Abschied von Benedikt XVI.

Papst emeritus Benedikt XVI. ist tot. Nicht überraschend bei einem 95jährigen, aber trotzdem, man trauert.

Benedikt hat vielen Menschen geholfen; darunter auch mir, als ich ca. 2011 richtig zum Glauben gefunden habe. Er war sehr klug, und freundlich, hat vieles in schönen Worten erklärt. Er hat damals 2011 den YOUCAT herausgegeben, und man hat plötzlich eine Alternative zu dem Schwachsinn im Reliunterricht in der Schule gesehen. Er hat einem verstehen geholfen, dass der Glaube nicht ein Gegensatz zur Vernunft ist, hat einem in seinen Büchern erklärt, was Naturrecht ist. (Das nehmen ihm natürlich viele übel, und kaum ein Journalist kann sich Seitenhiebe gegen ihn verkneifen.*) Man hat ihn richtig idealisiert, praktisch schon zum lebenden Heiligen erklärt. Er hat so freundlich und verständnisvoll geschrieben und geredet.

(Bildquelle hier.)

In den letzten paar Jahren habe ich ihn weniger unkritisch gesehen, aber man muss ihn trotzdem mögen. Der Gegensatz zu Papst Franziskus, der sich so ungefähr gar nicht um uns schert, ist krass. Sein theologischer Fehler war meiner Ansicht nach, dass er meinte, bestimmte neue Ideen (z. B. säkularisierte Staaten als Ideal) gut mit der Tradition der Kirche vereinen zu können, dass er das 2. Vatikanum retten wollte, auch wenn es ein Pastoralkonzil ohne unfehlbare Aussagen war. „Hermeneutik der Kontinuität“, wie er es nannte. (Die bessere Strategie wäre aus meiner Sicht gewesen, zu sagen: „Ok, das war eine dumme Phase mit ‚pastoral‘ sein wollendem Gelaber, mit dem wir zu weit auf die gottfeindliche Welt zugegangen sind. Diese Phase beenden wir jetzt und kehren wieder ganz zur Tradition zurück.“ Auch ein Papst, der so etwas getan hätte, hätte natürlich nicht alles auf einmal zum Guten wenden können, aber er hätte einen Anfang machen können: Z. B. die alte Messe in allen Priesterseminaren lehren lassen können, auch in der neuen Messe wieder die Mundkommunion verpflichtend machen können, o. Ä.)

Aber hier sieht man trotzdem, dass er eben katholisch war. Für ihn war der Grundsatz, dass die Kirche vom Herrn gestiftet wurde und geleitet wird, früher und jetzt. Er wollte die Tradition nicht aufgeben, er irrte sich nur darin, wie weit man sie umdeuten könnte. Er hing etwas zu sehr am Konzil, das er mitgeprägt hatte, er hatte in den 60ern irgendeinen Aufbruch sehen wollen, aber er war nicht bereit, deswegen den ganzen Glauben aufzugeben. Er war wirklich gläubig und behandelte Gott als Realität, nicht als Theorie für den Hörsaal; und das ist viel mehr als man über manche andere Bischöfe sagen kann (jedenfalls, soweit man irgendeinen Menschen von außen beurteilen kann).

Benedikt war milde und freundlich; manchmal vielleicht zu sehr. Er hat auch seinen Gegnern immer Respekt entgegengebracht. Das ist auf der einen Seite schön und gut; aber er hätte diese Seite seines Charakters vielleicht manchmal überwinden und härter sein müssen. Er hätte vielleicht andere Männer zu Bischöfen und Kardinälen machen können (er hat einige wirklich gute ernannt, aber auch ein paar schlechte oder feige), sich stärker ihrer unbedingten Loyalität zum Glauben versichern können, hätte universitäre Theologen stärker maßregeln können, hätte sich in der Kurie mit wirklichen Getreuen umgeben können. Hier geht es ja nicht um kleinliche Parteienkämpfe, sondern um die Gläubigen, die er als Hirte vor den Wölfen zu beschützen hatte. Es ist von außen natürlich schwer zu sagen, wie viel Spielraum er hatte; vielleicht ist das auch ein oberflächliches Urteil.

Benedikt hat für uns viel Gutes getan. Er hat ein Ordinariat für ehemalige Anglikaner gegründet und ihnen damit den Übertritt zur Kirche erleichtert. Er hat die alte Messe freigegeben und die (angebliche) Exkommunikation der Weihbischöfe der Piusbruderschaft aufgehoben. Er hat immer wieder klare Aussagen zur katholischen Lehre getroffen. Er hat als Präfekt der Glaubenskongregation auch stärker bei Kindesmissbrauch eingegriffen, soweit ich weiß.** Er wollte uns Gutes, und hatte es nicht immer leicht. Der Teufel lauert dem Papst besonders auf, und böse Menschen tun dasselbe; in der Kurie gab es sicher auch genug Widerstand gegen ihn.

Trotzdem hat er Fehler begangen, das kann man auch nicht ganz unter den Teppich kehren. Er hat nicht genug dafür Sorge getragen, dass wir in Sicherheit sind, wenn er nicht mehr persönlich da ist. Wenn er 2013 nicht zurückgetreten, sondern bis jetzt Papst gewesen wäre, hätte viel Böses verhindert werden können. Selbst wenn er hauptsächlich krank im Bett gelegen hätte: Die Gläubigen wären nicht in solche Verwirrung gestürzt und von der Kirche weggetrieben worden, wie es durch Franziskus geschehen ist, und er hätte noch einige neue, bessere Kardinäle ernennen können, sodass eine Papstwahl nach seinem Tod vielleicht anders ausgegangen wäre. Ich frage mich, wie viel er noch von dem schrecklichen Zustand der Kirche unter Franziskus mitbekommen hat. Vielleicht hat man ihn eher davon abgeschirmt; vielleicht hat er es auch mitbekommen, und hat gedacht, wenn er mehr dazu sagt, würde es die Sache noch schlimmer machen, und hat stattdessen einfach für uns alle gebetet. Offenbar hat er aber schon ein paar Dinge getan; jetzt wurde bekannt, dass er der Petrusbruderschaft nach Traditionis Custodes einen privaten Brief mit Ermutigungen geschrieben haben soll. Vielleicht hat er sich später selber gewünscht, er wäre nicht zurückgetreten. Aber wahrscheinlich dachte er zum Zeitpunkt seines Rücktritts wirklich, dieser Rücktritt wäre das Beste; auf jeden Fall ist es eine tragische Situation. Vielleicht haben wir auch zu wenig für ihn gebetet, als er noch Papst war (was sich ja jetzt nachholen ließe). Vielleicht sehen wir ihn mal im Himmel wieder und können ihn dann nach alldem fragen.

Seine letzten Worte sollen gewesen sein: „Jesus, ich liebe dich.“ Und diese Liebe ist es ja, worauf es ankommt.

Es bleibt abzuwarten, wie es jetzt ohne ihn wird, wenn im Vatikan nicht mehr irgendwo ein Schatten von Rücksicht auf den konservativen Ex-Papst genommen werden muss.

* Manche ausländische Journalisten bringen sogar ihren alten Talking Point von wegen „Benedikt war in der Hitlerjugend“ wieder auf. Ja, genau, war er: er hat so lange vermieden, der Hitlerjugend beizutreten, bis es verpflichtend für alle deutschen Jungen ab 14 wurde, und hat es sogar dann noch geschafft, die meisten Treffen zu meiden.

** Seine Rolle bzgl. diesem Thema in seinen paar Jahren als Erzbischof von München-Freising ist nicht ganz geklärt. Ihm wurde vor einem Jahr von einem Gutachten vorgeworfen, bei drei (noch eher minderschweren) Fällen informiert gewesen zu sein, aber nicht genug eingegriffen zu haben; er erklärte, er wäre nicht informiert gewesen. Es ist schwer, hier Genaues zu sagen.

Papst Franziskus und geistliche Misshandlung

Ich weiß, ich habe mich hier schon öfter über den derzeitigen Papst aufgeregt, aber ab und zu will man über manche Aspekte noch mal was sagen.

Manche Menschen werden die Symptome kennen, wenn sie von einem Chef oder einer Mutter oder einem Schwiegervater ständig schlecht behandelt werden: Emotionale Misshandlung. Solche Leute verhalten sich etwa so:

  • sie geben einem ständig das Gefühl, minderwertig zu sein
  • sie setzen einen vor anderen herunter
  • sie machen „Witze“ über einen, und wenn man nicht lacht, heißt es, „stell dich nicht so an, war doch nur ein Witz“
  • man kann es ihnen nie recht machen
  • ihre Wutausbrüche sind manchmal unvorhersehbar und man ist um sie herum ständig wachsam, um sie nicht zu reizen
  • sie benennen einen mit Schimpfnamen
  • sie verbreiten Verleumdungen über einen; das kann auch so aussehen, dass, wenn man anfängt, ihr Verhalten nicht mehr einfach hinzunehmen, sie verbreiten, man wäre verrückt und empfindlich und würde sich immer sofort angegriffen fühlen, wenn sie einem helfen wollen usw.
  • sie wollen einen einschüchtern, z. B. mit lautem Herumschreien, oder durch Drohungen, oder indem sie etwas zerstören, das einem wichtig ist
  • sie hören gar nicht zu, wenn man mit ihnen reden will, behandeln einen verächtlich, setzen die Anliegen, die einem wichtig sind, herunter
  • sie lügen einen so oft an, leugnen z. B., in einem früheren Streit etwas gesagt zu haben, bis man selber ganz verunsichert wird und sich fragt, ob man verrückt wird („Gaslighting“)
  • sie kontrollieren einen und treffen alle Entscheidungen; wenn man z. B. nicht sofort ans Handy geht, wenn sie anrufen, überhäufen sie einen hinterher mit Vorwürfen
  • sie versuchen, einen emotional zu erpressen
  • sie zeigen einem die kalte Schulter, ignorieren einen, weigern sich, einem irgendwelche Zeichen der Zuneigung zu zeigen, wenn man nicht tut, was sie wollen
  • wenn man sie dann mal brauchen würde, helfen sie einem nicht, sondern erklären, man sei selber verantwortlich, oder ignorieren einen einfach
  • sie halten einen von den Leuten fern, denen man tatsächlich wichtig ist
  • gelegentlich haben sie gute Phasen, sind gut gelaunt, aber man weiß nie so recht, wie lange das dauert

Dabei ist ein Streit natürlich nicht gleich emotionale Misshandlung. Fast alle Menschen sind ab und zu launisch, ungerecht, genervt oder werfen jemandem ein Schimpfwort an den Kopf. Und manchmal sind harte Worte und dergleichen auch angebracht. Wenn der Sohn das Auto zu Schrott gefahren hat, ist es wohl kaum emotionaler Missbrauch, wenn seine Mutter ihn gehörig ausschimpft; wenn die 15jährige Tochter mit einem älteren Typen ausgeht, der schon mal im Jugendknast saß, haben die Eltern jedes Recht, ihr diesen Umgang zu verbieten und sie in nächster Zeit strenger zu kontrollieren.

Es kommt auf das größere Muster an. Emotionale Misshandlung ist ständig und ungerecht. Es sind nicht immer alle Symptome vorhanden, aber die Symptome häufen sich. Solche Leute haben es auf bestimmte einzelne Personen abgesehen, behandeln andere vielleicht viel besser (z. B. die Mutter, die eine ihrer beiden Töchter ständig lobt und vorzieht, und die andere ständig herabsetzt). Das Opfer fühlt sich ständig unglücklich und minderwertig. Emotionale Misshandlung ist nicht immer leichter zu ertragen als körperliche; manchmal wünschen sich Opfer, lieber geschlagen als so behandelt zu werden, oder werden sowohl geschlagen als auch emotional misshandelt, und finden die Schläge weniger schlimm.

So, und jetzt vergleichen wir das mal damit, wie Franziskus (und seine Anhänger! denn natürlich stellen sich die Leute in der Weltkirche auf dieses Klima ein, und manche nutzen die Gelegenheit zum Mobbing) seit Jahren Traditionalisten und Konservative behandeln:

  • Er schimpft in etlichen öffentlichen Predigten über uns, egal, ob der Anlass gerade passt oder nicht, und verleiht uns Schimpfnamen („rigide“, „Klerikalisten“, „Formalismus“, „geistiges Heidentum“).
  • Er ignoriert die Leute, die ihm nicht passen, und geht nicht auf ihre Anliegen ein; die können nur böswillig sein. Die Dubia-Kardinäle haben bis heute keine Antwort bekommen; Kardinal Zen – der es in Hongkong mit Chinas brutaler Diktatur zu tun hat – bekommt keine Audienz, während er in Rom ist.
  • Dagegen zieht Franziskus seine Lieblinge vor, auch solche, die sich Finanzskandale oder sexueller Übergriffe schuldig gemacht haben, z. B. Bischof Zanchetta aus seinem Heimatland Argentinien, für den er sogar einen neuen Posten im Vatikan geschaffen hat (und der inzwischen in Argentinien zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, die er aber als Hausarrest absitzen darf). Vor den Medien stellt er sich gern als Bekämpfer von Missbrauch dar – in der Realität sieht es völlig anders aus.
  • Er bestraft uns hart (wofür eigentlich?), während er den Progressiven alles durchgehen lässt. Wir bekommen durch Traditionis Custodes gesagt, dass wir die Messe nicht mehr so feiern dürfen, wie sie über tausend Jahre lang gefeiert wurde, und ein Priester, der die Messe auf einer Luftmatratze im Meer feiert, also billigend in Kauf nimmt, dass der Leib des Herrn im Wasser landen kann, bekommt von seiner Diözese höchstens ein leichtes „Dududu, das macht man aber nicht“ zu hören. Katholiken, die unbedingt zur Messe wollen, sind das Problem; aber Gotteslästerer darf man nicht verurteilen.
  • Er erlaubt keine Kritik. Sobald jemand Franziskus kritisiert, wird ihm von dessen Anhängern vorgeworfen, er habe keine Papsttreue, sei eigentlich nicht mal mehr richtig katholisch – und das von Leuten, die meistens seit Jahrzehnten für Kondome und Frauenweihe werben. Kardinäle, die nicht begeistert genug auf Linie sind, werden schnell von ihren Posten im Vatikan abgesetzt; Burke und Müller können ein Lied davon singen (und Kardinal Müller erklärte auch später noch seine Loyalität zu Papst Franziskus).
  • Gaslighting: Man versucht, uns glauben zu machen, es wäre völlig normal, wenn Franziskus mit zweideutigen Aussagen solche grundlegenden Lehren wie die Unauflöslichkeit der Ehe infragestellt, das sei nur eine Weiterentwicklung, und das habe es schon immer gegeben.

Häufig gibt sich das Opfer von Misshandlung selbst die Schuld oder sucht nach mildernden Umständen und Entschuldigungsgründen für den Täter. So auch unsere Seite: „Na ja, aber schaut mal, diese radikalen Traditionalisten sind echt so unfreundlich zu Franziskus, wir müssen ihm trotzdem unsere Ehrfurcht zeigen…“ Es gibt keinen Anlass, sich so zu verhalten. Nicht wir verhalten uns falsch, er tut das; und wenn manche Leute seine schlechten Eigenschaften schon früh bemerkt haben und für ihn vielleicht auch etwas schnell harte Worte hatten, dann rechtfertigt das trotzdem nicht sein Verhalten.

Man redet sich auch schön, was der Täter noch mehr oder weniger gut macht. „Papst Franziskus ist immerhin klar gegen Abtreibung, hat das sogar mit Auftragsmord verglichen!“ Das erinnert daran, wenn sich ein Kind mit blauen Flecken am ganzen Körper denkt, hey, wenigstens wirft mich mein Vater nicht auf die Straße hinaus und verbietet mir nicht, mir Essen aus dem Kühlschrank zu holen. Banale Selbstverständlichkeiten bejubelt man nur, wenn man erleichtert ist, dass die Situation nicht noch schlimmer ist.

In der Überschrift habe ich von geistlicher Misshandlung, nicht einfach von emotionaler Misshandlung gesprochen. Geistliche Misshandlung ist eine schlimmere Form davon. Da wird z. B. nicht nur mit Liebesentzug, sondern auch mit der Hölle gedroht, oder dem Schisma, oder beidem. Wer Amoris Laetitia nicht feiert, ist quasi schon ein Schismatiker; wer „rigide“ ist, verweigert sich dem Heiligen Geist. Was Franziskus sagt, ist ein göttliches Orakel; ganz egal, dass der Papst gemäß der Kirchenlehre nicht dazu da ist, neue Lehren zu erfinden, sondern einfach nur dazu, die Überlieferung zu bewahren. Liberale geben sich schadenfreudig und hacken auf die Konservativen ein, mit Argumenten, die sie vorher nie verwendet hätten. „Dem Papst gehorcht man“, „ihr hört nicht auf das Wirken des Heiligen Geistes“, etc. blabla – wie das eben bei geistlicher Manipulation aussieht. (Nein, von Gehorsam und Hölle zu reden ist nicht gleich Manipulation, das sage ich gar nicht, es ist oft genug gerechtfertigt und eine gut gemeinte Warnung; aber hier geht es um die unehrliche und böswillige Verwendung der Argumente.)

Misshandlung geht auch oft einher mit Vernachlässigung. Und „geistliche Vernachlässigung“ ist eigentlich ein ziemliches Understatement dafür, was seit 2013 abgelaufen ist. Gläubige sind verwirrt und ratlos und werden eher noch von der Kirche weggetrieben und der Papst kümmert sich nicht darum, irgendeinen Menschen zu Jesus zu bringen.

Bei Franziskus ist es sehr extrem. Aber auch die vorigen Päpste waren in dieser Hinsicht nicht komplett schuldlos. Auch sie haben ein gewisses Maß an Misshandlung durch andere Bischöfe und Theologen zugelassen und sich wohl nicht so wirklich fähig gefühlt, diese Entwicklung wieder zu stoppen. Sie waren eher wie ein Vater, der, wenn die Mutter ein Kind misshandelt, schon immer mal wieder etwas dagegen sagt und das Kind in Schutz nimmt, und ihm seinerseits Zuneigung zeigt, aber nicht grundlegend einschreitet. Die Päpste haben seit dem 2. Vatikanum in einigen Dingen die Leute wüten lassen, die den Glauben durch ihre eigenen Ideologien ersetzen wollten.

Es tut irgendwie weh, das zu sagen, aber das gilt ab und zu auch für Benedikt XVI. und Johannes Paul II. Ja, sie hatten in manchen Dingen selbst irrige (wenn auch noch nicht häretische) Ansichten (z. B. dazu, wie weit Ökumenismus gehen sollte – s. die Gebetstreffen in Assisi), aber diese Ansichten waren wahrscheinlich wenigstens ehrliche Irrtümer. Aber sie haben auch bei Dingen, bei denen sie selbst immer die richtige Linie vertreten haben, zugelassen, dass andere die Kirche unterminieren. Jorge Maria Bergoglio wurde von Johannes Paul II. zum Bischof und Kardinal gemacht. Ich selber habe Benedikt viel zu verdanken; er hat mir ca. 2011 geholfen, richtig zum Glauben zu finden. Aber er hatte am Ende nicht die Kraft, seine Herde weiterhin vor den Wölfen zu schützen. Er war diplomatisch, milde, geduldig; und am Ende hat er sich zurückgezogen, obwohl wir ihn noch brauchten, und es nicht garantiert war, dass das Konklave einen guten nächsten Papst wählt.

Vielleicht überschätze ich hier, wie viel Macht ein Papst hat. Er ist immer darauf angewiesen, dass andere seine Anweisungen umsetzen und ihm die richtigen Informationen weitergeben. Aber hätten die vergangenen Päpste nicht wenigstens strenger auf die Kriterien der Ernennung zum Bischof schauen können, und sicherstellen können, nur wirklich lehramtstreue Kandidaten zuzulassen?

Aber egal, wie wir ihn diese Situation gekommen sind, jetzt ist sie nun mal da. Und bei emotionaler Misshandlung hilft es generell:

  • sich von den Tätern abzugrenzen und ihnen Grenzen zu setzen
  • sich Freunde zu suchen, mit denen man seine Sorgen teilen kann; ein bisschen Verständnis und Unterstützung kann Wunder wirken
  • möglichst wenig Kontakt zu den Tätern zu haben

Wir können uns nicht von der Kirche trennen, weil solche Leute in ihr an der Macht sind, genausowenig, wie wir erklären können, unser leiblicher Vater wäre nicht unser Vater, wenn er uns misshandelt. Aber wir können den Papst und seine Leute mehr oder weniger ignorieren. Wir können uns in Tradi-Gemeinden zusammenfinden, wo man sich einfach einig ist, dass ungerechte Befehle nicht beachtet werden und man auf Traditionis Custodes pfeift, und im Übrigen vor allem an Gott denkt statt an Seinen Stellvertreter, der sich vor Ihm wird verantworten müssen.

(Diejenigen Leute, die mittlerweile Zweifel bekommen, ob Franziskus wirklich gültig gewählt worden sein kann oder nicht vielleicht später sein Amt verloren haben kann, wären etwa wie misshandelte Kinder, die einen Vaterschaftstest verlangen, weil sie sich denken, wenn ihr Vater sie so misshandelt, wäre er vielleicht gar nicht ihr Vater. Es mag in der Theorie Fälle geben, in denen so etwas passieren kann, aber im Zweifelsfall ist der allgemein als gültig anerkannte Papst nun mal Papst, Punkt; und wir müssen uns gar nicht darum kümmern, ob es so ist, um seinen Misshandlungen entgehen zu können. Wir können uns auch so von ihm fernhalten.)

Also: „Fröhlich sein, Gutes tun, und die Spatzen pfeifen lassen.“ Irgendwann wird auch diese Krisenzeit beendet sein, allerspätestens mit der Wiederkunft unseres Herrn. Bis dahin muss man eben auch mal dem Papst „ins Angesicht widerstehen“ (Gal 2,11).

Freut euch und jubelt!

Der Papst wird Russland (und die Ukraine) dem Unbefleckten Herzen Mariens weihen, wie es die Gottesmutter in Fatima 1917 von den Seherkindern Lucia, Jacinta und Francisco gewünscht hat, und wie es jetzt viele Katholiken wieder gewünscht haben; wahrscheinlich hat das inzwischen jeder mitbekommen. Das ist so ziemlich das Beste – und eins der wenigen guten Dinge überhaupt -, die seit 2013 aus Rom gekommen sind (und es zeigt auch, dass Gott noch die allerschlimmsten Kleriker wie diesen Papst zu seinen Werkzeugen machen kann). Ich freue mich schon wahnsinnig, und wahrscheinlich realisiere ich nicht mal wirklich, wie sehr ich mich freuen müsste; man realisiert so etwas kaum, wenn man mittendrin ist. Es musste zwar erst ein Krieg passieren – und davor eine Mehr-oder-weniger-Pandemie und ein paar halbe Diktaturen -, aber es wird passieren, Russland wird Maria geweiht werden.

Ja, schon Johannes Paul II. hat 1984 die Welt dem Herzen Mariens geweiht, und dabei im Stillen hinzugefügt: „insbesondere Russland“ (nur im Stillen aus diplomatischen Gründen). Und laut der Seherin Lucia hat der Himmel das anerkannt, und wenig später begann Gorbatschow mit „Glasnost und Perestroika“, der Ostblock brach zusammen, die Christenverfolgung dort hatte ein Ende, und viel Leid war vorbei. Das war extrem unerwartet, und lässt sich eigentlich nur durch ein Eingreifen des Himmels erklären.

Aber es ist doch noch einmal etwas anderes, ob man es noch einmal ganz ausdrücklich so macht, und jedes Bemühen, dem Wunsch Mariens besonders direkt zu folgen, und nicht aus diplomatischen Gründen zurückhaltend zu sein, wird der Himmel sicher gern sehen. Manche Leute sind jetzt schon wieder etwas pessimistisch, weil es auch wieder nicht genau so gemacht würde, wie Maria es wollte, aber ich denke, dass es vor dem Himmel sehr viel wert sein wird. Es ist groß angekündigt worden, sodass sämtliche Bischöfe die Gelegenheit haben, mitzumachen, und zwar unter ausdrücklicher Erwähnung Russlands; und die Hinzufügung der Ukraine bedeutet doch, eher mehr zu machen, als gefordert, nicht weniger?

Ich glaube, wir können von jetzt an ein bisschen optimistischer in die Zukunft sehen. Vielleicht ist es schon zu spät, um manches abzuwenden, vielleicht auch nicht; aber auf jeden Fall ist es eine gute Nachricht. Und hoffentlich wird es wenigstens der Ukraine bald den Frieden bringen.

Übrigens: Bischof Athanasius Schneider hat ein Novenengebet veröffentlicht, für das Anliegen, dass die Bischöfe alle mitmachen, und das Ganze auch wirkungsvoll ist – denn natürlich hängt die Wirkung auch von den Gebeten aller ab. Also ab heute jeden Tag bis zum nächsten Freitag beten:

PS: An dieser Stelle vielleicht noch eine Erklärung für nichtkatholische Mitleser, die sich fragen könnten, wieso Gott (durch seine Heiligen) Forderungen stellt, die man erst erfüllen muss, bevor er eingreift, und noch dazu Forderungen nach Gebeten an Ihn? Nun, ganz einfach: Gott will unsere Mitwirkung an allem, Er gibt uns Macht, wirklich etwas in dieser Welt zu bewirken, durch zwei Mittel, nämlich Taten und Gebet, und Er will, dass wir für die ganze Welt, besonders unsere Nächsten und unsere Feinde, beten, und sie Ihm anempfehlen. Und er fordert (in diesem Fall) nicht mal große Heldentaten, sondern wirklich bloß das Gebet und den Gehorsam bzgl. der Art dieses Gebets, und hat uns dafür viel versprochen. Allgemeines zum Bittgebet hier.

Ein Jahr bei der Piusbruderschaft

Seit etwas mehr als einem Jahr gehe ich jetzt zur Piusbruderschaft in die Messe. Das Theoretische, was ihre kirchenrechtliche Stellung usw. angeht, wieso es gerechtfertigt ist, zu ihr zu gehen, habe ich schon mal woanders angesprochen; heute will ich nur über meine praktische Erfahrung schreiben. Klar, ein Jahr ist auch noch nicht so lang, aber ein kleines Zwischenfazit kann man ja ziehen.

Damit der Artikel nicht nur ein reiner Lobgesang wird, erst mal alle negativen Dinge, die mir überhaupt einfallen:

  • Der Parkplatz bei meiner Kapelle ist zu eng, das ist frauenfeindlich (oder so).
  • Die Liederbücher sind verwirrend nummeriert.
  • Die vielen süßen Kleinkinder lenken einen bei der Messe ab.

Ok, ich bin wieder ernst. Also jetzt wirklich mal alle Kritikpunkte, die mir einfallen:

  • Nach der Messe wird in der Kapelle, in der ich meistens bin, immer noch ein Gebet für mehr Priester- und Ordensberufungen gebetet (was sehr gut ist); am Ende beten dabei nur die Mütter im Raum noch dafür, dass Gott ihnen die Gnade gibt, dass einer ihrer Söhne Priester wird. Das ist an sich kein falsches Anliegen, aber könnte vielleicht ein bisschen unnötigen Druck auf die Jungs der Gemeinde ausüben; es kommt etwas komisch rüber. Wobei ich davon ausgehe, dass die Priester der FSSPX, wenn wirklich ein Junge sich unklar über seine Berufung ist, keine arg falschen Ratschläge geben werden, die ein unnötig schlechtes Gewissen machen.
  • In den Veröffentlichungen und Predigten ist manchmal ein etwas überdramatischer/pathetischer Tonfall zu finden, und manchmal wird bei „Wir sollen alle Heilige werden“-Predigten nicht genau unterscheiden, was Christen müssen (wobei sie sündigen, wenn sie es unterlassen), und was lobenswerte Werke der Übergebühr sind. Aber das ist wohl eine Unvollkommenheit, von der sich wohl keine Gruppe ernsthafter Christen frei weiß. Und nach meiner Erfahrung kann einen der Priester, wenn man etwas für Sünde hält, das es nicht ist, im Einzelfall in der Beichte gut korrigieren.
  • Manche Leute unterscheiden bei der Corona-Impfung nicht genau und halten sie für so illegitim, dass man sie nicht mal nehmen dürfte, um die schlimmsten Nachteile zu vermeiden (was allerdings keine Meinung der FSSPX an sich ist; in ihren offiziellen Verlautbarungen unterscheidet sie da schon). Auf der anderen Seite stellt sich die offizielle FSSPX meiner Meinung nach nicht deutlich genug gegen sicher falsche Coronamaßnahmen (wie z. B. die Idee der Impfpflicht), sondern will hier zu neutral bleiben.
  • Der Gründer, Erzbischof Lefebvre (der meiner Ansicht nach absolut ein sehr zu bewundernder Heiliger und ein Mann mit viel Weitblick war) wird manchmal ein bisschen zu sehr gepriesen; z. B. konnte er in einzelnen theologischen Fragen oder Ausdrucksweisen manchmal ungenau sein, das kann man auch anerkennen. Aber natürlich bewundert man so jemanden sehr; gerade die Priester, von denen ihn viele wahrscheinlich noch persönlich gekannt haben (ich beneide sie).
  • Es gibt manchmal die üblichen Tradiprobleme, z. B. dass man liberale Vorstellungen – völlig zu Recht – kritisiert, und dabei das Framing der Liberalen übernimmt, dass sie erst die Menschenrechte o. Ä. erfunden hätten.
  • Manchmal übertreibt man es vielleicht damit, alles von vor dem Jahr 1962 zu bewahren (z. B. auch die alte Version des Vaterunsers – ich mag die neue mit „befreie uns von dem Bösen“ tatsächlich lieber als die alte mit „befreie uns von dem Übel“, weil sie die Zweideutigkeit (der Böse oder das Böse?), die auch im griechischen Original vorhanden ist, bewahrt). Aber das ist wohl Geschmackssache.
  • Kein wirklicher Kritikpunkt, sondern eher eine neutrale Beobachtung: Auf Außenstehende kann manches vielleicht erst mal komisch wirken, z. B. dass manche Priester bei den lateinischen Gebeten sehr schnell sprechen, sie fast schon herunterrattern. (Irgendwie assoziiert man hierzulande langsames Sprechen mit Frömmigkeit. Aber ich habe irgendwie angefangen, jetzt selber oft beim Beten so schnell zu sprechen und kann mich dabei gut konzentrieren, und es ist ja auch manchmal so, dass man, wenn man mit jemand Geliebtem spricht, am liebsten alles auf einmal herausbringen will, und hastig spricht und sich fast verhaspelt.) Eventuell wirkt auch die Improvisiertheit und Verstecktheit mancher Kapellen auf Außenstehende seltsam („sektenartig“), aber daran kann man wohl auch nichts ändern, solange die FSSPX mit ihrem begrenzten Geld auskommen muss und nicht in die Pfarrkirchen gelassen wird.

Und jetzt zu allem Positiven:

  • Die Priester, die ich bisher kennengelernt habe, sind alle sehr sympathisch, feiern die Messe andächtig, und sind gute Beichtväter. Ich hatte immer mal wieder, wenn ich zu einem mir unbekannten Priester zur Beichte gegangen bin, ein bisschen Angst davor, ob der besonders streng sein könnte oder ich etwas nicht richtig machen könnte, aber die Angst war tatsächlich ziemlich unnötig.
  • Auch alle anderen Leute, die ich da bis jetzt getroffen habe, sind richtig freundlich und nett und nehmen einen gleich mit offenen Armen in der Gemeinde auf; ich bin nie von irgendjemandem unfreundlich behandelt worden. Man wird gleich zur KJB oder zu einem Studienkreis eingeladen oder gefragt, ob man beim Kuchenverkauf helfen will. Man merkt, dass eine Zusammengehörigkeit da ist; die Leute unterhalten sich nach der Messe noch miteinander, es gibt gemeinsame Wallfahrten und Gemeindefeste; wahrscheinlich sorgt auch das Bewusstsein, dass man in der Kirche allgemein nicht so angesehen ist, für ein gewisses Gemeinschaftsgefühl. (Es ist aber gerade keine „sektenartige“ Zusammengehörigkeit, wo die Gruppe sofort die Freizeit in Anspruch nimmt oder anfängt, einen zu kontrollieren. Man wird eingeladen, mal bei dieser Wallfahrt mitzugehen oder zu jenem überregionalen KJB-Treffen zu kommen, aber niemanden stört es, wenn man mal nicht will oder nicht kann.) In meiner Gemeinde scheinen vor allem Leute zu sein, deren Familien schon lange zur FSSPX gehen und die sich schon ewig kennen, aber als Neuankömmling wird man auch willkommen geheißen, und insgesamt hat die FSSPX offenbar immer wieder Konvertiten aus nichtkatholischen Religionen oder Neuankömmlinge aus Novus-Ordo-Gemeinden (z. B. kenne ich solche in einer Nachbargemeinde).
  • Die Messe ist einfach wunderbar; das wird bei anderen Tradi-Gemeinschaften genauso sein, aber man kann es wohl kaum unerwähnt lassen. Man hat nie das Gefühl, den Priester ausblenden zu müssen, um sich irgendwie auf Jesus zu konzentrieren, der trotz liturgischer Missbräuche noch da ist. Es passt einfach alles zusammen, und auch wenn es mir immer schwerfällt, mir da wirklich klar zu machen, was da Heiliges und Unglaubliches passiert, bietet die Messe genau den richtigen Rahmen, es etwas besser zu verstehen. Man merkt auch den Leuten an, dass sie wirklich Gott ehren wollen.
  • Den Kapellen merkt man es auch an, dass versucht wird, sie so schön und heilig wie möglich zu gestalten; sowohl bei den richtigen Kirchenbauten als auch bei den improvisierten, halb versteckten Kapellen.
  • Niemand macht auf Coronafanatiker; es ist völlig akzeptiert, wenn man z. B. nicht geimpft ist (wahrscheinlich werden nur wenige aus meiner Gemeinde geimpft sein). Und die Gemeinde würde nie auf die Idee kommen, 3G- oder gar 2G-Regeln für die Messen einzuführen; es bleibt bei „Maske und Abstand“, und in manchen Gemeinden soll man sich für die Gottesdienste vorher anmelden. Die meisten Leute werden zu Corona (und anderen politischen Fragen) Meinungen im richtigen Rahmen haben, die einen vielleicht in dieser Hinsicht ein bisschen übertrieben, die anderen in jener.
  • Die Predigten sind auch gut, und in den seltenen Fällen, in denen es dabei mal politisch wird, kommen solche Aussagen wie: Jesus soll auch über die Gesellschaft herrschen, also beten wir für die Politiker, oder: Bitte beten Sie, dass die Grünen die Bundestagswahl nicht gewinnen. Man merkt auch eins: Kein Priester versucht, besonders originell zu sein und seine eigene Genialität herauszustellen, sie wollen einfach die Kirchenlehre verkünden. Je nach Redekunst und Einstellung des Priesters kann es manchmal ein bisschen langweilig oder ein bisschen unzusammenhängend oder zu fordernd oder zu pessimistisch werden, aber es wird einfach nie häretisch, und meistens wird es gut.
  • Ich glaube, es ist auch eine gewisse missionarische Offenheit da; ein alter Herr hat mir mal erzählt, dass er vor Jahrzehnten durch eine Kollegin, eine Putzfrau in seinem Betrieb, zur FSSPX gefunden hat, und eine Bekannte von mir ist gerade dabei, ihren Freund zu bekehren. Wobei die FSSPX-Leute sonst auch oft einfach unauffällig-normal wirken. Sie binden es nicht jedem sofort auf die Nase, zu was für einer komischen Gruppe sie gehören, aber sind offen dafür, andere zu Christus zu bringen – so mein Eindruck.

Kurz gesagt: Man merkt, dass Gott wirklich geehrt wird, und außerhalb des Gottesdienstes ist alles einfach so nett und normal. Ich weiß nicht, ob andere Tradis die Beschreibung „nett und normal“ für ein übergroßes Kompliment halten, aber so meine ich es. Man fühlt sich wohl, wird nicht verurteilt, muss nicht vorsichtig dabei sein, was man sagt, und die Leute sind einfach hilfsbereit, wenn man z. B. mal eine Fahrgemeinschaft braucht, ältere Leute schenken einem einfach mal Andachtsbildchen oder eine wundertätige Medaille. Die Leute gehen alle so freundlich miteinander um; die kleinen Kinder schenken dem Pater nach der Messe mal ein selbergekritzeltes Bild oder eins ihrer Überraschungseier, und wenn die KJB Kuchen verkauft, um ihre Aktivitäten zu finanzieren, geben die Leute ein gutes Stück mehr, als so ein bisschen Apfel- oder Schokokuchen wert wäre. Es macht auch nichts, wenn man neu dazukommt und sich mit allem noch nicht so auskennt; z. B. hat der Pater an meiner Kapelle mich einmal nach der Messe beiseitegenommen und mich gefragt, ob ich noch kurz in der Sakristei die Mundkommunion mit unkonsekrierten Hostien üben möchte, weil ich oft aus Versehen reflexhaft die Zunge zurückgezogen habe, und er es ein bisschen schwer dabei hatte, mir die Hostie in den Mund zu legen. Und wenn man von der neuen Messe kommt: In die alte Messe findet man sich nach und nach sehr gut ein, auch wenn es am Anfang sehr ungewohnt sein kann.

Fazit: Nach meinen Erfahrungen kann ich die FSSPX nur weiterempfehlen. (Und um das klarzustellen: Natürlich sollte man nicht „nur“ wegen einer guten Gemeinde zur FSSPX gehen, wenn man sich noch nicht sicher ist, ob sie überhaupt wirklich katholisch ist, aber um das zu klären, siehe den ganz oben verlinkten Artikel.)

Erzbischof Marcel Lefebvre.

An dieser Stelle noch ein kleines PS zur neuen Messe: Ich habe noch einige Male über sie nachgedacht, auch nachdem ich noch einmal (notgedrungen) in einer neuen Messe war, die dann von einem jungen Priester recht gut und andächtig gefeiert wurde. Es bleibt dabei, sie ist schon sehr zurechtgestutzt worden, manche Dinge sind verdunkelt worden und werden nicht so deutlich, und einige Missbräuche gibt es selbst in den streng nach Vorschrift gefeierten neuen Messen (z. B. die schreckliche Praxis der Handkommunion, die wirklich abgeschafft gehört). Aber irgendwie ist es trotzdem die Messe, und auch ihr Opfercharakter ist nicht komplett verdunkelt; deswegen vermute (!) ich: Wenn man eine alte Messe praktisch erreichen kann, sollte man im Regelfall dahin gehen (auch wenn es im Einzelfall Gründe geben kann, das nicht zu tun); aber wenn nicht, dann könnte es schon ok sein, in eine gut gefeierte neue Messe zu gehen, um eben doch in dieser besonderen Gegenwart Jesu zu sein und an Seinem Opfer teilzunehmen. Dagegen könnte man sagen: „Wird man dabei nicht wie ein schleichendes Gift eine falsche Vorstellung von der Messe und damit vom katholischen Glauben aufnehmen? Die Messe sollte ja vollständig zeigen, wie viel Ehre Gott zu erweisen ist.“ Ich weiß es ehrlich gesagt nicht; vielleicht ist wirklich die Gefahr da, dass man falsche Vorstellungen unbewusst aufsaugt. Man sollte sich dann zumindest im Vorhinein dagegen wappnen, wenn man zu dieser Notlösung greift. [Einige Probleme findet man z. B. hier in der „kurzen kritischen Untersuchung des neuen Ordo Missae“ von Kardinal Ottaviani aufgezählt.]

Als Priester sollte man sich jedenfalls nicht damit zufrieden geben, eine verstümmelte Messe zu feiern, sondern die feiern, die Christus gefallen wird, auch wenn die Priester, die die neue Messe gut feiern, subjektiv nichts Falsches tun werden.

Wobei ich mir immer noch sicher bin, ist aber, dass es keine Pflicht gibt, zu einer wirklich sakrilegisch gefeierten Messe von einem Priester, der den Glauben offensichtlich verloren hat, zu gehen, oder seine Kinder mit häretischen Predigten indoktrinieren zu lassen; solche Messen kann man ruhig boykottieren. Wenn man merkt, dass einem die Messe geistlich schadet oder einem nur Verwirrung bringt, entfällt die Sonntagspflicht ganz offensichtlich.

Update: Ich bin inzwischen zu dem Ergebnis bekommen, dass es zumindest eine wahrscheinliche Meinung ist, dass man, wenn man ab und zu nicht zur alten Messe kann, einfach zu Hause beten darf, und man dieser Meinung also folgen darf, was ich persönlich in Zukunft tun werde. (Komplizierter wäre es, wenn man nie in die alte Messe könnte und einem nur neue Messen zur Verfügung stehen, und in ähnlichen Fällen. Dazu will ich kein Urteil fällen.)

Aber bei unterschiedlichen Novus-Ordo-Priestern merkt man jedenfalls sehr deutlich, welcher zumindest das glauben und tun will, was die Kirche lehrt und immer gelehrt hat, auch wenn er vielleicht in einigen Dingen verworrene Vorstellungen oder Vorurteile über die vorkonziliare Kirche hat, und welcher nur so halb glaubt oder kaum noch.

Missbrauch in München-Freising: Genaueres/Klarstellung zu Benedikt, Fazit und sonstige Auffälligkeiten und Anmerkungen

Ich habe mich jetzt doch entschlossen, das Münchner Gutachten noch einigermaßen vollständig zu lesen (ausgenommen den Sonderband zu Fall 41, vielleicht mache ich das noch), inklusive das ganze Vorgeplänkel, wo die Gutachter z. B. ihre Begriffe definieren und langwierig ausführen, inwiefern sich kirchliche Funktionäre strafbar gemacht haben könnten, aber auch die konkreten Empfehlungen am Ende; hier also noch einmal ein paar Gedanken dazu, was mir dabei aufgefallen ist.

Zuerst noch einmal genau zusammengefasst, was Benedikt XVI. / Kardinal Ratzinger angeht: In seinen Stellungnahmen, auf die die Gutachter am Ende noch eingehen, nachdem sie dargelegt haben, wie sich die Fälle in den Akten darstellen (und die ich zuerst übersehen hatte), erklärt Benedikt durchgängig, in den vier Fällen, in denen ihm die Gutachter Fehlverhalten vorwerfen, von seinen Mitarbeitern nicht ordentlich informiert worden zu sein. In einem Fall glauben ihm die Gutachter das, nämlich in Fall 22, bei dem es um einen Priester geht, der vor Ratzingers Zeit Missbrauchstaten begangen hatte, und dem während Ratzingers Amtszeit vom Erzbistum lediglich der persönliche Titel „Pfarrer“ (nicht gerade ein besonderer Ehrentitel) verliehen wurde, und dem der Generalvikar etwas später einen netten Brief zu seiner Verabschiedung in den Ruhestand schickte, in dem er auch Dank vom Erzbischof für seine Dienste ausrichtete. Das sind ja auch Routinevorgänge, und es kann nicht wirklich von einem Erzbischof erwartet werden, die Vergangenheit aller Priester in seinem Bistum nachzuprüfen, bei denen irgendein Routinevorgang wie eine Versetzung in den Ruhestand anfällt, mit der er noch dazu kaum befasst ist. In den übrigen drei Fällen zweifeln die Gutachter an Benedikts Darstellung. In den Akten des Erzbistums heißt es in diesen Fällen an manchen Stellen, ihm sollte irgendein Schriftstück noch zur Kenntnis gebracht werden o. Ä., und wenn das nicht geschehen sein sollte, müsste man annehmen, dass die Mitarbeiter, besonders Generalvikar Dr. Gruber, die Akten falsch geführt und wichtige Dinge vor dem Erzbischof verheimlicht haben. Das ist allerdings vorstellbar; Dr. Gruber war auch vor und nach Ratzingers Amtszeit jemand, der Missbrauch lieber unter den Teppich kehrte. Es sieht zwar nicht danach aus, dass er Ratzingers Vorgänger Kardinal Döpfner und seinem Nachfolger Kardinal Wetter viel verheimlicht hätte, aber es wäre immerhin denkbar, dass er vielleicht dachte, Kardinal Ratzinger könnte strenger reagieren? Benedikt schreibt z. B., wenn Dr. Gruber notiert habe, er habe den neuen Einsatz eines Priesters mit ihm, dem Kardinal, besprochen, und der sei einverstanden gewesen, weil kein Skandal zu befürchten sei, dann zeige das doch, dass er nicht ordentlich informiert worden sein könne, denn wenn er alles gewusst hätte, hätte er ja nie gesagt, dass kein Skandal zu befürchten sei. Allerdings wäre es auch denkbar, dass Benedikt sich vielleicht einfach nicht erinnern will, und tatsächlich wenigstens ungefähr Bescheid davon wusste, was vorgefallen war, und dass die Täter vorerst nur versetzt, beurlaubt oder auf ihren Posten belassen wurden, und höchstens bei Rückfällen etwas mehr getan wurde. (Benedikt gibt an, dass sein Gedächtnis noch immer sehr gut sei, und dass er, wenn er sich an einen Menschen nicht erinnere, davon ausgehe, auch nicht mit ihm zu tun gehabt zu haben, daher schließe ich so etwas wie Altersdemenz aus – wobei es natürlich auch möglich ist, dass sein Gedächtnis an manchen Stellen nachlässt, ohne dass er es bemerkt. Bewusstes Lügen will ich ihm auch nicht unterstellen. Es geht um Vorgänge vor Jahrzehnten und der emeritierte Papst ist 94.) In diesen drei Fällen ging es um einen exhibitionistischen Priester, einen Priester, der anzügliche Fotos von 10-13jährigen Mädchen machte, und einen Priester, der vorher im Ausland schon wegen Kindesmissbrauchs verurteilt worden war und jetzt wieder auffälliges Verhalten (Nacktbaden, Kontakte mit Ministranten) zeigte, also im Vergleich zu anderen Taten noch eher minderschweren Fällen, aber trotzdem natürlich Fällen, für die ganz andere Strafen hätten kommen sollen, und in denen die Täter auch noch Schlimmeres hätten tun können (und vielleicht unentdeckterweise getan haben).

Es ist gut möglich, dass die Stellungnahmen nicht allein von Benedikt verfasst wurden (er ist immerhin, wie gesagt, 94 Jahre alt), aber ich würde mal zumindest davon ausgehen, dass der Inhalt mit ihm abgesprochen war.

Ansonsten wiederhole ich erst noch kurz mein Gesamtfazit aus dem letzten Artikel:

In den 1940ern und 1950ern unter Kardinal Faulhaber und Kardinal Wendel sieht man, dass durchaus Maßnahmen ergriffen werden und Verdachtsmomenten nachgegangen wird, allerdings wurde nicht in allen Fällen genug getan; vermutlich war den Verantwortlichen nicht ganz bewusst, wie groß der Schaden an den Kindern/Jugendlichen ist, und man verließ sich auf die Besserung von Tätern nach Abbüßung einer Strafe. Man hätte mehr tun können, Fälle wurden auch nicht nach Rom ans Heilige Offizium (Vorgängerorganisation der Glaubenskongregation) gemeldet. Die Gutachter bemerken kritisch, man sehe keine Bemühungen um Kontakt mit den Opfern; ich würde vermuten, dass die Erzbischöfe das einfach nicht als ihre Aufgabe wahrnahmen und sich auf die Täter konzentrierten, so wie man nicht unbedingt ein persönliches Gespräch eines weltlichen Richters mit Verbrechensopfern erwarten würde (auch wenn das vielleicht gar keine schlechte Idee wäre). Generalvikar Buchwieser ging es nach Ansicht der Gutachter offenbar zu sehr um die mögliche Rufschädigung für die Kirche, Generalvikar Dr. Fuchs konnte durchaus streng vorgehen, ging aber einem Anfangsverdacht auch nicht immer genug nach.

Ab den 1960ern wird die Situation dann katastrophal, man sieht durchgehend eine ziemliche Gleichgültigkeit beim Erzbistum, sowohl unter Kardinal Döpfner als auch unter Kardinal Wetter; Täter wurden oft einfach nur versetzt, und zwar als „Strafe“ höchstens mal in die Krankenhaus- oder Altenheimseelsorge, was ihnen neue Taten keineswegs unmöglich machte (auch da gibt es Ministranten und die Priester helfen mal in der örtlichen Pfarrei aus). Generalvikar Defregger war ziemlich gleichgültig, Generalvikar Dr. Gruber übernahm auch auffallend viele Missbrauchstäter aus anderen Diözesen. Generalvikar Dr. Simon agierte recht passiv, auch Offizial Dr. Wolf war noch zurückhaltend bei der Einleitung von Verfahren, auch wenn es zu seiner Zeit schon besser wurde.

Irgendwann nach dem Jahr 2000, etwa um 2010, beginnt dann wieder ein Umdenken, es werden Missbrauchsbeauftragte eingesetzt, auch ältere Fälle werden gemeldet und die mutmaßlichen Opfer erhalten Entschädigungen. Ganz einwandfrei ist das Vorgehen der Erzdiözese auch jetzt nicht immer, aber man sieht eine deutliche Änderung; es wurden auch viele Fälle gemeldet, die im Gutachten nicht aufgeführt wurden, weil die Gutachter kein Fehlverhalten bei den Leitungsverantwortlichen sahen. Die Gutachter sehen bei Kardinal Marx kein außergewöhnlich intensives Interesse oder entschlossenes Vorgehen, aber haben keine härteren Vorwürfe zu machen; er hat sich auch mehrmals mit Missbrauchsopfern getroffen. Generalvikar DDr. Beer scheint recht konsequent vorgegangen zu sein. Die Gutachter bewerten die Präventionsarbeit in diesem Zeitraum als vorbildlich.

Auffällig ist aber, dass im gesamten Zeitraum kaum eine kirchenrechtliche Verurteilung nach den Straftatbeständen im alten CIC von 1917 bzw. im neuen CIC von 1983 erfolgte, was sicher öfter möglich gewesen wäre. Das Kirchenrecht war da, aber oft ging man nur mit Disziplinarmaßnahmen vor.

Um ehrlich zu sein, diese Gesamtsituation überrascht mich nicht besonders. In den 1960ern begann allgemein eine Zeit, in der man mehr Verständnis mit Verbrechern haben wollte, in der auf ihre Therapierbarkeit gesetzt wurde, und in der der Schaden durch sexuellen Missbrauch verharmlost wurde, in manchen Kreisen sogar für die Legalisierung von Sex mit Kindern geworben wurde. Und in den 2010ern wurde dann überall über Missbrauch in der Kirche geredet und man konnte das Thema gar nicht mehr in dieser Weise ignorieren. Ein bisschen unerwartet ist höchstens, dass es auch in den 1990ern und 2000ern noch oft so schlecht war.

Die Frage nach der genauen Schuld der einzelnen Beteiligten ist wohl eine, die nur Gott beantworten kann.“

(Die 65 im Gutachten ausführlicher dargestellten Fälle sind die, bei denen die Gutachter Fehlverhalten auf der Leitungsebene sahen; bei den anderen Fällen sahen sie entweder kaum Fehlverhalten oder „nur“ bei niederrangigeren Mitarbeitern, was sie nicht öffentlich darstellen, sondern worüber sie einfach die Bistumsleitung informieren wollten. Sie hätten allerdings keine Hinweise auf bewusstes Vertuschen von Sachverhalten vor den Vorgesetzten durch die Mitarbeiter gesehen.)

Noch einmal wiederholen möchte ich auch, wie auffällig ich es fand, wie gering die staatlichen Strafen in den vielen Fällen ausfielen, in denen die Missbrauchsfälle vor Gericht landeten – Geld- oder Bewährungsstrafen waren nicht selten, die mit Abstand höchste Strafe, Anfang der 60er für mehrfachen Missbrauch verhängt, war eine fünfjährige Haftstrafe.

Ein bisschen Statistik ist hier vielleicht interessant.

„Untersuchungsgegenständlich waren Vorwürfe gegen 261 Personen (205 Kleriker und 56 Laien). Bei 235 Personen (182 Kleriker und 53 Laien) haben sich Hinweise auf insgesamt 363 untersuchungsrelevante Sachverhalte ergeben.

Die Gutachter sehen im Hinblick auf 65 Sachverhalte die erhobenen Vorwürfe als erwiesen, bei 146 Sachverhalten als zumindest plausibel und in 11 Sachverhalten als widerlegt an. Bei 141 Sachverhalten und damit ca. 38 % boten die vorliegenden Erkenntnisse jedoch keine ausreichende Beurteilungsgrundlage für eine abschließende gutachterliche Würdigung.

Insgesamt wurden 90 staatliche Ermittlungsverfahren durchgeführt; dies sowohl innerhalb (71) als auch außerhalb (19) des Gebiets der Erzdiözese München und Freising. In 46 Fällen (31 innerhalb / 15 außerhalb) kam es zu einem Strafurteil beziehungsweise Strafbefehl.

Insgesamt wurden 14 kirchliche Voruntersuchungen durchgeführt; dies sowohl innerhalb (10) als auch außerhalb (4) des Gebiets der Erzdiözese München und Freising. Fünf Fälle wurden an die Glaubenskongregation gemeldet. In zwei Fällen wurde ein kirchliches Strafverfahren durchgeführt.

Auf der Basis der geprüften Aktenbestände gehen die Gutachter von mindestens 497 Geschädigten aus, davon 247 männlichen und 182 weiblichen Geschlechts; in 68 Fällen war eine eindeutige Zuordnung nicht möglich. Sowohl bei den männlichen als auch bei den weiblichen Geschädigten war die Altersgruppe der 8- bis 14jährigen mit 59% beziehungsweise 32% deutlich überrepräsentiert.“ (S. 11f.)

Die Gutachter erwähnen auch, dass Laien anders behandelt wurden als Priester: „Im Vergleich dazu konnten die Gutachter feststellen, dass gegenüber des Missbrauchs verdächtigten Laienmitarbeitern durchgängig aus Sicht der Gutachter angemessene dienst- und arbeitsrechtliche Maßnahmen ergriffen wurden.“ (S. 12f.)

Der Anteil der widerlegten Fälle liegt also hier bei 3%; sie sind vorhanden, und sie machen einen ziemlich geringen Anteil aus.

Auffällig ist auch, dass es einige mehr männliche als weibliche Opfer gab.

Dann ein paar weitere Punkte zum Gutachten.

Es ist sehr interessant, was die Gutachter zu homosexuellen Cliquen im Klerus zu sagen haben.

„Die Problematik der reinen (Erwachsenen-)Homosexualität unter Klerikern berührt den Untersuchungsgegenstand zwar nicht unmittelbar. Mit Blick auf die Intensität der Sachverhaltsaufklärung durch die Kirche und deren Bewertung sind einige Anmerkungen hierzu jedoch unverzichtbar. […]

Mit dem gebotenen Nachdruck ist an dieser Stelle festzuhalten, dass sich in einer namhaften Zahl der uns zur Überprüfung vorgelegten Unterlagen Anhaltspunkte und Belege für eine ausgeprägte Homosexualität, insbesondere von Priestern und nicht nur im Bereich der allgemeinen Seelsorge, ergeben haben. Hinzu treten deutlichste Zeichen dafür, dass dergestalt sexuell orientierte Personen besonders enge Kontakte pflegten, sodass der Eindruck eng geknüpfter Netzwerke entsteht, die bis hin zu herausgehobenen Positionen in der Hierarchie des Ordinariats unterhalten wurden. Derartige Abschottungstendenzen treten auch anderwärts bei Minderheiten auf, die tatsächlich diskriminiert werden oder sich vermeintlich diskriminiert fühlen, wie den Gutachtern auch in anderem Zusammenhang bekannt wurde. Es liegt auf der Hand, dass das Wissen um die homosexuellen Tendenzen eines priesterlichen Mitbruders angesichts der rigiden Haltung der katholischen Kirche zu Fragen der Homosexualität demjenigen, der über dieses Wissen verfügt, eine erhebliche Einflussmöglichkeit beziehungsweise ein (gegebenenfalls sogar wechselseitiges) Erpressungspotential verleiht. Dies wiegt umso schwerer als auch innerhalb des Klerus unterschiedliche Gruppierungen beziehungsweise die erwähnten Netzwerke existieren, die einen (regen) Informationsaustausch betreiben und nachhaltig eigene Ziele um des beruflichen Fortkommens willen verfolgen. Derartiges Wissen oder Gerüchte haben daher durchaus einen nicht unerheblichen Verbreitungsgrad und müssen als eine wesentliche Mitursache für die ohne jeden Zweifel vorherrschenden Vertuschungstendenzen auch in die vorliegende Bewertung einbezogen werden. Hinzu tritt, dass eine wünschenswerte Kultur der Aufrichtigkeit und Offenheit über den gesamten von den Gutachtern untersuchten Zeitraum auch dadurch massiv verhindert wurde, dass in Fällen erkannter manifestierter und auch praktizierter Homosexualität diese hingenommen und somit entgegen eindeutigem Postulat toleriert wurde.“ (S. 423-425)

Das ist hier jetzt sicher noch etwas vage – ich gehe auch davon aus, dass die Gutachter keine Einzelpersonen an den Pranger stellen wollten, auch nicht anonymisiert, insbesondere, da sie selber, wie sie noch einmal betonen, nichts Falsches an Homosexualität sehen -, aber es ist trotzdem sehr interessant. Eine faktische heuchlerische Toleranz von Homosexualität, vernetzte Cliquen, die für eine Atmosphäre der Geheimhaltung sorgen, das ist ja kein ganz neuer Befund (z. B. wurde so etwas vor einiger Zeit erst von Prof. Dariusz Oko angeprangert), und das sorgt definitiv nicht für ein Klima der Offenheit und Aufklärung. Es ist auch zumindest denkbar, dass solche vernetzten Cliquen es für ein paar der Täter einfacher gemacht haben, ihre Taten, die zwar noch strafbarer Missbrauch waren, aber „in Richtung“ von Erwachsenenhomosexualität gingen, zu verheimlichen, nämlich bei solchen Fällen, in denen homosexuelle Kleriker Jungen im Verlauf der späteren Pubertät missbrauchten (z. B. der Priester aus Fall 50, der sich oft an Homosexuellentreffpunkten aufhielt, wo auch minderjährige männliche Prostituierte zu finden waren).

Ein bisschen seltsam ist der ganze Abschnitt, in dem die Gutachter, bevor sie auf die konkreten Fälle in München-Freising eingehen, einleitend die „gesellschaftliche Entwicklung“ skizzieren wollen, offenbar, um zu bewerten, was sie von Entschuldigungen/Rechtfertigungen für falschen Umgang mit Missbrauch wegen „des Zeitgeistes“ halten sollen. Und wie gesagt, hier kommen ein paar Abschnitte, wo man irgendwie den Eindruck hat, dass die Gutachter eher ein paar grobe Klischees zusammengefasst haben als hundertprozentig objektiv zu forschen.

So meinen sie z. B.: „Auch nach dem Ende des II. Weltkrieges war aufgrund der fortdauernden Prägung der Gesellschaft durch die Erziehung der Nationalsozialisten mit ihrem Keuschheits- und Mutterideal in der Bundesrepublik zunächst noch eine sehr konservative Moralvorstellung vorherrschend. Anders als beispielsweise die Rassenlehre wurde die Sexualmoral nicht als typisch nationalsozialistisch angesehen.“ (S. 45f.) Tatsächlich war die Sexualmoral nicht nur nicht „typisch nationalsozialistisch“, sie war nicht mal wirklich nationalsozialistisch. Die Nazis hatten z. B. sehr wenig gegen die uneheliche Geburt von Kindern, solange die Eltern gesunde Arier waren – man google nur mal den Lebensborn e. V. Die Nazis waren sogar so „sittenstreng“, dass sie einen Priester ins KZ steckten, der einer Frau die Ehe mit einem geschiedenen Nazi ausgeredet hatte, und dass Himmler überlegte, die Bigamie wieder einzuführen. Natürlich hielten sie von offensichtlichen Verdrehungen wie Homosexualität wenig (wie die allermeisten Menschen damals), und bezogen diese auch in ihre typischen brutalen Nazimethoden ein, und sie wären wohl auch nicht begeistert von totaler Promiskuität gewesen, aber insgesamt waren sie moralisch gesehen eher lax, im Vergleich zum Beispiel zur katholischen Kirche oder sogar noch anderen Kirchen. Die Keuschheit war kein typisches Naziideal, die Mutterschaft vielleicht schon eher, bis zu einem gewissen Grad.

Außerdem meinen sie, ebenfalls über die späten 40er und die 50er: „Weder die sexuelle Freiheit noch die psychische Entwicklung des Einzelnen waren Elemente, die Beachtung und erst recht nicht Schutz durch die Gemeinschaft und die Rechtsordnung beanspruchen konnten und erfahren haben. Minderjährige, die Geschädigten eines sexuellen Missbrauchs wurden und darüber sprechen wollten oder gesprochen haben, konnten nicht auf adäquate Hilfe und Unterstützung hoffen. Denn durch das Missbrauchsgeschehen wurden sie nun als ‚geschändet‘, als beschmutzt und stigmatisiert angesehen und nicht selten ausgegrenzt. Insbesondere weiblichen Missbrauchsopfern wurde oftmals eine Mit-, wenn nicht gar die Hauptschuld, etwa durch frühreifes Gebaren oder aufreizende Kleidung, zugewiesen. Dementsprechend genossen die geschädigten Minderjährigen allenfalls eine sehr geringe Glaubwürdigkeit, die jedenfalls dann vollständig entfiel, wenn sich die erhobenen Vorwürfe gegen Personen des öffentlichen Lebens richteten, für die allein schon kraft des von ihnen ausgeübten Amtes die vermeintlich unwiderlegbare Vermutung der Ehrhaftigkeit sprach. In besonderer Weise galt dies für einen Priester, der nach damaliger und auch heute noch anzutreffender Vorstellung die Inkarnation des über alle Zweifel Erhabenen darstellt.“ (S. 46f.)

Hier frage ich mich wirklich, was davon stimmt. Denn in den 40ern und 50ern gab es ja die erwähnten Verurteilungen und die erwähnten Nachforschungen, z. B. in Fall 3 im Gutachten, als die Kriminalpolizei und das Erzbistum schon ermittelten, weil ein Priester in einem Lehrlings- und Schülerheim ein ungewöhnlich nahes und seltsames Verhältnis zu den Jungen hatte, ohne dass ein Junge sich beschwert hätte (tatsächlich gaben die Jungen bei Befragungen an, dass es keinen Missbrauch gegeben habe). Dann meinen die Gutachter selber auch, dass natürlich auch schädliche Folgen für die Kinder bekannt und geächtet gewesen seien, wobei sie z. B. folgende Zitate aus Gerichtsurteilen bringen: „Der Schaden, den der Angeklagte an der geistigen, seelischen und moralischen Entwicklung der Kinder angerichtet hat, ist unermesslich und unübersehbar.“ „Dazu kommt noch, dass der Angeklagte seine hohe Aufgabe, Kinder zur Reinheit zu erziehen, in einer ganz verwerflichen Weise missbraucht hat und den Kindern dadurch zumindest seelischen Schaden zugefügt hat.“ (S. 50)

Irgendwie beißt sich das mit der Behauptung der totalen Stigmatisierung der Opfer. Hier wüsste ich mal wirklich gern, wie das von Opfern damals empfunden wurde – nicht wie Leute heute darüber schreiben, sondern wie jemand es damals empfand. Was die Mitschuld angeht: Mein – oberflächlicher – Eindruck ist, dass die Verführung von Jugendlichen zur Unzucht (nochmal unterschieden vom Missbrauch von kleinen Kindern) „früher“ vielleicht ungefähr so gesehen wurde wie die Verführung von Jugendlichen zum Drogenkonsum heute: Der Verführer ist der eigentliche Täter und gehört gehörig bestraft, für den Schaden, den er an ihnen angerichtet hat, aber man soll auch die Jugendlichen selber dazu erziehen, reif und verantwortungsvoll zu sein und sich solchen Verführungsversuchen zu widersetzen. Wie gesagt, das ist nur ein Eindruck, ich bin erst in den 90ern geboren. Aber hier wüsste ich wirklich gern mehr.

Dass die Gutachter z. B. den Begriff der „Schändung“ so auslegen, als beinhalte er eine Verachtung des geschändeten Opfers, wirkt auch nicht total plausibel. Schändung bedeutet, zu erniedrigen, Verachtung zu zeigen, zu verletzen. Man benutzt diesen Begriff auch bei Grabschändung oder Hostienschändung; und würde man ein Grab, bei dem, sagen wir, jemand ein Hakenkreuz auf den Grabstein gesprüht oder Plastiktüten mit Hundekacke auf die Grabplatte geworfen hat, von da an als igitt, tabu, zu verachten sehen, nur weil der Täter es so behandelt hat?

Ich kann mir schon vorstellen, dass es auch „früher“ falschen Umgang, evtl. sogar sehr falschen Umgang mit sexuellem Missbrauch gab, aber irgendwie kommt es mir so vor, als wäre dieses Früher eine Zeit, bei der es einem wahnsinnig schwer gemacht wird, wirklich etwas Verlässliches über sie zu wissen, statt nur zusammengestoppelte Klischees und begrenzt aussagekräftige Einzelinformationen.

Auch die Bewertung der späteren Änderungen durch die Gutachter ist, sagen wir, ein bisschen problematisch. Hier sieht man einfach, wie unfähig Leute sind, wirklich „neutral“ zu sein – die Gutachter sind es gewohnt, die Sexuelle Revolution als völlig positiv zu sehen, und müssen die Fakten, na ja, vielleicht nicht komplett verdrehen, aber doch irgendwie entsprechend framen. So meinen Sie: „Ab Ende der 1950er Jahre brachten erste Massenerhebungen zur sexuellen Praxis der Bevölkerung ans Licht, dass diese in weiten Teilen nicht mit den gesellschaftlichen Konventionen in Einklang stand, ohne dass sich Anhaltspunkte für eine gestörte Persönlichkeit oder einen gestörten Sexualtrieb bei den Betroffenen ergeben hätten.“ (S. 48) Hier frage ich mich, was genau sie meinen – die berühmten „Untersuchungen“ von Aflred Kinsey, der dafür insbesondere Häftlinge und Prostituierte befragte (nicht gerade der Durchschnitt der Bevölkerung), und auch kein Problem darin sah, Pädophile zu interviewen? Sie reden von dem „Paradigmenwechsel“ (S. 51) der 60er und loben ihn: „Ohne die entsprechenden Zwänge eröffnete sich die Möglichkeit, Reife auf dem Gebiet der Sexualität unbeschwerter zu erlangen.“ (S. 51) Es fragt sich wirklich, was hier mit Reife gemeint ist – offensichtlich ja nicht Selbstkontrolle und Unbeschwertheit im Umgang mit dem anderen Geschlecht, das man nicht gleich sexualisiert. Immerhin geben sie dann korrekterweise zu: „Die bislang als Bedingung für die Gesundheit an Körper und Seele geforderte Unterdrückung und Reglementierung der Sexualität wurde nun als krankmachend angesehen. Gegenstand der in diesem Zusammenhang geführten Diskussionen waren unter anderem auch die Sexualität von Kindern und Jugendlichen sowie insbesondere die Frage, ob sexuelle Handlungen Erwachsener an Kindern, die man auch als sexuelle Wesen begriff, in jedem Fall strafwürdiges Unrecht darstellen (sollen). Mitunter wurde sogar die – wohl auch damals als Außenseiter-Meinung zu qualifizierende – Behauptung aufgestellt, dass Kinder und Jugendliche vielfach selbst sexuelle Kontakte mit Erwachsenen wünschten und davon in ihrer Entwicklung profitierten. Deren tatsächliches Erleben blieb freilich im Dunkeln. Teilweise wird vermutet, dass der Gewaltaspekt von den Befürwortern einer liberalen Sexualmoral bewusst unterdrückt wurde, um zu verhindern, dass er von konservativen Kräften für ihre Zwecke und Ziele instrumentalisiert werden konnte. Die Folge war letztendlich eine neuerliche Tabuisierung sexueller Gewalt gegen Mädchen und Jungen.“ (S. 51f.) Sie sehen jedoch bereits Ende der 70er eine Besserung, wobei ich mich frage, ob sie hier nicht ignorieren, dass es trotz einer gewissen Gegenbewegung gerade damals erst viele Vorkommnisse gab, bei denen Pädophiliebefürworter Aufmerksamkeit erhielten. Die Karriere der Grünen hatte hier gerade erst begonnen. Und natürlich war die Befürwortung der totalen Legalisierung von Pädophilie eine Außenseitermeinung, aber auch Außenseitermeinungen haben Einfluss, und können z. B. dafür sorgen, dass auch andere, die dieser Meinung nicht ganz folgen, z. B. sexuellen Missbrauch nicht mehr als ganz so abscheulich sehen.

Ab Mitte der 80er sehen die Gutachter dann eine breitere Debatte in Deutschland über Missbrauch in Familien, und ab den 90ern auch in Schulen usw. „Gleichwohl nahm es nochmals einige Zeit in Anspruch, bis die Konturen einer weiteren spezifischen Gruppe von Tätern deutlich wurden, nämlich jener der Fachkräfte sämtlicher Disziplinen, denen Kinder und Jugendliche zur Erziehung, Fürsorge, Gesundheitssorge oder Bildung anvertraut sind und die eigentlich die Aufgabe haben, diese vor Beeinträchtigungen ihres Wohlergehens zu schützen und deren Folgen abzumildern.“ (S. 54)

Dann meinen sie, dass es auch innerhalb der Kirche zunächst ein Problembewusstsein gab, und erwähnen die Sittlichkeitsprozesse von 1936/37, auf die sie aber nicht näher eingehen (was sich aber sicher lohnen würde), und dann einige prominent gewordene Fälle ab Mitte der 80er, nämlich:

  • Die Fälle Gilbert Gauthe und Lawrence Murthy aus den USA (Gauthe hatte ab den 70ern etliche Kinder missbraucht und war immer nur versetzt worden, Gerüchten war nicht nachgegangen worden)
  • Den Fall von Kardinal Groer aus Wien, gegen den Mitte der 90er Missbrauchsvorwürfe aufkamen und der daraufhin von seinem Amt zurücktrat (zu den Vorwürfen schwieg er)
  • Den Fall von Marciel Macial Degollado, den Gründer der Legionäre Christi, gegen den ab Mitte der 90er zahlreiche Missbrauchsvorwürfe aufkamen, und der erst Mitte der 2000er nach einer Untersuchung durch die Glaubenskongregation aufgefordert wurde, sich zu einem Leben in Buße und Gebet zurückzuziehen
  • Den Fall John Geoghan; Anfang der 2000er wurde vom Boston Globe aufgedeckt, dass dieser Priester der Erzdiözese Boston zahlreiche Kinder missbraucht hatte und von Erzbischof Bernard Francis Law gedeckt worden war

Sie halten hier – wohl völlig korrekt – fest, dass man in den 90ern oder 2000ern nicht mehr sagen konnte, aufgrund des Zeitgeistes nicht zu wissen, wie schädlich sexueller Missbrauch sei, wie z. B. Kardinal Wetter das in seiner Stellungnahme angibt. Das sollte man definitiv beachten; es gab auch noch viele Versäumnisse, als man es hätte viel besser wissen müssen.

Dann kommt aber auch noch eine seltsame Stelle mit der Behauptung, dass der ältere pädagogische Zeitgeist, der von der Kirche mitgeprägt worden sei, Kindern keine Rechte zugestanden hätte, und Erwachsene die Verfügungsgewalt über sie gehabt hätten (vgl. S. 62). Und hier frage ich mich echt: Was soll der Scheiß? Gerade wurde oben doch darüber gesprochen, dass sexueller Missbrauch immer als bösartiger Übergriff gesehen wurde. Das ist letztlich dieselbe seltsame Relativierung von sexuellem Missbrauch, die man oft bei Journalisten sieht, indem sie es gleichsetzen, einem Kind eine Ohrfeige zu geben, weil es seinen Banknachbarn geärgert hat, und ein Kind anal zu vergewaltigen. Ja, auch in Ländern, in denen Körperstrafen heute noch legal sind (z. B. den USA) haben Kinder Rechte. Nein, wer Körperstrafen für rechtens hält oder sogar austeilt, ist nicht dasselbe wie ein Kinderschänder.

Ich fand es wirklich an einigen Stellen ein bisschen auffällig, wie erstaunt die Gutachter sich geben, dass es ausgerechnet in den 1960ern so schlecht wurde, obwohl sie selbst schon den pädophilieverharmlosenden Zeitgeist zugegeben haben. So schreiben Sie z. B. über Kardinal Döpfner: „Keine wesentlichen Unterschiede gegenüber seinem Amtsvorgänger sind hingegen in Bezug auf die mangelnde Geschädigtenfürsorge festzustellen. Dieser Umstand wiegt im Fall des Erzbischofs Kardinal Döpfner nach Einschätzung der Gutachter allerdings umso schwerer, als dieser nicht nur im Rahmen des für das kirchliche Selbstverständnis sehr bedeutsamen II. Vatikanischen Konzils eine wichtige Rolle spielte, sondern sich in dieser Zeit auch das Bewusstsein für die Tatfolgen bei den Geschädigten von Gewalttaten im Allgemeinen und Missbrauchshandlungen im Besonderen bereits zu vergrößern begann, diese Entwicklung kirchlicherseits allerdings ignoriert wurde.“ (S. 681f.) Und über seinen Generalvikar Defregger: „Dies erscheint den Gutachtern auch deshalb als in besonderer Weise bedauerlich und kritikwürdig, weil im fraglichen Zeitraum das II. Vatikanische Konzil mit wegweisenden Vorgaben zum allgemeinen kirchlichen Handeln abgehalten wurde und in der Kirche eine nicht unerhebliche Aufbrauchstimmung festzustellen war, die jedoch nicht auf den Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs ausstrahlen konnte.“ (S. 928)

Es erscheint irgendwie als ausgemacht, dass das 2. Vatikanum gut war, und deswegen alles irgendwie hätte verbessern müssen. Dabei war die zeitgeistliche Stimmung, die leider auch „das Konzil“ und seine Umsetzung beeinflusste, ja gerade: weg von der repressiven Sexualmoral, dieser Dumpfheit und Rigidität, Verständnis für Kriminelle, die selber irgendwie Opfer sind, und denen man mit Therapie und Resozialisierung helfen soll. Nicht zuletzt kamen, wie schon oben gesagt, in vielen Ländern Forderungen von linken atheistischen Intellektuellen nach der Legalisierung von „gewaltfreiem“ Sex mit Kindern auf. Noch bis in die 90er waren Pädophilenaktivisten in manchen Kreisen erfolgreich. Diese ganze Stimmung beeinflusste wahrscheinlich auch gerade die liberaleren Kirchenleute, zu denen auch ein Kardinal Döpfner gehörte. Ich will definitiv keinem liberalen Theologen unterstellen, ein überzeugter Pädophiliebefürworter gewesen zu sein, aber von einer solchen gesellschaftlichen Entwicklung kann man sich eben dahingehend beeinflussen lassen, etwas laxer zu sein, Missbräuche nicht mehr als Verbrechen, sondern als minderschwere Verfehlungen zu sehen, und auf die schnelle Resozialisierbarkeit von Tätern zu vertrauen.

Sie gehen bei ihrem ganzen Vorgeplänkel auch auf die strafrechtliche Entwicklung ein. Aus Straftaten gegen die Sittlichkeit wurden 1973 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, und das und die ganzen anderen Änderungen bewerten die Gutachter im Grunde immer als positiv. Aufgefallen sind mir in diesem Abschnitt aber vor allem auch folgende nach und nach erfolgte Änderungen: Sexuelle Handlungen an Kindern unter 14 waren immer strafbar, aber die Altersgrenze speziell beim Missbrauch von Schutzbefohlenen wurde von 21 auf 18 heruntergesetzt und die Verführung von Mädchen unter 16 wurde nach § 182 StGB nicht mehr generell unter Strafe gestellt, schließlich wurde der § 175 StGB abgeschafft, der homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt hatte, zuletzt allerdings nur noch Handlungen mit einem minderjährigen Beteiligten; insoweit wurde auch das Schutzalter für Jungen im Allgemeinen auf 14 heruntergesetzt (bzw. 16 beim Missbrauch von Jugendlichen unter Ausnutzung einer Zwangslage o. Ä., und 18 beim Missbrauch von Schutzbefohlenen). Die Möglichkeit einer Geld- statt einer Freiheitsstrafe wurde eingeführt. Auch wenn es neuerdings wieder ein paar (theoretische) Verschärfungen und das Schließen von Strafbarkeitslücken gab und die Verjährungsfrist mittlerweile bis zum 30. Lebensjahr des Opfers ruht statt gleich ab der Tat zu laufen beginnt, diese erstgenannten Änderungen waren m. E. nicht besonders schön. An positiven Änderungen könnte man aber noch benennen, dass die Rechte des Opfers im Prozess gestärkt wurden, z. B. durch die Einführung der Nebenklage; hier haben die Gutachter schon Recht damit, positive Änderungen zu sehen.

(Aber natürlich ist und bleibt es der pure Wahnsinn, wie gering der Strafrahmen war und ist, und wie gering die Strafen vor allem in der Praxis ausfallen.)

Sie schreiben auch über die kirchenrechtliche Entwicklung, aber das übergehe ich hier mal; die kirchenrechtlichen Grundlagen hätten ja sehr oft ein härteres und anderes Vorgehen erfordert, als geschah, und genauer kann man das vielleicht mal ein anderes Mal ansehen.

Interessant ist aber auch noch, dass sie kritisieren, dass auch noch in jüngerer Zeit die Mitarbeiter des Ordinariats ihre internen Plausibilitätsprüfungen zu wichtig nahmen und in Fällen, die augenscheinlich verjährt waren, bei denen es ihrer Bewertung nach nur um eine nicht strafbare Grenzüberschreitung ging oder bei denen Aussage gegen Aussage stand, selbst entschieden, dass sie sie nicht, wie eigentlich verpflichtend, an die Glaubenskongregation und die Staatsanwaltschaft melden sollten, weil das sowieso nichts bringen würde. (In neuerer Zeit, als auch viele Altfälle gemeldet wurden, waren in vielen Fällen hauptsächlich die Mitarbeiter und die Diözesanleitung kaum mit der Sachbearbeitung befasst.)

Dann zu den Empfehlungen der Gutachter am Ende des Gutachtens. Schon zu Beginn des Gutachtens benennen sie Probleme, die sie sehen: „Klerikalismus“, Geheimhaltungsbedürfnis bzw. Angst vor Skandalen, fehlende Sachkompetenz bei Kirchenrechtlern („Jedenfalls bis in die jüngere Vergangenheit hinein war für die Auswahl der Leitungsverantwortlichen nicht primär die Fachkompetenz und das Leistungsprofil des jeweiligen Amtsinhabers maßgeblich, sondern dessen mögliche Aufstiegschancen in weitere und höhere kirchliche Ämter“ (S. 15)), fehlende Anwendung des Kirchenrechts, fehlende Kontrolle und Rechenschaftspflicht bei den Mitarbeitern im Ordinariat. Daher schlagen sie am Ende folgendes vor, wovon das meiste ganz vernünftig wirkt (in der Kirche wie in anderen Institutionen):

Sie empfehlen erstens, die Belange der Geschädigten zu stärken. Daher sollten alle kirchlichen Verantwortungsträger, die mit Missbrauchsfällen zu tun haben, nicht nur einzelne Repräsentanten, Kontakt zu den jeweiligen Opfern aufnehmen, um ihrer Funktion als Seelsorger zu genügen, das Leid der Opfer zu sehen, und den Opfern zu zeigen, dass sie der Kirche nicht egal sind. Es solle eine unabhängige Ombudsstelle für Geschädigte eingerichtet werden; die Missbrauchsbeauftragten der Diözese könnten zumindest den Eindruck nicht ausreichender Unparteilichkeit erwecken, weil sie noch zu abhängig von der Diözese seien. Man könne den Geschädigten außerdem zumindest ein gewisses Recht zur Akteneinsicht in ihre Fälle geben. Man solle den Betroffenenbeiräten, deren Einrichtung vor kurzem beschlossen worden sei, eine starke Stellung geben, sie finanziell entsprechend ausstatten usw.

Zweitens schlagen die Gutachter Maßnahmen im Bereich der Rechtssetzung vor. Sie meinen dabei auch, es brauche eine Änderung der Einstellung, weil das kirchliche Recht oft quasi nicht als streng durchzusetzendes Recht angesehen, sondern gerne mit dem Hinweis auf Barmherzigkeit gemildert wurde. „Darüber hinaus muss aber auch ein neues Bewusstsein für die Bedeutung des Rechts in der Kirche geschaffen werden. Nach wie vor bestehende Vorbehalte gegen die mit einer ‚Kirche der Liebe und Barmherzigkeit‘ nicht beziehungsweise nur schwer zu vereinbarende rechtliche Überformung kirchlichen Handelns müssen endgültig und in allen Bereichen überwunden werden.“ (S. 1166) Bereits an anderer Stelle kritisieren sie den Can. 1341 im neuen CIC von 1983, der viel Spielraum dafür übrig lässt, Straftaten nicht vors Kirchengericht zu bringen: „Der Ordinarius hat dafür zu sorgen, daß der Gerichts- oder der Verwaltungsweg zur Verhängung oder Feststellung von Strafen nur dann beschritten wird, wenn er erkannt hat, daß weder durch mitbrüderliche Ermahnung noch durch Verweis noch durch andere Wege des pastoralen Bemühens ein Ärgernis hinreichend behoben, die Gerechtigkeit wiederhergestellt und der Täter gebessert werden kann.“ Und hier kann ich ihnen nur absolut zustimmen. Falsche Barmherzigkeit hat in den letzten Jahrzehnten so unglaublich viel Schaden angerichtet, und zu so viel Unbarmherzigkeit an anderen Stellen (in diesem Fall gegenüber den Missbrauchsopfern) geführt. Dieser Canon kann auch im richtigen Sinn angewandt werden, bei manchen kirchenrechtlichen Straftaten – sagen wir mal, finanziellen Vergehen oder was weiß ich – mag es wirklich besser sein, sie nicht sofort vor Gericht zu bringen, wenn der Täter wirklich reuig ist, aber er kann auch in einem sehr falschen Bereich angewandt werden.

Es brauche außerdem eine Konkretisierung der einzelnen Straftatbestände im kirchlichen Recht, da nicht immer klar sei, was schon als sexuell bestimmt und damit als Straftat gelten solle. Ebenso müssten die im Gesetz angedrohten Strafen konkreter werden, statt dass z. B. nur eine „gerechte Strafe“ angedroht würde. Das sei freilich Aufgabe des gesamtkirchlichen Gesetzgebers, d. h. des Heiligen Stuhls, Diözesanbischöfe könnten aber zumindest Auslegungshinweise schaffen. Die Fachkenntnis und Erfahrung der Kirchengerichte müsse gestärkt werden, weshalb es sich empfehle, diözesenübergreifende Gerichte zu schaffen, die sich auf solche Fälle spezialisieren sollten. An solche Gerichte solle man evtl. auch fachkundige Nicht-Kleriker berufen. Man solle die Beteiligtenrechte der Geschädigten im Strafverfahren stärken, und außerdem amtliche, anonymisierte Sammlungen der Entscheidungen von Kirchengerichten publizieren, damit Kirchenrichter eine Richtschnur hätten, und die Kirchenjustiz weniger „Geheimjustiz“ sei. Es brauche auch bzgl. der reinen Disziplinarmaßnahmen, die außerhalb von kirchlichen Strafverfahren erfolgen, eine möglichst konkrete Normierung, eine Vereinheitlichung.

Drittens empfehlen sie „Maßnahmen im administrativ-organisatorischen Bereich“ (S. 1174). Man solle genaue Ausführungsbestimmungen zu den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz schaffen; es brauche eine klare, verlässliche, nachvollziehbare Handlungsgrundlage für das Handeln der kirchlichen Verwaltung. Sie empfehlen auch zusätzlich zu den Missbrauchsbeauftragten einen weisungsunabhängigen „Interventionsbeauftragten“. Es brauche ein Compliance-Management- und Hinweisgebersystem, damit Mitarbeiter Fehlverhalten anderer (nicht nur im Bereich von sexuellem Missbrauch) leicht und niederschwellig melden könnten; erste Schritte hierzu habe die Erzdiözese München-Freising schon getan. Es solle auch in regelmäßigen Abständen eine Qualitätskontrolle stattfinden, bei der man auch Vergleiche mit anderen Diözesen machen könnte. Man solle darauf schauen, Leitungsfunktionen nicht mit fachfremden Personen zu besetzen, es brauche eine genaue Aufgabentrennung und eine bessere Weiterqualifizierung der Mitarbeiter, außerdem müsse die Aktenführung verbessert werden. Die Amtszeiten der Verantwortungsträger wie z. B. des Generalvikars sollten begrenzt werden.

Als viertes schlagen sie Maßnahmen in Bezug auf Täter bzw. potentielle Täter vor. Die Regelungen zur Führungsaufsicht über Kleriker, denen die Ausübung ihrer Weihebefugnisse untersagt ist, müssten konkretisiert werden. Man dürfe die Täter generell nicht einfach sich selbst überlassen, und müsse auch präventiv Vereinsamungstendenzen vorbeugen und darauf schauen, dass Priester ein stabiles soziales Umfeld „auch und gerade außerhalb des eigenen Standes“ (S. 1187) hätten. Hier werden die Gutachter wenig konkret, schlagen aber u. a. eine „Priesterausbildung, die dem gemeinsamen Leben im Seminar eine weniger große Bedeutung beimisst, als das heute der Fall ist“ (S. 1187) vor, was ich skeptisch sehe – gerade das Gemeinschaftsleben mit anderen in derselben Lebenssituation ist doch oft sehr gut. Vielleicht wäre ja mehr priesterliches Gemeinschaftsleben auch in der normalen Pfarrseelsorge (z. B. Zusammenleben der Priester aus zwei oder drei Nachbargemeinden) denkbar? Auch die „Hilflosigkeit“ der Verantwortlichen beim Sprechen mit Beschuldigten müsse überwunden werden, wobei es auch hier wenig konkret wird. Man dürfe Täter nirgends mehr in der Seelsorge (auch nicht z. B. nur in der Krankenhausseelsorge) einsetzen, aber könne ihnen trotzdem Hilfen zur „Bewältigung psychologischer sowie sonstiger Defizite“ (S. 1189) bieten. Wenn es darum ginge, Priester psychologisch begutachten zu lassen, solle man nicht immer dieselben einzelnen Psychologen heranziehen, sondern einen Gutachterpool aus einer größeren Zahl an auch außerhalb des Bistums angesiedelten Fachleuten. Dann geht es um die priesterliche Aus- und Fortbildung. Man solle mit Priesteramtskandidaten über Problemstellungen, z. B. eigene Missbrauchserfahrungen, sprechen, an ihrer Persönlichkeitsentwicklung arbeiten, sie psychologische Tests machen lassen, wie es sie auch in anderen Berufsfeldern gebe; man solle Priester aber auch nach ihrer Weihe bzgl. der Missbrauchsprävention fortbilden. An sich hört sich das alles mit Tests, Fortbildungen usw. nicht schlecht an, nur was mit dem Stichwort „Persönlichkeitsentwicklung“ gemeint ist, frage ich mich. Hier schreiben die Gutachter: „So legen insbesondere die Befunde der MHG-Studie nahe, dass die intensive, fachliche und persönliche Beschäftigung mit dem Thema Sexualität und sexuelle Identitätsbildung in den Priesterseminaren zeitlich und inhaltlich äußerst knapp bemessen ist.“ (S. 1191) Hier bleibt es für mich wirklich sehr schleierhaft, was gemeint ist, und wie man das nach Ansicht der Gutachter im Rahmen einer gesunden katholischen Einstellung zur Sexualität verwirklichen sollte.

Als fünftes kommen noch „sonstige Maßnahmen“ (S. 1192). Es solle eine Betreuung der Institutionen/Pfarreien, in denen es Fälle von Missbrauch gab, geben, u. a. durch die Weihbischöfe und Dekane, damit die Leute mit ihren Fragen nicht allein gelassen würden, vom Stand der Ermittlungen wüssten, und es weniger Spaltungen in den Pfarreien gebe zwischen denen, die zu ihrem Pfarrer halten, und denen, die es nicht tun.

Dann kommt ein vager Abschnitt zum Thema „Kritische Reflexion des priesterlichen Selbstverständnisses“. Dabei heißt es u. a.: „Nicht zuletzt stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Weihe- und Leitungsgewalt. […] Dahingehende Überlegungen und Auseinandersetzungen dürfen in Anbetracht der Einbettung des Priesterbildes in historische Entwicklungen nicht vorschnell unter Berufung auf kirchliches Lehramt und Tradition unterbunden werden.“ (S. 1193f.) Nun ist es aber – auch wenn das für die Gutachter keine Rolle spielen mag – einfach so, dass Jesus Christus den Aposteln und ihren Nachfolgern die Leitungs-, Lehr- und Weihegewalt übertragen hat. Wir brauchen im Bischof einen Hirten, der sich dafür verantwortlich weiß, seine Schafe zu leiten, zu lehren, zu heiligen, und bei dem alles zusammenläuft, nicht einfach nur irgendwelche Gremien mit streng abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen (die unter ihm natürlich gerne existieren sollen). Was Jesus eingesetzt hat, hat seinen Sinn, Punkt aus Ende.

Dann empfehlen sie vertiefende Forschung zu „missbrauchs- und vertuschungsbegünstigenden Faktoren“ (S. 1194). Hier könnte es kritisch werden – es geht jetzt an das Thema Zölibat. Sie geben erst einmal schon zu: „Nach derzeitigem Erkenntnisstand kann ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Pflichtzölibat und sexuellem Missbrauch zwar nicht hergestellt werden.“ (S. 1194) Allerdings halten sie einen indirekten Zusammenhang für möglich, z. B. in Bezug auf die Auswahl der Kandidaten, die sich für einen Beruf mit Pflichtzölibat zur Verfügung stellen. „Denkbar wäre dies beispielsweise im Hinblick auf die Frage, ob sich der psychosexuelle Reifegrad von Seminaristen (deutlich) von demjenigen der Altersgenossen unterscheidet, wie sich der psychosexuelle Reifegrad während der Ausbildung – wiederum im Vergleich zu Altersgenossen – entwickelt und worauf etwaige Unterschiede in den einzelnen Entwicklungsstadien zurückzuführen sind.“ (S. 1194) Und hier frage ich mich einfach nur: Bitte was? Der psychosexuelle Reifegrad des durchschnittlichen Zwanzigjährigen sieht wahrscheinlich so aus, dass er täglich Pornos konsumiert, und der psychosexuelle Reifegrad des durchschnittlichen Fünfundzwanzigjährigen wahrscheinlich haargenau so. Im Ernst: Was meinen die Damen und Herren Anwälte hier? Wenn sie z. B. meinen sollten, dass man – wie das Papst Benedikt klargestellt und streng vorgeschrieben hat – darauf achten muss, keine Seminaristen mit bleibenden (auch nicht offen ausgelebten) homosexuellen Neigungen aufzunehmen, weil das kein gesundes Verhältnis zur Sexualität zeigt und Probleme geben kann, dann stimme ich ihnen natürlich zu.

Außerdem habe eine überhöhte Ansicht vom Priester zu zu viel Geheimhaltungsbedürfnis geführt. Hier bin ich auch nicht überzeugt. Gerade bei einer besonders hohen Anforderung an Priester müsste man ja umso mehr darauf bestehen, die Vergehen schlechter Priester zu ahnden – gut, in dieser gefallenen Welt sind die Menschen vielleicht manchmal gerade eher darauf bedacht, bei idealisierten Personen nichts Schlechtes sehen zu wollen. Aber würde man z. B. sagen, man müsste die Arbeit von Ärzten nur möglichst bagatellisieren und heruntermachen, um endlich mal besser gegen ärztliche Behandlungsfehler und das Ignorieren der Beschwerden von Patienten vorgehen zu können? (Was m. E. ein Riesenproblem ist, aber darum geht es hier ja nun nicht.) Nein, man kann sehr gut sehen, dass jemand eine große, besondere Aufgabe hat, und ihm trotzdem oder gerade deswegen nicht alles durchgehen lassen. Es wird immer „herausgehobene“ Menschen mit besonderen Aufgaben geben. Die Gutachter selbst erwähnen das Beispiel der Polizeigewalt, und dass innerhalb der Polizei nicht gerne deswegen gegen Kollegen ermittelt wird. Die Lösung dafür kann auch nicht sein, die Aufgabe der Polizei herunterzusetzen; ohne sie wären wir ziemlich aufgeschmissen.

Die Gutachter beschweren sich hier: „Trotz intensiver Bemühungen kirchlicherseits insbesondere im Bereich der Prävention ist für die Gutachter eine Bereitschaft vor allem der kirchlichen Hierarchie, diese jenseits der öffentlichkeitswirksamen Frage nach einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen Pflichtzölibat und sexuellem Missbrauch liegenden strukturellen beziehungsweise systemischen Fragen kritisch und ergebnisoffen zu untersuchen, nur vereinzelt erkennbar, gleichwohl aber dringend geboten. Dieses Desiderat besteht unabhängig davon, ob der Anteil der Missbrauchstäter unter den Priestern höher ist als im Bevölkerungsdurchschnitt oder nicht. Beide Ansichten werden vertreten. Entscheidend ist insoweit die herausragende Verantwortung, die die Kirche dadurch trägt, dass sie mit einem besonderen Vertrauensvorschuss ausgestattete Personen in verantwortlicher Stellung gegenüber ihren Gläubigen einsetzt und auch diesen gegenüber eine Fürsorgepflicht hat.“ (S. 1195f.)

Eine der Stellen, an denen eben auffällt, dass sie doch nur halb verstehen, wie man denkt, wenn man an Jesus glaubt, der nun einmal den Zölibat sehr empfohlen hat. Seltsam auch, dass sie meinen, es komme gar nicht darauf an, ob das kirchliche System wirklich für eine höhere Zahl an Missbrauchstätern sorge als anderswo – woran würde man denn sonst sehen, ob der Zölibat oder andere kirchentypische Faktoren einen messbaren schlechten Einfluss haben?

An einer anderen Stelle wird auch schon kritisiert, dass „früher“ einfach nicht über Sexualität gesprochen worden sei, und sie regen sich ein wenig über die katholische Sexualmoral auf. Das ist sicher nicht ganz falsch – aber nicht über etwas zu reden und etwas als schlecht zu sehen ist nicht dasselbe. Im 16., 17., 18. Jh. beispielsweise wurde offener über Sexualität geredet als im 19., ohne dass sich die Maßstäbe geändert hätten, was im Bereich der Sexualität als gut oder schlecht gilt. Man kann offen genug über Sexualität reden, und trotzdem nicht Unzucht feiern.

Schließlich empfehlen sie auch noch die Stärkung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern (z. B. in kirchlichen Kitas und Schulen), damit sie sich Grenzüberschreitungen widersetzen können.

Zuletzt wird dann eine Stärkung der Rolle der Frauen in kirchlichen Leitungsfunktionen empfohlen, um ein männerbündlerisches System zu verhindern; hier habe die Erzdiözese München-Freising jedoch schon gehandelt und Frauen eingestellt. Ich bin hier nicht so ganz überzeugt – Frauen sind nicht per se bessere Menschen, wie man auch an den vielen Fällen von familiärem Missbrauch sieht, in denen die Mutter den Vater oder Stiefvater deckt. Andererseits kann es schon sein, dass es nicht schlecht ist, wenn im Ordinariat auch ein paar Frauen arbeiten, es kann schon sein, dass die weniger Anlass sehen würden, einen „Mitbruder“, mit dem sie nicht besonders verbunden sind, schonend zu behandeln, und mehr beschützerische Instinkte gegenüber den Opfern hätten – aber ich weiß es nicht.

Damit beenden die Anwälte jedenfalls ihr eigentliches Gutachten, und es kommt der Anlagenband mit den Stellungnahmen von Benedikt XVI., Kardinal Wetter, Kardinal Marx und DDr. Beer, und Synopsen der Rechtsgrundlagen, und schließlich der Sonderband zu Fall 41.

(Frauenkirche München, Bildquelle hier.)

Missbrauch in München-Freising: Fälle in den 2010ern

Heute zu den Fällen, die unter Kardinal Marx (ab 2008) begannen bzw. bekannt wurden. Ich fasse wieder erst einmal nur die Fälle zusammen, wie sie das Gutachten darstellt; unten dann das Fazit, und das Gesamtfazit zu allen Fällen. In diesem Zeitraum wurden dem Erzbistum relativ viele Fälle bekannt, und die Gutachter haben Fehlverhalten nur in relativ wenigen Fällen festgestellt (die Fälle ohne Fehlverhalten sind hier gar nicht aufgeführt).

Fall 18: Der fragliche Priester ist von den 1950ern bis in die 1980er geistlicher Direktor eines Kinderheims. Anfang der 2010er melden sich zwei ehemalige Heimkinder bei der Erzdiözese und geben an, von dem Priester und den Ordensschwestern im Heim körperliche Misshandlungen erlebt zu haben. Ein Jahr später meldet sich ein anderer Mann, der ebenfalls von Schlägen durch die Ordensschwestern berichtet, aber auch von sexuellem Missbrauch durch den Priester. Der Priester, der schon im Ruhestand ist und in einer anderen Diözese lebt, wird angehört und streitet die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs entrüstet ab und mutmaßt, das mutmaßliche Opfer sei eventuell durch antikirchliche Berichterstattung dazu gebracht worden, solche Vorwürfe zu erheben. Auch zwei Ordensschwestern werden befragt, die angeben, keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch durch den Priester gesehen zu haben, und bloß angeben, die Kinder geohrfeigt zu haben, was der Priester seinerseits auch zugibt. Offizial Dr. Wolf meint in einer E-Mail: „Resümee: ich glaube nicht, dass er nicht stärker zugeschlagen hat, bin aber nicht überzeugt, das [sic] es zu sexuellem Missbrauch gekommen ist.“ (S. 485) Da einfach Aussage gegen Aussage steht, entscheidet die Erzdiözese, auf ein weiteres Verfahren zu verzichten (auch eine eigentlich vorgeschriebene Meldung an die Glaubenskongregation erfolgt nicht), leistet aber dem mutmaßlichen Opfer eine Zahlung von 5.000 € und erstattet seine Therapiekosten.

Fall 30: Anfang der 2010er meldet sich ein Mann beim Missbrauchsbeauftragten der Erzdiözese. Er sei Mitte der 1960er durch einen Priester sexuell missbraucht worden; es habe noch mehr Opfer gegeben und das Verhalten des Priesters (damals als Kaplan tätig) sei in der Gemeinde bekannt gewesen. Der Missbrauchsbeauftragte erstattet gleich darauf Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, die aber nur die Verjährung des Sachverhalts feststellt. Außerdem bittet er Offizial Dr. Wolf, zu prüfen, ob ein kirchenrechtliches Verfahren eingeleitet werden soll. Ein Mitarbeiter hält für Generalvikar DDr. Beer fest, bei einer kirchlichen Untersuchung könne man auch nur die Verjährung feststellen, Dr. Wolf erhält eine Kopie der Aktennotiz. Kardinal Marx trifft sich mit dem mutmaßlichen Opfer, und Dr. Wolf befragt den Priester, der „sich wiederholt dahingehend einließ, dass er es sich ’nicht vorstellen‘ könne, dass er den mutmaßlichen Geschädigten sexuell missbraucht habe“ (S. 515). Schließlich befragt er auch das mutmaßliche Opfer, und hat dabei Zweifel an dessen Schilderung. Seine Angaben seien nicht widerspruchsfrei und zu unkonkret, er verlange Schadensersatz, weil wegen des Missbrauchs so viel in seinem Leben falsch gelaufen sei, wolle keinen Eid ablegen, sondern nur eine eidesstattliche Erklärung. Er erhält später 5.000 € und die Zusage zur Übernahme weiterer Therapiekosten; die Missbrauchsbeauftragten stufen seine Geschichte als plausibel ein. Schließlich will die Erzdiözese doch eine kirchenrechtliche Voruntersuchung durchführen. Ein weiterer Mann wird als Zeuge befragt, der berichtet, er sei im Alter von zwölf Jahren bei einem gemeinsamen Urlaub durch den Priester sexuell missbraucht worden, und dieser sei dann mit ihm zur Beichte in ein Kloster gefahren. „Der Priester wurde daraufhin erneut befragt. Im Rahmen dieser Befragung gestand er den äußeren Tatbestand der von dem zweiten mutmaßlich Geschädigten geschilderten Missbrauchshandlungen und die gemeinsame Beichte ein. Er habe dabei jedoch nicht mit einer sexuellen Absicht gehandelt. Hinsichtlich der Vorwürfe des ersten mutmaßlich Geschädigten gab er erneut an, dass er sich diese nicht ‚vorstellen könne‘. Ausweislich des Befragungsprotokolls reagierte Offizial Dr. Wolf auf diese Einlassung wie folgt: ‚[…] ‚Das kann ich mir nicht vorstellen‘ heißt nach Ihrer Diktion, dass es unvorstellbar ist ‚ich kann mich weder erinnern noch glaube ich, dass es so war‘? […]‘ Daraufhin antwortete der Priester: ‚[…] Bei Bewusstsein kann ich mir das nicht vorstellen. […]'“ (S. 519f.) Offizial Dr. Wolf übermittelt den Untersuchungsbericht schließlich an Generalvikar DDr. Beer: Beim ersten mutmaßlichen Opfer bestünden Zweifel, die Schilderung des zweiten Opfers sei wahrscheinlich, aber eine vollständige Aufklärung sei nicht mehr möglich, Sicherheit nicht zu erlangen. Generalvikar DDr. Beer gibt die Anweisung, den Bericht nach Rom zur Glaubenskongregation weiterzuleiten, die entscheiden solle, wie weiter zu verfahren sei. Der Bericht wird aber aus irgendeinem Grund nicht weitergeleitet, was man nach über drei Jahren merkt. (Jetzt wird auch bemerkt, dass der Priester immer noch in der Seelsorge hilft.) Die Glaubenskongregation wird schließlich doch unterrichtet und ein Antrag auf Aufhebung der Verjährung gestellt. „Die Kongregation entschied zwei Monate nach der Übermittlung des Berichts, dass die Verjährung aufgrund des hohen Alters des Priesters nicht aufgehoben wird. Die Glaubenskongregation wies Erzbischof Kardinal Marx gleichzeitig darauf hin, dass dieser eine disziplinarische Maßnahme oder eine Buße, diese gegebenenfalls strafbewehrt, verhängen könne. Von dieser Möglichkeit wurde aufgrund des Alters des Priesters kein Gebrauch gemacht.“ (S. 521f.)

Fall 33: Ein Ordenspriester ist seit Anfang der 1990er für die Erzdiözese tätig. „Anfang der 2010er Jahre ging bei dem Orden des Priesters eine Meldung von Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen ein. Die Taten sollen Ende der 1960er Jahre stattgefunden haben. Damals war der Priester Präfekt eines Knabenseminars seines Ordens. Ein ehemaliger Schüler des Seminars gab im Rahmen der Meldung an, dass er und andere minderjährige Schüler von dem Priester nachts im Schlafsaal mehrfach sexuell missbraucht worden seien. Sie hätten die Vorfälle damals beim Seminardirektor angezeigt, jedoch sei vonseiten des Knabenseminars daraufhin nichts unternommen worden. Vielmehr sei der Priester Präfekt geblieben.“ (S. 535) Der Priester gesteht die Übergriffe gegenüber einem Ordensoberen ein, und der Orden meldet es der Erzdiözese. Offizial Dr. Wolf und Generalvikar DDr. Beer planen Maßnahmen gegen ihn: Die Sache soll an die Staatsanwaltschaft und die Glaubenskongregation gemeldet werden, der Priester soll keinen Kontakt mehr mit Jugendlichen haben und eine Therapie machen müssen, usw. Der Vertrag mit ihm wird beendet, er wird von seinem Amt als Krankenhausseelsorger entpflichtet und zieht in eine benachbarte Diözese um. Leider ist nicht klar, wie es weitergeht. „Ob und inwieweit die weiteren geplanten Maßnahmen umgesetzt wurden, ergibt sich aus den Akten nicht.“ (S. 536)

Fall 48: Anfang der 2010er beschuldigt ein Mann einen Diakon, ihn sexuell missbraucht zu haben. Bei einer Befragung schildert er zwei Vorfälle: „Im Alter von sechs oder sieben Jahren, in einem Zeitraum von einem Jahr Anfang der 1980er Jahre, habe der Diakon den mutmaßlich Geschädigten in pfarrlichen Räumen auf die Toilette begleitet. Dort habe er vor dessen Augen uriniert und dabei versucht, seinen Penis in den Mund des mutmaßlichen Geschädigten zu stecken. Schließlich habe er auf den mutmaßlich Geschädigten ejakuliert. Der zweite Vorfall habe sich drei bis vier Jahre später ereignet. Beim Spielen in einem Hinterhof hätten der mutmaßliche Geschädigte und seine Schwester vier Männer wiederholt beim Sex beobachtet. Einmal seien sie dabei erwischt worden. Der mutmaßliche Geschädigte sei von einem der Männer in einen Raum gezogen und dort anal vergewaltigt worden. Während der Vergewaltigung seien insgesamt vier Männer anwesend gewesen. Dies seien der Diakon, der Ortspfarrer, der Hausmeister der Pfarrei und noch ein vierter Mann, den der mutmaßliche Geschädigte aber nicht erkannt habe, gewesen. Nähere Angaben zum Vergewaltiger habe der mutmaßliche Geschädigte nicht machen können, da er bäuchlings auf einer Bank gelegen habe. Nach der Tat hätten die Männer zu ihm gesagt, es dürfe niemandem etwas erzählen, da seiner Familie sonst etwas Schlimmes passiere. Dann habe er gehen dürfen. Zwei Jahre vor seiner Meldung an das Erzbischöfliche Ordinariat habe der mutmaßliche Geschädigte dann eine Arbeitsstelle in der Pfarrei angetreten und dort den Diakon als seinen Peiniger wiedererkannt. Eigentlich hätten sie ein gutes Verhältnis gehabt, aber der mutmaßliche Geschädigte habe starke Rachegefühle aufgebaut. Um diese Gefühle loszuwerden, habe er sich dem Stadtpfarrer anvertraut.“ (S. 581) Der Diakon wird nach diesen Anschuldigungen zunächst versetzt. Die mutmaßlichen Taten sind kirchenrechtlich schon verjährt, aber mit Blick auf die Möglichkeit der Aufhebung der Verjährung wird der Diakon befragt. Er bestreitet die Vorwürfe. „In der Folge nahmen die Eltern des mutmaßlichen Geschädigten Kontakt mit dem Missbrauchsbeauftragten auf und teilten mit, dass die ordinariatsseits zunächst als plausibel angesehenen Vorwürfe nicht der Wahrheit entsprächen. Der mutmaßliche Geschädigte sei seit geraumer Zeit ’sehr angeschlagen, phantasiere und kriege sein Leben nicht in den Griff‘. Nach den Feststellungen des Erzbischöflichen Ordinariates befand er sich zum fraglichen Zeitpunkt in stationärer fachärztlicher Behandlung. Die als erforderlich angesehene erneute Befragung des mutmaßlichen Geschädigten musste daher zunächst unterbleiben.“ (S. 582) Das Vorverfahren wird erst einmal eingestellt, weil man das mutmaßliche Opfer, das an Schizophrenie leidet, nochmals befragen will, aber sein Gesundheitszustand das nicht zulässt. Irgendein weiteres Vorgehen ergibt sich aus den Akten nicht. (Es klingt gut möglich, dass der Mann gelogen oder sich etwas eingebildet hat – die Geschichte mit der Gruppenvergewaltigung wirkt schon sehr drastisch -, aber natürlich kann man das nicht einfach so sagen; auch psychisch kranke Menschen können Opfer von Verbrechen werden, oder Verbrechensopfer psychisch krank werden.)

Fall 60: Ein Priester erstattet Anfang der 2010er auf Anraten eines hochrangigen Mitarbeiters der Erzdiözese Selbstanzeige gegen sich wegen sexuellem Missbrauch. „Gegenstand dieser Selbstanzeige waren eine Hotelübernachtung mit zwei Jungen (zwölf und 14 Jahre alt), die in einem Kinderdorf lebten, nach einem Musicalbesuch sowie einem Saunabesuch anlässlich eines Schwimmbadausflugs und Berührungen eines Jungen aus dem Dorf durch den Priester. Mit dem 14jährigen Jungen, seinem Patenkind, hatte der Priester in einem Hotel in einem Doppelbett geschlafen.“ (S. 607f.) Neun Monate nach Beginn der Ermittlungen werden dem Priester Auflagen durch Generalvikar DDr. Beer gemacht: Kein Kontakt mit Kindern mehr, monatliches Gespräch mit dem Personalreferenten, verpflichtende therapeutische und seelsorgerliche Begleitung. Außerdem soll ein forensisch-psychiatrisches Gutachten über ihn in Auftrag gegeben werden. Das wird dann allerdings auf Anraten von Offizial Dr. Wolf aufgeschoben. „Dem Priester wurde erklärt, dass eine Untersuchung nicht durchgeführt werden solle, solange noch keine Einsicht in die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft erfolgt sei. Sollte sich aus den Akten ergeben, dass ein Missbrauch nicht vorliege, dann werde die Sache beendet. Sei die Sache hingegen ‚unklar‘, werde die psychiatrische Untersuchung in Betracht gezogen.“ (S. 608) Zwei Monate später wird das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft eingestellt, und Generalvikar DDr. Beer hebt die Auflagen auf. Eine kirchenrechtliche Voruntersuchung findet nicht statt, auch die Glaubenskongregation wird nicht unterrichtet.

Fall 61: „Nachdem bereits unmittelbar nach seiner Priesterweihe fortlaufend Beschwerden gegen den Priester aufgrund seines zumindest fragwürdigen Nähe-Distanz-Verhältnisses vorgebracht worden waren und dieser keinerlei Einsicht in sein Fehlverhalten zeigte, wurde Ende der 2000er Jahre ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen den Priester wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger eingeleitet. Dem Priester wurde vorgeworfen, einen Monat vor Beginn der Ermittlungen ein minderjähriges Mädchen an der Brust massiert zu haben, während sich die beiden eine pornografische DVD angeschaut haben sollen.“ (S. 609f.) Er wird von seinem Amt beurlaubt und darf keinen Religionsunterricht mehr erteilen. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren allerdings ein, offenbar wegen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugin. Kardinal Marx veranlasst eine kirchenrechtliche Voruntersuchung. Offizial Dr. Wolf kommt zu dem Ergebnis, „dass eine Klageerhebung gegen den Priester vor dem kirchlichen Gericht nicht angezeigt sei, da es einen sexuellen Missbrauch eines minderjährigen Kindes auch im Sinne des kirchlichen Rechts nicht gegeben habe. Nach strenger Auslegung der Normen ‚Delicta graviora‘ sei der Sachverhalt, so Dr. Wolf, gegenüber der Glaubenskongregation anzuzeigen. Nach Recht und Billigkeit sei aber abzuwägen, ob durch das staatliche Verfahren der Verdacht nicht ausreichend ausgeräumt sei. Von erheblicher Bedeutung sei dabei aber die Tatsache, dass der Priester nicht zum ersten Mal in der Zeit seines priesterlichen Dienstes in den Verdacht unkorrekten Verhaltens gegenüber Minderjährigen gekommen sei. Es sei zudem festzustellen, dass dieser keine Einsicht betreffend die in Rede stehenden Vorfälle zeige und immer wieder im Zusammenhang mit Berührungen von Kindern damit argumentiere, sich in seinem seelsorgerischen Impetus durch Verdächtigungen nicht irritieren lassen zu wollen.“ (S. 610f.). Im Gutachten steht nichts dazu, wie es weiterging, offenbar waren die Akten hier zu Ende. Einige Akten zu diesem Fall wurden den Gutachtern erst verspätet auf ausdrückliche Anfrage zur Verfügung gestellt.

Fall 65: Mitte der 2010er teilt ein Priester dem Erzbistum mit, er habe eine Beziehung und wolle nicht mehr im Zölibat leben; er wird von Generalvikar DDr. Beer von seinem Amt als Kaplan entpflichtet. Gegenüber seinem Dekan räumt er ein, dass er die Beziehung mit einer 16jährigen führt (er habe erst Sex mit ihr gehabt, seitdem sie 16 sei, und ihre Eltern wüssten Bescheid und seien einverstanden). Der Dekan informiert Generalvikar DDr. Beer, der dem Priester eine Verwarnung erteilt. „Der Leiter der Abteilung Kirchenrecht kam wenige Tages später in einer E-Mail an die Missbrauchsbeauftragte und den zuständigen Fachreferenten zu der Einschätzung, dass sowohl die Einleitung einer kirchenrechtlichen Voruntersuchung als auch eine Meldung an die Glaubenskongregation zu erfolgen habe und er Generalvikar DDr. Beer hierüber in Kenntnis setzen werde. Einen Monat nach dieser Mitteilung erfolgte per Strafdekret – ebenfalls durch Generalvikar DDr. Beer – die Suspendierung gemäß c. 1331 CIC/1983 mit Untersagung der Ausübung aller Weihe- und Leitungsgewalt. Der Priester strebte in Folge seine Laisierung an. Ob diese mittlerweile vollzogen wurde, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Eine kirchenrechtliche Voruntersuchung sowie eine Meldung an die Glaubenskongregation sind nicht dokumentiert.“ (S. 620)

Fazit: Die Situation hat sich in dieser Zeit definitiv gebessert – was vermutlich an der allgemeinen Sensibilisierung für das Thema und der Existenz der Missbrauchsbeauftragten liegt, man konnte das Thema nicht mehr einfach so ignorieren. Es zeigt sich definitiv keine solche Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern mehr wie seit den 1960ern. Allerdings kann man schon noch Versäumnisse feststellen, z. B. dass verpflichtende Meldungen an die Glaubenskongregation nicht stattfinden, oder Offizial Dr. Wolf zögert, eine richtige Voruntersuchung einzuleiten, oder es ungewöhnlich lange dauert, bis Maßnahmen ergriffen werden. Kardinal Marx oder Generalvikar DDr. Beer wirken aber nicht wie entschiedene Vertuscher.

Gesamtfazit: In den 1940ern und 1950ern unter Kardinal Faulhaber und Kardinal Wendel sieht man, dass durchaus Maßnahmen ergriffen werden und Verdachtsmomenten nachgegangen wird, allerdings wurde nicht in allen Fällen genug getan; vermutlich war den Verantwortlichen nicht ganz bewusst, wie groß der Schaden an den Kindern/Jugendlichen ist, und man verließ sich auf die Besserung von Tätern nach Abbüßung einer Strafe. Man hätte mehr tun können, Fälle wurden auch nicht nach Rom ans Heilige Offizium (Vorgängerorganisation der Glaubenskongregation) gemeldet. Die Gutachter bemerken kritisch, man sehe keine Bemühungen um Kontakt mit den Opfern; ich würde vermuten, dass die Erzbischöfe das einfach nicht als ihre Aufgabe wahrnahmen und sich auf die Täter konzentrierten, so wie nicht unbedingt ein persönliches Gespräch eines weltlichen Richters mit Verbrechensopfern erwarten würde (auch wenn das vielleicht gar keine schlechte Idee wäre). Generalvikar Buchwieser ging es nach Ansicht der Gutachter offenbar zu sehr um die mögliche Rufschädigung für die Kirche, Generalvikar Dr. Fuchs konnte durchaus streng vorgehen, ging aber einem Anfangsverdacht auch nicht immer genug nach.

Ab den 1960ern wird die Situation dann katastrophal, man sieht durchgehend eine ziemliche Gleichgültigkeit beim Erzbistum, sowohl unter Kardinal Döpfner als auch unter Kardinal Wetter; Täter wurden oft einfach nur versetzt, und zwar als „Strafe“ höchstens mal in die Krankenhaus- oder Altenheimseelsorge, was ihnen neue Taten keineswegs unmöglich machte (auch da gibt es Ministranten und die Priester helfen mal in der örtlichen Pfarrei aus). Generalvikar Defregger war ziemlich gleichgültig, Generalvikar Dr. Gruber übernahm auch auffallend viele Missbrauchstäter aus anderen Diözesen. Generalvikar Dr. Simon agierte recht passiv, auch Offizial Dr. Wolf war noch zurückhaltend bei der Einleitung von Verfahren, auch wenn es zu seiner Zeit schon besser wurde.

(In die kurze Amtszeit von Kardinal Ratzinger fallen sechs Fälle, in denen die Gutachter bei ihm kein Fehlverhalten sehen, und vier Fälle, die sie näher behandelt haben. Hier ist für mich nicht klar, wie gut er informiert war; man sollte ihn weder gleich schon verurteilen noch gleich völlig freisprechen. Das Gutachten behandelt, wie ich erst verspätet gesehen habe, seine Stellungnahmen nochmals ab S. 682. Er bestreitet hier vor allem, angemessen informiert worden zu sein (und es ist durchaus vorstellbar, dass z. B. der negativ auffällige Generalvikar Dr. Gruber ihm wenig mitgeteilt hat). Ich will hier kein Urteil fällen; aber es ist auch möglich, dass er etwas wusste und nicht ausreichend reagiert hat, und sich einfach nicht erinnern will (bewusste Lügen will ich ihm nicht unterstellen). Die Gutachter selbst ziehen ihre Vorwürfe in einem Fall (Fall 22) zurück, erhalten sie aber in den anderen drei Fällen eher aufrecht.)

Irgendwann nach dem Jahr 2000, etwa um 2010, beginnt dann wieder ein Umdenken, es werden Missbrauchsbeauftragte eingesetzt, auch ältere Fälle werden gemeldet und die mutmaßlichen Opfer erhalten Entschädigungen. Ganz einwandfrei ist das Vorgehen der Erzdiözese auch jetzt nicht immer, aber man sieht eine deutliche Änderung; es wurden auch viele Fälle gemeldet, die im Gutachten nicht aufgeführt wurden, weil die Gutachter kein Fehlverhalten sahen. Die Gutachter sehen bei Kardinal Marx kein außergewöhnlich intensives Interesse oder entschlossenes Vorgehen, aber haben keine härteren Vorwürfe zu machen; er hat sich auch mehrmals mit Missbrauchsopfern getroffen. Generalvikar DDr. Beer scheint recht konsequent vorgegangen zu sein. Die Gutachter bewerten die Präventionsarbeit in diesem Zeitraum als vorbildlich.

Auffällig ist aber, dass im gesamten Zeitraum kaum eine kirchenrechtliche Verurteilung nach den Straftatbeständen im alten CIC von 1917 bzw. im neuen CIC von 1983 erfolgte, was sicher öfter möglich gewesen wäre. Das Kirchenrecht war da, aber oft ging man nur mit Disziplinarmaßnahmen vor.

Um ehrlich zu sein, diese Gesamtsituation überrascht mich nicht besonders. In den 1960ern begann allgemein eine Zeit, in der man mehr Verständnis mit Verbrechern haben wollte, in der auf ihre Therapierbarkeit gesetzt wurde, und in der der Schaden durch sexuellen Missbrauch verharmlost wurde, in manchen Kreisen sogar für die Legalisierung von Sex mit Kindern geworben wurde. Und in den 2010ern wurde dann überall über Missbrauch in der Kirche geredet und man konnte das Thema gar nicht mehr in dieser Weise ignorieren. Ein bisschen unerwartet ist höchstens, dass es auch in den 1990ern und 2000ern noch oft so schlecht war.

Die Frage nach der genauen Schuld der einzelnen Beteiligten ist wohl eine, die nur Gott beantworten kann.

PS: Um das noch einmal klarzustellen, ich habe das 2000seitige Gutachten nicht vollständig, sondern nur ausschnittsweise gelesen; ich hoffe, das hat trotzdem für einen gewissen Einblick gereicht. Die Stellungnahmen von Beteiligten wie Dr. Gruber beispielsweise habe ich nicht alle gelesen, sondern nur die Zusammenfassungen der Gutachter.

Missbrauch in München-Freising: Fälle in den 80ern, 90ern, 2000ern

Heute zu den Fällen, die unter Kardinal Wetter (1982-2007) begannen bzw. bekannt wurden. Ich fasse wieder einfach nur die Fälle zusammen, wie sie das Gutachten darstellt; unten dann das Fazit.

Fall 43: Der Generalvikar einer anderen Diözese bittet Generalvikar Dr. Gruber um Hilfe für einen Priester, der alkoholsüchtig sei und bei dem sich unter Alkoholeinfluss homosexuelle Tendenzen zeigten. Generalvikar Dr. Gruber und Kardinal Wetter beschließen, ihn im Erzbistum aufzunehmen und als Krankenhausseelsorger einzusetzen. Außerdem wird er Hausgeistlicher eines Mädchenwohnheims, später eines Altenheims. Mitte der 2000er tritt er in den Ruhestand. „Anfang der 2010er Jahre meldete sich eine männliche Person bei der Missbrauchsbeauftragten und schilderte durch den Priester in dessen Diözese Mitte der 1970er Jahre erlittenen sexuellen Missbrauch. Zugleich wies die mitteilende Person darauf hin, dass der Priester Anfang der 1980er Jahre in seiner Inkardinationsdiözese wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden sei und bat um Prüfung, ob in der Erzdiözese München und Freising Vergleichbares vorgefallen sei. Der Fall wurde schließlich erst fünf Jahre später weiterbearbeitet. Dabei kam es zum Austausch zwischen der Erzdiözese München und Freising und der Inkardinationsdiözese des Priesters. Letztere bestätigte daraufhin gegenüber der Erzdiözese München und Freising dessen strafrechtliche Verurteilung wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern.“ (S. 574) In München-Freising sind keine Opfer bekannt; aber Generalvikar Dr. Gruber und Kardinal Wetter haben sich offenbar nicht dafür interessiert, wie genau es mit der Vergangenheit des Priesters aussah, als die andere Diözese ihn loswerden wollte. Vor allem kann man hier aber dieser anderen Diözese Vorwürfe machen.

Fall 44: Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre gibt es Vorwürfe ans Erzbistum in Bezug auf einen Mann, der sich in der Ausbildung zum Diakon befindet. Er soll einige Jahre vorher, als er in seinen späten Zwanzigern war, eine Beziehung mit einem 14jährigen Mädchen gehabt haben. „Darüber hinaus wurde ihm auch vorgeworfen, sich anderen Mädchen aus der fraglichen Firmgruppe ungebührlich genähert, sie insbesondere geküsst zu haben.“ (S. 575) In seiner Personalakte finden sich handschriftliche Notizen, auf denen solche kurzen Bemerkungen stehen, wie etwa:

„‘Sie ist deswegen sehr schwer krank geworden‘.
Sie geht nicht mehr in die Kirche in […].
[…] [Anm.: damaliger Diakon] weiß davon, sie wartet auf die Zeit wo er weg ist. Da geht sie wieder in die Kirche.
Nicht gleich zur Polizei gehen.
Durch einen RA an Frau […] schreiben.
Zuerst spricht er mit dem Herrn Kardinal.“
(S. 575f.)

Der Mann wurde zwei Jahre später zum Diakon geweiht; irgendwelche Konsequenzen sind nicht ersichtlich.

Fall 45: Mitte der 1980er erhält die Erzdiözese anonyme Hinweise, dass ein Priester sich etwas mit Ministranten habe „zu Schulden kommen lassen“ (S. 576). „Über das Justiziariat wurde dem Priester ein Rechtsanwalt empfohlen, da die staatlichen Behörden in dieser Sache ermittelten. Kurz darauf ging eine Anklageschrift im Erzbischöflichen Ordinariat ein, in der dem Priester sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit der Vornahme homosexueller Handlungen vorgeworfen wurde. Der Priester bestritt die Vorwürfe gegenüber Generalvikar Dr. Gruber ausweislich einer handschriftlichen Notiz des Generalvikars. Dieser wandte sich einen Monat nach Eingang der Anklageschrift in einem Schreiben direkt an den Priester und drückte seine Hoffnung aus, dass er sich durch die, von Dr. Gruber als ‚Widerwärtigkeit‘ bezeichneten Vorwürfe gegen seine Person, nicht entmutigen lasse.“ (S. 576) Der Priester erhält eine Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 70 DM wegen sexueller Handlungen an und mit einem 15jährigen Ministranten. Es gibt keine kirchlichen Konsequenzen; der Priester bleibt noch zwölf Jahre in derselben Gemeinde. Lange später meldet sich ein weiteres Opfer. „Ende der 2010er Jahre meldete sich ein anonymer kirchlicher Mitarbeiter beim Missbrauchsbeauftragten der Erzdiözese. Dieser berichtete, dass er im Alter von 14 Jahren als Ministrant in der Gemeinde des Priesters durch diesen sexuell missbraucht worden sei.“ (S. 577) Der Vorwurf wird als plausibel eingestuft. Als in diesem Zusammenhang noch einmal die Akte des Priesters durchgesehen wird, wird festgestellt, dass sich die Unterlagen zum ersten Fall zunächst lange nur in der persönlichen Ablage von Generalvikar Dr. Gruber befunden haben und erst später, nachdem diese ins Archiv gegeben worden ist, der Personalakte hinzugefügt worden sind.

Fall 46: Ein Priester aus einer ausländischen Diözese ist seit Anfang der 1980er in München-Freising tätig. Es wird gegen ihn der nicht näher konkretisierte Vorwurf des unpriesterlichen Lebenswandels erhoben; Mitte der 1980er wird er vom Religionsunterricht entbunden, nachdem er einen Schüler körperlich gezüchtigt haben soll. „Aus dem gleichen Jahr stammt auch der Vorwurf, der Priester habe sich einer ca. 18jährigen Ministrantin auf der Rückreise von einer Ministrantenfahrt nach Rom in ‚eindeutiger‘ Absicht genähert. Aufgrund dieser Vorfälle kam es zwischen dem Priester, dem Personalreferenten und dem zuständigen Weihbischof wiederholt zu Gesprächen, über die Generalvikar Dr. Gruber sowie Erzbischof Kardinal Wetter informiert wurden. Der Priester bestritt dabei die gegen ihn erhobenen Vorwürfe.“ (S. 578) Die Diözese stellt fest, das Verhältnis zwischen ihm und der Gemeinde sei zerrüttet und entpflichtet ihn von seinem Amt. Er hält sich kurz in einem Kloster auf und wird dann in eine andere Diözese geschickt. „Aus einem der Akte beigefügten Zeitungsausschnitt ergibt sich, dass der Priester zeitlich nachfolgend in seiner neuen Diözese wegen Vergewaltigung in vier minderschweren Fällen zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Die Tat erfolgte nur ein Jahr nach seinem dortigen Dienstantritt. Die Geschädigte soll ausweislich des Zeitungsberichtes seine ehemalige Haushälterin und Geliebte gewesen sein. Die neue Diözese habe den Priester daraufhin seines Amtes als Pfarradministrator enthoben.“ (S. 578f.)

Fall 47: Ein ausländischer Priester ist Anfang der 2000er in der englischsprachigen Gemeinde in München-Freising tätig, als Kardinal Wetter von einem ausländischen Bischof ein Schreiben erhält, dass „eine
dort vorgenommene Aktendurchsicht ergeben habe, dass ein damals 16jähriges Mädchen Mitte der 1980er Jahre gegenüber seinem Amtsvorgänger den einer anderen ausländischen Diözese angehörenden Priester des sexuellen Missbrauchs beschuldigt habe“
(S. 579). (Der Priester war damals in der Diözese dieses Bischofs zu Besuch.) Der ausländische Bischof hat diesen Fall auch den staatlichen Behörden gemeldet. Das Opfer verzichtet jedoch auf eine Anzeige, nachdem der Priester mit ihr „eine Vereinbarung hinsichtlich einer finanziellen Zuwendung getroffen habe“ (S. 580), zieht die Vorwürfe aber nicht zurück. Der Priester bleibt weiterhin in seiner Gemeinde in München-Freising und scheidet Ende der 2000er aus Altersgründen aus.

Fall 48 wird im nächsten Artikel behandelt, weil die Vorwürfe erst in den 2010ern aufkamen.

Fall 49: Ein Ordenspriester ist seit Ende der 1980er in München-Freising, übernimmt dort Urlaubsaushilfen und ist in der Seelsorgemithilfe tätig. „Ein Jahr später bat er um die Übertragung einer eigenen Pfarrstelle, die sich jedoch nicht realisierte. In einer kurz darauf stattfindenden Ordinariatssitzung wurde in Anwesenheit von Generalvikar Dr. Simon festgehalten, dass ein Einsatz des Priesters in der Seelsorge der Erzdiözese aufgrund der vorliegenden Informationen nicht infrage komme, ohne dass dies näher konkretisiert wurde. Drei Monate später teilte der Provinzial des Ordens der Erzdiözese mit, dass der Priester strafrechtlich in Erscheinung getreten sei und eine homosexuelle Vergangenheit habe. Hintergrund dieser Angaben sind ein Strafbefehl der ein Jahr vor der Versetzung in die Erzdiözese München und Freising erging, sowie ein nicht näher konkretisierter Vorfall im Ausland, wo der Priester als Missionar tätig war. Zudem habe es in einer anderen deutschen Diözese einen Vorfall mit einem ‚jungen Mann‘ gegeben, der nicht näher erläutert wird. Im Strafbefehl wird eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit homosexuellen Handlungen festgesetzt. Bei dem Geschädigten handelt es sich um einen dem Priester aus dem Religionsunterricht bekannten und als Ministrant tätigen Jungen.“ (S. 583) Dennoch wird er in eine andere Gemeinde zur Aushilfe geschickt. Nachdem es nach zwei Jahren Beschwerden über ihn gibt, wird er teilweise von seinen Aufgaben entpflichtet. Sein Ordensprovinzial äußert sich über ihn wie folgt: „Es wird nirgendwo lange gut gehen. Er ist stets auf der Flucht vor sich selbst.“ (S. 584) Er wird daraufhin von Generalvikar Dr. Simon von allen seinen Aufgaben entpflichtet, woraufhin sich seine Befürworter in der Gemeinde beschweren. Er wird Hausgeistlicher in einem Altenheim und übernimmt zwischendurch Urlaubsvertretungen. Insgesamt bleibt er noch 18 Jahre im Dienst der Erzdiözese.

Fall 50: Ein Priester, der ursprünglich aus einer anderen Diözese stammt, ist von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Offizial in München-Freising. Es gibt bereits früh Gerüchte, er sei homosexuell. Mitte der 1990er weist Kardinal Wetter Generalvikar Dr. Simon an, hier genauer nachzuforschen. Die Nachforschungen ergeben, dass der Priester sich oft an Homosexuellentreffpunkten aufhält, wo auch minderjährige männliche Prostituierte zu finden sind. Außerdem: „Aus dem Umfeld einer Gruppe von Priestern und Ordensleuten, die sich selbst als homosexuell bezeichnen, gab es weitere Hinweise auf die Homosexualität des Priesters. Dieser sei im Kreis der ‚Familie‘ (der Homosexuellen) nicht ‚anerkannt‘, da er seine Homosexualität leugne. Auch aus dieser Gruppe wurde darüber hinaus bestätigt, dass der Priester regelmäßig eine als Treffpunkt von Homosexuellen genutzte öffentliche Toilette aufsuchte.“ (S. 586) Der Priester bestreitet die Vorwürfe und will sein Amt zuerst nicht aufgeben, gibt dann aber nach; er erhält eine großzügige Altersversorgung. In den 2000ern gibt es neue Vorwürfe: „In einem undatierten und anonymen Schreiben schildert ein anonymer Hinweisgeber, der angab, Mitarbeiter der Erzdiözese zu sein, dass er ab dem Ende der 1980er Jahre im Alter von 14 Jahren während seiner Zeit als Ministrant im Liebfrauendom für ca. drei Jahre von dem Priester berührt und sexuell genötigt worden sei. Zudem habe der Priester sich über Jahre hinweg an Jugendlichen, vorwiegend an der Domjugend, vergriffen. Darüber hinaus ist von Partys in seiner Wohnung die Rede, bei denen es neben übermäßigem Alkoholkonsum auch zu sexuellen Kontakten mit Heranwachsenden gekommen sei. Der anonyme Hinweisgeber schildert weiter, dass der Priester ihn mit finanzieller Unterstützung und der Anstellung in der Erzdiözese zum Stillschweigen über die vorgenannten Vorwürfe bewegt habe. Der Priester habe gegenüber dem Hinweisgeber zudem selbst erwähnt, dass Erzbischof Kardinal Wetter von diesen Vorgängen Kenntnis habe. Das Schreiben ist an den in den 2000er Jahren tätigen Missbrauchsbeauftragten der Erzdiözese adressiert. Der Eingang des Schreibens lässt sich damit auf diesen Zeitraum eingrenzen. Weitere Aktivitäten des Erzbischöflichen Ordinariats infolge dieser Mitteilung sind den Akten nicht zu entnehmen, insbesondere in Bezug auf die Einleitung eines formellen kirchlichen Verfahrens und die Unterrichtung der Glaubenskongregation.“ (S. 587) (Hier fragt sich, ob der Kardinal wirklich damals schon so genau davon wusste, oder der Priester das bloß behauptet hat, um sein Opfer einzuschüchtern.)

Fall 51: „Aufgrund eines außerehelichen Verhältnisses mit einer erwachsenen Frau wurde der Diakon mit Dekret des Erzbischofs Kardinal Wetter Mitte der 2000er Jahre ‚wegen wiederholter Verfehlungen‘ gemäß c. 1395 § 2 CIC/1983 und der damit einhergehenden Schädigung seines guten Rufes suspendiert. Soweit ersichtlich, betraf die Suspendierung lediglich die Stelle als Diakon. Der Diakon blieb zunächst weiterhin Religionslehrer und bis auf Weiteres auch Präses einer Kolpingsfamilie.“ (S. 589) Wenige Monate später meldet sich eine Frau, die angibt, er habe ihre jetzt 26jährige Tochter als Zehn- oder Elfjährige sexuell missbraucht, nämlich soll er sie „zwecks Notenaufbesserung zu sich ins Pfarrhaus bestellt und sie gezwungen haben, sich auszuziehen, sowie sie sodann überall berührt haben“ (S. 589) Er wird von der Erteilung des Religionsunterrichts freigestellt und Offizial Dr. Wolf zeigt die Vorwürfe bei der Staatsanwaltschaft an. Er wendet sich auch an die Familie des mutmaßlichen Opfers, mit einer Entschuldigung und einer Bitte um schriftliche Niederlegung des genauen Sachverhalts. Das mutmaßliche Opfer selber will jedoch keine Aussagen machen, und die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren wegen Verjährung ein. Bei den Ermittlungen kommen auch Behauptungen auf, der Diakon habe einmal in einem Sommerlager mit einer 15jährigen „geknutscht“ und „geschmust“, denen aber nicht weiter nachgegangen wird. Nachdem ein psychiatrisches Gutachten ihm bescheinigt, man könne ihn in der Krankenhausseelsorge einsetzen, wird das getan. Er selber bestreitet die Vorwürfe. „Ende der 2010er Jahre wurde abermals ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. In diesem Zusammenhang stellte sich heraus, dass die mutmaßliche Geschädigte an einer paranoiden Schizophrenie litt. Dieses Mal wurde darüber hinaus auch der Mitte der 2000er Jahre gemeldete Sachverhalt aus dem Sommerferienlager untersucht. Letztlich wurde jedoch auch dieses Verfahren, diesmal allerdings in Ermangelung eines Tatnachweises, eingestellt.“ (S. 591) Letztendlich ist hier nicht klar, ob die Vorwürfe stimmen oder nicht – das Mädchen kann sich einerseits etwas eingebildet haben, andererseits kann ein Pädophiler sich auch gerade ein psychisch krankes Mädchen als leichtes Opfer suchen.

Fall 52: Ein Priester wird Anfang der 1990er im Ausland zu einer Haftstrafe verurteilt wegen „sexuellen Missbrauchs eines Unmündigen, Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses, körperlicher Misshandlung und Zugänglichmachung pornografischer Inhalte an eine Person unter 16 Jahre“ (S. 591). Nachdem er sie verbüßt hat, bittet die ausländische Diözese die Erzdiözese München-Freising darum, den Priester aufzunehmen; dabei wird sie auch über die Vorgeschichte informiert. Im Erzbistum wird darüber beraten; Generalvikar Dr. Simon und Personalreferent Dr. Gruber haben bei einem Vorstellungsgespräch einen guten Eindruck, und ein Anstaltspsychologe bescheinigt dem Priester, bei ihm bestehe keine Rückfallgefahr. Man schickt ihn also in eine Pfarrei des Erzbistum. „Nur wenige Wochen nach Dienstbeginn fiel bereits auf, dass der Priester mit dem Thema (Homo-)Sexualität vor allem auch gegenüber Minderjährigen sehr freizügig umging; allem Anschein nach ein Hinweis und Warnsignal dafür, dass der Priester die zur Verurteilung führende Suche nach sexueller Nähe zu Kindern und Jugendlichen nicht überwunden hatte. Davon wurde auch der damalige Personalreferent Dr. Gruber unterrichtet. Daraufhin offenbarte der Priester den örtlichen Verantwortungsträgern seine Vorgeschichte. Dem zuständigen Weihbischof wurde vorgeworfen, die Verantwortlichen vor Ort seien hierüber nicht unterrichtet worden. Der Fall wurde in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit diesen Ereignissen erneut in der Sitzung der Ordinariatsräte behandelt. Es wurde entschieden, dass der Priester zunächst seinen Wohnsitz in einem Kloster nehmen und von dort in der Altenheimseelsorge tätig sein und in der Seelsorgemithilfe eingesetzt werden solle. Darüber hinausgehende inhaltliche Tätigkeitsbeschränkungen wurden ihm nicht auferlegt.“ (S. 592) Er selber lehnt später Aufgaben mit größerer Öffentlichkeitswirksamkeit ab, damit es nicht wieder Gerede über ihn gibt.

Fall 53: Ein Priester, der alkohol- und tablettenabhängig ist, und deswegen u. a. mehrmals betrunken zur Messe erschienen ist, wird Anfang der 1990er versetzt, und zwar wird er Hausgeistlicher in einer Betreuungseinrichtung für Menschen mit Behinderung der katholischen Jugendfürsorge. „Im Rahmen dieser Tätigkeit kam es nur vier Monate später zu einer Vielzahl von psychologisch auffälligen Verhaltensweisen des Priesters, die dem damaligen Personalreferenten mit einem Schreiben des Leiters der Einrichtung zur Kenntnis gebracht wurden. Darunter befand sich der Vorwurf, dass sich der Priester Heimbewohnerinnen, bei denen es sich aufgrund der Art der Einrichtung um Minderjährige und/oder Schutzbefohlene handelte, unangemessen genähert und sich mit diesen in einem Zimmer eingeschlossen habe.“ (S. 593) Generalvikar Dr. Simon teilt ihm mit, dass er von seinem Posten abgezogen wird und „sich, notfalls zwangsweise, einer Therapie unterziehen müsse“ (S. 594). Es wird jedoch nichts an die staatlichen Behörden gemeldet oder genauer nachgeforscht. Einige Monate später, nach ärztlicher Behandlung, befindet man ihn wieder für teilweise einsatzfähig, in die Einrichtung soll er aber nicht zurück. „Zeitlich nachfolgend versuchte der Priester jedoch, sich Zutritt zu der Betreuungseinrichtung zu verschaffen, woraufhin ihm ein Hausverbot erteilt wurde. Anschließend zeigten sich Bestrebungen, den Priester in den Ruhestand zu versetzen. Dieser erkrankte jedoch schwer und verstarb.“ (S. 594)

Fall 54: Mitte der 1990er ergeht ein Strafbefehl (Geldstrafe in Höhe von 10.000 DM) gegen einen in München-Freising tätigen Ordenspriester wegen etlichen Fällen von Beleidigungen, teilweise in Verbindung mit pornographischen Schriften. „Neben anderen Adressaten hatte der Priester auch einem 13jährigen, ehemaligen Ministranten sowie einem 17jährigen Jugendlichen per Post mit obszönen Bemerkungen versehenes pornografisches Material zugeschickt. Im Zuge des eingeleiteten Ermittlungsverfahrens stellte sich heraus, dass der Priester bereits längere Zeit an einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung litt.“ (S. 594) Nach Bekanntwerden der Vorwürfe, noch vor dem Urteil, reicht er ein Rücktrittsgesuch beim Erzbistum ein, und das Erzbistum kündigt den Vertrag mit ihm. Von seinen Ordensoberen wird er in eine afrikanische Diözese versetzt.

Fall 55: Mitte der 1990er wendet sich die Mutter eines elfjährigen Mädchens ans Erzbistum: Der Priester habe ihre Tochter auf dem Schulhof in sexuell motivierter Weise berührt und sich auch dementsprechend ihr gegenüber geäußert. Der Priester gibt an, er habe nur im Scherz an ihrem Schal gezogen und ihr mit dem Finger an den Hals getippt. Man vermittelt ihm einen Strafverteidiger. „Gegenüber der Mutter des betroffenen Mädchens reagierte das Erzbischöfliche Ordinariat zwei Monate nach Eingang mit einem Schreiben, in dem ausführt wurde, dass man für den von der Mutter des Mädchens gewählten ‚Aufklärungsweg‘ kein Verständnis habe und es bedauere, dass bei ihr ‚der Eindruck entstanden‘ sei, ‚dass ihre Tochter sich belästigt‘ fühle.“ (S. 596) Die Mutter erstattet Anzeige, die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren aber ein; der Grund ist unbekannt. In diesem Fall ist es immerhin möglich, dass der Priester keine sexuellen Absichten hatte; aber nach großer Aufklärungsbereitschaft sieht das Verhalten des Erzbistums auch nicht aus.

Fall 56: Ende der 1990er wird ein Priester wegen Kindesmissbrauch zu einer Bewährungsstrafe von 9 Monaten verurteilt; er hat in einem Freibad einen Jungen an seinem Penis berührt. Im Berufungsverfahren wird er freigesprochen, da es nicht genug Beweise gebe, dass er das absichtlich getan habe. Offizial Dr. Wolf nimmt an der Berufungsverhandlung teil, kirchliche Maßnahmen gibt es nicht. Anfang der 2010er gibt es auf Veranlassung von Generalvikar DDr. Beer noch einmal eine Voruntersuchung, die Offizial Dr. Wolf führen soll, der laut den Gutachtern jedoch befangen gewesen sein könnte, was man wegen der Anonymisierung im Gutachten nicht genauer ausführen könnte. Diese Voruntersuchung endet mit der Einschätzung, „dass sich der Verdacht eines sexuellen Missbrauchs Minderjähriger im Sinne des kirchlichen Rechts nicht bestätigt habe und ein weiteres Verfahren nicht angezeigt sei; ebenso wenig eine forensische oder psychiatrische Begutachtung des Priesters“ (S. 599). Die Akten zum staatlichen Verfahren übergibt Generalvikar Dr. Simon im Jahr 2011 an Offizial Dr. Wolf, der sie aufheben oder vernichten könne. Kurz zuvor, bei einer Untersuchung für ein Gutachten im Jahr 2010, hat Dr. Simon fälschlich die Auskunft gegeben, er habe keine solchen Akten mehr.

Fall 57: Mitte der 1990er ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen einen Priester wegen des Verdachts auf Besitz von Kinderpornographie und zweifachem Kindesmissbrauch. Generalvikar Dr. Simon wird in Kenntnis gesetzt und hört den Priester an, der behauptet, er habe die bei ihm gefundenen Videos aus dem Nachlass seines verstorbenen geistlichen Begleiters (!). Er wird schließlich vorläufig beurlaubt und ihm wird die Ausübung priesterlicher Dienste untersagt; in einem Kloster darf er aber zelebrieren. Schließlich wird er wegen des kinderpornographischen Materials zu einer Geldstrafe (150 Tagessätze zu je 80 DM) verurteilt; das Verfahren wegen Kindesmissbrauch und Exhibitionismus wird eingestellt. „Der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern sei aufgrund des Überschreitens der Altersgrenze von 14 Jahren nicht verwirklicht und die Taten seien bereits verjährt.“ (S. 600) Er gibt seine Pfarrei auf, darf aber wieder als Priester tätig sein. Zwei Jahre später wird er in den Ruhestand versetzt. Anfang der 2000er wird der Fall jedoch aus irgendeinem Grund erneut aufgegriffen und in der Ordinariatssitzung behandelt. „Kardinal Wetter berichtete über ein von ihm mit dem Priester geführtes Gespräch. Dabei habe er dem Priester ausdrücklich untersagt, künftig priesterliche Dienste wahrzunehmen und ihm eindringlich die Laisierung nahegelegt. Es bestand Einverständnis mit der Suspendierung des Priesters. Man wollte jedoch bei der Suche nach einer neuen Stelle, vorzugsweise im außerkirchlichen Bereich, behilflich sein. Es wurde eine Beschäftigung bei einem kirchlichen Verlag und eine Subventionierung des Gehalts befürwortet. Die Suspendierung erfolgte einen Monat darauf. In dem Dekret wird dem Priester vorgeworfen, bei der Befragung durch den Regens vor seiner Weihe falsche Angaben gemacht und später bei der Verfolgung von Delikten durch die Staatsanwaltschaft dem Erzbischof wichtige Geschehnisse verschwiegen zu haben. Dem Priester wird dabei auch die Laisierung ‚von Amts wegen‘ angedroht.“ (S. 601f.)

Fall 58: Dieser Fall gehört eigentlich in den letzten Teil, weil er schon in den 1970ern begann, aber ich behandle ihn mal hier. Ein ausländischer Ordenspriester ist seit Mitte der 1970er in München-Freising; er hat sein Kloster verlassen müssen, nachdem bekannt wurde, dass er sich an Jungen vergangen haben soll. (In den Personalakten in München befindet sich ein Pressebericht darüber.) Anfang der 1980er möchte er eine eigene Pfarrei bekommen, aber der für ihn zuständige Dekan rät Generalvikar Dr. Gruber davon ab; er fügt seinem Schreiben ein Schreiben des Regens eines ausländischen Studienkollegs bei. Laut diesem Schreiben soll der Priester beim Klavier- und Orgelunterricht einen elfjährigen Jungen belästigt haben, dieser habe seinen Eltern erzählt, er habe dem Priester Küsse geben müssen; es habe auch weitere ähnliche Gerüchte gegeben. „In der Folge versuchte der Priester, juristisch nach staatlichem Recht gegen die Hinweisgeber vorzugehen. Dies wurde ihm seitens des Erzbischöflichen Ordinariates als kirchenrechtswidrig untersagt. Der Priester kündigte an, den Schuldienst in der Erzdiözese München und Freising aufgeben und in seine Inkardinationsdiözese zurückkehren zu wollen.“ (S. 603) Generalvikar Dr. Gruber teilt ihm allerdings mit, man könne ihn schon weiter beschäftigen, z. B. in der Krankenhausseelsorge. Er bestreitet die Vorwürfe weiterhin und will nicht in ein Krankenhaus abgeschoben werden. Dr. Gruber bietet ihm schließlich eine Kuratie an, was er aber ablehnt, weil er inzwischen eine ausländische Pfarrei bekommen konnte. Anfang der 1990er kommt er wieder zurück, um seinen Ruhestand in München-Freising zu verbringen, und wird in der Seelsorgemithilfe eingesetzt. „Ob die damals Verantwortlichen die Vorwürfe aus den 1980er Jahren kannten, lässt sich den Akten nicht entnehmen.“ (S. 604) Mitte der 1990er, er ist mittlerweile als hauptamtlicher Pfarradministrator tätig, berichten die Eltern eines Ministranten, dass er diesen wiederholt berührt habe, und es gibt Hinweise auf weitere Fälle. Er wird versetzt und bleibt bis zu seinem Tod im Erzbistum.

Fall 59: Ein Priester aus einer ausländischen Diözese kommt Anfang der 2000er ab und zu zur Urlaubsaushilfe nach München-Freising; schließlich verbringt er dort auch ein Sabbatjahr und erhält von Generalvikar Dr. Simon die Beichterlaubnis. Als er nach Ablauf dieses Jahres weiter in der Erzdiözese bleibt, zieht man bei der ausländischen Diözese Erkundigungen über ihn ein, und es stellt sich heraus, dass er ein mit ihm verwandtes 14jähriges Mädchen sexuell belästigt haben soll, und es noch weitere, nicht aufklärbare Vorwürfe aus der Schule seiner alten Gemeinde gibt. „Der Diözesanadministrator der Inkardinationsdiözese des Priesters führte in dem Schreiben weiter an, dass der Münchner Generalvikar Dr. Simon vorab über den Aufenthalt des Priesters informiert worden sei.“ (S. 605) Der Priester bestreitet die Vorwürfe gegenüber Kardinal Wetter, und bittet darum, noch in der Erzdiözese bleiben zu dürfen. Er wird jedoch aufgefordert, in seine ursprüngliche Diözese zurückzukehren. Er hat mittlerweile Unterstützer gefunden: „Als dies an seinem Aufenthaltsort bekannt wurde, kam es zu zahlreichen Schreiben von Gemeindemitgliedern an Erzbischof Kardinal Wetter, die den Verbleib des Priesters forderten. Aus einem dieser Schreiben geht hervor, dass der Priester dort regelmäßig einen Gottesdienst speziell für Kinder im Alter von drei bis neun Jahren feierte.“ (S. 606) Die Erzdiözese will ihn aber trotzdem loswerden, weist ihn auch noch einmal hin, auf seinen Umgang mit Kindern und Jugendlichen zu achten. Er soll in seine Diözese zurückkehren, weigert sich vorerst, darf noch für ein paar Monate bleiben, geht aber schließlich doch. „Anfang der 2010er Jahre erfolgte aus einer anderen deutschen Diözese der Hinweis an das Erzbischöfliche Ordinariat in München, dass der Priester mittlerweile seinen Ruhestandssitz im Bereich der Erzdiözese München und Freising genommen habe und in einem Altenheim, trotz eines von der anderen Diözese auferlegten Zelebrationsverbotes, die Messe gefeiert habe. Daraufhin wurden die Vorwürfe von Anfang der 2000er Jahre in seiner Inkardinationsdiözese nun erstmals kirchenrechtlich untersucht. Diese Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass kein kirchenrechtlich strafbares Verhalten vorliege. Der Priester solle sich dennoch einer Therapie unterziehen und dürfe nur mit Erlaubnis seiner Inkardinationsdiözese und des Ortsordinarius seines Aufenthaltsortes zelebrieren. Zudem wurde ihm der Kontakt zu Kindern und Jugendlichen untersagt.“ (S. 607)

Fall 60 und Fall 61 kommen im nächsten Teil dran.

Fall 62: Mitte der 2000er bittet ein Priester um Versetzung, weil es Konflikte mit einer Familie in seiner Pfarrei gebe; die Versetzung erfolgt einige Monate später. Unmittelbar vor der Versetzung meldet eine Mutter beim Missbrauchsbeauftragten des Erzbistums einen Vorfall, der sich zwei Jahre vorher ereignet haben soll. „In der wenige Tage später stattfindenden Anhörung gab die Mutter an, der Priester habe ihre Tochter im Alter von 16 beziehungsweise 17 Jahren sexuell missbraucht, indem er sie ausgezogen und ihr eine Ganzkörpermassage gegeben habe. Zum Geschlechtsverkehr sei es nicht gekommen. Das Mädchen sei von dem Priester abhängig gewesen. Die Mutter berichtete weiter, dass ihre Tochter an einer Borderlinestörung leide und einen Suizidversuch unternommen habe. Auch habe das Mädchen angefangen, sich zu ritzen, und sei daraufhin in die Psychiatrie eingewiesen worden.“ (S. 612) Der Fall wird dem Arbeitsstab für Missbrauchsfälle vorgelegt. „Der Arbeitsstab gelangte zu der Einschätzung, dass der Priester vermutlich keinen ‚expliziten Missbrauch‘ begangen, so doch mit großer Wahrscheinlichkeit in hohem Maße unverantwortlich gehandelt habe. Er habe sich eines ’nicht nur törichten, sondern unglaublich unverantwortlichen Übergriffs an dem psychisch kranken Mädchen schuldig gemacht‘ und ‚in narzisstischer Selbstüberschätzung‘ agiert.“ (S. 612f.) Ein Gespräch mit dem Priester wird empfohlen und der Familie der Kontakt zu einer Familientherapeutin vermittelt. „Eine vom gesamtkirchlichen Recht in diesem Fall geforderte kirchenrechtliche Voruntersuchung (c. 1717 CIC/1983) fand ausweislich des Akteninhalts nicht statt. Gleiches gilt für die Meldung des Sachverhaltes an die Glaubenskongregation.“ (S. 613) Ein halbes Jahr später gibt es noch einmal ein Gespräch mit den Eltern. In dem Protokoll wird auch noch erwähnt: „Die Phantasie von Herrn Wolf es könne eine rivalisierende Verliebtheit in [Anm.: den Priester] zwischen Mutter und Tochter vorliegen, erscheint uns angesichts des Verhaltens der Eltern sehr abwegig.“ (S. 613)

Fall 63: Ein ausländischer Ordenspriester kommt Anfang der 2000er zur Promotion in die Erzdiözese. Er wird als Kaplan in zwei Gemeinden eingesetzt. Mitte der 2000er, er ist jetzt in seiner zweiten Gemeinde, gibt es Missbrauchsvorwürfe aus der ersten. Er soll eine 13-14jährige Ministrantin mehrfach missbraucht haben, außerdem gibt es Hinweise auf Übergriffe auf einen 12-14jährigen Jungen. Ein staatliches Ermittlungsverfahren beginnt und Offizial Dr. Wolf wird von Kardinal Wetter mit der Durchführung einer kirchenrechtlichen Voruntersuchung betraut; der Personalreferent untersagt dem Priester die Kinder- und Jugendarbeit, worüber der Gemeindepfarrer informiert wird. Der Priester wird schließlich zu einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt, er gesteht die Übergriffe auf die Ministrantin. Vier Monate später informiert der Personalreferent den Provinzial im Heimatland des Priesters über die Verurteilung und darüber, dass man seine drohende Ausweisung aus Deutschland verzögern wolle. Er verharmlost die Übergriffe und schreibt u. a.: „Wir sind aber auch froh, dass die ganze Situation ohne große Öffentlichkeit über die Bühne gegangen ist. Zum Glück hat er einen gut meinenden Richter gefunden. Denn bei der Sensibilität des Themas Kindesmissbrauch durch Priester hätte es auch ganz anders ausgehen können.“ (S. 615) Die kirchenrechtliche Voruntersuchung wird aus unklaren Gründen nicht fortgesetzt. Das zuständige Landratsamt beabsichtigt die Ausweisung des Priesters, aber auf Bitten der Erzdiözese (sie versichert dem Landratsamt, dass er keinen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen habe) darf er noch zwei Monate bleiben, und wird dann offiziell – in Anwesenheit des Oberbürgermeisters und des Landrats – verabschiedet. Der Personalreferent erkundigt sich ein Jahr später noch bei ihm, ob er die Probleme, die ihn zur Rückkehr in sein Heimatland genötigt hätten, gut verarbeitet habe. Anfang der 2010er gibt es neue Vorwürfe, die sich auf die Zeit in seiner zweiten Gemeinde vor seiner Verurteilung beziehen. Generalvikar DDr. Beer beauftragt Offizial Dr. Wolf damit, zu untersuchen, ob er zwischen der Verurteilung und der Ausweisung in der Seelsorge eingesetzt wurde und Kontakt zu Kindern und Jugendlichen hatte. Der Gemeindepfarrer gibt an, er habe das nicht kontrollieren können. Die Ermittlung wird nicht abgeschlossen.

Fall 64: Mitte der 2000er wird gegen einen Priester ein staatliches Verfahren wegen versuchter sexueller Nötigung eingeleitet. Die Geschädigten sind offenbar Jugendliche, die den Priester dann aber mit heruntergelassener Hose fotografiert haben und ihn mit der Drohung erpresst haben, die Fotos zu veröffentlichen; er soll ihnen deswegen einen großen Teil seines Vermögens und Gelder der Kirchenstiftung ausgehändigt haben. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren wegen Geringfügigkeit ein. „Zu erheblichen sexuellen Handlungen im Sinne des § 184f Nr. 1 StGB a. F. sei es nicht gekommen. Die vorliegende Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung liege im untersten Bereich.“ (S. 618) Der Priester bietet der Erzdiözese seinen Rücktritt an; dieser wird angenommen und er wird in den Ruhestand versetzt. Außerdem erlässt Kardinal Wetter gegen ihn ein Suspendierungsdekret, das jedoch nicht wirksam wird, sondern nur wirksam werden soll, wenn er sich nicht an die Vereinbarung, nicht mehr an seinem bisherigen Einsatzort die Messe zu zelebrieren, halten sollte.

Fazit: Insgesamt sieht die Situation noch immer ziemlich schlecht aus, man sieht viel Desinteresse und Geheimhaltung. Ein paar kleine Verbesserungen gibt es gegenüber der katastrophalen Situation in den 1960ern und 1970ern (z. B. zeigte in Fall 51 Offizial Dr. Wolf die Vorwürfe selbst bei der Staatsanwaltschaft an). Insgesamt aber zeigt sich: Auch Kardinal Wetter, Generalvikar Dr. Simon, Offizial Dr. Wolf kümmerten sich nicht ausreichend um das Thema. Irgendwann gab es schließlich einen Missbrauchsbeauftragten und eine gewisse Änderung begann wohl langsam.

Missbrauch in München-Freising: Fälle in den 60ern und 70ern

Heute zu den Fällen, die unter Kardinal Döpfner (Erzbischof 1961-1976) und seinen Generalvikaren Defregger und Dr. Gruber begannen bzw. erstmals bekannt wurden, nachdem es im letzten Artikel um die Fälle unter den Kardinälen Faulhaber und Wendel ging. Ich fasse wieder einfach nur die konkreten Fälle zusammen, wie sie das neue Gutachten darstellt; unten dann das Fazit. Da hätten wir also:

Fall 8: Ein Ordenspriester wird Anfang der 1960er vom Heiligen Stuhl auf eigenen Wunsch hin laisiert und ist als Laie für das Erzbistum tätig, wünscht sich aber Ende der 1960er, wieder als Priester aufgenommen zu werden. „Im Zuge der Prüfung des Wiederaufnahmegesuchs stellte sich heraus, dass der ehemalige Priester Ende der 1940er Jahre in etwa elf Fällen wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern im Alter von zehn bis elf Jahren verurteilt worden und deshalb in einer Heilanstalt untergebracht war. Nach der Entlassung aus der Anstalt Anfang der 1950er Jahre wurde ihm untersagt, Jugendseelsorge zu betreiben. Soweit aus der Akte ersichtlich, wurde diese Auflage später jedoch wieder aufgehoben. Ein kirchenstrafrechtliches Verfahren erfolgte nicht.“ (S. 460) Generalvikar Dr. Gruber teilt ihm schließlich mit, dass Kardinal Döpfner sich gegen seine Wiederaufnahme als Priester entschieden hat, aber er war offenbar weiter als Katechet tätig und mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt.

(Hier ist für mich aus dem Gutachten nicht ganz klar, wer in den 50ern für ihn zuständig war – sein Orden, die Diözese München-Freising, eine andere Diözese? Daher, und weil er in den 60ern und 70ern weiter für die Diözese arbeitete, habe ich diesen Fall in diesem Artikel behandelt und nicht im vorigen.)

Fall 20: Generalvikar Defregger erhält Mitte der 1960er einen Hinweis von der Telefonseelsorge, dass ein Ordenspriester, der als Pfarrvikar eingesetzt wird, ein Verhältnis mit einem Minderjährigen habe; Defregger spricht mit der Mutter des Jungen. „Diese berichtete, dass der Priester vor einigen Jahren ihren damals 15- bis 16jährigen Sohn über einen längeren Zeitraum sexuell belästigt habe. Sexuelle Übergriffe hätten nach Kenntnis der Mutter nicht stattgefunden, allerdings seien diese aufgrund der Art und Weise der Annäherungsversuche nicht fernliegend. Der Priester habe zudem versucht, ihren Sohn mit Alkohol gefügig zu machen.“ (S. 488) Außerdem gibt es Hinweise, dass die Mutter sich schon damals an einen Mitarbeiter des Bistums gewandt hatte, und der Priester deswegen zu dieser Zeit mehrfach versetzt worden war. Allerdings gibt es keinen Hinweis, dass der damalige Erzbischof und Generalvikar davon wussten. Auch diese neue Meldung hat jedoch keine Konsequenzen für den Priester, er wird weiter normal eingesetzt, auch als Religionslehrer.

Fall 21: Ein Priester begeht Ende der 1950er sexuelle Handlungen mit einem zehnjährigen Jungen. Der Staat ermittelt, der Priester wird währenddessen vorerst von Generalvikar Dr. Fuchs in ein Kloster geschickt. Er wird schließlich zu einer Haftstrafe von anderthalb Jahren verurteilt. Während seiner Haft beginnt die Amtszeit von Kardinal Döpfner und Generalvikar Defregger. Defregger setzt sich für seine vorzeitige Haftentlassung ein, ein Ordinariatsmitarbeiter besucht ihn im Gefängnis und versichert ihm, dass man ihn nicht fallen lassen werde, und als er aus dem Gefängnis kommt, wird vom Kardinal und vom Generalvikar beschlossen, ihn als Krankenhausseelsorger einzusetzen und ihm den Titel „Kurat“ zu verleihen. Er hat also zumindest keine Stelle mit viel Kontakt zu Kindern mehr, wird aber ansonsten normal eingesetzt. (Ich habe diesen Fall hier behandelt, weil das fragwürdige Verhalten der Erzdiözese in die Zeit von Kardinal Döpfner, nicht mehr von Kardinal Wendel fällt.)

Fall 22 wurde schon hier zusammengefasst; in Bezug auf Kardinal Döpfner und Generalvikar Dr. Gruber wirkt dieser Fall nicht sehr positiv.

Fall 23: Ein Priester wird Anfang der 1960er wegen einer „Sache mit Buben“ in eine andere Gemeinde versetzt. Er versichert, mit den betroffenen Jungen nicht mehr zusammenzukommen. Es werden ihm jedoch keine Auflagen bzgl. des Kontakts mit Kindern und Jugendlichen erteilt.

„In seiner neuen Gemeinde erteilte er Religionsunterricht und übernahm in diesem Zusammenhang die sexuelle Aufklärung von Schülern der 7. Klasse. Dabei bot er den Schülern noch im Jahr seiner Versetzung an, ihn bei diesbezüglichen Fragen in seiner Wohnung besuchen zu können. Eine 13- beziehungsweise 14jährige Schülerin nahm dieses Angebot an. Im Rahmen ihres Besuches bei dem Priester kam es zu mehrmaligen sexuellen Übergriffen auf das Mädchen. Aus den Akten ist nicht ersichtlich, dass die Vorfälle zum Tatzeitpunkt im Erzbischöflichen Ordinariat bekannt waren.
Mitte der 1960er Jahre, mithin fünf Jahre nach diesen Vorfällen, wurde der Priester in eine andere Gemeinde versetzt und zwei Jahre nach seiner Versetzung zum Dekan ernannt. Die damalige Schülerin, auf die er sexuelle Übergriffe verübt hatte, lebte in seiner neuen Gemeinde mit ihm als Haushälterin.“
(S. 494)

Er hat das Mädchen also offenbar irgendwie von sich abhängig gemacht. Ihr Ex-Verlobter, der zwischenzeitlich davon erfahren haben muss, wendet sich Ende der 1960er an Kardinal Döpfner und an die Polizei und zeigt den sieben Jahre zuvor geschehenen Missbrauch an. Kardinal Döpfner und Generalvikar Dr. Gruber beschließen, dass man den Priester von seinem Amt als Dekan entbinden und unauffällig versetzen müsse. Gerichtlich wird er zu einer Bewährungsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Das Erzbistum versucht, ihn in anderen Diözesen, evtl. in einem anderen Bundesland unterzubringen, aber das dortige Kultusministerium teilt mit, dass man solche Geistliche nicht dulde. Es findet sich auch keine passende Gemeinde zur Versetzung, also bleibt er einfach bis zu seinem Tod in seiner Gemeinde. Dr. Gruber stimmt später sogar zu, dass er zum Schuldekan ernannt wird.

Fall 24: In diesem Fall geht es nicht um Kindesmissbrauch, sondern um Belästigung erwachsener Frauen. Schon Anfang der 1960er habe es Annäherungsversuche des Priesters gegenüber jungen Frauen gegeben. Mitte der 1960er beschwert sich dann der Vater einer 20jährigen Frau, der Priester habe seine Tochter sexuell belästigt. Der Priester entschuldigt sich und gelobt Besserung. Ein Jahr später wendet sich der Vater einer anderen 20jährigen Frau ans Erzbistum.

„seine Tochter habe ihm gegenüber nun bestätigt, was er bereits gerüchteweise über den Priester gehört habe. Ein konkreter Vorwurf ergibt sich nicht aus den Schilderungen des Vaters. Aus einer Aktennotiz eines Ordinariatsmitarbeiters für Generalvikar Defregger folgt, dass dieser Vorfall bereits vor der Meldung durch den Vater im Erzbischöflichen Ordinariat bekannt war. Der Mitarbeiter berichtet über ein Gespräch mit dem Priester wie folgt:
‚Pfarrer […] hat mich gebeten, mit dem Generalvikar in dem Sinn zu sprechen, dass er nicht bestraft wird. Ich habe das mit dem Bemerken zugesagt, meiner Meinung nach habe der Generalvikar eine solche Absicht nicht. Gleichzeitig habe ich aber sehr deutlich gemacht, dass m. E. im Fall der Wiederholung eines Ereignisses, wie es zweimal dem Bischof berichtet worden ist, gar nichts anderes übrig bliebe, als ihm seine Pfarrei zu nehmen.'“
(S. 497f.)

Kardinal Döpfner entscheidet sich dennoch für (leichte) Konsequenzen, und Generalvikar Defregger schreibt dem Priester, er solle abwarten, bis er wieder in den normalen Seelsorgedienst zurückkehren dürfe. Er wird für drei Monate in ein Kloster geschickt und von einem Psychiater untersucht, und kehrt dann in die Seelsorge zurück, erteilt auch wieder Religionsunterricht. Weitere Beschwerden über sexuelle Belästigung gibt es nicht; in den 2010er Jahren beschwert sich eine ehemalige Schülerin, er habe „Schüler im Grundschulalter körperlich in ungebührlichem Maß körperlich gezüchtigt“ (S. 499), aber dabei bleibt es.

Fall 25: Anfang der 1960er wird ein Ordenspriester aus einer anderen Diözese, der dort ein „verdächtiges“ Verhältnis mit einer Minderjährigen gehabt hat und offenbar suspendiert wurde, nach München-Freising geschickt. Generalvikar Defregger fragt bei seinen Ordensoberen an, die ihm zusichern, der Priester bereue sein Verhalten aufrichtig und könne wieder in der Seelsorge eingesetzt werden. Ihm wird dann tatsächlich eine Pfarrei übertragen. Zeitweise wird befürchtet, dass Gerüchte die Bevölkerung erreichen könnten, und Generalvikar Defregger zieht in Erwägung, der Priester solle ein Schuldbekenntnis vor der Gemeinde ablegen. Letztlich kommt jedoch nichts an die Öffentlichkeit. „Soweit aus der Akte ersichtlich, fiel der Priester auch während seiner Tätigkeit in der Erzdiözese München und Freising durch ‚indiskutables‘ Verhalten auf. Dabei ging es allerdings um Verhältnisse zu volljährigen Frauen.“ (S. 502)

Fall 26: Anfang der 1960er werden Missbrauchsvorwürfe gegen einen Priester bekannt; vom Erzbistum wird er zunächst versetzt, dann kommt er in Untersuchungshaft und wird zu fünf Jahren Haft verurteilt. Es handelt sich um zahlreiche Taten an mehreren Kindern zwischen zehn und 13 Jahren.

„Während der Haftverbüßung plante der Priester, seinen Beruf aufzugeben. Auf Intervention des Erzbischöflichen Ordinariats, insbesondere durch ihm zugewandte Briefe des damaligen Generalvikars Defregger, verwarf er diesen Entschluss. Dieser teilte dem Priester Mitte der 1960er Jahre ausweislich einer Gesprächsnotiz in einem persönlichen Gespräch mit, dass eine Stelle weit genug von seinen bisherigen Einsatzorten gesucht werden solle, damit nicht ‚[…] die blödsinnigsten und simpelsten Indiskretionen ihm die Wirkungsmöglichkeiten am neuen Einsatzort von vornherein nehmen.'“ (S. 503)

Im Gutachten steht nicht, was der Priester direkt nach der Haftentlassung tat; aber ein paar Jahre später, Ende der 1960er, wurde er Krankenhausseelsorger, half auch anderswo aus. Jahrzehnte später, Anfang der 2000er (mittlerweile war Kardinal Wetter im Amt), wurde ihm eine zu nahe Beziehung zu Krankenhausministranten vorgeworfen, und er gab zu, sie in seine Sauna gelassen zu haben und mit ihnen in den Urlaub gefahren zu sein. Er wurde daraufhin in den Ruhestand versetzt, wobei er nach ein paar Monaten bat, das rückgängig machen zu lassen, da er eine Kastration habe durchführen lassen. Das wurde ihm jedoch nicht gewährt. Er blieb als Ruhestandspfarrer am Ort des Krankenhauses, wobei der Ortspfarrer dagegen war, da er eine bleibende Gefahr durch ihn fürchtete. Ihm wurde die Zelebration untersagt, allerdings vorgeblich wegen gesundheitlicher Gründe, aber später von Generalvikar Dr. Simon wieder erlaubt; nur solle er nicht in der Krankenhauskapelle zelebrieren. In den 2010ern wurde die Akte noch einmal hervorgeholt, aber weiter nichts veranlasst. Besonders krass ist hier, dass das Erzbistum den Priester noch überzeugte, bei seiner Arbeit zu bleiben, die er selbst aufgeben wollte.

Fall 27: Mitte der 1960er bemüht sich ein Priester aus einer anderen Diözese um Aufnahme in München-Freising. Der Grund: Sein Bistum will ihn loswerden, weil er „Schulkindern mit eindeutiger Bevorzugung von Jungen, auf seinem Zimmer einzeln sexuelle Aufklärung erteilt“ hat (S. 508). Man setzt auf seine Besserung und setzt ihn in der Seelsorge ein. Zwischendurch wechselt er für längere Zeit in eine andere Diözese, weil er eine Stelle will, „auf der er seine psychologisch-heilpädagogischen und insbesondere auch hypnotischen Fähigkeiten einsetzen“ kann (S. 509). In den 2010ern gibt es Anschuldigungen, dass er in dieser anderen Diözese in den 70ern und 80ern minderjährige Jungen unter dem Vorwand der Therapie missbraucht hat.

Fall 28: Ein Priester ist in einer anderen Diözese in einem Internat tätig und missbraucht dort zwischen Mitte und Ende der 1960er einen Schüler, der zu Beginn in der 4. oder 5. Klasse ist. Es gibt offenbar keine wirklichen Konsequenzen, aber er wird zur Fortbildung nach München-Freising geschickt und hilft dort in der Seelsorge aus. Zwei Jahre später berichtet der Priester seiner ursprünglichen Diözese, er habe in einem Gespräch mit einem Weihbischof in München-Freising „die Hintergründe seines Fortgangs erläutert und ‚alles offen erzählt'“ (S. 510). Der Weihbischof habe Rücksprache mit Kardinal Döpfner und Generalvikar Dr. Gruber gehalten und ihm dann gesagt, man sei bereit, ihn für drei Jahre auf Probe zu übernehmen; die ursprüngliche Diözese stimmt dem zu. Er wird gleich für zwei Jahre als Religionslehrer eingesetzt, dann vor allem in der Krankenhausseelsorge, und wird Ende der 1980er (also dann schon unter Kardinal Wetter) endgültig in den Klerus des Erzbistums aufgenommen. Mitte der 2010er wird er von Bistumsmitarbeitern befragt und äußert u. a. folgendes:

„Es war meiner Ansicht nach ein heißes Eisen, dass mich Weihbischof [Anm.: der Weihbischof der Erzdiözese München und Freising] […] als Religionslehrer an einem Gymnasium eingesetzt hat. Ich habe mich damals gefragt, wie man mich in ein Gymnasium stecken kann, wenn ich als Pädophiler gelte. Der Religionslehrer, der vor mir am Gymnasium in […] tätig war, hat geheiratet. Man brauchte einen Nachfolger.“ (S. 511)

In den Münchner Akten war zunächst nicht klar, dass die dortigen Verantwortlichen Bescheid wussten. Anfang der 2010er gab es aber eine Meldung an den Missbrauchsbeauftragten in München-Freising wegen der Taten in der anderen Diözese, und man fragte dort an (allerdings erst drei Jahre später!), woraufhin die andere Diözese das Schreiben des Priesters übermittelte, aus dem hervorgeht, dass Kardinal Döpfner und Generalvikar Dr. Gruber Bescheid wussten.

Fall 29: Ein Ordenspriester will Mitte der 1960er in München-Freising aufgenommen werden; das scheitert jedoch an seinem Ordensoberen. „In einem fünfseitigen Schreiben an den damaligen Generalvikar Defregger, der sich zuvor persönlich für die Inkardination des Priesters eingesetzt hatte, kritisierte der Ordensobere das Verhältnis des Priesters zu den kleinen Jungen in den beiden Kollegs, die er geleitet hatte. Der Priester habe sich mit seinen Zöglingen sehr gut verstanden, sie immer mit Geschichten bespaßt und sich mit ihnen gerauft. Mit einem der Jungen, seinem ‚Lieblingszögling‘, habe der Priester nachts fröhlich gefeiert und ihn auch zu einer Fahrt nach Österreich mitgenommen. Der Priester habe alle Zimmer der Jungen ‚ad libitum‘ besucht und über sich selbst gesagt, dass ihm ‚kein Schoß verschlossen bleibe‘. Eine Übernahme des Priesters in den Klerus der Erzdiözese München, so der Ordensobere, müsse ‚auf eigenes Risiko‘ erfolgen.“ (S. 512f.) Fünf Jahre später bemüht er sich erneut um Aufnahme. Der Ordensobere weist Generalvikar Dr. Gruber auf sein damaliges Schreiben hin und erklärt wieder, die Aufnahme geschehe auf einiges Risiko. Dr. Gruber nimmt ihn dennoch auf. „Als Grund für seine Aufnahmebitte gab der Priester die fehlenden Zukunftsaussichten im veralteten Orden an. Nach seiner Aufnahme war der Priester auf verschiedenen Posten im Erzbistum tätig. In den Akten finden sich keine Hinweise auf etwaige Missbrauchsverdachtsfälle aus dieser Zeit.“ (S. 514)

Fall 30 wird in einem kommenden Artikel behandelt, da es hier um Missbrauchsvorwürfe geht, die erst in den 2010ern bekannt wurden.

Fall 31: Ende der 1960er wird ein Priester in einer anderen Diözese wegen Missbrauchs von drei Jungen zwischen elf und 13 Jahren zu einem Jahr und fünf Monaten Haft verurteilt. Nachdem er zwei Drittel davon verbüßt hat, wird der Rest zur Bewährung ausgesetzt, mit einer Bewährungszeit von vier Jahren und der Auflage, dass er während dieser Zeit nicht unterrichten und keine Pfarrstelle übernehmen darf. „Der Priester fiel bereits in seiner Ausbildung als ‚Sorgenkind‘, ‚Einzelgänger‘, ‚Sonderling‘ und ’stark egozentrisch‘ auf. Zur Aufnahme ins Priesterseminar wurde er durch seinen damaligen Regens deshalb ’nur mit Einschränkungen empfohlen‘. Auch während der Verbüßung seiner Haftstrafe trat der Priester negativ in Erscheinung, indem er seine Mitgefangenen aufhetzte und dem Gefängnispfarrer zusetzte.“ (S. 522)

Sein Bischof vermittelt ihn nach der Haftentlassung nach München-Freising; Generalvikar Dr. Gruber wird der Hintergrund dabei mitgeteilt. Man will ihn dann zuerst in einem Familienerholungs- und Schulungsheim als Hausgeistlichen unterbringen, aber der dortige Leiter will es nicht riskieren. Dann kommt man auf die Idee, ihn in einem Frauenkloster unterzubringen, ohne den Nonnen etwas von der Vorgeschichte zu erzählen; Dr. Gruber schlägt vor, sie anzulügen: „Es ist wohl klüger, wenn die Schwestern über seine Vorgeschichte nichts erfahren und wenn man zur Begründung seiner Übersiedlung Gesundheitsgründe angibt. Mit dem Pfarrer von […] werde ich u. U. dann bei Gelegenheit über die Situation [des Priesters] sprechen.“ (S. 527) Am Ende wird er aber in einem Altenheim und in der Mithilfe bei der sonstigen Seelsorge eingesetzt, man überlegt, ihn als Kaplan in eine andere Pfarrei zu schicken. Allerdings macht er sich offenbar unbeliebt, sodass man ihn doch wieder in die andere Diözese zurückschicken will: „Nun müssen wir zu unserem Bedauern immer wieder Klagen anhören, daß er die Bayern in Gesprächen und sogar im Amt unschön und ungerecht aburteilt, daß er keine Gemeinschaft findet, […]. Er [Anm.: der Priester] wird in [der Pfarrei] wegen seines Verhaltens abgelehnt.“ (S. 529) Besonders erregt er aber nicht nur mit unsozialem Verhalten Aufsehen, sondern auch mit Kontakten zu jungen Ausländern, u. a. nimmt er einen 19jährigen Türken vorübergehend bei sich auf. Sein Heimatbistum will ihn zuerst nicht zurück und er möchte auch lieber noch etwas in München-Freising bleiben, aber dann ändern sich seine Pläne und er bittet darum, zurückkehren zu können. „Als Grund seinen plötzlichen Sinneswandel gab der Priester in seinem Schreiben an, dass seine ‚Gegner‘ in der Pfarrei von seiner Vorgeschichte Kenntnis erlangt hätten.“ (S. 532f.) Er kehrt also zurück und wird fünf Jahre später noch in eine andere Diözese geschickt. Später melden sich in seiner Heimatdiözese acht mutmaßliche Missbrauchsopfer; in Bayern sind keine bekannt. In einem Brief an seinen Heimatbischof hat der Priester selbst noch geschrieben:

„Ich bin nämlich wirklich hochgradig homophil. Und zwar gerade im Hinblick auf junge Menschen […] meine Neigung ist eine ständige Gefahr für mich selbst und damit auch für die Kirche. Auch in [dem Ort in der Erzdiözese München und Freising, an dem der Priester im Altersheim und in der Seelsorgemithilfe eingesetzt war] war diese Gefahr für mich existent, und ich habe es nicht einmal gewußt. Jetzt erst zum Schluß hat der dortige Pfarrer mir etwas erzählt, woraus ich ersah, in welch großer Gefahr ich vorübergehend geschwebt hatte, ohne daß ich sie auch nur geahnt hätte.“ (S. 533)

Fall 32: Mitte der 1960er beschwert sich ein Pfarrer beim Erzbistum über seinen Kaplan, u. a. habe er zu viele nahe Kontakte mit Jungen, auch in seinen Ferien, „wenngleich man ihm hier direkt wirklich nichts nachsagen“ könne (S. 534). Der Priester wird von Generalvikar Defregger zu mehr Distanz ermahnt. Er wird in eine andere Pfarrei versetzt, besucht aber noch öfter seine alte Pfarrei, was ihm schließlich vom Erzbistum verboten wird. In seiner neuen Pfarrei widmet er sich auch wieder stark der Jugendarbeit. Konkrete Anhaltspunkte für Missbrauch gibt es allerdings nicht.

Fall 33: Ein Ordenspriester missbraucht Ende der 1960er mehrere Schüler eines Knabenseminars nachts im Schlafsaal. Die Schüler berichten dem Seminardirektor davon, der aber nichts tut. Weil die Vorwürfe beim Erzbistum erst Anfang der 2010er bekannt wurden, behandle ich diesen Fall eigens in einem späteren Artikel ausführlicher.

Fall 34: Ein Priester missbraucht über einen längeren Zeitraum zehn seiner Schüler oder Ministranten, alles Jungen zwischen elf und 14 Jahren. Schließlich kommt es heraus und die Eltern eines Jungen erstatten Anzeige; der Priester wird vom Erzbistum auf eigenen Wunsch in den zeitlichen Ruhestand versetzt. Ein halbes Jahr später, Anfang der 1970er, wird er zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt; ein ärztliches Gutachten stellt verminderte Schuldfähigkeit fest. Generalvikar Dr. Gruber setzt sich jedoch weiterhin beim Justizministerium für ihn ein, u. a. für seine vorzeitige Haftentlassung. Nachdem er zwei Drittel verbüßt hat, wird er entlassen; Generalvikar Dr. Gruber will ihn wieder in die Seelsorge aufnehmen. „Nach seiner Entlassung aus der Strafhaft wurde dem Priester auch ein geistlicher Berater zur Seite gestellt, der ihn bei der Rückkehr ins Priesteramt beraten und unterstützen sollte. Soweit ersichtlich war es sodann aber der Priester selbst, der nach Verbüßung seiner Haftstrafe nicht mehr aktiv in der Seelsorge tätig sein wollte. Bis zu seinem Tod lebte er in einer bayerischen Gemeinde auf dem Gebiet der Erzdiözese München und Freising und leistete vor Ort vereinzelt Urlaubsaushilfen.“ (S. 538)

Fall 35: Ein Priester, der als Religionslehrer tätig ist, wird Anfang der 1970er beschuldigt, „einen 13jährigen beziehungsweise 14jährigen Jungen mit der Hand befriedigt zu haben und sich auch von diesem befriedigt haben zu lassen“ (S. 538). Er scheidet aus dem Schuldienst aus und wird zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr verurteilt. „Eine Kopie des Urteils findet sich ausschließlich in der persönlichen Ablage/Handakte von Generalvikar Dr. Gruber. Ein Jahr nach der Verurteilung wurde der Priester als Hausgeistlicher in einem Altenheim eingesetzt.“ (S. 539)

Fall 36: „Gegen den einer anderen deutschen Diözese angehörenden Priester wurde kurz vor seiner Weihe im europäischen Ausland ein Strafbefehl wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht mit einem jungen Mann erlassen. Während seiner Ausbildung pflegte er zudem homosexuelle Kontakte. Aufgrund dieser Vorfälle wechselte er nach seiner Priesterweihe in eine andere deutsche Diözese. Anfang der 1970er Jahre kam es zu sexuellen Kontakten mit acht verschiedenen männlichen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, was zu einem staatlichen Ermittlungsverfahren gegen den Priester führte.“ (S. 539) Er hält sich während des Verfahrens zur Therapie in München-Freising auf, und bemüht sich dort um einen Einsatz in der Seelsorge, was Generalvikar Dr. Gruber aber ablehnt. Schließlich wird er zu einem Jahr und sechs Monaten Haft verurteilt. Der Haftantritt verzögert sich, weil er angibt, nicht haftfähig zu sein. Er bemüht sich wieder um eine Stelle in München-Freising; der Personalreferent seiner Diözese teilt dem Erzbistum mit, sein Einsatz sei nicht verantwortbar, auch wenn man ihm die Zelebrationserlaubnis nicht entzogen habe. „Als der Pfarrer, bei dem er privat untergebracht war, erkrankte, wurde seitens der Erzdiözese erwogen, den Priester in dessen Gemeinde einzusetzen. Dieses Vorgehen wurde Generalvikar Dr. Gruber mit einer Aktennotiz des damaligen stellvertretenden Generalvikars ein knappes Jahr nach der Verurteilung des Priesters vorgeschlagen. Ob es zu einem solchen Einsatz kam, ist nicht dokumentiert.“ (S. 540) Ein Jahr nach der Verurteilung tritt er seine Haft schließlich an. Nach seiner Entlassung wird er kurz aushilfsweise in München-Freising tätig, und das Erzbistum fragt bei seinem ursprünglichen Bistum an, ob man ihn generell in der Seelsorge einsetzen könne. Dieses Bistum informiert das Erzbistum jetzt umfassend über die ganze Vorgeschichte und zeigt sich zurückhaltend; man will ihn zwar nicht laisieren, aber auch nicht einfach wieder normal einsetzen. Der den Priester behandelnde Arzt hat eine positive Meinung zu ihm, und Generalvikar Dr. Gruber wendet sich noch einmal an sein Heimatbistum, das aber wegen der Rückfallgefahr und der Gefahr eines Skandals weiterhin an seiner Meinung festhält. Man setzt ihn dann kurz in einem Frauenkloster ein, wo aber seine Vorgeschichte bekannt wird, und versetzt ihn dann in ein Altenheim. Er bleibt bis Anfang der 2010er in der Altenheimseelsorge und übernimmt auch Urlaubsvertretungen.

Fall 37 wurde bereits hier angesprochen – auch hier hat man keinen positiven Eindruck von Kardinal Döpfner und Generalvikar Dr. Gruber.

Fall 38: Anfang der 1970er wird dem aus dem Ausland stammenden Priester eine Pfarrei im Erzbistum übertragen. Zwei Jahre später bemüht sich das Erzbistum, ihn loszuwerden, und er reicht schließlich seinen Rücktritt ein; der Grund dafür sind offenbar auffällige Beziehungen zu Jugendlichen, wobei er versichert, nichts Strafbares getan zu haben. Anfang der 2010er gibt ein Mann gegenüber dem Erzbistum an, in dieser Zeit als 17jähriger von dem Priester betrunken gemacht und vergewaltigt worden zu sein; außerdem habe der Priester zwei andere Jugendliche aus zerrütteten Familienverhältnissen, die als homosexuell galten, im Pfarrhof beherbergt. Er wird nach seinem Rücktritt anderswo als Krankenhausseelsorger und bei der Mithilfe in der Seelsorge eingesetzt. Es gibt im Lauf der Jahre immer wieder Hinweise auf homosexuelle Kontakte mit Jugendlichen, wobei er versichert, keine solchen Beziehungen mit Minderjährigen gehabt zu haben. Vom Erzbistum wird nichts dagegen unternommen. In den 1980ern geht er für einige Zeit ins Ausland, kehrt dann aber nach München-Freising zurück (inzwischen ist Kardinal Wetter im Amt). Er ist in verschiedenen Pfarreien tätig und es gibt wieder Hinweise auf auffällige Kontakte mit Jungen. Vom Erzbistum wird jedoch nichts unternommen, nur ein Weihbischof spricht Warnungen aus. „Ebenfalls Anfang der 1990er Jahre mithin einen Monat nach der Versetzung des Priesters in den dauerhaften Ruhestand, beschwerte sich der Priester bei Erzbischof Kardinal Wetter über den Weihbischof, der gegenüber einer Mesnerin geäußert habe, dass der Priester eine starke homoerotische Ausstrahlung habe, die Eltern sollten auf ihre Jungen aufpassen und die Mesnerin sollte ein waches Auge auf die neun- bis zehnjährigen Ministranten haben.“ (S. 558)

Fall 39: Der Priester einer südamerikanischen Diözese kommt in den 1950ern nach Deutschland und in den 1960ern nach München-Freising. „Aus der persönlichen Ablage/Handakte des Generalvikars Dr. Gruber ergibt sich, dass Hintergrund des Wechsels des Priesters in die Erzdiözese München und Freising ein homosexueller Vorfall zu Beginn der 1960er Jahre unter Seminaristen war.“ (S. 559) Der Stadtpfarrer, dem er unterstellt ist, weiß davon, und rät deshalb von seinem Einsatz als Berufsschullehrer ab; er ist aber ansonsten auch in der Jugendarbeit tätig. „Nachdem der Priester Ende der 1960er Jahre versucht hatte, erkennbar gegen dessen Willen homosexuelle Kontakte mit einem Ordenspriester aufzunehmen, wurde er kurzfristig versetzt.“ (S. 560) Sein dortiger Pfarrer beschwert sich beim Erzbistum, dass der Priester viel mit seinem Auto unterwegs sei und zwischenzeitlich eine eigenständige Jungengruppe gegründet habe. Später wird er als Pfarrvikar in eine andere Pfarrei versetzt. In den 2010ern meldet sich ein Mann beim Erzbistum und berichtet, er sei dort Mitte der 1970er als 12- bzw. 13-jähriger mehrfach von dem Priester missbraucht worden; der Missbrauchsbeauftragte bewertet die Angaben als glaubhaft und der Mann erhält eine Entschädigungszahlung von 5000 €.

Fall 40 und Fall 42 wurden ebenfalls hier schon behandelt.

Zu Fall 41 heißt es im Gutachten „Dieser Fall ist Gegenstand des als Bestandteil dieser Untersuchung vorgelegten Sondergutachtens“ (S. 568) – ich lasse ihn hier vorerst aus.

Fazit: Unter Kardinal Döpfner und den Generalvikaren Defregger und Dr. Gruber sieht man praktisch durchgehend Vertuschung und Gleichgültigkeit – ganz besonders bei Dr. Gruber. Egal ob es um erwiesenen Kindesmissbrauch, um verdächtigen Umgang mit Jugendlichen, um Belästigung erwachsener Frauen oder um homosexuelle Handlungen geht: nirgends sieht man halbwegs angemessene Reaktionen.

Missbrauch in München-Freising: Fälle in den 40ern und 50ern

Ich dachte mir, es wäre sicher lehrreich, nicht nur die Kardinal Ratzinger betreffenden Fälle von Missbrauch im Erzbistum München-Freising, sondern alle konkreten Fälle, in denen das neue Gutachten dem Erzbistum Fehlverhalten attestiert, kurz durchzusehen. Deshalb heute eine kurze Zusammenfassung der Fälle, die ca. zwischen 1945 und 1960 begannen / erstmals bekannt wurden, also unter Kardinal Faulhabers Amtszeit (vor 1952; er war bereits seit 1917 Erzbischof, aber das Gutachten beginnt erst mit der Nachkriegszeit) oder Kardinal Wendels Amtzeit (1952-1960). Diese Fälle reichen teilweise auch noch in die 60er und 70er Jahre hinein, also als Kardinal Döpfner (1961-1976) Erzbischof war; aber irgendwo muss man ja Abgrenzungen vornehmen. Zu den Fällen, die erst unter Kardinal Döpfner begannen, komme ich dann im nächsten Artikel.

Jetzt also eine kurze Zusammenfassung der 17 Fälle aus dieser Zeit, bei denen das Gutachten Fehlverhalten gefunden hat. (Fall 8 und Fall 18 behandle ich in den kommenden Artikeln, es sollte dann klar werden, wieso.)

Fall 1: Ein wegen homosexueller Handlungen (damals waren homosexuelle Handlungen zwischen Männern noch strafbar) in einer anderen Diözese verurteilter Priester wechselt Ende der 1940er in die Erzdiözese München-Freising (diese weiß nichts von der Verurteilung). Als ihm vorgeworfen wird, wiederholt mit Schülern eine Gaststätte aufgesucht zu haben (was er bestreitet), wird er von Generalvikar Buchwieser in seine ehemalige Diözese zurückgeschickt. Sechs Jahre später kommt er zurück. Der neue Münchner Generalvikar Dr. Fuchs fragt bei der anderen Diözese nach dem Grund – staatliche Ermittlungen wegen Kindesmissbrauch. Dr. Fuchs entzieht dem Priester zunächst die Zelebrationserlaubnis; nachdem dieser die Vorwürfe bestreitet, erteilt er ihm eine auf mehrere Monate befristete Erlaubnis, und legt ihm nahe, die Erzdiözese zu verlassen, was der Priester tut. Kurz darauf verstirbt er; die staatlichen Ermittlungen waren noch nicht abgeschlossen.

Fall 2: Ein Priester wird Ende der 1940er beschuldigt, mehrere Mädchen unangemessen berührt zu haben. Ihm wird von Kardinal Faulhaber und Generalvikar Buchwieser der Rücktritt von seinem Amt nahegelegt, und er tritt zurück. Es gibt staatliche Ermittlungen, die aber eingestellt werden. Der Pfarrer der ehemaligen Nachbargemeinde des Beschuldigten informiert das Erzbistum, dass dieser ihm bereits vorher aufgefallen sei und er ihm den Rücktritt von seinem Amt angeraten habe. Außerdem gehen weitere Beschwerden ein (er spreche auf der Straße Mädchen an, wolle in deren Wohnungen). Der Priester wird Seelsorger in einem Erholungsheim; der dortige Pfarrer berichtet von weiteren Vorwürfen, der Priester versuche sich Zugang zu Kindern zu verschaffen. Der Priester wird sofort suspendiert und in ein Kloster eingewiesen, ihm wird der Kontakt zu Kindern verboten. Als er dagegen verstößt (er soll sich mit einem Jungen in einen Heustadel begeben haben), wird er in ein anderes Kloster eingewiesen und ihm wird der Kontakt zur gesamten Öffentlichkeit verboten. Als er um Verzeihung bittet und Besserung gelobt, wird seine Suspendierung schließlich aufgehoben, aber das Kontaktverbot zu Kindern und Jugendlichen bleibt. Es wird auch ein kirchliches Disziplinarverfahren geführt, dessen Ergebnis aber nicht aus den Akten hervorgeht. Anfang der 1950er wird er wieder in der Seelsorge eingesetzt, und darf auch Kinder unterrichten, allerdings keine Mädchen. „Ende der 2010er Jahre wandte sich eine männliche Person an den Missbrauchsbeauftragten der Erzdiözese und schilderte erlittenen sexuellen Missbrauch durch den Priester, der sich in der Gemeinde, in der er Anfang der 1950er tätig war ereignete, als der Geschädigte zwischen zwölf und 13 Jahren war. Diese Schilderung wurde von dem zuständigen Fachreferenten als glaubhaft eingestuft.“ (S. 450)

Fall 3: Einem Priester, Leiter eines Lehrlings- und Schülerheims, wird vorgeworfen, er habe Jungen in seinem Schlafzimmer übernachten lassen und mit ihnen Ringkämpfe veranstaltet, eine Gruppe Jungen sei öfter bis spät am Abend in seiner Wohnung gewesen. Er rechtfertigt die Übernachtungen mit dem Platzmangel im Heim und gibt zu, sich ungewöhnlich ungezwungen den Jungen gegenüber verhalten zu haben. Generalvikar Buchwieser und die Kriminalpolizei ermitteln. „Bei Befragungen gaben einige der Jungen an, der Priester sei ihnen nähergekommen, habe sie aber nicht zärtlich angefasst. Zurück blieb der Vorwurf, der Priester habe ‚durch sein erzieherisch unkluges und unverständliches Verhalten bei Erwachsenen und Jugendlichen selbst Anlass zu solchen Gerüchten gegeben‘.“ (S. 451) Er verliert seine Stelle als Heimleiter und wird Aushilfspriester, erteilt auch Religionsunterricht. Sieben Jahre später ermahnt Generalvikar Dr. Fuchs ihn in einem Brief, keine Jugendlichen mehr auf seinen Autofahrten mitzunehmen. Er unterstellt ihm zwar nichts, fürchtet aber schwere Verdächtigungen. Mein Fazit: Es bleibt unklar, ob der Priester wirklich bloß aus Naivität oder Hilfsbereitschaft unangemessenes Verhalten zeigte, oder ob er ein Pädophiler war, der vielleicht nur Berührungen von Jugendlichen suchte. Für schwerwiegenden Missbrauch gibt es aber zumindest keine Anhaltspunkte.

Fall 4: Ende der 1940er wendet sich ein Kaplan an Generalvikar Buchwieser, und berichtet, „dass über ihn ‚eine Rederei im Gange sei, wonach er Mädchen der Jugendgruppe ‚beim Spielen abgetastet oder abgegriffen habe und mit Vorliebe ihnen beim Ballspiel den Ball gegen die Brust werfe‘. Er erklärte
weiter, sich gegen diese ‚üble Verleumdung‘ einer ‚bis jetzt unbekannten Urheberin der Rederei‘ wehren zu wollen, die ihn nicht allein als Privatperson, sondern auch als Seelsorger betreffe.“
(S. 452) Was genau der Generalvikar unternimmt, geht nicht aus den Akten hervor. Einen Monat später wendet sich der Pfarrer, dem der Kaplan unterstellt ist, an die Diözese; ein Kirchenpfleger habe sich bei ihm über ähnliches Verhalten beschwert, der Kaplan habe Mädchen der Pfadfindergruppe beim Blinde-Kuh-Spiel angefasst. Der Pfarrer regt eine Versetzung an, und einige Monate später wird der Kaplan versetzt. Er bewirbt sich in den folgenden Jahren um verschiedene Pfarrstellen, wird aber von der Diözese (jetzt Generalvikar Dr. Fuchs) abgewiesen, weil Gerede entstehen könnte, wenn er zu nahe an seinem früheren Wirkungsort wäre. Später wird er doch Pfarrer und erteilt auch Religionsunterricht. Weitere Vorwürfe sind nicht ersichtlich.

Fall 5: „Der Priester wurde Ende der 1940er Jahre durch das örtlich zuständige Landgericht wegen Sittlichkeitsverbrechen mit Kindern in sechs Fällen zu einer Zuchthausstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Bei den Geschädigten handelte es sich um männliche und weibliche Kinder im Alter von elf bis 13 Jahren.“ (S. 454) Nach der Verbüßung der Strafe wurde er wieder in der Seelsorge eingesetzt, als Aushilfspfarrer und dann als Kurat. Es gab weder neue kirchliche Sanktionen noch neue Vorwürfe.

Fall 6: In den 1940ern begeht ein Priester schon in der ersten Gemeinde, wo er eingesetzt ist, „sexuelle Handlungen mit zwei Ministranten“ (S. 455). Er wird ohne weitere Konsequenzen versetzt. Vier Jahre später wird er wegen sexueller Handlungen an drei Minderjährigen zwischen 11 und 14 Jahren zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt (er ist geständig). Jetzt schon unter Kardinal Wendel wird ein Gnadengesuch zur vorzeitigen Haftentlassung gestellt. „Unmittelbar nach der sich anschließenden Haftentlassung Mitte der 1950er Jahre verbrachte der Priester einen Teil seines Erholungsurlaubes mit einem Ministranten. Generalvikar Dr. Fuchs drohte dem Priester daraufhin die sofortige Suspension im Wiederholungsfall an.“ (S. 456) Er wird in einem Altenheim eingesetzt; als dort die Vorgeschichte bekannt wird, wird er von Generalvikar Dr. Fuchs abgezogen und in einem Kloster untergebracht. Zwei Jahre später wird er wieder in einem Altenheim eingesetzt, aber als sich herausstellt, dass er Kontakt zu Jugendlichen sucht, wird er von Generalvikar Dr. Fuchs wieder in ein Kloster gesteckt und ihm wird die Zelebration verboten. Anfang der 1960er wird er wieder aushilfsweise in der Seelsorge eingesetzt. Als der Ortspfarrer ihn auch Religionsunterricht erteilen lassen will, erlaubt Dr. Fuchs das, schreibt aber, es solle darauf geachtet werden, dass er keine außerschulischen Freundschaften mit Kindern anfange. „Während dieser Zeit kam es zu erneuten Missbrauchshandlungen des Priesters an einem 14jährigen körperlich beeinträchtigten Jungen. Diese Vorfälle waren nach Aktenlage dem Erzbischöflichen Ordinariat damals nicht bekannt. Der Geschädigte meldete sich erstmals Anfang der 2010er Jahre und gab an, von dem Priester dahingehend unter Druck gesetzt worden zu sein, mit niemandem über die Vorfälle zu sprechen. Im Rahmen eines Verfahrens auf Anerkennung des Leids erhielt der Geschädigte daraufhin eine Zahlung in Höhe von 5.000,00 €.“ (S. 457) Nach ein paar Monaten wird er wieder in ein Altenheim versetzt. „Nachdem drei Jahre später, Mitte der 1960er Jahre, erneut der Verdacht aufkam, dass er Jungen nicht näher bezeichneten Alters zu nahe gekommen sei, wurde er erneut in ein anderes Altenheim versetzt. Parallel kam es zu Aushilfstätigkeiten in der Gemeindeseelsorge, unter anderem im Rahmen der Kinderbeichte. Der damalige Generalvikar Defregger wies daraufhin den Gemeindepfarrer an, bei der Kinderbeichte vorsichtig zu sein und diese nur unter Aufsicht zu gestatten. Beinahe zehn Jahre später, Anfang der der 1970er Jahre, kam es im Ort des Altenheimes zu sexuellen Handlungen des Priesters an einem Ministranten. Der Gemeindepfarrer teilte dies dem damaligen Generalvikar Dr. Gruber mit und erwähnte zugleich, dass er um noch mehr Opfer fürchte, da der Priester sich auch im Altenheim mit vielen Ministranten umgebe. Generalvikar Dr. Gruber hielt in einer vertraulichen Note für Erzbischof Kardinal Döpfner fest, dass der Vorfall aufgrund der Vorgeschichte des Priesters nicht leichtgenommen werden dürfe. Der Priester dürfe jedoch weiter aushilfsweise in der Seelsorge tätig sein, da er mit Ministranten nur im Gottesdienst und im Beisein des Mesners Kontakt habe. Der Priester, der diese Vorwürfe bestritt, solle zudem auf die Ministrantenarbeit verzichten. Nachdem der Vater des missbrauchten Ministranten mit dieser Lösung nicht einverstanden war, wurde der Priester an einen anderen Ort versetzt, wo er in einem Altenheim und in einer Justizvollzugsanstalt tätig war. Dieser Sachverhaltsteil ergibt sich ausschließlich aus den persönlichen Unterlagen des damaligen Generalvikars Dr. Gruber. Ab Mitte der 1970er Jahre wurde der Priester nur noch nebenamtlich in der Justizvollzugsanstalt eingesetzt.“ (S. 458)

Fall 7: Ende der 1940er beschwert sich ein Pfarrer über seinen Kaplan; nämlich über den „nicht einwandfreien Umgang des Priesters mit Mädchen der 4. Hochschulklassen“ (S. 459), er habe diese Jugendlichen auch mit aufs Zimmer genommen. Bei einer Unterredung bestreitet der Kaplan das; nur einmal habe ihm ein Kind etwas gebracht. Kurze Zeit später wird er von Generalvikar Buchwieser zum Direktor eines Kinderheims ernannt. Neue oder schwerwiegendere Vorwürfe gab es offenbar nicht; dennoch wirkt es extrem unklug und fahrlässig, ihn ausgerechnet auf eine solche Stelle zu setzen.

Fall 9: Im Priesterseminar hat Ende der 1940er ein Kandidat irgendwelche Verbindungen zu jugendlichen Mädchen, wird aber am Ende trotzdem geweiht. Anfang der 1950er bittet dieser Priester Generalvikar Buchwieser um seine Versetzung, „da durch Unvorsichtigkeiten hervorgerufene Spannungen sein seelsorgerisches Arbeiten erschweren würden“ (S. 461), und wird auch versetzt; es wird nicht klar, was das für Spannungen sind. Mitte der 1950er wird er zu zehn Monaten Gefängnis wegen Unzucht mit Kindern verurteilt. (Die drei Kinder waren zehn bis elf Jahre alt.) Nach der Haftentlassung hält er sich drei Monate in einem Kloster auf, und kommt dann in eine Gemeinde, wo er unter der Aufsicht des Ortspfarrers stehen soll. „Ein Jahr später hält Generalvikar Dr. Fuchs fest, dass der Priester die Gemeinde verlassen müsse, da er erneut zwei Mädchen berührt habe. Generalvikar Dr. Fuchs suspendierte den Priester noch im selben Monat von allen Handlungen der Weihegewalt. Parallel dazu erfolgte die Anweisung, dass er sich unverzüglich in ein Kloster zu begeben habe. Es folgten ein Aufenthalt in einem weiteren Kloster sowie diverse therapeutische Behandlungen.“ (S. 462) Ärztlicherseits wird ihm schließlich bescheinigt, er könne wieder eingesetzt werden, aber ohne Kontakt zu Kindern. Das Erzbistum ist jedoch nicht überzeugt davon; Generalvikar Dr. Fuchs schreibt dem Pfarrer an seinem Therapieort: „[Der Priester] ist sexuell krankhaft überreizt und hat sich wiederholt mit Schuldmädchen verfehlt. Weder eine längere Freiheitsstrafe noch kirchliche Maßnahmen hätten auf die Dauer eine abschreckende Wirkung. Auch eine Behandlung in der […] Nervenklinik brachten keinen Erfolg. […] Bei den bisherigen Erfahrungen mit den häufigen und hartnäckigen Rückfällen sind wir sehr in Sorge.“ (S. 463) Er wird wieder in einem Kloster untergebracht, und Dr. Fuchs ordnet „unerbittliche Strenge“ und „äußerste Vorsicht“ ihm gegenüber an (S. 463). Nachdem er in ein anderes Kloster versetzt wurde, wird er wieder wegen Unzucht mit einem Kinde (diesmal einer Zehnjährigen) zu einer Haft von neun Monaten verurteilt. Er ist dann wieder im Kloster und in ärztlicher Behandlung, versucht aber wieder trotz der Auflagen, Kontakte mit Kindern anzuknüpfen, was Generalvikar Defregger zu verhindern versucht. Dann stirbt er unerwartet.

Fall 10: Anfang der 1950er erhebt eine Schulleiterin gegen einen Kaplan den Vorwurf der sexuellen Nötigung gegenüber Achtklässlerinnen. Sein Pfarrer verteidigt ihn bei Generalvikar Buchwieser, die Schulleiterin sei kirchenfeindlich eingestellt. „Die Schulleiterin selbst habe dem Pfarrer gegenüber erklärt, das Verhalten des Kaplans sei ihr ‚zu väterlich und zu kameradschaftlich erschienen, aber es sei keineswegs sexuell betont gewesen.‘ Der Kaplan solle eine Pfarrei bekommen, so der Pfarrer, die seine ausgezeichneten Begabungen und seinem überaus eifrigen und gesegnetem priesterlichen Wirken entspreche. Kurz darauf bestätigte die Klassenleitung der besagten 8. Klasse gegenüber dem Erzbischöflichen Ordinariat, dass das Verhalten des Kaplans gegenüber den Schülerinnen nicht zu beanstanden sei.“ (S. 465) Das Erzbistum gab sich damit zufrieden und ermittelte nicht weiter; fünf Jahre später wurde der Priester Dekanatsjugendseelsorger. Neue Vorwürfe gab es nicht.

Fall 11: „Anfang der 1950er Jahre wurde der Priester wegen Unzucht mit Kindern in Tateinheit mit Unzucht mit Abhängigen und schwerer Unzucht mit Männern zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Der Priester hatte über einen längeren Zeitraum hinweg zwei 13- und 15jährige Flüchtlingsjungen, die gemeinsam mit ihrer Mutter und zwei weiteren Geschwistern bei ihm im Pfarrhaus einquartiert waren, mehrfach dazu gezwungen, sich vollständig zu entkleiden, um ihre nackten Körper sodann zu betrachten und zu betasten.“ (S. 465f.) Das Erzbistum bemühte sich um seine bedingte Begnadigung (begründet mit der Verschrobenheit und psychischen Krankheit des Priesters), die zunächst abgelehnt wurde; nach einem halben Jahr wurde ihm jedoch die Reststrafe erlassen. Er sollte gemäß dem Gnadengesuch eigentlich in einem Kloster untergebracht werden, wurde aber wieder in der Seelsorge, inklusive Religionsunterricht, eingesetzt, wobei er von einem Pfarrer überwacht werden sollte.

Fall 12: Mitte der 1950er wurde dem Erzbistum gemeldet, dass ein Priester in der Vergangenheit ein Verhältnis mit einem 16jährigen Mädchen gehabt habe. Interessant ist es, wie der Dekan gegenüber Generalvikar Fuchs die Situation in der Pfarrei beschreibt:

„Die beiden Parteien in [der Pfarrei] sind ganz durchsichtig, jede hat ihre beiden Flügel. Die scheinbar größere Pro Pfr. Partei setzt sich zusammen aus:
1. willigen Ignoranten, 2. Diabolischen Wissern, deren es in [der Pfarrei] viele geben kann, die ein Alibi für ihre eigenen widrigen sittlichen Anschauungen finden, 3. gutmeinenden Wissern, die nach falsch kath. Art meinen, alles vertuschen zu müssen.
Die Contra-Pfr. Partei wiederum setzt sich zusammen aus:
1. der betr. Clique, 2. Aus wirklichen Wissern die eben reinen Tisch und Ruhe und Sauberkeit in [der Pfarrei] haben wollen,
Dass bei der bekannten demagogischen Art und Bezauberung die Pro Partei zZ hochsteht ist klar; vielfach ist es einfach auch Dorfmassengeist, der keine Unehre übers Dort kommen lassen will, ähnlich wie bei Vorkommnisses sittlicher Art in der Schule, die Eltern gegen Lehrer und Polizei zusammenhalten.“
(S. 470)

Die junge Frau gab jedoch schließlich eine eidesstattliche Erklärung ab, kein Verhältnis mit dem Priester gehabt und nichts dergleichen verbreitet zu haben, und der Priester blieb noch für die nächsten zehn Jahre in der Pfarrei.

Fall 13: „Mitte der 1940er Jahre ging im Erzbischöflichen Ordinariat ein Schreiben ein, in dem detailliert erläutert wurde, warum der Priester nach dem Krieg nicht mehr in seine Gemeinde zurückkehren solle. Keiner der Gemeindemitglieder wünsche sich seine Rückkehr, in der Pfarrei habe er nicht die geringsten Sympathien. Erwähnt wurden darin auch ‚vielfache Entgleisungen gegenüber Kindern‘ bei der Erteilung von Religionsunterricht. Um welche Art von Entgleisungen es sich dabei handelte, wurde in dem Schreiben jedoch nicht dargelegt. Aus der Personalakte ergibt sich nicht, ob diesem Vorwurf vonseiten des Erzbischöflichen Ordinariats in irgendeiner Weise nachgegangen wurde.“ (S. 471) (Waren die Entgleisungen nur Gemeinheiten, Wutanfälle, oder vielleicht unzüchtige Berührungen oder Kommentare…?) Mitte der 1950er gab es dann jedoch konkrete, schwerwiegendere Vorwürfe, die der Priester auch eingestand, nämlich Missbrauch von zwei 14jährigen Jungen: „Er habe die Jungen zu einem Badeausflug eingeladen. Dort sei er sehr zärtlich zu den Jungen gewesen und habe sie ‚abgebusselt‘. Danach habe der Priester die Jungen zu einer mehrtägigen Bergwanderung mitgenommen. Sie hätten zusammen zwei Nächte lang auf einer Almhütte übernachtet. Nachts habe der Priester die Jungen dazu aufgefordert, sich zu entkleiden, er
habe mit ihnen über das Thema Aufklärung gesprochen, sie dabei berührt. Er habe ihnen erklärt, dass ‚dies‘, wenn man es ernst meine, keine Sünde sei. Im Nachgang habe der Priester gegenüber den Jungen keinerlei Reue gezeigt und sich bei ihnen auch nicht entschuldigt.“
(S. 472) Der Priester zeigte sich reuig, trat von seinem Amt zurück. „Der Priester wurde verpflichtet, sich in ein Kloster zurückzuziehen, ihm wurde zeitweise die Cura entzogen und darüber hinaus auch untersagt, alle priesterlichen Funktionen mit Ausnahme der Zelebration der Stillen Heiligen Messe auszuüben. Das Kloster durfte der Priester nur mit Erlaubnis des Priors verlassen.“ (S. 472f.) Er sollte dann jedoch wieder in die Seelsorge zurückkehren und wurde nach einigen Monaten an einem anderen Ort als Vikar eingesetzt, war jedoch unzufrieden mit seiner Behandlung. Mitte der 1960er wurde er wieder Pfarrer und erteilte auch Religionsunterricht.

Fall 14: „Mitte der 1950er Jahre gingen im Erzbischöfliche Ordinariat Beschwerden ein, der Priester habe ‚die Kameradschaft‘ mit der Jugend, ‚in einigen Fällen in ein intimes Verhältnis‘ gebracht. Er habe junge Männer mit Alkohol und Süßigkeiten zu sich gelockt und versucht, diese mit runtergelassener Hose ‚unter Verherrlichung der Homosexualität für seine Zwecke zu gewinnen‘. Mit einem 20jährigen Jungen habe er sich bei einer Party im Zimmer eingesperrt, ihm die Hose ausgezogen und an seinem Penis manipuliert. Das Gleiche habe er während eines Zelturlaubs auch bei einem 18jährigen Jungen gemacht.“ (S. 475) Der Priester leugnete die Vorwürfe größtenteils, gab nur zu, sich vielleicht zu ungezwungen gegenüber den Jugendlichen verhalten zu haben. Aus seiner Pfarrei erhielt er viel Unterstützung, die jungen Männer wurden als Denunzianten bezeichnet, ihr Verhalten als Racheakt. „Sieben Monate nach Eingang der Meldungen beim Erzbischöflichen Ordinariat wurde der Priester amtsgerichtlich wegen eines Vergehens der Unzucht zwischen Männern zu einer Bewährungsstrafe von drei Monaten verurteilt. Das Gericht sah zwar nur einen Vorwurf gegenüber einem 18jährigen Jungen als bewiesen an, hielt in seinem Urteil zu einem anderen Vorwurf aber fest, dass der Priester dessen ‚im aller höchsten Grade nach wie vor dringend
verdächtig‘ sei. Ausweislich der Urteilsgründe leugnete der Priester jedwede unzüchtige Handlung und gab an, dass es sich um eine Verschwörung gegen ihn handle.“
(S. 477) Er wurde vorübergehend in den Ruhestand versetzt, aber dann wieder ganz normal in der Seelsorge eingesetzt.

Fall 15: Ein Priester aus einer anderen Diözese wollte Mitte der 1950er nach München-Freising wechseln. Generalvikar Dr. Fuchs erkundigte sich bei seiner vorigen Diözese und erfuhr, dass er eben eine Zuchthausstrafe von dreieinhalb Jahren wegen homosexueller Handlungen mit Jugendlichen verbüßt hatte. Außerdem gab es ein kirchenrechtliches Verfahren gegen ihn und ein Zelebrationsverbot war verhängt worden. Er kam nach München-Freising, ohne Aufgaben in der Seelsorge zu übernehmen, erhielt aber nach einer Weile immerhin wieder die Zelebrationserlaubnis. Er wechselte schließlich wieder in eine andere Diözese, und wurde in seiner Ursprungsdiözese schließlich kirchenrechtlich verurteilt. Nach einer weiteren staatlichen Verurteilung wegen einer Sexualstraftat wurde er vom Heiligen Stuhl laisiert. Hier sieht es eigentlich nicht nach einem Fehlverhalten des Erzbistums München-Freising aus; man gab ihm keine wirkliche kirchliche Position, sondern beherbergte ihn nur vorübergehend, während ein kirchliches Verfahren gegen ihn noch lief.

Fall 16: Hier geht es um einen Priester, über den Mitte der 1950er, während er im Urlaub war, Gerüchte aufkamen, er wäre im Gefängnis, weil er ein zwölfjähriges Mädchen nach der Beichte vergewaltigt habe. Der Priester nahm sich einen Rechtsanwalt und ging gegen diese Gerüchte vor. „Der zuständige Dekan wandte sich diesbezüglich an das Erzbischöfliche Ordinariat und teilte mit, er könne kaum glauben, dass an den Gerüchten etwas dran sei, obwohl sehr viel geredet werde und sicher auch ‚eine gewisse Unvorsichtigkeit seitens‘ des Priesters vorliege. Was der Dekan mit ‚Unvorsichtigkeit‘ meinte, lässt sich den Akten nicht entnehmen.“ (S. 480) Das Erzbistum tat hier eigentlich nichts (außer den Priester zu einer Unterredung einzuladen, über die nichts weiter in den Akten vermerkt ist); vermutlich haben die Ersteller des Gutachtens den Fall aufgenommen, weil sie der Ansicht waren, dass das Erzbistum hätte genauere Nachforschungen anstellen sollen, was es mit diesem mutmaßlichen unvorsichtigen/verdächtigen Benehmen auf sich habe, und ob an den Gerüchten von der Vergewaltigung etwas dran sein könnte, auch wenn der Priester nicht im Gefängnis war. Weiter steht jedoch im Gutachten nichts (z. B. dass sich das mutmaßliche Opfer oder dessen Familie gemeldet oder die Polizei ermittelt hätte). Der Priester war weiterhin ganz normal tätig.

Fall 17: Der Betreffende kam Anfang der 1950er ins Priesterseminar von München-Freising; zuvor war er aus nicht genau geklärten Gründen (angeblich politische) im Ausland gewesen. Er erhielt noch im selben Jahr die Diakonenweihe. Die Priesterweihe wurde ihm von Kardinal Wendel jedoch verweigert, weil er etliche erfolglose Bewerbungen in anderen Priesterseminaren verschwiegen hatte. Er wurde dann als Religionslehrer eingesetzt. Dann gab es jedoch staatliche Ermittlungen gegen ihn wegen sexuellem Missbrauch, und er setzte sich ins europäische Ausland ab. „Generalvikar Dr. Fuchs teilte dem Generalvikar des Aufenthaltsortes des Diakons mit, dass dieser, sollte er im dortigen Ordinariat vorstellig werden, aufgefordert werden solle, unverzüglich in die Erzdiözese München und Freising zurückzukehren. Der Diakon wandte sich daraufhin von seinem Aufenthaltsort aus an Generalvikar Dr. Fuchs und teilte diesem mit, dass er nach Rücksprache mit zwei kirchlichen Persönlichkeiten‘ – die Identität dieser Personen lässt sich den Akten nicht entnehmen – den Entschluss gefasst habe, den Ausgang der ‚Sache‘ im Ausland abzuwarten. Zudem bedankte er sich für die ihm gewährte – vermutlich monetäre – ‚Überbrückungshilfe‘. Der Diakon bewarb sich zudem von seinem Aufenthaltsort aus bei einer deutschen Diözese. Generalvikar Dr. Fuchs teilte dem dortigen Generalvikar jedoch mit, dass gegen den Diakon ein staatliches Verfahren wegen Verfehlungen mit Jugendlichen laufe. Kurz darauf wurde der Diakon schließlich bei der Einreise nach Deutschland verhaftet und kam daraufhin in Untersuchungshaft.“ (S. 482) Hier kann man Generalvikar Dr. Fuchs eigentlich nichts vorwerfen; er wollte den Verdächtigen dazu bringen, nach Deutschland zurückzukehren, und verhinderte, dass er sich bei einer anderen deutschen Diözese einschleichen konnte. Dass er ihm vermutlich etwas Geld schickte, lässt sich schon rechtfertigen; vielleicht war es als eine freundliche Geste gedacht, die ihn etwas geneigter machen sollte, der Forderung nachzukommen, nach Deutschland zurückzukehren. (Jedenfalls vermute ich das mal.) Ob die kirchlichen Persönlichkeiten im Ausland, die dem Diakon angeblich rieten, im Ausland zu bleiben, überhaupt existierten, ist fraglich; auf jeden Fall betreffen sie nicht das Verhalten des Erzbistums München-Freising. Er wurde dann wegen „Unzucht mit Kindern und gleichgeschlechtlicher Unzucht“ zu anderthalb Jahren Haft verurteilt; die Opfer waren elfjährige Schüler. Auf Betreiben der Erzdiözese ließ er sich laisieren. Später wurde er wieder straffällig.

Fall 19: Ein Ordenspriester war als Religionslehrer und Spiritual in einem Mädchenwohnheim tätig. „Ende der 1950er Jahre wurde er vom zuständigen Amtsgericht wegen erschwerter Unzucht zwischen Männern zu einer Haftstrafe von sieben Monaten verurteilt. Der Priester hatte einen ihm unbekannten 15jährigen auf dem Heimweg von der Schule angesprochen und unter einem Vorwand in das Mädchenwohnheim gelockt. Dort kam es zum sexuellen Missbrauch des Jungen.“ (S. 487) Nach seiner Entlassung teilte er dem Erzbistum mit, dass er in Absprache mit seinem Abt als Spiritual in einem Kloster tätig sei und Religionsunterricht gebe. „Generalvikar Dr. Fuchs intervenierte daraufhin bei den Ordensoberen, da er eine Gefährdung der Jugend aber insbesondere einen Skandal für die Kirche befürchtete, sollte die Polizei Kenntnis von diesem Einsatz erlangen. Kurz darauf wurde der Priester von seinem Orden von seinen Pflichten entbunden. Anfang der 1960er Jahre erbat der Priester die Zurückversetzung in den Laienstand. Dies führte jedoch einstweilig nur zu seiner Exklaustration [Befreiung vom Gemeinschaftsleben im Kloster]. Er wurde daraufhin der Aufsicht des Erzbischöflichen Ordinariats unterstellt. Dort wurde er nach Aktenlage nicht weiter eingesetzt.“ (S. 487f.) Hier kann man definitiv den Ordensoberen einen Vorwurf machen, dass sie ihn zuerst weiter einsetzen wollten, aber doch wohl kaum dem Erzbistum, das dafür sorgte, dass er keine seelsorgerlichen Aufgaben mehr übernahm. (Hier soll wohl auch unterstellt werden, dass es Generalvikar Dr. Fuchs vor allem nur darum ging, einen Skandal zu verhindern. Das erschließt sich mir aber nicht ganz – selbst wenn er sich z. B. in einem Brief an die Ordensoberen so ausgedrückt haben sollte, kann das Taktik gewesen sein, um sie zur Einsicht zu bringen. Aber Motive lassen sich jetzt nicht mehr feststellen.) Und dass man ihn nicht laisierte, wirkt in diesem Fall sogar ganz vernünftig – man hatte weiterhin ein Auge auf ihn, setzte ihn aber nirgends ein.

Fazit: Totale Gleichgültigkeit kann man der Erzdiözese (bzw. Kardinal Faulhaber, Kardinal Wendel, Generalvikar Buchwieser und Generalvikar Dr. Fuchs) nicht unterstellen, es gab Reaktionen, auch Suspendierungen und Kontaktverbote, allerdings in einigen Fällen auch zunächst bloß Versetzungen (bei denen man die Vergangenheit nicht bekannt werden lassen wollte), und Taten hätten wohl verhindert werden können, wenn z. B. in Fall 2 und Fall 6 die Verbannung ins Kloster endgültig und die Kontaktverbote streng kontrolliert gewesen wären. Täter wurden nach Abbüßung einer Strafe wieder eingesetzt, da man sie wohl für gebessert hielt. Es ist erstaunlich, dass z. B. der Priester in Fall 5 nach seiner Haftstrafe einfach wieder relativ normal eingesetzt wurde, wenn auch auf einer untergeordneten Position. In manchen Fällen – z. B. Fall 9 – merkt man allerdings ein gutes Bemühen des Erzbistums um Kontrolle über einen rückfälligen Täter. Und in Fall 17 kann ich keine Verfehlung sehen, im Gegenteil – man versuchte, den Täter dazu zu bringen, sich zu stellen, und er wurde dann laisiert. In vier Fällen (Fall 3, Fall 4, Fall 7, Fall 10) war bloß ein ungeklärter Verdacht wegen möglicher unsittlicher Berührungen und unangemessenem Umgang mit Kindern oder Jugendlichen da, und dafür hätte man jemanden zumindest nicht gleich suspendieren können o. Ä.

Benedikt und der Missbrauch: Wie belastend ist das Gutachten zu München-Freising?

Vor kurzem ist ein neues Gutachten zum sexuellen Missbrauch in den letzten Jahrzehnten im Erzbistum München-Freising herausgekommen; in den Zeitungen stand dazu vor allem etwas darüber, was es zu Kardinal Ratzinger / Benedikt XVI. zu sagen hat – natürlich, er ist der prominenteste der ehemaligen Münchner Bischöfe (und wahrscheinlich auch der bei den Journalisten unbeliebteste, aber das tut hier nichts zur Sache und ändert nichts daran, ob die Vorwürfe korrekt sind oder nicht). Ich dachte, es könnte nicht schaden, vor weiteren Klärungen zumindest die ihn betreffenden Vorwürfe zusammenzufassen. (Ich habe nicht das ganze 1900-seitige Gutachten gelesen, sondern vorerst nur die Zusammenfassung dieser paar Fälle. Vielleicht lesen hier ja Leute mit, die verunsichert sind und einfach nur gleich kurz und knapp und einigermaßen genau wissen wollen, was ihm vorgeworfen wird. Ob das Gutachten vielleicht an irgendeiner Stelle etwas falsch dargestellt, vielleicht sogar auf von anderen falsch geführte Akten zurückgegriffen haben könnte, o. Ä., ist eine völlig andere Frage, die ich auch nicht beantworten kann.)

[UPDATE: Wie ich erst jetzt gesehen habe, enthält das Gutachten ab S. 682 noch weitere Informationen zu Ratzinger und auch eine Zusammenfassung seiner ersten Stellungnahmen zu den einzelnen Fällen. Er bestreitet, in all diesen Fällen überhaupt angemessen informiert worden zu sein. Das ist durchaus möglich – vielleicht hat z. B. Generalvikar Dr. Gruber (der nicht nur hier negativ in Erscheinung tritt) ihm nur wenig mitgeteilt und ihm manches verheimlicht, was sich in den Akten nicht eindeutig widerspiegeln muss. Die Gutachter selbst ziehen angesichts seiner Stellungnahmen ihre Vorwürfe im ersten Fall eher zurück, in den übrigen drei Fällen aber eher nicht. Außerdem erwähnen sie hier noch, dass sie sechs weitere Fälle aus Kardinal Ratzingers Amtszeit nicht aufgeführt haben, weil sie ihm hier kein Fehlverhalten vorzuwerfen hatten. Ich gehe hier davon aus, dass die Stellungnahme von Benedikt selbst stammt und nicht z. B. von einem Mitarbeiter oder Helfer, was ja auch möglich wäre.]

Ratzinger war ja relativ kurz, von 1977 bis Anfang 1982, Erzbischof von München und Freising. Fassen wir also die vier ihn betreffenden Fälle in der Darstellung des Gutachtens zusammen:

Fall 1 (im Gutachten Fall 22): Ein Priester wurde in den 1960ern wegen homosexueller Handlungen mit 15- und 16jährigen Jungen zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt. [Heute wäre das evtl. gar keine Straftat mehr, weil das Schutzalter auch für homosexuelle Handlungen in den 1990ern auf 14 abgesenkt wurde. Evtl. könnte es wegen seiner Stellung als Priester aber noch nach § 174 StGB, Missbrauch von Schutzbefohlenen, verurteilt werden. Was ich damit sagen will: Wir müssen das Schutzalter gefälligst anheben – andere Länder haben mindestens 16 statt 14.] Nach der Abbüßung der Strafe wurde er von Ratzingers Vorgänger, Kardinal Döpfner, ins Ausland versetzt, wobei man offenbar nicht wollte, dass seine Verurteilung dort bekannt wurde. Er wollte wieder nach Bayern zurückkehren, und Mitte der 1970er wurde ihm das erlaubt, er sei an verschiedenen Stellen im Bistum eingesetzt worden. Dann kommt hier eine etwas mysteriöse Stelle im Gutachten, wo es heißt, ihm sei etwas später von Kardinal Ratzinger der Titel „Pfarrer“ verliehen worden. Nun ist „Pfarrer“ aber kein Ehrentitel, sondern ein Amt (Leiter einer Pfarrei), und hier steht nichts davon, dass er wieder eine eigene Pfarrei erhalten hätte. Führte er vielleicht einfach im Ruhestand ganz normal die Bezeichnung „Pfarrer im Ruhestand“, da er früher Pfarrer gewesen war? Ende der 70er wurde er nämlich unter Kardinal Ratzinger in den Ruhestand entlassen (ohne bestimmte Auflagen zu seiner künftigen priesterlichen Tätigkeit).

Die Frage ist hier, was Kardinal Ratzinger überhaupt wusste, und ob er ihm vielleicht irgendwelche Auflagen hätte machen sollen (kein Kontakt zu Kindern, oder überhaupt keine seelsorgerliche Tätigkeit etc.), oder ihn hätte entlassen statt in den Ruhestand versetzen sollen, aber doch viel eher, wieso Kardinal Döpfner den Priester nicht gleich nach seinem Vergehen aus dem Klerikerstand entlassen hat, statt ihn klammheimlich ins Ausland weiterzureichen. Besonders ein gewisser Generalvikar Dr. Gruber scheint hier keine rühmliche Rolle gespielt zu haben. Im Gutachten wird gesagt, Ratzinger habe von den Taten wissen müssen, weil er seine Ferien teilweise in der ehemaligen Pfarrei dieses Priesters verbracht habe, das wirkt aber wie eine etwas vorschnelle Schlussfolgerung. Laut Michael Hesemann habe dieser Urlaub erst im Jahr 1982 stattgefunden, also als Ratzinger schon in Rom tätig und nicht mehr Erzbischof in München war. Auch, dass Dr. Gruber bei der Versetzung in den Ruhestand diesem Priester Dankesgrüße auch im Namen des Kardinals ausgerichtet hat, wirkt nicht sehr spektakulär, sondern eher wie eine Formsache.

Hier lässt sich aus meiner Sicht nicht viel sagen; es kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass ein Bischof bei Amtsantritt sofort die Vergangenheit aller Priester in seinem Bistum nachprüft.

[Update: Ich habe jetzt noch weiter im Gutachten gelesen, wo die Gutachter auch zur Stellungnahme von Benedikt kommen. Tatsächlich gibt er an, dass er von der Tat, die lange vor seinem Amtsantritt geschah, nichts gewusst hat; dass er seinen Urlaub nur einmal, im August 1982, im Gebiet der Erzdiözese München-Freising, und das nicht am früheren Tätigkeitsort des Priesters, verbracht hat; dass die Verleihung des gewöhnlichen Titels „Pfarrer“ kurz vor dessen altersbedingter Ruhestandsversetzung definitiv keine besondere Anerkennung für den Priester gewesen sei, sondern ein Routinevorgang; ebenso wie der Dankesbrief des Generalvikars zur Versetzung in den Ruhestand. Die Gutachter erklären, dass sie ihn angesichts dieser glaubhaften Darlegungen in diesem Fall für entlastet halten.]

Fall 2 (im Gutachten Fall 37): In den 1950ern wechselte ein Priester, ein Neffe eines anderen Bischofs, in die Erzdiözese München-Freising. In den 70ern machte Generalvikar Dr. Gruber eine Aktennotiz über diesen Priester: „auch wegen seiner Vergangenheit, über die einiges durchgesickert sei (die freilich keinen strafrechtlichen Tatbestand im Zivilbereich darstelle, sondern lediglich im kirchlichen Bereich)“; ganz unbescholten kann er also nicht gewesen sein, und irgendwelche Zölibatsverstöße müssen schon vorgekommen sein. Dann gab es Missbrauchsvorwürfe gegen ihn; damals, Anfang der 70er, war auch noch Kardinal Döpfner Erzbischof von München-Freising. Das Landratsamt entfernte ihn wegen dieses Verdachts aus dem Schuldienst. Er wurde dann wegen zweifacher versuchter Unzucht mit Kindern und sexueller Beleidigung zu einer Bewährungsstrafe von sieben Monaten und einer Geldstrafe von 2000 DM verurteilt. Er wurde jedoch weiter in der Seelsorge eingesetzt, und sein Pfarrer setzte sich auch dafür ein, dass er wieder in der Schule tätig werden dürfe. Generalvikar Dr. Gruber wollte jedoch offenbar erst einmal Gras über die Sache wachsen lassen; der Priester erhielt schließlich seine eigene Pfarrei, sollte aber nicht unterrichten. Fünf Jahre nach seiner ersten Verurteilung wurde er erneut verurteilt, wegen Kindesmissbrauchs und Exhibitionismus – und zwar nur zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 36 DM. Und hier kommen wir zu einer belastenden Stelle; im Gutachten heißt es:

„Der Strafbefehl wurde dem Erzbischöflichen Ordinariat übermittelt. In der persönlichen Ablage/Handakte des Generalvikars Dr. Gruber findet sich ein verschlossener Umschlag mit der Aufschrift ‚Nur vom Generalvikar oder vom Personalreferenten zu öffnen!“. Darin befindet sich eine Kopie des Strafbefehls mit folgendem handschriftlichen Vermerk:
‚Habe heute den Herrn Kardinal [Anm. Ratzinger] nochmal über Vorgang informiert und auch über das Ergebnis des Gesprächs, das […] mit Pf. […] führte. Der Herr Kard. ist einverstanden, daß Pf. […] in seiner Stellung verbleibt, da ein Skandal nicht zu befürchten ist.‘

Im Folgejahr wurde in der Pfarrei das Gerücht verbreitet, der Priester habe ‚wieder Dreck am Stecken‘. Daraufhin reichte dieser ein Resignationsgesuch ein, das der damalige Erzbischof, Kardinal Ratzinger, umgehend annahm. Offiziell erfolgte die Resignation aus ‚persönlichen Gründen‘. Vonseiten des Erzbischöflichen Ordinariats wurde der Priester dazu aufgefordert, den tatsächlichen Grund für seine Resignation vor Ort nicht zu kommunizieren. Drei Monate später und damit knapp sieben Jahre nach dem Landgerichtsurteil und knapp zwei Jahre nach der Strafbefehlsverhängung wurde der Priester erneut und damit zum dritten Mal wegen eines vollendeten oder versuchten Sexualdelikts, in diesem Fall wegen versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern und Erregung öffentlichen Ärgernisses, zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Die Vollstreckung wurde abermals zur Bewährung ausgesetzt.“ (S. 552f.)

Wenn das stimmt, ließ Kardinal Ratzinger einen verurteilten Missbrauchstäter vorerst im Amt, auch wenn er zumindest bei dessen Rückfall seinen Rücktritt sofort annahm und vielleicht von der ersten Verurteilung unter Kardinal Döpfner nichts wusste. Es erscheint jedoch möglich, dass er von Dr. Gruber nur unvollständig oder falsch informiert wurde, und nur deshalb sein Einverständnis gab.

Der Priester begab sich in psychiatrische Behandlung, und nachdem ihm bald positive psychiatrische Gutachten ausgestellt wurden, wurde er mit Einverständnis des Bayerischen Kultusministeriums wieder als Religionslehrer eingesetzt. In den 90ern ging er in den Ruhestand.

Fall 3 (im Gutachten Fall 40): Ein ausländischer Priester (ein Verwandter des dortigen Bischofs) wurde wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, und von seiner Diözese nach München geschickt, vorgeblich für ein Promotionsstudium. Und hier heißt es jetzt:

„Ausweislich einer Aktennotiz des Generalvikars Dr. Gruber führte der Priester persönliche Gespräche mit diesem, dem Personalreferenten und dem damaligen Erzbischof, Kardinal Ratzinger. In der Folgezeit wurden das Aufnahmegesuch und die Möglichkeiten eines Einsatzes des Priesters in der Erzdiözese München und Freising in mehreren Ordinariatssitzungen sowie in der Personalkommission, was sich ebenfalls einer Aktennotiz des Generalvikars Dr. Gruber entnehmen lässt, thematisiert. Man beschloss, den Priester als Kaplan in der Seelsorgemithilfe einzusetzen. Dabei sollte er allerdings keinen Religionsunterricht an der Schule erteilen. Im Rahmen dieses Entscheidungsprozesses setzte der Generalvikar der ausländischen Diözese den Münchner Personalreferenten von der zwischenzeitlich erfolgten Verurteilung des Priesters schriftlich in Kenntnis und sprach sich dabei zugleich für dessen Einsatz in einer kleinen Pfarrei im Münchner Umland aus, wo dieser ’stärker in die Seelsorge verankert‘ sei. Das durch den Münchner Personalreferenten als ’streng vertraulich‘ gekennzeichnete Schreiben wurde ausweislich der darauf befindlichen handschriftlichen Anmerkung dem Erzbischof, dem Generalvikar und dem Personalreferat zur Kenntnis gebracht. Mit Anweisungsschreiben, das zwei Wochen nach der Verurteilung des Priesters erging, wurde dieser als hauptamtlicher Pfarrvikar in einer kleinen Pfarrei in der Nähe von München angewiesen. Zur Erteilung des Religionsunterrichts heißt es im vorbenannten Schreiben wie folgt:
‚Da Sie diese Stelle gemäß der Absprache mit Ihrem zuständigen Ordinarius zugleich mit einem Studienauftrag übernehmen, werden Sie von der Erteilung des Religionsunterrichts freigestellt.'“
(S. 563)

Dort hielten es die Leute jedoch nicht lange mit ihm aus, und er wurde bald versetzt, dann noch einmal versetzt. In dieser Pfarrei meldete jedoch schließlich der Pfarrer, man habe den Priester beim Nacktbaden gesehen und er habe Kontakte zu Ministranten angebahnt. U. a. schreibt der Pfarrer:

„Obwohl das sonst immer ohne mein Wissen ging, haben Sie mich einmal geradezu auffallenderweise angesprochen, Sie würden mit den Ministranten wegfahren. Nachträglich habe ich das Gefühl, Sie wollten mich nur testen, ob ich über Ihren Fall informiert bin. Leider hatte ich damals noch keine Ahnung. Jetzt bin ich nicht mehr bereit, ein solches Risiko einzugehen.“ (S. 566)

Zuerst wurde ihm vom Bistum die Zelebration untersagt, dann wollte man ihn entlassen und zurück in seine Heimat schicken, was er jedoch verweigerte. Er wurde also beurlaubt und blieb nur für sein Promotionsstudium noch in München. In den 90ern, als schon Kardinal Wetter in München war, wurde er für kurze Zeit wieder angestellt, es gab wieder Probleme (offenbar war er sehr unbeliebt), schließlich war er arbeitsunfähig und man teilte ihm eine Wohnung zu, weil er immer noch nicht in seine Heimat zurückkehren wollte.

Kardinal Ratzinger hat den Priester am Ende also aus der Seelsorge entfernt; aber wie viel wusste er schon vorher? Wusste er, als er ihn nach München kommen ließ, schon von der Verurteilung im Ausland? Wenn ja, dann ordnete er zumindest an, dass er nicht in der Schule Kontakt zu Kindern haben sollte, gab ihm aber trotzdem eine geachtete Stellung als Seelsorger. Vielleicht wusste er es aber tatsächlich nicht und verließ sich auf die Geschichte mit der Promotion.

Fall 4 (im Gutachten Fall 42): Anfang der 80er erhielt das Erzbistum einen Hinweis, dass ein Priester anzügliche Fotos von 10-13jährigen Mädchen aufgenommen habe, u. a. im Zusammenhang von Theaterproben. Der Personalreferent des Bistums informierte sich in der Pfarrei darüber.

„Bei dieser Gelegenheit wurde auch ein Resignationsgesuch des Priesters verfasst, das am Folgetag im Erzbischöflichen Ordinariat einging. In der Ordinariatssitzung, die nur einen Tag später stattfand und an
der der damalige Erzbischof Kardinal Ratzinger nicht teilnahm, wurde der Fall des Priesters behandelt. Im diesbezüglichen Protokoll ist hierzu Folgendes festgehalten:
‚DK […] informiert über die Situation bezüglich [des Priesters] in […]. [Der Priester] ist von sich aus bereit, sofort auf die Pfarrei […] zu resignieren und nach einem vorübergehenden Urlaub eine andere Seelsorgssteile (Anm.: richtig wohl ‚Seelsorgsstelle‘) zu übernehmen.
Es besteht Einvernehmen, die Resignation von [dem Priester] mit Wirkung vom 03. Juni dem Herrn Kardinal zu empfehlen.
[Der Priester] soll nach einem Kurzurlaub voraussichtlich zum […] die Pfarrei […] als Wohnsitz erhalten mit Anweisung zur Seelsorgsmithilfe.'“
(S. 569f.)

Eine Münchner Zeitung berichtete über den Fall; da heißt es u. a.:

„Eine 13jährige zur [Tageszeitung]: ‚Ich mußte mir ein kurzes Kleid anziehen. Dann wickelte der Pfarrer einen kleinen Gummiball in meine Unterhose.‘ Ein 12jähriges Mädchen: ‚Mir hat er auch einen Ball ins Höschen gestopft und mich dabei betatscht. Ich wurde dann in Unterwäsche geknipst.'“ (S. 570)

Im Bistum wurde beschlossen, dass der Priester nun doch nur in der Altenheim- und Krankenhausseelsorge eingesetzt werden sollte. Schließlich gab es auch einen Strafbefehl – 60 Tagessätze zu je 70 DM.

„Eine im Nachhinein zu einem im Einzelnen nicht genau bekannten Zeitpunkt erstellte und bei den Akten befindliche Chronologie mit Auszügen aus Protokollen der Ordinariatsratssitzungen ist mit dem handschriftlichen Zusatz versehen:
‚Ratz. wusste erst ab Versetzung‘
Der Urheber dieser Bemerkung ist nicht bekannt.“
(S. 572)

Hier wusste Kardinal Ratzinger also offenbar erst nicht viel, und wollte dann diesen Priester zumindest von Kindern fernhalten und nur noch in der Krankenhaus- und Altenheimseelsorge einsetzen. Trotzdem: Wieso wurde er nicht aus dem Klerikerstand entlassen oder suspendiert? Wieso nur eine solche Versetzung? Auch wenn es „nur“ anzügliche Fotos waren, ist ein solcher Mann offensichtlich kein geeigneter Seelsorger. Oder wusste er auch hier nicht wirklich Bescheid und wurde von seinen Mitarbeitern nur benutzt, um deren vorgefasste Beschlüsse abzusegnen?

Um das zusammenzufassen: Kriminelles ist vonseiten Ratzingers nichts geschehen, keine Vertuschungsversuche vor dem Staat o. Ä.; aber wieso wurden jedenfalls die verurteilten Priester in den Fällen 2-4 nicht gleich aus dem Klerikerstand entlassen oder suspendiert, oder einfach zu einem zurückgezogenen Leben hinter Klostermauern ohne seelsorgerliche Aufgaben verdonnert? Er selbst gibt in seinen Stellungnahmen an, sich nicht an diese Vorfälle zu erinnern, obwohl sein Gedächtnis noch sehr gut sei; er sei also wohl nicht informiert worden. Hier gibt es jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder, seine Mitarbeiter, insbesondere Dr. Gruber, haben ihm einiges verheimlicht, z. B. weil sie fürchteten, er wäre weniger nachsichtig als Kardinal Döpfner vor ihm, o. Ä., und selber die Täter beschützen wollten; oder aber, sein Gedächtnis ist nicht mehr so verlässlich, wie er meint, und er will sich vielleicht auch gar nicht erinnern (auch eine bewusste Lüge wäre theoretisch möglich, aber das will ich ihm mal nicht unterstellen).

Meeting with Benedict XVI on 10 August 2019 (cropped).jpg

Tja, was soll man nun dazu sagen? Ein paar Gedanken:

  • Wir sollten nicht den Fehler machen, die Situation nur danach zu beurteilen, dass Ratzinger / Benedikt ein sympathischer, gütiger alter Mann ist, der auch irgendwie zu unserer Seite gehört. Ja, manchen Leuten wird man es schwerer zutrauen, etwas Falsches zu tun. Aber nein, wir können die Situation nicht so reflexhaft beurteilen (wie das leider manche Leute z. B. bei gloria.tv oder kath.net machen).
  • Ich habe schon die Mutmaßung gelesen, dass die Medien sich vor allem auf Ratzinger stürzen, um davon abzulenken, wie viel schlechter gewisse spätere Münchner Bischöfe wegkommen würden, und das mag sein, ändert aber auch nichts an den konkreten Vorwürfen gegen Ratzinger, um die es hier geht.
  • Ratzinger hat später als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst viel gegen Missbrauch getan und unter seinem Pontifikat wurden einige hundert Priester deswegen aus dem Klerikerstand entlassen. Aber das muss dem hier nicht widersprechen; es ist gut möglich, dass ihm erst im Lauf der Zeit bewusst geworden ist, wie schlimm solche Opfer leiden und wie oft solche Täter rückfällig werden, und dass man härter dagegen vorgehen muss.
  • Man kann wahrscheinlich davon ausgehen, dass die meisten Leute in den 70ern und 80ern relativ naiv in Bezug darauf waren, wie therapierbar Sexualstraftäter wären. Wahrscheinlich gab es damals auch kein so großes Bewusstsein dafür, wie schlimm die Nachwirkungen solcher Taten für die Opfer noch sind. (Damals gab es ja auch unter Linksgrünen Bestrebungen, „einvernehmlichen Sex mit Kindern“ zu „entkriminalisieren“; da traute man sich vielleicht nicht mehr so ganz, das als schlimmste Perversion zu sehen.) Und besonders in kirchlichen Kreisen haben Verbrecher ja auch immer die Möglichkeit, andere quasi mit christlicher Barmherzigkeit zu erpressen: Es tut mir so leid, ich kehre um, ich habe mich völlig geändert, bitte nehmt den verlorenen Sohn wieder auf – oder wollt ihr sein wie die unbarmherzigen Pharisäer?
  • Was mich aber besonders geschockt hat: In allen diesen Fällen gab es gerichtliche Verurteilungen. (Wir haben hier keinen einzigen Fall, in dem – sagen wir – ein Generalvikar ein verängstigtes Kind eingeschüchtert und seine Familie vom Gang zur Polizei abgehalten hätte.) Der Staat war involviert, die Schuld war bewiesen. Und das Ergebnis? Kurze Bewährungsstrafen, sogar nur Geldstrafen, ein Mal (beim ersten Fall in den 60ern) eine kurze Gefängnisstrafe. Keiner dieser Verbrecher wurde vom Staat auf Dauer daran gehindert, Kindern zu schaden. Die Kirche musste sich überhaupt nur damit befassen, wo sie sie hinstecken sollte, weil sie nicht im Gefängnis steckten. Das ist schon krass. Und bei dem Priester im Fall 2 gab sogar das Kultusministerium wieder sein OK für den Einsatz des Priesters als Lehrer.

Meiner Ansicht nach wäre die Lösung für all das ja ganz einfach: Todesstrafe für Kinderschänder bei schwerem Missbrauch – und wenn nicht, dann wenigstens lebenslange Haft mit Sicherungsverwahrung ohne Aussicht auf Bewährung. Außerdem längere Gefängnisstrafen auch bei weniger schweren Fällen. Aber das werden wir leider so schnell nicht bekommen.