Ich habe den Eindruck, viele Menschen verstehen einfach nicht, wie mittelalterliche Christen über ihr Christentum gedacht haben, wie die so engstirnig sein konnten, sich wegen theologischer Fragen die Köpfe einzuschlagen. Daher mal ein Vergleich:
Für die Europäer des Mittelalters und der frühen Neuzeit war das Christentum etwa das, was für Europäer der späten Neuzeit die Demokratie ist. D. h. eine völlig selbstverständliche Grundlage für das gesellschaftliche Leben – bzw. im Fall des Christentums eigentlich noch wesentlich mehr, nämlich auch eine Grundlage für das private Leben, und zwar über den Tod hinaus.
Die paar (zunächst) noch im eigenen Land verbliebenen Heiden sah man so, wie man heute die paar noch verbliebenen Monarchisten sieht: Eine winzige kuriose Minderheit von Spinnern, deren Argumente man nicht mal anhören muss, weil sie sowieso nur dumm sein können. Wie kann jemand nur gegen Demokratie sein? Offensichtlich muss er für Tyrannei, Unterdrückung, Rechtlosigkeit sein. Wie kann jemand nur gegen Christus sein? Offensichtlich muss er ein gottloser Frevler sein. [Hier hatten die damaligen Christen natürlich viel eher Recht als die heutigen Demokraten.*]
Die Heiden (Polytheisten, Muslime) im Ausland sah man so, wie man heute die Taliban oder die Saudis sieht: Fremdartig, bedrohlich, ab und zu vielleicht interessant-exotisch, auf jeden Fall aber völlig irre und auch ziemlich grausam; ihre Opfer/Untertanen können einem nur leid tun.
Die Ketzer im eigenen Land sah man so, wie man heute sog. Extremisten, z. B. Neonazis, sieht: Gefährlich und entweder dumm oder böse oder beides, Sektierer, die die Menschen verführen. Die Ketzer währenddessen leugneten, dass sie selber Ketzer wären; im Gegenteil, sie hätten das wahre Christentum entdeckt – ungefähr so, wie Linksextreme behaupten, der Sozialismus wäre die wahre Demokratie. Die sozialistischen Länder (vor allem vor 1990) kann man etwa mit den protestantischen Ländern in der frühen Neuzeit vergleichen: Eine neue Lehre hatte sich mancherorts durchgesetzt und behauptete weiterhin, die einzig wahre Verwirklichung von Demokratie bzw. Christentum zu sein, viel besser als dieser Kapitalismus-Faschismus bzw. dieser Antichrist-Papst.
In der Außenpolitik gegenüber nichteuropäischen Ländern sah man sich selbstverständlich als Vertreter der Christenheit (des demokratischen Westens), und das war auch bei eher skrupellosen, weltlich denkenden Politikern nicht unbedingt Heuchelei, sondern ein völlig selbstverständlicher Glaube. Natürlich sollten auch andere Länder früher oder später erkennen müssen, dass sie das Christentum (die Demokratie) zu ihrem eigenen Nutzen annehmen müssten; natürlich versucht man sie dahingehend zu beeinflussen, lehrt das auch den ausländischen Schülern und Studenten und sonstigen Einwanderern, die ins eigene Land kommen, und erwartet, dass sie sich dahingehend integrieren. Jeder vernünftige Mensch sieht das doch ein, sobald er es nur entsprechend präsentiert bekommt. Wie die heutigen Reaktionen auf unintegrierbare strenge Muslime variieren (Polen verhält sich anders als Schweden usw.), variierten auch die damaligen Reaktionen auf unintegrierbare strenge Muslime (Spanien wies sie irgendwann aus, die Kreuzfahrerstaaten konnten gar nicht anders, als die vergleichsweise große muslimische Bevölkerung zu tolerieren).
Man sah es nicht als persönliches Verdienst an, an Christus (an die Demokratie) zu glauben, das tun doch sowieso alle normalen Menschen; und man konnte sich mit den anderen Menschen, die diese Grundsätze teilen, trotzdem noch um alles mögliche streiten und sich gegenseitig spinnefeind sein. Und auch, wenn man sich selber so verhält, wie es dem Christentum eigentlich widerspricht, gibt man nicht bewusst das Christentum auf, sondern sucht noch nach Gründen, sein Handeln doch als christlich hinzustellen – so, wie heutige Politiker, die ihnen unangenehme Wahlergebnisse am liebsten rückgängig machen wollen, auch nicht gegen die Demokratie wettern, sondern behaupten, solche Wahlergebnisse wären „undemokratisch“ und durch illegitime Beeinflussung entstanden, und außerdem würden die Gewählten in Wirklichkeit die Demokratie abschaffen wollen.
Wenn man Opfer eines Verbrechens durch andere Christen oder gar Kleriker wurde, beeinflusste das die Meinung über das System Kirche etwa so, wie es bei heutigen Leuten die Sicht auf das System Demokratie beeinflusst, wenn sie Opfer eines Verbrechens durch andere Personen werden, die an die Demokratie glauben oder gar im Stadtrat oder Bundestag sitzen.
Die Behauptung „Der Staat sollte religiös neutral sein“ hätte für mittelalterliche Christen etwa so viel Sinn gemacht wie für heutige Durchschnittsmenschen die Behauptung „die Gesellschaft sollte politisch neutral sein und sich nicht von demokratischen Ideen wie Selbstregierung und Mehrheitsentscheidungen beeinflussen lassen“.
Und mal ehrlich: Die Wahrheit über Gott und die Welt ist doch tatsächlich wesentlich wichtiger als ein bloßes System dafür, die zeitlichen Herrscher eines Landes zu bestimmen.
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*Das Problem bei den meisten heutigen Demokraten ist, dass sie Wahlen nicht als ein mögliches legitimes System zur Bestimmung der Herrscher sehen, sondern als das einzig legitime System, weil das Volk sich eigentlich selbst regieren sollte. Dabei übersieht man, dass das Volk sich nie wirklich selbst regiert; eine reine Demokratie kann es nicht geben, sondern bloß demokratische Elemente in einem Staat, wobei Volksabstimmungen mehr von Demokratie haben als Parlamentswahlen. Bei der Bestimmung der Herrscher sollte es nun darum gehen, bei welchem System am meisten einigermaßen gute und am wenigsten wirklich schlechte Herrscher herauskommen. Und hier kann man jetzt vergleichen, was zu welchen Ergebnissen führt: Der Zufall der Erbfolge; Parteiintrigen und anschließende Wahlen, bei denen man sich zwischen den zwei oder drei innerparteilichen Siegern entscheiden kann; Wahlen ohne Beteiligung von Parteien; Losentscheid; oder meinetwegen zeremonieller Wettkampf mit den Disziplinen Schach und Speerwerfen. Ich bin mir nicht sicher, ob Parteienwahl immer für die besten Ergebnisse sorgt. Aber das ist hier nicht so wichtig; hier geht es nicht um Monarchismus vs. Republikanismus; und der Parteienparlamentarismus ist ein legitimes System, wenn auch nicht das einzige legitime System.