe. Zum Geschlechtsverkehr sei es nicht gekommen. Das Mädchen sei von dem Priester abhängig gewesen. Die Mutter berichtete weiter, dass ihre Tochter an einer Borderlinestörung leide und einen Suizidversuch unternommen habe. Auch habe das Mädchen angefangen, sich zu ritzen, und sei daraufhin in die Psychiatrie eingewiesen worden.“ (S. 612) Der Fall wird dem Arbeitsstab für Missbrauchsfälle vorgelegt. „Der Arbeitsstab gelangte zu der Einschätzung, dass der Priester vermutlich keinen ‚expliziten Missbrauch‘ begangen, so doch mit großer Wahrscheinlichkeit in hohem Maße unverantwortlich gehandelt habe. Er habe sich eines ’nicht nur törichten, sondern unglaublich unverantwortlichen Übergriffs an dem psychisch kranken Mädchen schuldig gemacht‘ und ‚in narzisstischer Selbstüberschätzung‘ agiert.“ (S. 612f.) Ein Gespräch mit dem Priester wird empfohlen und der Familie der Kontakt zu einer Familientherapeutin vermittelt. „Eine vom gesamtkirchlichen Recht in diesem Fall geforderte kirchenrechtliche Voruntersuchung (c. 1717 CIC/1983) fand ausweislich des Akteninhalts nicht statt. Gleiches gilt für die Meldung des Sachverhaltes an die Glaubenskongregation.“ (S. 613) Ein halbes Jahr später gibt es noch einmal ein Gespräch mit den Eltern. In dem Protokoll wird auch noch erwähnt: „Die Phantasie von Herrn Wolf es könne eine rivalisierende Verliebtheit in [Anm.: den Priester] zwischen Mutter und Tochter vorliegen, erscheint uns angesichts des Verhaltens der Eltern sehr abwegig.“ (S. 613)

Fall 63: Ein ausländischer Ordenspriester kommt Anfang der 2000er zur Promotion in die Erzdiözese. Er wird als Kaplan in zwei Gemeinden eingesetzt. Mitte der 2000er, er ist jetzt in seiner zweiten Gemeinde, gibt es Missbrauchsvorwürfe aus der ersten. Er soll eine 13-14jährige Ministrantin mehrfach missbraucht haben, außerdem gibt es Hinweise auf Übergriffe auf einen 12-14jährigen Jungen. Ein staatliches Ermittlungsverfahren beginnt und Offizial Dr. Wolf wird von Kardinal Wetter mit der Durchführung einer kirchenrechtlichen Voruntersuchung betraut; der Personalreferent untersagt dem Priester die Kinder- und Jugendarbeit, worüber der Gemeindepfarrer informiert wird. Der Priester wird schließlich zu einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt, er gesteht die Übergriffe auf die Ministrantin. Vier Monate später informiert der Personalreferent den Provinzial im Heimatland des Priesters über die Verurteilung und darüber, dass man seine drohende Ausweisung aus Deutschland verzögern wolle. Er verharmlost die Übergriffe und schreibt u. a.: „Wir sind aber auch froh, dass die ganze Situation ohne große Öffentlichkeit über die Bühne gegangen ist. Zum Glück hat er einen gut meinenden Richter gefunden. Denn bei der Sensibilität des Themas Kindesmissbrauch durch Priester hätte es auch ganz anders ausgehen können.“ (S. 615) Die kirchenrechtliche Voruntersuchung wird aus unklaren Gründen nicht fortgesetzt. Das zuständige Landratsamt beabsichtigt die Ausweisung des Priesters, aber auf Bitten der Erzdiözese (sie versichert dem Landratsamt, dass er keinen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen habe) darf er noch zwei Monate bleiben, und wird dann offiziell – in Anwesenheit des Oberbürgermeisters und des Landrats – verabschiedet. Der Personalreferent erkundigt sich ein Jahr später noch bei ihm, ob er die Probleme, die ihn zur Rückkehr in sein Heimatland genötigt hätten, gut verarbeitet habe. Anfang der 2010er gibt es neue Vorwürfe, die sich auf die Zeit in seiner zweiten Gemeinde vor seiner Verurteilung beziehen. Generalvikar DDr. Beer beauftragt Offizial Dr. Wolf damit, zu untersuchen, ob er zwischen der Verurteilung und der Ausweisung in der Seelsorge eingesetzt wurde und Kontakt zu Kindern und Jugendlichen hatte. Der Gemeindepfarrer gibt an, er habe das nicht kontrollieren können. Die Ermittlung wird nicht abgeschlossen.

Fall 64: Mitte der 2000er wird gegen einen Priester ein staatliches Verfahren wegen versuchter sexueller Nötigung eingeleitet. Die Geschädigten sind offenbar Jugendliche, die den Priester dann aber mit heruntergelassener Hose fotografiert haben und ihn mit der Drohung erpresst haben, die Fotos zu veröffentlichen; er soll ihnen deswegen einen großen Teil seines Vermögens und Gelder der Kirchenstiftung ausgehändigt haben. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren wegen Geringfügigkeit ein. „Zu erheblichen sexuellen Handlungen im Sinne des § 184f Nr. 1 StGB a. F. sei es nicht gekommen. Die vorliegende Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung liege im untersten Bereich.“ (S. 618) Der Priester bietet der Erzdiözese seinen Rücktritt an; dieser wird angenommen und er wird in den Ruhestand versetzt. Außerdem erlässt Kardinal Wetter gegen ihn ein Suspendierungsdekret, das jedoch nicht wirksam wird, sondern nur wirksam werden soll, wenn er sich nicht an die Vereinbarung, nicht mehr an seinem bisherigen Einsatzort die Messe zu zelebrieren, halten sollte.

Fazit: Insgesamt sieht die Situation noch immer ziemlich schlecht aus, man sieht viel Desinteresse und Geheimhaltung. Ein paar kleine Verbesserungen gibt es gegenüber der katastrophalen Situation in den 1960ern und 1970ern (z. B. zeigte in Fall 51 Offizial Dr. Wolf die Vorwürfe selbst bei der Staatsanwaltschaft an). Insgesamt aber zeigt sich: Auch Kardinal Wetter, Generalvikar Dr. Simon, Offizial Dr. Wolf kümmerten sich nicht ausreichend um das Thema. Irgendwann gab es schließlich einen Missbrauchsbeauftragten und eine gewisse Änderung begann wohl langsam.