Gottesliebe und Gottes Liebe

Eins der ewigen Probleme für manche Christen ist: Man kann sich Gottes Liebe für einen nicht direkt vorstellen. Man fragt sich, wie Gott über einen denkt; man will sich gegenüber Gott nicht zu viel herausnehmen; man hat Angst vor Gott; man hat das Gefühl, man würde es Ihm nie recht machen können. Deshalb mal ein paar Gedanken dazu, damit man es sich besser vorstellen kann:

  • Die meisten Menschen haben schon andere Menschen, die es ehrlich gut mit ihnen meinen, ihnen zumindest in gewissem Maß helfen, meistens vor allem die Familie. Und selbst wer von Menschen misshandelt oder verlassen ist, kann darauf zählen, dass die Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, für alle Menschen zu beten oder ihnen Gutes zu tun, z. B. Nonnen, auch für sie beten und ihnen ggf. helfen würden. Und auch man selber kann sich in der Situation immer sagen: Auch ich will manchmal anderen Menschen Gutes und helfe ihnen, zumindest ein wenig. Nun könnte aber kein Mensch auch nur annähernd so wohlwollend und interessiert an anderen Menschen sein, wie Gott es ist; also muss Gott uns wirklich in extremem Maß Gutes wollen und sich für uns interessieren. „Oder ist wohl ein Mensch unter euch, der seinem Sohne, wenn er um Brot bäte, einen Stein darreichen wird? Oder wenn er um einen Fisch bäte, wird er ihm etwa eine Schlange darreichen? Wenn nun ihr, obgleich ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisset; wie viel mehr wird euer Vater, der im Himmel ist, denen Gutes geben, die ihn bitten?“ (Mt 7,9-11)
  • Liebe bedeutet grundsätzlich Wohlwollen (und Interesse, Beziehung, Vereinigung); Gott will wirklich, dass es uns am Ende gut geht; wenn Er jetzt Schlechtes für uns zulässt, hat das einen Grund und Er wird es am Ende vielfach wieder gutmachen. Wenn wir erst einmal im Himmel sind, wird alles Schlechte vergangen sein, das Leben wird ein einziger ewiger Moment der reinsten Glückseligkeit sein, die wir uns jetzt gar nicht vorstellen können.
  • Wenn man jetzt in diesem Moment existiert, heißt das, dass Gott einen jetzt in diesem Moment aktiv im Dasein hält und an einen denkt; sonst würde man wieder zu nichts werden.
  • Gott sieht einen gerne an und freut sich an einem, zumindest an den guten Eigenschaften, die man hat, und die hat jeder. Wir sind eben Seine geliebten Kinder. Er freut sich darüber, wenn man anderen etwas Gutes tut oder an Ihn denkt; Er freut sich auch an den moralisch neutralen guten Eigenschaften, die man hat, z. B. dass er einem schöne Augen oder einen klaren Verstand gegeben hat. Vielleicht hat man wenig großartige Eigenschaften, ist von Natur aus unintelligent, unsportlich, wankelmütig und unsicher. Aber dann wird Gott sich gerade darüber freuen, wie man sich trotz dieser schlechten Ausgangssituation bemüht.
  • Gott ist uns auch nicht böse, wenn wir zwischendurch mal entspannen müssen; Er sieht es gern, wenn wir auch mal Spaß haben. Natürlich will Er keine gleichgültigen Kinder, die sich vor allem um sich selber kümmern; Er ist stolz, wenn wir etwas für andere opfern, wie Eltern stolz sind, wenn ihre Söhne in einem gerechten Krieg für den Schutz anderer kämpfen (was diesen Eltern aber natürlich trotzdem weh tut; so würde auch Gott unsere Leiden nicht zulassen, wenn es nicht nötig wäre); aber Er will wirklich dass es einem gut geht, und das gehört auch mal dazu. Man sieht auch das wieder an sich selber: Wenn man z. B. mal einem Freund, der nicht viel Geld hat, zum Geburtstag ein größeres Geldgeschenk macht, will man auch nicht, dass er sich verpflichtet fühlt, damit wieder was für andere zu tun, sondern man will einfach, dass er sich damit mal was gönnt. So will auch Gott, dass wir mal Spaß haben, und dass wir uns an schönen Dingen freuen; auch an solchen scheinbar kleinen Dingen wie dem Blühen von Buschwindröschen und grünen Buchen im Mai. Natürlich will Er auch, dass wir uns an solchen Dingen freuen, die langfristig gut tun und erst mal anstrengend wirken können, z. B. dem Gebet, und ist auch stolz, wenn wir Spaß aufgeben, aber Er ist uns deswegen nicht böse, und Er bietet uns auch immer wieder solche kleinen Geschenke.
  • Keiner hat es wirklich „verdient“, zu Gott zu kommen, aber Er selbst befiehlt es uns.
  • Zu Liebe gehört Zärtlichkeit und Milde. Gott will zärtlich und sanft und geduldig mit uns sein.
  • Gott hat für jeden Menschen eineneigenen Schutzengel, einen mächtigen Geist, abgestellt, der einen an Leib und Seele beschützt.
  • Gott sieht uns, wie wir sind; d. h. Er macht sich nichts vor, wenn Er bei uns Lustlosigkeit oder Selbstsucht oder verletzten Stolz sieht, aber Er sieht auch jeden guten Entschluss, jedes gute Motiv, jede Bemühung.

Aber dann denkt man sich wieder: Ok, Gott mag mich lieben, aber ich erwidere Seine Liebe nicht so besonders gut. Daher:

Man muss sehr gut unterscheiden zwischen Todsünden, lässlichen Sünden und Unvollkommenheiten. Eine Todsünde ist eine Sünde in wichtiger Sache mit vollem Wissen und Willen; damit zerstört man die Liebe in einem. Es ist nicht so, dass Todsünden kaum je in der Welt vorkommen würden, aber die meisten Christen werden auch keine fünf Todsünden pro Tag begehen. Eine lässliche Sünde ist eine Sünde in geringfügiger Sache (auch mit Wissen und Willen) oder eine Sünde in wichtiger Sache ohne vollen Wissen und Willen. Eine Unvollkommenheit ist überhaupt keine Sünde; sie bedeutet eher, sich bei zwei nicht sündhaften Dingen für das weniger Vorbildhafte zu entscheiden; dass man es hätte noch besser machen können, aber nicht gemacht hat, dabei aber auch keine Pflicht verletzt hat.

Gott zu lieben heißt zunächst mal: Sich für Ihn zu entscheiden, wenn es zu einem wichtigen Konflikt zwischen Ihm und etwas anderem kommt, und den Kontakt zu Ihm nicht abzubrechen.

Gott ist ein Vater. Wenn man dem Vater den Tod wünscht oder seine Geschwister ständig auf boshafte Weise mobbt oder sich monatelang nicht meldet, zerstört man das Verhältnis zum Vater (Todsünde). Wenn man im Umgang mit ihm ab und zu ungerechtfertigterweise ungeduldig oder leicht verärgert ist, belastet man das Verhältnis ein bisschen, aber es ist definitiv nicht zerstört (lässliche Sünde). Und wenn man ihm kurz vor Weihnachten ein gewöhnliches Geschenk kauft, obwohl man sich auch monatelang vorher Gedanken hätte machen können und ihm ein absolut passgenaues Geschenk hätte machen können, freut er sich auch über das normale Geschenk und trägt einem nichts nach, weil man es noch hätte besser machen können (Unvollkommenheit). Anderes Beispiel für eine Unvollkommenheit: Wenn der Vater einem aufträgt, die Küche aufzuräumen und man tut genau das, freut er sich darüber. Wenn man die Küche aufräumt und einem dabei auffällt, dass auch mal das Zeug in der Ramschschublade dringend sortiert werden müsste, und man auch das noch tut, dann freut er sich noch mehr. Aber er würde es einem niemals nachtragen, das nicht getan zu haben.

Auch dass die Heiligen so viel besser waren als wir, muss uns nicht beunruhigen. Nehmen wir an, ein sehr guter, liebender Vater hat zwei Kinder. Das eine ruft ihn einmal in der Woche an, besucht ihn, wenn er im Krankenhaus liegt, zieht ihn in wichtigen Sachen zurate, schenkt ihm zum Vatertag einen Restaurantgutschein, ist ab und zu aber auch unfreundlich zu ihm ist und redet sich bei Familientreffen, auf die es keine Lust hat, gelegentlich heraus, und hatte schon einmal ein schweres Zerwürfnis mit ihm, weil es alkoholsüchtig war; das ist jetzt aber vorbei und es hat ehrlich um Verzeihung gebeten und sich mit der Familie wieder ausgesöhnt. Das andere wohnt noch bei ihm und nimmt ihm immer wieder, auch ohne gebeten zu werden, kleine Arbeiten ab, bei denen es merkt, dass sie ihm schwerfallen, will ihm immer wieder eine besondere Freude machen und organisiert daher z. B. überraschend einen Besuch seiner alten Freunde, ist immer rücksichtsvoll und ehrlich, ist nie beleidigt oder mürrisch, wenn es dem Vater etwas helfen muss, und vertraut ihm sehr vieles an. Da hat der Vater sicher ein innigeres Verhältnis zu dem zweiten Kind, aber er würde definitiv nicht auf die Idee kommen, den Kontakt mit dem ersten Kind abzubrechen und es aus der Familie zu verstoßen. Und das erste Kind muss sich auch nicht schuldig fühlen. (Erst recht wäre es schlecht, wenn das erste Kind dann dem zweiten Kind wegen seiner Gutheit und Vorbildhaftigkeit böse wäre, weil es nicht wollte, dass ein anderer besser ist als es selbst; das wäre wirklich eine Sünde. Man soll seine schlechten Eigenschaften und vergangenen Taten nicht hinwegreden, sondern einfach die bewundern, die es besser machen, und ihnen ab und zu auch nacheifern, und zumindest das Minimum erfüllen.)

Es ist angemessen, immer mehr und mehr für Gott tun zu wollen, weil Er so unendlich gut ist, aber um sich nicht von Ihm zu trennen genügt ein gewisses Minimum (das nicht total minimal ist, aber definitiv zu schaffen).

Gott wird von einem letzlich immer eine gewisse Buße und Sühne für seine Sünden wollen – wie auch der Vater, wenn man fahrlässig sein Auto zu Schrott gefahren hat, von einem wollen wird, dass man es ersetzt, auch wenn man um Verzeihung gebeten und sie erhalten hat. Aber Er gibt sich oft schon mit wenig zufrieden, und auch während man noch dabei ist, die Buße zu erfüllen, ist das Verhältnis schon wieder hergestellt.

Und Gott lässt sich, wenn man um Verzeihung bittet, nicht erst ewig bitten. Hier ist wichtig zu wissen: Liebesreue (vollkommene Reue) sorgt dafür, dass die Sünden schon vergeben werden, bevor man sie dann wirklich in der Beichte bekennt. Zur Liebesreue gehört: die innere Zerknirschung bzw. Abwendung von der Sünde, weil man damit den liebenden guten und gerechten Gott verachtet hat (das muss nicht gefühlsmäßig sein, es kommt auf den Willen an; Gefühle kann man nicht immer lenken), und der ehrliche Vorsatz, zumindest Todsünden nicht mehr zu begehen und sich von den nächsten Gelegenheiten zu Todsünden fern zu halten, und die begangene Todsünde in der Zukunft noch zu beichten (man muss sich nicht vornehmen, sie bei nächster Gelegenheit zu beichten, auch wenn das natürlich gut ist). Wenn Nichtkatholiken, z. B. einem anständigen Lutheraner, nicht bewusst ist, dass die Beichte wirklich etwas von Gott Gewolltes ist, können sie auch nur durch Liebesreue ohne bewussten Vorsatz zur Beichte die Sünden loswerden – man geht ja davon aus, dass sie, wenn ihnen das bewusst wäre, auch zur Beichte gehen würden, weil sie grundsätzlich Gott gehorchen wollen. Wenn man es nicht schafft, sich auch von lässlichen Sünden loszusagen, kann man trotzdem Reue für seine Todsünden haben und das grundlegende Verhältnis mit Gott wiederherstellen. Die Liebesreue kann auch noch mit Furcht vor Gottes Strafe vermischt sein, oder mit dem Wissen, dass man wahrscheinlich dieselbe Sünde wieder begehen wird; sie muss einfach trotzdem ehrlich gemeint sein. Und in der Beichte genügt selbst die Furchtreue, die eher zum großen Teil aus der Furcht vor Gottes gerechter Strafe hervorgeht, für die Vergebung; sie ist schon mal ein Anfang. „Gott ist mehr bereit, einem reuigen Sünder zu verzeihen, als eine Mutter, ihr Kind aus dem Feuer zu retten.“ (Hl. Pfarrer von Ars)

Gott will wirklich jeden Menschen retten und gibt ihm eine Chance. Man kann sich auch ansehen, wie Jesus mit den Leuten um Ihn herum geredet hat. Manchmal musste Er die Apostel zurechtweisen, auch hart zurechtweisen, aber dann war es wieder gut. Er war weiterhin geduldig mit ihnen und hat sie langsam an ihre Aufgabe herangeführt. Auf die Sünder wie Zachäus ist Er selber zugegangen und hat ihnen nicht ewig etwas vorgehalten, nachdem sie dann grundsätzlich Reue gezeigt hatten.

Wenn man bei manchen Heiligen sehr strenge Warnungen liest, kann es sein, dass man hier sagen muss: Ok, sie wollten eben lieber zu viel warnen, zu streng sein, als zu wenig, um die Leute sicher in den Himmel zu bringen – aber das kann eben auch mutlos machen. (Ich behaupte auch nicht, da die perfekte Balance gefunden zu haben, ich halte nur einfach die Gefahr der Mutlosigkeit für manche heute in unseren Kreisen relativ groß.) Und manchmal hatten diese Heiligen auch wirklich schlechte Zustände vor Augen, z. B. als Prediger an einem Fürstenhof mit viel Korruption, Machtstreben und Unzucht.

Gott hat Seine Gründe für alles, für wirklich alles. Am Ende wird alles gut sein, alles. Gott ist die überströmende Liebe; Er will uns trösten und zärtlich umarmen und uns vollkommen glücklich machen. „Und Gott wird alle Tränen von ihren Augen trocknen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Klage, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist dahingegangen. Und der auf dem Throne saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“ (Offb 21,4f.)

Heribert Jone über Skrupulosität und das Handeln gegen das skrupulöse Gewissen

Ich will in nächster Zeit mal wieder ein paar mehr Blogbeiträge bringen; vielleicht brauchen manche Leser ja Ablenkung während der Coronazeit. Heute mal nur ein Gastbeitrag zum Thema Skrupulosität von meinem Lieblingskasuisten: ein kurzer Auszug aus Heribert Jones „Katholische Moraltheologie“*, einem besonders für Beichtväter gedachten Handbuch von 1930.

Im Kapitel über das Gewissen schreibt Jone zum skrupulösen Gewissen folgendes:

„Das skrupulöse Gewissen glaubt aus belanglosen und scheinbaren Gründen, Sünden zu sehen, wo es keine gibt, oder Todsünden zu sehen, wo nur lässliche Sünden bestehen. – Das Wesen des Skrupels besteht weniger in einem Irrtum des Urteils als vielmehr in einem Zustand der Unruhe. Diese Beunruhigungen gehören, genau genommen, nicht zur Tätigkeit des Intellekts, und gehören dementsprechend auch nicht zum Gewissen. Es sind vielmehr Suggestionen des Vorstellungsvermögens, Eindrücke oder Aufreizungen des Empfindens.

Die Zeichen eines skrupulösen Gewissens sind folgende: Gewissensprüfung über oft lächerliche Einzelheiten, unruhige und kontinuierliche Nachforschungen, eine Aufmerksamkeit, die auf alle möglichen Umstände gerichtet ist, die eine Handlung begleitet haben oder sie hätten begleiten können, häufige Änderungen des Urteils, Unentschlossenheit, die Furcht, überall Sünden zu begegnen, der Wunsch, verschiedene Beichtväter zu sprechen, die Furcht, von ihnen nicht richtig verstanden worden zu sein, das hartnäckige Festhalten am eigenen Urteil trotz ihrer Entscheidungen. – Es ist oft schwierig genug, an sich den Skrupel zu erkennen, es ist besonders wichtig, sich nicht auf sein eigenes Urteil zu verlassen, sondern sich an das Urteil des Beichtvaters zu halten. Oft kann man skrupulös bei einigen Angelegenheiten und lax bei anderen sein.

Die Ursachen des Skrupels sind: ein krankhafter Zustand, ein vererbter schlechter organischer Zustand (nervöse Überreiztheit, Blutarmut, Blutarmut im Gehirn), ein zu heftiges Vorstellungsvermögen, eine dominante Empfindsamkeit, eine frühreife Feinsinnigkeit, eine übertriebene Gewohnheit der Selbstbeobachtung, Urteilsschwäche, oft auch ein verborgener Stolz, der dazu treibt, sich vor jedem Vorwurf reinzuwaschen, und der in allen Dingen jene Sicherheit erreichen will, die selbst den leichtesten Zweifel ausschließt, zuletzt ein Mangel an Vertrauen in die göttliche Barmherzigkeit. Skrupulanten sind oft selbst verantwortlich für die Verschlimmerung ihres Zustands, weil sie nicht einwilligen, auf beständige Weise die Heilmittel anzuwenden, die man ihnen vorschlägt.

Die Mittel, die gegen den Skrupel zu gebrauchen sind, sind die folgenden: Das Gebet und das Vertrauen auf Gott, der absolute und vertrauensvolle Gehorsam gegenüber dem Seelenführer [Beichtvater], die Ausbildung allgemeiner Regeln für das moralische Handeln, an die man sich um jeden Preis halten muss, selbst wenn sie uns unter diesem oder jenen Umstand trügen mögen, das Fliehen des Müßiggangs, das Entfernen der Ursachen des Skrupels, besonders der organischen Probleme.

[…]

Gegen ein skrupulöses Gewissen zu handeln ist keine Sünde, selbst wenn man eine Handlung mit einer extremen Furcht zu sündigen begeht.

Das skrupulöse Gewissen ist nämlich genau genommen ein krankhafter Zustand der Unruhe. – Das Prinzip, das soeben aufgestellt wurde, ist selbst dann gültig, wenn der Skrupulant im Augenblick der Handlung nicht bedacht hat, dass er es mit einem Skrupel zu tun hat; es genügt, dass er auf gewohnheitsmäßige Weise weiß, dass er das Recht hat, alles zu tun, was ihm nicht sicher als Sünde erscheint. – Der Skrupulant darf alles tun, was er fromme Personen tun sieht, selbst wenn diese Handlungsweise gegen seine eigene Ansicht geht. In seinen Handlungen ist er nur gehalten, eine ganz gewöhnliche Aufmerksamkeit aufzubringen; wenn er nicht der Richtschnur folgen kann, die man ihm gegeben hat, oder auf jemandes Rat zurückgreifen kann, kann er tun, was er will, außer wenn es sich offensichtlicherweise und sicherlich um eine Sünde handelt. Wegen der Beschwerlichkeiten, die daraus hervorgehen würden, kann der Skrupulant von mehreren positiven Pflichten [positive Pflicht = Pflicht, etwas zu tun, im Unterschied zur negativen Pflicht, etwas zu unterlassen] befreit sein, z. B. der Pflicht zur brüderlichen Zurechtweisung, zur Vollständigkeit der Beichte. Wenn er beim Anblick unschuldiger Objekte oder anständiger Personen in sich unreine Gedanken spürt, soll er nur ruhig diese Gegenstände und sittsam diese Personen ansehen, ohne sich mit diesen schlechten Eindrücken zu beschäftigen / wegen dieser schlechten Eindrücke zu beunruhigen. Wenn der Skrupel ihn dazu bringt, sich zu fragen, ob er seine Pflichten richtig erfüllt hat (sein Brevier, seine Buße, sein Gelübde), kann er davon ausgehen, sie erfüllt zu haben. Wenn der Skrupel ihn zweifeln lässt, ob seine Reue ausreichend war, darf er zu seinen Gunsten entscheiden. Was Sünden angeht, die er vor der letzten Beichte begangen hat, hat er sich ihrer nicht anzuklagen, zumindest, wenn er nicht schwören kann, dass sie sicher Todsünden waren und er sich ihrer sicher noch nie [in einer Beichte] angeklagt hat. Und selbst in diesem Fall könnten sich Umstände finden, die ihn von der Vollständigkeit der Beichte entschuldigen würden. Man muss dasselbe über die Ängste bezüglich der Gültigkeit früherer Beichten sagen. – Wenn Skrupulanten Empfindungen der Angst (Seelenqualen) mit Schuldgefühlen verwechseln, muss man sie darüber in Kenntnis setzen, dass diese Ängste zur Ursache die Nerven und nicht Sünden haben.

Man hat sogar die Pflicht, sich gegen die Skrupel zu wehren, weil man andernfalls durch Stolz, Selbstliebe, Ungehorsam sündigen könnte oder sich Schäden für die physische und moralische Gesundheit aussetzen oder seine Stellung schädigen könnte. Aber wenn der Skrupulant guten Willen hat, wird er in konkreten Fällen schwerlich eine Todsünde begehen. Wegen der bezeichneten Beschwerlichkeiten darf der Beichtvater nur ein Mal die vollständige Darstellung der Skrupel oder eine Generalbeichte erlauben; man muss diese einmalige Aufdeckung des Gewissenszustandes sogar verbieten, wenn der Skrupulant sie schon kurze Zeit vorher gegenüber einem anderen Beichtvater gemacht hat und geringe Chancen bestehen, dass er lange bei seinem neuen Beichtvater bleiben wird.“**

 

Zur Erklärung, was er meint, wenn er von der Vollständigkeit der Beichte spricht: An späterer Stelle erwähnt er das Thema Skrupulosität noch, wenn er über die Beichte schreibt:

„Wenn man zweifelt, ob man eine Sünde begangen hat, ob man bei ihrer Begehung schwer schuldhaft gehandelt hat, oder auch, ob man sie schon gebeichtet hat, ist man in der Praxis nicht gehalten, sie zu beichten; wenn es sich allerdings um Personen mit laxem Gewissen handelt, soll man [der Beichtvater] darauf bestehen, dass sie beichten (s. Nr. 90); was Skrupulanten angeht, soll man ihnen verbieten, sie zu beichten; allen anderen Personen soll man die Beichte zumindest anraten. […]

Man ist im Fall einer Unmöglichkeit davon entschuldigt, alle seine Todsünden zu bekennen, sofern es notwendig ist, in diesem Moment beim fraglichen Beichtvater zu beichten […] Die Unmöglichkeit kann physisch oder moralisch sein. […] Die moralische Unmöglichkeit besteht, wenn das Bekenntnis auf außerordentliche Schwierigkeiten stößt, die nicht von der Beichte selbst abhängen. […] Unter die extrinsischen Schwierigkeiten, die von der Vollständigkeit der Beichte entschuldigen, zählt man insbesondere: […] 4) die Gefahr eines schweren geistlichen oder zeitlichen Schadens (für sich oder andere), z. B.: ein Skrupulant gerät durch die Wiederholung seiner Beichten oder durch zu minutiöse Gewissenserforschungen nur noch mehr in Verwirrung, oder auch, eine zu lange Beichte würde der Gesundheit des Pönitenten schaden, oder auch, man ist der Gefahr ausgesetzt, sich mit einer ansteckenden Krankheit anzustecken, oder zuletzt auch, man fürchtet, dass der Pönitent sterben könnte, bevor er seine Beichte beendet hat.“***

Hier spricht Jone offensichtlich von denselben Fällen, über die Tanquerey schreibt: „In gewissen Fällen hochgradiger Skrupulosität befehle man den Beichtkindern, sich mit dieser allgemeinen Anklage zu begnügen: ‚Ich klage mich aller seit meiner letzten Beichte begangenen Sünden und aller jener meines vergangenen Lebens an.'“ Also von Fällen, in denen Skrupulanten extrem in Verwirrung geraten, gar nicht mehr zwischen Todsünden und lässlichen Sünden unterscheiden können, und stundenlang für Gewissenserforschung und Beichte brauchen.

 

* Wie in meiner „Moraltheologie- und Kasuistik“-Reihe sind alle Zitate von mir aus der französischen Übersetzung von 1935 zurück ins Deutsche übersetzt.

** Heribert Jone: Précis de theologie morale catholique, Nr. 86 und 91.

*** Ebd., Nr. 565-568.

Ja, ja, Gott liebt mich, klar

„Gott liebt dich“: Wenn es was gibt, das im christkatholischen Glauben als altbekannte Platitüde behandelt wird, dann wahrscheinlich diese Aussage. Eigentlich seltsam; in anderen monotheistischen Religionen ist es gar nicht selbstverständlich. Würden Muslime so reden? Ich weiß nicht. Auch monotheistische antike griechische Philosophen hätten nicht so vom „lieben Gott“ gesprochen.

Gott liebt dich, das heißt Gott will dir Gutes, weil Gott selbst das vollkommene Gute ist, und zwar liebt Gott dich mehr als du dich selbst liebst oder irgendein Mensch dich lieben könnte. „Gott ist mehr bereit, einem reuigen Sünder zu verzeihen, als eine Mutter, ihr Kind aus dem Feuer zu retten“, hat der hl. Pfarrer von Ars einmal gesagt.

Manzoni_Brautleute

(Ein kurzer Abschnitt aus diesem Roman; hier spricht Kardinal Federigo Borromeo mit einem Mann, der so eine Art Raubritter ist. Ich fand die Stelle gerade sehr passend.)

Gott vergisst dich nicht einen Augenblick lang; Er hat dich gemacht und erhält dich im Leben, weil Er will, dass du bist; weil du für Ihn nicht überflüssig und keine Platzverschwendung bist. Er sieht mit Mitleid auf dich, wenn es dir schlecht geht (auch wenn Er das aus Gründen zulassen muss) und wenn du dich in Sünden verrennst. Er will dich bei sich haben. Er will dir Trost, Freude, Frieden geben.

Eigentlich eine bekannte Grundtatsache der katholischen Religion; der frohen Botschaft, die der Herr Jesus Christus zu bringen gekommen ist. Trotzdem steht sie einem auch als Katholik nicht immer vor Augen. Besonders, wenn man Probleme mit Skrupulosität hat.

Für mich ist der Gedanke die meiste Zeit über fern und theoretisch. Ja. Gott liebt mich. Ich leugne es nicht, aber habe es sicher nicht gefühlsmäßig verinnerlicht. Schon der Versuch, es zu verinnerlichen ist, sagen wir, schwierig. Da ist immer die Angst dabei, und die Hilflosigkeit. Ich könnte unehrerbietig sein. Schließlich kann ich nicht einfach proklamieren, dass Gott mit mir zufrieden ist, nicht wütend auf mich ist, meine Reue akzeptiert, oder irgendetwas, das wirklich über das theoretische Mindestwissen, dass Er etwas namens Liebe für mich hat, hinausgeht. Was heißt diese Liebe denn in der Praxis? Bei so vielen Gelegenheiten weiß ich z. B. nicht, ob ich mir etwas vormache in Bezug darauf, ob ich Seine Liebe in einem gerade noch ausreichenden Maß erwidere oder nicht, und wie Er dann jetzt zu mir steht – und dann habe ich wieder das Gefühl, dass Er mich vielleicht gar nicht wirklich haben will. Er weiß das alles, Er weiß auch, was ich eigentlich tun sollte; ich weiß es nicht, oder vielleicht sage ich mir das auch nur. Es wäre nett, wenn Gott direkt mit einem reden würde, denke ich mir dann. So viel einfacher. Wenn er einem sagen würde, was genau Er hier und jetzt von einem will, und dass Er sich für einen interessiert. Er tut das nicht, und dafür wird Er Gründe haben (vielleicht, dass Er einem beibringen will, auf das zu vertrauen, was Vernunft und Kirche einem sagen, statt sich von rein gefühlsmäßigen Eindrücken leiten zu lassen? Dass man manche Dinge selbst herausfinden muss?); aber danach sehnen werde ich mich trotzdem weiterhin. Hat Gott Geduld mit dieser meiner Schwierigkeit? Ist das hier falsch, oder ist es das nicht? Was heißt es, dass Gott milde und barmherzig ist? Kann ich im Frieden sein oder nicht? Ich weiß es eben nicht, und es gibt nun mal genug Dinge, die ich falsch mache.

Gott ist nicht der Feind, versuche ich mir (oder anderen; gerade wenn man bei den eigenen Problemen als Skrupulantin offen ist, bekommt man manchmal auch die anderer anvertraut) öfter mal zu sagen. Der Teufel will uns in der Hölle haben, um uns zu quälen, Gott geht uns nach wie der Hirt dem verlorenen Schaf, Er ist barmherzig zu uns wie zum guten Schächer am Kreuz – Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein(Lk 23,43). Er wartet nicht auf eine Gelegenheit, uns zu verdammen. Ja, schwere Sünden trennen uns wirklich von Ihm, aber nicht alles und jedes ist schwere Sünde, und Er ist jederzeit bereit, schwere Sünden zu vergeben.*

Das ist ein schönes Prinzip, ja; die Praxis schaut aber eben schwieriger aus.

Da geht man so drüber hinweg. Gott liebt mich. Klar. Weiß ich schon, das ist Katholizismus auf Erstklässlerlevel, so wie man bei der Schulanfangsfeier „Ja, Gott hat aaalle Kinder lieb“ krakeelt und hinterher „Aaaaaalle Kinder lernen leeeeeeeesen“**. Aber es ist eben tatsächlich wahr.

Neben den mehr oder weniger irrationalen Ängsten, die einen quälen können, gibt es leider auch noch die finstereren, durchdachteren Zweifel vonseiten der Calvinisten und ihrer Sympathisanten, die einen auch beeinflussen können (selbst wenn man sie intellektuell an sich ablehnt, wie ich das tue). Ich bin ja der Meinung, dass Calvinismussympathien in den meisten Fällen entweder von Verzweiflung (bei denen, die sich für wahrscheinlich verworfen halten) oder Hochmut (bei denen, die sich für erwählt halten) kommen; aber woher auch immer sie kommen, ihre Früchte sind nach allem, was ich beobachtet und bei mir selbst erlebt habe, jedenfalls Verzweiflung oder Hochmut.

Screenshot (5)Screenshot (6)

 (Reale Aussagen eines Calvinisten aus einer Twitterunterhaltung vor einiger Zeit, bei denen ich immer noch etwas fassungslos bin, wie offenherzig sie die willkürliche Grausamkeit des Calvinismus zeigen.)

Der Calvinismus (bzw. mit ihm sympathisierende Theologien) ist nicht überall direkt unlogisch; das ist seine Stärke. Er sagt (in seiner milden Variante) praktisch: Alle Menschen haben die Hölle verdient, und einigen gibt Gott einfach das, was sie verdienen; anderen schenkt Er aus Barmherzigkeit mehr, als sie verdienen, nämlich den Himmel, aber einen Anspruch darauf hat keiner, also können sich die Verdammten auch nicht beschweren. Direkt widersinnig wird es freilich, wenn Calvinisten, um Gottes „Souveränität“ und Allmacht zu wahren (in ihrer Sorge um Seine Hoheit und Unantastbarkeit erinnern sie an Muslime, die Ihm vorschreiben wollen, dass Er sich doch bitte nicht mit einer Menschwerdung zu erniedrigen habe), erklären, Gott sei auch der direkt Verantwortliche für die Sünden der Menschen, insbesondere die Ursünde von Adam und Eva, also wirklich Urheber des Bösen, nicht nur der, der durch sekundäre Ursachen (wie den freien Willen des Menschen) die Entstehung des Bösen zugelassen hat. Das ist eigentlich nur noch Teufelsanbetung unter einem anderen Namen. Aber selbst die „milde“ Variante übersieht etwas: Zwar nicht so sehr Gottes Gerechtigkeit, aber Seine über die Gerechtigkeit hinausgehende Liebe. Gott ist die Liebe.

Nun ist es tatsächlich so, dass der Katholizismus mit der Idee kompatibel ist, dass Gott manchen Menschen, z. B. solchen, die Er für besondere Aufgaben erwählt hat (wie etwa dem Apostel Paulus), ein noch größeres Ausmaß an Gnaden gibt als anderen (freilich wird von denen, denen mehr gegeben wurde, auch mehr erwartet); aber Er gibt allen wirklich genug Gnade für eine ganz reale Chance auf die Erlösung, weil Er alle liebt. Wirklich liebt, nicht nur „liebt.“ Wer verloren geht, hätte gerettet werden können, wenn er gewollt hätte. Ich halte es da mit den tröstenden Worten der Heiligen Schrift:

„[E]r will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4)

Und:

Darum will ich euch richten, jeden nach seinem Weg, ihr vom Haus Israel – Spruch GOTTES, des Herrn. Kehrt um, kehrt euch ab von all euren Vergehen! Sie sollen für euch nicht länger der Anlass sein, in Schuld zu fallen. Werft alle Vergehen von euch, die ihr verübt habt! Schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist! Warum wollt ihr denn sterben, ihr vom Haus Israel? Ich habe doch kein Gefallen am Tod dessen, der sterben muss – Spruch GOTTES, des Herrn. Kehrt um, damit ihr am Leben bleibt!“ (Ez 18,30-32)

(Auch Calvinisten berufen sich auf die Heilige Schrift, sicher; aber da kommt dann immer dieselbe falsch interpretierte Paulusstelle; und das war es mehr oder weniger.)

Soweit zu den intellektuellen Zweifeln; aber gefühlsmäßige verschwinden ja nicht einfach, wenn die intellektuelle Seite geklärt ist. Ich weiß auch nicht ganz, wie man sie wirklich verschwinden lassen kann. Akut hilft es mir immer ein bisschen, in der Bibel zu lesen oder einen Teil des Stundengebets zu beten. Das beruhigt. Aber unten drunter sind Angst und Unruhe da. Vielleicht wird so sein, bis dieses Leben hier beendet ist. Hat eben jeder sein Kreuz; immerhin hat man dann etwas zum Aufopfern.

Und am Ende ist es ja trotzdem wahr, dass Gott einen liebt, ob man es fühlt oder nicht.

 

* Hier eine kurze Anmerkung: Es hat mir wirklich geholfen, als ich gelernt habe, dass Gott einem bei einem Akt der Liebesreue inklusive Vorsatz zur Beichte auch schon vergibt, bevor man wirklich zur Beichte kommt, und dass es zwar das Gebot der Kirche ist, zur Beichte zu gehen, aber nicht, zum schnellstmöglichen Zeitpunkt zur Beichte zu gehen. [Ein Gebet zur Erweckung der Liebesreue: „Mein Gott, aus ganzem Herzen bereue ich alle meine Sünden, nicht nur wegen der gerechten Strafen, die ich dafür verdient habe, sondern vor allem, weil ich dich beleidigt habe, das höchste Gut, das würdig ist, über alles geliebt zu werden. Darum nehme ich mir fest vor, mit Hilfe deiner Gnade nicht mehr zu sündigen und die Gelegenheiten zur Sünde zu meiden. Amen.“]

** Okay, vielleicht krakeelt man letzteres heute nicht mehr wegen der Indianer und Eskimos. Meine Einschulung war ja auch schon vor 17 Jahren.

„Gott ist nicht nett“?

Wenn man in „konservativ“-christlichen Kreisen unterwegs ist, wird man gelegentlich mal die Aussage „Gott ist nicht nett“ zu hören bekommen (vielleicht in freikirchlichen Milieus etwas mehr, aber auch bei Katholiken). Ich muss sagen, manchmal geht sie mir ein bisschen auf die Nerven.

Ich verstehe, woher die Aussage kommt: Man will der Ansicht widersprechen, Gott sei harmlos, zahnlos, gleichgültig gegenüber dem Bösen; Gott ist aber heilig, unermesslich, allmächtig, der „ganz Andere“. Das ist völlig richtig. Solche Aussagen findet man z. B. bei Johannes Hartl vom Gebetshaus Augsburg (dessen Buch „Gott ungezähmt – Raus der spirituellen Komfortzone“ Kapitelüberschriften hat wie „Gott ist kein Kumpel, sondern der Richter“*). Die evangelikale Satireseite „The Babylon Bee“ hat sich vor einiger Zeit mal in einem Artikel mit dem Titel „7 Tipps, um erfolgreich Lobpreislieder zu schreiben“ ein wenig über neueres christliches Liedgut lustig gemacht, wo man diese Tendenz, wie ich finde, auch gut sieht:

„1) Jeder Aspekt von Gottes Wesen wird am besten entweder durch Wassermetaphern oder durch Feuermetaphern repräsentiert. Du willst über Gottes Liebe singen? Vergleich sie entweder mit einem katastrophale Hurrikan der Kategorie 5, oder aber einem rasenden Inferno, das eine ganze Stadt niederbrennt. Nichts anderes kommt einer akkuraten Repräsentation von Gottes Liebe nahe.“ (Übersetzung von mir.)

An der Satire ist etwas dran.

Wenn man Gott nur oder zu sehr als überwältigend, als fordernd/herausfordernd, mächtig und womöglich zerstörerisch darstellt, als den Richter der Welt, als den, der menschliche Pläne über den Haufen wirft, geht etwas verloren. Gott ist geduldig mit Seinen Geschöpfen. Gott ist sanft. Gott ist Friede. Gott ist gütig und liebevoll. Die Heilige Schrift spricht nicht ohne Grund von der „Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes“ (Tit 3,4). Das Übernatürliche zerstört das Natürliche nicht, sondern baut darauf auf.

 

Ich finde zu der ganzen Frage auch eine Stelle im 1. Buch der Könige, an der Elija Gott am Horeb begegnet, sehr interessant. Sie wird öfter mal zitiert, wenn es darum geht, dass Gott sanft und gütig ist:

„Der HERR antwortete: Komm heraus und stell dich auf den Berg vor den HERRN! Da zog der HERR vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem HERRN voraus. Doch der HERR war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der HERR war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der HERR war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln.“ (1 Kön 19,11f.)

Sturm, Erdbeben und Feuer gehen dem Herrn voraus: Doch Er selbst kommt ganz sanft. Aber wirklich interessant ist der ganze Kontext dazu. Der Text geht folgendermaßen weiter:

Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle. Da vernahm er eine Stimme, die ihm zurief: Was willst du hier, Elija? Er antwortete: Mit Leidenschaft bin ich für den HERRN, den Gott der Heerscharen, eingetreten, weil die Israeliten deinen Bund verlassen, deine Altäre zerstört und deine Propheten mit dem Schwert getötet haben. Ich allein bin übrig geblieben und nun trachten sie auch mir nach dem Leben.“ (1 Kön 19,13f.)

Die Sache ist die: Im Kapitel direkt davor hat Elija die Propheten des falschen Gottes Baal zu einem Gottesurteil auf dem Karmel herausgefordert, und nachdem Gott mit ihm gewesen war und er gewonnen hatte, hatte er die 450 Baalspropheten töten lassen. Das hatte eine Vorgeschichte: Isebel, die Frau des Königs Ahabs von Israel, die Baal verehrte und zu deren Partei die falschen Propheten gehörten, hatte sämtliche anderen Propheten des wahren Gottes töten lassen und auch Elija war in Gefahr; und sie verfolgte Elija weiterhin. Zu Beginn von Kapitel 19 schickt sie ihm die Botschaft „Die Götter sollen mir dies und das antun, wenn ich morgen um diese Zeit dein Leben nicht dem Leben eines jeden von ihnen [der Baalspropheten] gleichmache“ (1 Kön 19,2).

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(Elija und die Baalspropheten, Hans Holbein der Jüngere. Gemeinfrei.)

Jedenfalls kann man sagen, dass Elija nicht nur friedlich war. Und was Gott – der Gott, der sich in dem sanften Säuseln, nicht im Sturm, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer, kundgetan hat – jetzt zu ihm sagt, ist:

„Der HERR antwortete ihm: Geh deinen Weg durch die Wüste zurück und begib dich nach Damaskus! Bist du dort angekommen, salbe Hasaël zum König über Aram! Jehu, den Sohn Nimschis, sollst du zum König von Israel salben und Elischa, den Sohn Schafats aus Abel-Mehola, salbe zum Propheten an deiner Stelle. So wird es geschehen: Wer dem Schwert Hasaëls entrinnt, den wird Jehu töten. Und wer dem Schwert Jehus entrinnt, den wird Elischa töten. Ich werde in Israel siebentausend übrig lassen, alle, deren Knie sich vor dem Baal nicht gebeugt und deren Mund ihn nicht geküsst hat.“ (1 Kön 19,15-18)

Weit davon entfernt, Elijas radikalen Eifer und seine, ja, Gewalt zu verurteilen, bestärkt Gott ihn und gibt ihm weitere Anweisungen für seinen Kampf gegen die Baals-Partei. Im weiteren Verlauf der Geschichte sendet Gott zum Beispiel auch noch mal Feuer über Soldaten des Königs Ahasja, die dieser nach Elija ausschickt (vgl. 2 Kön 1).

Gott kann streng sein. Gott kann strafen. Offensichtlich; das tut Er hier. Aber Gott ist auch sanft zu seinen Kindern, und tröstet sie, und erhebt sie, und stärkt sie – wie Er Elija bei vielen Gelegenheiten stärkt und tröstet. Das ist das, was Seinem eigentlichen Wesen entspricht. Wenn Gott Strafe und Gewalt gebraucht, dann hat er Gründe dafür – z. B., dass es um Tyrannen geht, die Seinen Propheten umbringen wollen. Wenn Gott Strafe und Gewalt gebraucht, dann um seiner geliebten Kinder willen.

Gott will einem eben gerade Trost bieten, wenn man seine Probleme mit der Welt hat – wenn man irgendwelches Leid erlebt. Das „Spirituelle“ ist quasi – um auf Herrn Hartls Buchtitel zurückzukommen – schon die „Komfortzone“, in die man flüchten kann.

Natürlich nicht nur; Gott kann einen auch mal zurechtweisen usw., wenn man sich z. B. in Bosheit oder Selbstsucht verirrt. Aber dieses Sich-bei-Gott-bergen ist wichtig; wenn die Beziehung zu Gott halbwegs in Ordnung ist und man ehrlich auf Ihn schaut, ist das doch das Eigentliche. Ein Grund, aus dem ich die alten süßlichen Herz-Jesu-Lieder lieber mag als manche neue Worshipsongs. Gott ist mit uns.

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(Rembrandt, Kopf Christi. Gemeinfrei.)

 

* Full disclosure: Ich kenne bisher nur die Leseprobe auf Amazon.

Skrupel vs. Gewissen

Eine Falle für Skrupulanten, die ihre Skrupulosität überwinden wollen, kann der Gedanke sein: Gut, das und das scheint nach der Lehre der Kirche prinzipiell keine Sünde zu sein. Aber irgendwie kommen mir doch Bedenken, dass es in meinem Fall wegen dieser und jener Umstände falsch sein könnte. Und sollte man nicht nach katholischer Lehre auch auf sein Gewissen hören – auch dann, wenn es etwas verbietet, das nicht so eindeutig allgemein verboten ist?

Immerhin sagt auch der Apostel Paulus in Römer 14, dass man nicht gegen das Gewissen handeln soll – auch wenn das Essen von Götzenopferfleisch, worum es in diesem Fall geht, tatsächlich nicht schlimm ist. „Wer aber Zweifel hat, wenn er etwas isst, der ist gerichtet, weil er nicht aus der Überzeugung des Glaubens handelt. Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde.“ (Römer 14,23)

Nun: Paulus sagt tatsächlich, dass man nicht gegen das Gewissen handeln darf. Aber dann sagt er eben nicht, dass es nicht noch besser wäre, wenn diejenigen, die eine falsche Vorstellung vom Richtigen und Falschen, ein falsch geformtes Gewissen, haben, das einfach korrigieren. Das Gewissen muss man formen; das sagt die Kirche auch. Man sollte schon lernen, was richtig und was falsch und was moralisch neutral ist, um sich kein unnötiges schlechtes Gewissen zu machen (oder umgekehrt zu arg lax zu werden). Und wenn jemand dann gelernt hat, dass es (z. B.) keine Sünde ist, Götzenopferfleisch zu essen, dann spricht sein Gewissen auch nicht mehr dagegen. Bei Skrupulanten ist es zudem oft so, dass man eigentlich irgendwo schon weiß, dass das und das nicht Sünde ist, dann aber doch die krankhaften Zweifel kommen.

Und Skrupel sind eben nicht die Stimme des Gewissens. Das Gewissen sieht man in der Vernunft, in dem vernunftgeleiteten Urteil am Werk, dass diese und jene harmlose Handlung nicht Sünde ist. Der Zwangsgedanke, der dann sofort hineingrätscht und fragt „Aber wenn doch?“ ist nicht die Stimme des Gewissens, sondern eine Krankheit. Deshalb hilft es auch, sich auf das Gewissen eines Beichtvaters zu verlassen, das hoffentlich gesund ist und nicht von Zwangsgedanken bedrängt und verwirrt wird.

„Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde“ – ja, aber die Bekämpfung der Skrupel und der Gehorsam gegenüber dem Beichtvater, wenn man einen hat, geschehen „aus Glauben“.

Was tun als Skrupulant ohne regelmäßigen, vertrauenswürdigen Beichtvater?

Der klassische Rat der Kirchenlehrer und Theologen für Skrupulanten ist bekanntlich: sich einen Beichtvater suchen und dem gehorchen. Wenn der Beichtvater einem sagt, man hat keine Sünde begangen, dann akzeptiert man das Urteil unhinterfragt und sucht nicht zur Sicherheit noch einen zweiten Priester auf, den man fragen kann. Man ersetzt das eigene, gestörte Urteil, zumindest für einige Zeit, durch das Urteil eines anderen und übt sich in Demut und Gehorsam.

Das ist so weit ein guter Rat; aber leider nicht immer einer, der so leicht umgesetzt werden kann, jedenfalls heute nicht mehr so leicht wie früher. Wenn man zur Beichte zu einem „liberalen“ Priester gehen muss, bei dem man froh sein kann, wenn er die Absolutionsformel ohne Änderungen spricht, wird man den nach der Aufzählung der Sünden nicht um weiteren Rat bitten, geschweige denn, seinen Ratschlägen gehorchen wollen, sondern sich lieber nur schnell die Lossprechung holen und wieder aus dem Beichtstuhl verschwinden. Und mit gutem Grund.

Jetzt könnte man natürlich sagen „such dir doch einen guten Beichtvater“. Aber das ist manchmal nicht so einfach, und manchmal geht es fürs erste gar nicht. Vielleicht lebt man in der Diaspora auf dem platten Land ohne Auto und hat in der näheren Umgebung keinen Priester, dem man so weit vertrauen würde und der Zeit für einen hat, vielleicht wird der bisherige Beichtvater in eine weiter entfernte Pfarrei versetzt, oder man hat einfach noch zu viel Angst, um irgendeinen Priester zu fragen. Aus welchem Grund auch immer: Manchmal muss man sich fürs erste auf andere Weise behelfen.

Zudem kann man nicht ständig, wenn man wegen irgendetwas in Panik ist, den Beichtvater nerven; es ist auch dann, wenn man einen Beichtvater hat, gut, wenn man selbst daran arbeitet, die Skrupulosität zu überwinden. Was also tun?

In diesem Fall muss man sich zunächst mal konsequent selbst dazu zwingen, die allgemeinen Regeln für Skrupulanten einzuhalten. Vor allem (ich wiederhole hier auch einiges, was ich in diesem alten Post vom Beginn meiner Bloggerzeit schon gesagt habe):

  • Zweifel verachten. Das ist die wichtigste Regel für Skrupulanten überhaupt: Wenn man zweifelt, ob man eine schwere Sünde begangen hat, wird sie nicht als schwere Sünde gezählt; wenn man Zweifel hat, ob eine Beichte gültig war, wird sie als gültig gezählt; wenn man Zweifel hat, ob man verpflichtet ist, etwas zu tun, muss man sich nicht verpflichtet fühlen. Punkt.
  • Der Gedanke „Aber vielleicht betrüge ich mich selbst und bin gar nicht skrupulös / es ist nicht wirklich zweifelhaft, ob diese Sünde schwer war / in meinem Fall gelten diese Regeln nicht, weil es da ganz besondere Umstände gibt, an die die, die diese Regeln aufgestellt haben, vielleicht nicht gedacht haben“ ist typisch für alle Skrupulanten. Ignorieren. Nein, man ist kein Sonderfall. Die Kirchenlehrer wussten schon Bescheid.

Betreffs Beichte und Kommunion:

  • Die Kirche schreibt nur vor, einmal im Jahr die schweren Sünden zu beichten. Ja, tatsächlich, nur einmal im Jahr. Wenn man eine (mutmaßlich) schwere Sünde begangen hat, muss man nicht schauen, dass man in den nächsten zwei Tagen zur Beichte kommt; nein, man begeht keine weitere Sünde, wenn man länger wartet. Sinnvoll ist es, in regelmäßigen Abständen zu beichten (z. B. einmal im Monat).
  • Man muss nur die Sünden, bei denen man schwören könnte, dass sie schwer sind, beichten. Wenn man zweifelt, ob man eine Tat begangen hat, oder ob eine begangene Tat eine Sünde war, muss sie nicht gebeichtet werden.
  • In der Beichte sind nicht sämtliche Details notwendig; man muss nur das nennen, was die Art und (so weit man sie weiß, eine ungefähre Schätzung genügt) Zahl der schweren Sünden betrifft.
  • Bereits gebeichtete Sünden werden nicht noch einmal gebeichtet.
  • Eine Beichte ist nur dann ungültig, wenn man eine sicher schwere Sünde absichtlich und bewusst verschwiegen hat, oder vorhatte, eine sicher schwere Sünde weiterhin zu begehen. „Ich glaube, meine Reue war nicht stark genug“ ist kein Grund, an der Gültigkeit der Beiche zu zweifeln.
  • Man sollte sich immer wieder daran erinnern, dass Liebesreue genügt, um in den Himmel zu kommen, solange man noch nicht zur Beichte gekommen ist, d. h. Reue über die Sünde, weil man Gott beleidigt hat, der in höchstem Maß unsere Liebe verdient, gekoppelt mit dem Vorsatz, zumindest die schweren Sünden und die nächste Gelegenheit zur schweren Sünde zu meiden. Diese Reue ist eine Sache des Willens, es macht nichts, wenn man es nicht fertigbringt, dabei etwas zu fühlen. Man sollte auch nicht zögern, sie zu erwecken, weil man sich z. B. unwürdig fühlt, gleich wieder Gottes Vergebung zu erlangen. Gott will einen sofort zurück bei sich haben. Gut ist es, sie jeden Abend beim Abendgebet zu erwecken. (Bei der Erweckung der Liebesreue hilft z. B. ein Gebet wie der Akt der Reue aus dem Kompendium des Katechismus: „Mein Gott, aus ganzem Herzen bereue ich alle meine Sünden, nicht nur wegen der gerechten Strafen, die ich dafür verdient habe, sondern vor allem, weil ich dich beleidigt habe, das höchste Gut, das würdig ist, über alles geliebt zu werden. Darum nehme ich mir fest vor, mit Hilfe deiner Gnade nicht mehr zu sündigen und die Gelegenheiten zur Sünde zu meiden. Amen.“)
  • Das Bußgebet nach der Beichte wird nicht wiederholt, auch wenn man glaubt, dass man beim ersten Mal nicht andächtig genug war. Es wird aus keinem Grund wiederholt. (Die Sünde ist im Übrigen schon mit der Absolution weg.)
  • (Die Nicht-Wiederholungs-Regel gilt auch sonst für alle Gebete, die man verrichtet.)
  • Keine Generalbeichten ablegen. Wenn es unbedingt sein muss, dann einmal und nie wieder. Auch nicht bei einem anderen Beichtvater. Nie wieder.
  • Wenn man in der Stunde vor der Kommunion (vor der Kommunion, nicht vor Beginn der Messe) nicht mit voller Absicht Essen in den Mund steckt und es kaut und schluckt, oder mit voller Absicht etwas trinkt (was nicht Wasser und Medizin ist, das ist erlaubt), indem man eine Flasche oder ein Glas an die Lippen nimmt und schluckt, kann man das Fasten vor der Kommunion nicht brechen. Eine verschluckte Schneeflocke oder ein verschluckter Krümel, den man schon länger zwischen den Zähnen hatte, zählen zum Beispiel nicht. Das Fastengebot gilt im Übrigen für ältere Menschen und für Kranke (nicht nur für akut, sondern auch für chronisch Kranke) nicht.
  • Wenn man sich nicht so sicher ist, dass man darauf schwören könnte, dass man eine noch nicht gebeichtete schwere Sünde auf dem Gewissen hat: zur Kommunion gehen. Nicht vorsichtshalber wegbleiben; man braucht die Nähe zu Jesus.
  • Wegen möglichen Hostienbröseln an den Lippen oder Zähnen sollte man sich nicht zu viele Gedanken machen. Zunächst mal: Das tut Jesus selbst nichts. Natürlich müssen wir das Allerheiligste ehrfürchtig behandeln, aber nicht deshalb, weil wir Jesus schaden könnten, wenn wir es nicht tun. Und wenn trotz aller Sorgfalt (und Gott verlangt keine übermenschliche, sondern praktisch leistbare, menschliche Sorgfalt) doch einmal ein winziger Krümel unbemerkt außen an den Lippen hängen bleibt o. Ä., ist das kein Sakrileg.
  • Es ist allerdings keine Skrupulosität, wenn man die Handkommunion aus Ehrfurcht vor Jesus lieber vermeidet.
  • Als Laie ist man nicht dafür zuständig, zu überwachen, dass der Priester sorgfältig genug mit dem Allerheiligsten umgeht. Wenn man eindeutig sieht, dass ihm eine Hostie auf den Boden fällt und er nicht reagiert – natürlich, dann muss jemand eingreifen. Aber wenn man meint, aus dem Augenwinkel gesehen zu haben, dass er am Altar mit dem Ärmel über die Hostien gestreift sein und jetzt vielleicht einen Krümel am Ärmel hängen haben könnte: Nein, man ist nicht zuständig, ihn nach der Messe darauf anzusprechen.
  • Manchmal hat man als Skrupulant Angst davor, dass irgendjemand anders bei der Kommunion eine Hostie nicht essen, sondern in die Tasche stecken und mitnehmen könnte, o. Ä. Am klügsten ist es, wenn diese Angst einen plagt, bei der Kommunion gar nicht umherzuschauen und, sobald man wieder in der Bank ist, die Augen zu schließen, um sich auf die eigene Begegnung mit Jesus konzentrieren zu können.
  • Ein Sakrileg gemäß Can. 1367 („Wer die eucharistischen Gestalten wegwirft oder in sakrilegischer Absicht entwendet oder zurückbehält, zieht sich die dem Apostolischen Stuhl vorbehaltene Exkommunikation als Tatstrafe zu“) meint eine absichtliche, schwere Verunrehrung des Allerheiligsten. Damit sind solche Verbrechen gemeint, wie hier von Einbrechern in eine Kirche aus Nîmes berichtet. Wer – zum Beispiel – nach der Messe irgendwo auf dem Kirchenboden einen kleinen weißen Punkt sieht, sich fragt, ob das ein Hostienkrümel sein könnte, sich aber nicht sicher ist, weil es auch ein Steinchen sein könnte, und dann heimgeht und nichts tut, hat kein solches Sakrileg begangen und ist deshalb nicht exkommuniziert.

Außerdem ist zu beachten:

  • Das Beste ist nicht immer das einzig Richtige. Im Bereich des Erlaubten gibt es oft mehrere Optionen, und auch wenn eine besser ist als andere, heißt das nicht, dass man eine Sünde begeht, wenn man eine andere wählt. Nur das Verbotene ist verboten; nur das Verpflichtende ist verpflichtend. Man sollte sich vor der „Aber-ich-könnte-ja-noch-mehr-tun“-Falle hüten.
  • Das Unmögliche ist grundsätzlich nicht verpflichtend. Es gibt zudem nicht nur „physische Unmöglichkeit“ (also absolute Unmöglichkeit), sondern auch „moralische Unmöglichkeit“, d. h. etwas kann praktisch unzumutbar sein. Bsp.: Jemand mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, der furchtbar in Panik gerät, wenn er eine Kirche betritt, wäre genauso von der Sonntagspflicht entschuldigt, wie jemand, der physisch nicht aus dem Haus kommt, weil er krank ist. Natürlich gibt es auch gewisse Unterschiede: Von manchen Pflichten kann man sich wegen weniger schlimmer Dinge entbunden sehen (z. B. von der Pflicht, zur Sonntagsmesse oder zur Arbeit zu gehen), von manchen nicht so leicht (z. B. von der Pflicht, sein eigenes Kind zu versorgen). Aber das Prinzip bleibt. (Das heißt nicht, dass es keine Regeln geben würde, die immer und überall gelten – aber diese völlig ausnahmslos immer und überall geltenden Regeln sind dann Regeln, die sich auf in sich schlechte Handlungen beziehen, also Unterlassungspflichten festlegen. Die Unterlassung einer in sich schlechten Handlung (wie z. B. Mord, Glaubensverleugnung, Ehebruch…) ist immer möglich, die Erfüllung einer Handlung dagegen nicht immer.)

Betreffs anderer spezieller Fragen:

  • Intrusive blasphemische Gedanken ignorieren, oder es gleich Jesus anvertrauen, wie sehr sie einen belasten. Die sind keine Sünde (Sünde liegt im Willen), sondern eine unfreiwillige Belastung.
  • Gedanken, Wünsche und Fantasien, die man nicht willentlich herbeiholt / da behält / sich an ihnen freut, können keine Sünde sein. Gefühle, die man nicht willentlich herbeiholt / da behält / sich an ihnen freut, können keine Sünde sein.
  • Man sollte nicht darüber nachgrübeln, ob man Gedanken, Wünschen, Fantasien oder Gefühlen innerlich zugestimmt hat. Wenn man grübeln muss, zweifelt man; und Zweifel zählen bekanntlich nicht. Außerdem würden die belastenden Gedanken durch das ganze Grübeln erst recht wieder hochkommen. Man kann Reue für die mögliche Sünde erwecken und das Ganze dann gut sein lassen.
  • Es ist besser, sich nicht zu viele Gedanken um die eigene Berufung machen und darum, ob man Gottes Willen in der Hinsicht verpassen könnte. Es muss nicht immer nur einen Weg geben; oft legt Gott einem auch mehrere vor und lässt einem die freie Auswahl. Es ist auch nicht schlimm, wenn man einen Beruf hat, bei dem man das Gefühl hat, nichts Nützliches für Gott / die Kirche zu tun. Auch diese Art von Berufen muss auf der Welt gemacht werden und damit leistet man etwas Gutes für die Welt. Und man sollte, wenn man wegen bestimmten äußeren Umständen (z. B. gesundheitlichen Problemen) ein Berufsziel oder eine Berufung nicht erreichen kann, auch wenn man meint, das wäre das, wofür man ansonsten am besten geeignet gewesen wäre, sich darum erst recht keine Gedanken machen. Und man sollte im Gedächtnis behalten: Gott kann immer noch andere Wege finden, auch wenn man einen guten Weg bereits verpasst hat.
  • Es ist nötig, sich klarzumachen, dass der eigene Einfluss auf andere begrenzt ist. Man fühlt sich als Skrupulant oft gedrängt, andere auf ihre (möglichen) Sünden hinzuweisen, um ihnen zu helfen. Bevor man das tut, sollte man sich aber klar machen, dass die allermeisten Menschen auf Ermahnungen, jedenfalls von Leuten, die ihnen nicht sowohl nahestehen als auch ihre wichtigsten Überzeugungen teilen, nicht besonders aufnahmebereit reagieren, und vielleicht eher genervt sein und noch weniger auf einen hören werden, wenn man das zu oft versucht. Jemandem, der nicht vom Katholizismus überzeugt ist, braucht man mit Dingen, die er nicht nachvollziehen kann, oft gar nicht erst zu kommen. Außerdem: Jeder hat einen freien Willen. Letztlich ist es zwar möglich, anderen Leuten dabei zu helfen, in den Himmel zu kommen, ihnen diesen Weg ein wenig leichter zu machen, aber sie sind letztlich selbst dafür verantwortlich, wo sie am Ende landen; Gott gibt allen eine reale Chance und sie müssen sie selbst ergreifen; das kann ihnen niemand abnehmen.
  • Wegen einer psychischen Störung gemachte Versprechungen/Gelübde gegenüber Gott binden nicht.

Wenn man einzelne Gewissensfragen selbst, ohne Beichtvater, bewerten muss, hilft evtl. Folgendes:

  • Generell wird das erste, was man tut, sein, Bücher/Internetseiten, von denen man weiß oder meint, dass sie nicht im Konflikt mit der kirchlichen Lehre stehen, zu Rate zu ziehen. Manchmal braucht man einfach Antworten auf konkrete Fragen, und das ist auch normal und gut so; aber das sollte kein endloses, panisches Suchen werden; irgendwann muss einfach Schluss sein. Genau dieses endlose, panische Suchen soll die Beichtvater-Regel eigentlich verhindern; und wenn man keinen Beichtvater hat, muss man sich selbst irgendein Limit setzen. Gott verlangt von uns nicht mehr als normales, angemessenes Forschen danach, was das Richtige ist (man muss schließlich auch noch Energie dafür haben, es zu tun). Man sollte es daher gut sein lassen, nachdem man eine oder zwei vertrauenswürdige Quellen zu Rate gezogen hat.
  • Die Fragen sollte man so bewerten, wie man sie bewerten würde, wenn jemand anderer sie einem unterbreiten und einen um Rat fragen würde. Das hilft einem, wieder zu einem objektiveren Urteil zu finden. Wenn eine Freundin einem dieselbe Situation unterbreiten würde, was würde man ihr dann sagen?
  • Es kann auch helfen, vertrauenswürdige Freunde um Rat zu fragen. Wenn man alles laut erklären muss, sieht man die Situation vielleicht dadurch schon klarer; und sie wissen vielleicht mehr und können einem weiter helfen. Sie stecken nicht so tief drin und und blicken objektiver darauf.
  • Entscheidungen sollte man treffen, während man klar denken kann, nicht während man gerade in Panik ist, und sich dann später, wenn man in Panik gerät, daran halten.

Und immer dran denken: Wenn man sich dann trotzdem einmal irrt, rechnet Gott einem das nicht als Schuld an.

Ein paar weitere Ratschläge, die bei der Besserung der allgemeinen Situation helfen könnten:

  • Leiden kann man aufopfern, auch psychisches Leiden (und zwar egal, wie schlimm oder wie trivial es einem vorkommt). Dann wird daraus noch etwas Gutes, und so trickst man den Teufel aus.
  • Kurze Stoßgebete im Lauf des Tages beten.
  • Sich ab und zu in eine Kirche vor den Tabernakel setzen und einfach eine Zeit lang bei Jesus sein, ohne etwas zu tun. Nach der Sonntagsmesse, vor der Sonntagsmesse, am Werktag, wenn die Kirche leer ist… irgendwann eben, wann man gerade Zeit hat.
  • In der Bibel lesen. Gottes Wort hilft und tröstet.
  • Das Stundengebet oder zumindest einen kleinen Teil davon beten. Auch das hilft und tröstet. (Das gibt es als App, im Internet sowie in Buchform.)
  • Sich kleine Vorsätze machen, wenn man etwas ändern will, vor allem, wenn man im Moment nicht die Kraft für große Veränderungen hat. „Ich will jeden Samstagabend die Vesper beten“ hält man eher ein als „ich will jeden Tag Laudes, Vesper und Komplet beten“, und dann ist man auch nicht entmutigt. Kleine Fortschritte sind wesentlich besser als gar keine. Es kommt einem trivial und lächerlich vor, was man sich vornimmt? Na und? Soll man lieber nichts verändern? Außerdem: Sich konkrete Vorsätze machen. Also statt „ich will mehr in der Bibel lesen“ lieber „ich will jeden Sonntag, bevor ich ins Bett gehe, ein Kapitel in der Bibel lesen“.
  • Geduld haben. Gott arbeitet an einem ein Leben lang.
  • Sich einen oder mehrere Heilige suchen, vor denen man keine Angst hat – solche, bei denen man das Gefühl hat: die wären freundlich und gut zu mir. Ich hätte z. B. vor dem hl. Padre Pio eher Angst als vor dem hl. Franz von Sales, dem hl. Joseph, dem hl. Petrus, oder dem hl. Thomas. Natürlich müsste man eigentlich vor keinem Heiligen Angst haben; aber wenn man sie doch hat, sucht man sich eben erst einmal andere Patrone; die Auswahl ist schließlich groß genug. Übrigens ist der hl. Aphons von Liguori der Patron der Skrupulanten und die hl. Dymphna die Patronin der psychisch Kranken im Allgemeinen; der hl. Ignatius von Loyola könnte auch helfen. Fürsprecher sind gut.
  • Zum eigenen Schutzengel beten. Gott hat einen eigenen Engel abgestellt, um einen zu beschützen; wieso sich nicht mal an den wenden?
  • Es mit der Herz-Jesu-Verehrung probieren.
  • Sich der eigenen Würde als Christ bewusst werden. Wir sind Kinder Gottes, Tempel des Heiligen Geistes, Glieder des Leibes Christi, der durch uns handeln will. Wir sind getauft und „besiegelt durch die Gabe Gottes, den Heiligen Geist“ in der Firmung. Gott ist mit uns.
  • Wenn man Angst vor der Beichte entwickelt: Sich ein wenig „Auszeit“ nehmen, in der man versucht, zur Ruhe zu kommen, und sich dann ruhig auf die Beichte vorbereiten. Sich einen festen Termin setzen, und sich, wenn möglich, mit einem Freund oder Familienmitglied verabreden, um gemeinsam hinzugehen – da ist die Hemmschwelle größer, es wieder abzusagen, wieder zurückzuschrecken. Oder einen Beichttermin mit dem Priester ausmachen, dafür gilt das Gleiche. Wenn man niemanden hat, mit dem man sich dazu verabreden kann, oder sich nicht traut, extra einen Termin auszumachen – nicht so schlimm, dann versucht man es eben auf andere Weise. Sich deswegen weiter zu stressen, hilft nicht. Dann: Versuchen, überpünktlich zu sein, wenn es so weit ist; vielleicht schon eine halbe Stunde vorher in die Kirche zu kommen und noch vor dem Tabernakel zu sitzen. Wenn man dann vor Angst Bauchschmerzen bekommt und sich der Aufbruch verzögert, hat man damit immer noch einen zeitlichen Puffer. Und wenn es wieder einmal nicht geklappt hat: Nicht verzweifeln. Es ist nie zu spät. Gott gibt uns nie auf.

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(Käthe Kollwitz, Betende Frau. Gemeinfrei.)

Was Skrupulanten (und Nichtskrupulanten) daran hindert, über Skrupulosität zu sprechen

(Wem nicht ganz klar ist, was ich mit Skrupulosität meine: siehe hier.)

Ein Gedankenexperiment.

Man stelle sich ein Land vor, in dem Esoteriker, die meinen, dass Krankheiten nicht über physischen Kontakt mit Erregern, sondern über schlechte Gedanken übertragen werden, und Desinfektionsmittel und Seifen eine Verschwörung der Desinfektionsmittel- und Seifenindustrie wären, an Einfluss gewinnen und die Mehrheit der Gesellschaft überzeugen; und dass daraufhin die meisten Leute, und auch Ärzte und Krankenhäuser, alle Hygiene- und Quarantänemaßnahmen bei Krankheiten aufgeben. Man stelle sich weiter vor, dass die Minderheit, die noch an der alten Theorie festhält, schief angeschaut und für lächerlich, wenn nicht gar fanatisch gehalten wird. Man stelle sich weiter vor, dass auch unter dieser Minderheit einige ins Wanken geraten, sich halb dafür schämen, noch an Hygienemaßnahmen bei Krankheiten festzuhalten, und betonen, dass sie ja nicht so radikal seien und auch nicht meinen würden, ein Arzt solle nach jeder noch so kleinen OP das OP-Besteck desinfizieren oder sich nach jedem Patienten die Hände waschen. Ungefähr so, wie die Leute, die noch an die alten Hygienemaßnahmen glauben, fühlen sich Katholiken, die an die komplette Lehre der Kirche glauben, heute.

So weit, so schlecht; aber das ist man ja gewohnt.

So. Und jetzt wird es komplizierter. Man stelle sich weiter vor, man ist einer von den Leuten, die noch an Hygiene glauben, und man entwickelt eine krankhafte Panik vor Ansteckung und kann kaum mehr an etwas anderes denken als an Keime und Desinfektionsmittel.

Jetzt man eine Vorstellung davon, wie sich katholische Skrupulanten fühlen.

Wird man gegenüber der Mehrheit der Leute über seine Ängste reden? Natürlich nicht. Die halten einen eh schon quasi für gestört und würden sich wohl nur bestätigt fühlen. Man will weder ihre sinnlosen Ratschläge, die vermutlich darin bestehen würden, einfach alle Seifen wegzuwerfen und sich keine Gedanken mehr um Krankheiten zu machen, noch will man ihre Vorurteile bestätigen und damit der eigenen Seite schaden. Ganz ähnlich sieht es mit den halbherzigen, inkonsequenten Hygienebefürwortern aus. Man denkt sich, dass die sich auch nur sagen würden, das hätten sie schon immer von diesen Radikalen gedacht, dass die so neurotisch werden müssten, und das zum Anlass nehmen würden, sich noch weiter von der Wahrheit wegzubewegen. Sie würden einem auch nur Ratschläge geben, bei denen man gar nicht daran denken würde, sie zu befolgen. Am leichtesten ist es noch, mit der eigenen Seite darüber zu reden – aber das ist auch nicht immer so ganz leicht. Diese Seite ist es gewohnt, zu betonen, wie wichtig Hygiene sei; dass man es damit zwar auch übertreiben könnte, ist ihnen schon bewusst, aber sie halten das nicht für ein drängendes Problem. Schließlich würden ja die Leute heutzutage viel eher dazu neigen, die Hygiene zu vernachlässigen, als sie zu übertreiben. Vielleicht ist der Zwangsgestörte sich auch selbst nicht sicher, ob die zwanghaften Gedanken eigentlich so arg unnormal und übertrieben sind, oder nicht vielmehr angebracht sind, nachdem die Welt heute so viel mehr voller Erreger sein müsste als früher.

Und so ist es eben auch mit der Religion. Mit antikirchlich eingestellten Leuten, die Religion an sich schon fast für eine Zwangsstörung halten, wird man garantiert nicht darüber reden, dass man eine religiöse Zwangsstörung hat. Man wird auch nicht mit Leuten, die die offizielle Kirchenlehre schon für eine „Übertreibung“ von Religiosität halten, darüber reden, dass man an zwanghaften Ängsten bezüglich Sünde und Hölle leidet. Es ist eine große Erleichterung, wenn man andere Erzkatholiken kennt, mit denen man darüber reden kann, ohne Angst haben zu müssen, sie vom Glauben wegzutreiben oder missverstanden zu werden.

Aber auch diese anderen Erzkatholiken, die auch an Sünde und Hölle glauben und nicht von zwanghaften Ängsten deswegen geplagt sind, sehen von sich aus wohl eher keinen Anlass, auf so ein Thema zu sprechen zu kommen – sie gehen schlicht davon aus, dass das kein häufiges Problem sein könnte, weil die Leute ja heute eher viel zu wenig an Sünde und Hölle denken würden. Und wenn wenig über diese Thema geredet wird, ist man sich anfangs, wenn das mit den Ängsten beginnt, und nach und nach zu eskalieren beginnt, vielleicht auch gar nicht so sicher, ob man diese Dinge nicht einfach mit dem angebrachten Ernst behandelt. Wenn man vielleicht noch gar keinen Begriff für etwas hat, ist es schwer, damit umzugehen.

Und vielleicht ist Skrupulosität gerade deswegen, weil die Welt so wenig an Sünde und Hölle glaubt, eine umso größere Gefahr für diejenigen, die einerseits erzkatholisch sind und andererseits zu Zwängen neigen. Gerade weil viele andere Leute in den rechten Graben steuern, reißt man das Steuer umso weiter nach links herum.

Es ist wirklich nicht leicht, über so etwas zu reden. Ich zum Beispiel habe an sich ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Eltern; sie sind selber gläubig und respektieren auch meinen Glauben, auch wenn sie finden, ich würde „manche Dinge etwas zu streng sehen“ (wobei es um solche Dinge geht wie: jeden Sonntag in die Kirche gehen); aber ich habe noch nie mit einem von ihnen darüber geredet, wenn ich extreme Ängste in Bezug auf Sünde und Hölle hatte – über andere Ängste und Zwänge ja, oft, aber nicht über das. Mit Leuten, bei denen man nicht darauf vertraut, dass sie gefestigt im rechten Glauben sind, redet man einfach nicht darüber, solange man es vermeiden kann. Vielleicht sollte man es ihnen zutrauen, es zu verstehen und so weit unterscheiden zu können – aber man tut es oft nicht. Über Zwänge und Ängste zu reden ist sowieso schon schwer genug – einerseits leidet man zwar darunter, andererseits ist man aber auch nicht wirklich bereit, die Zwangshandlungen aufzugeben, schließlich sollen sich die Ängste nicht realisieren, also will man auch irgendwo nicht so wirklich mit Leuten reden, die einem sagen würden, man solle sie aufgeben; außerdem will man auf keinen Fall für verrückt und unzurechnungsfähig gehalten werden und in Zukunft wie jemand behandelt werden, der nicht ernst genommen werden muss. Und bei solchen Ängsten ist es noch einmal schlimmer.

Aber religiöse Zwangsstörungen wird es eben immer geben, so wie Zwangsstörungen in anderen Bereichen. Ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung wird im Leben Zwänge und Ängste entwickeln, also auch ein gewisser Prozentsatz der Erzkatholiken, und Zwänge und Ängste beziehen sich eben oft auf die Bereiche des Lebens, die einem sehr wichtig sind – wie z. B. bei Eltern auf ihre Kinder, oder bei jemandem, dem seine Arbeit wichtig ist, darauf; bei Gläubigen eben auf den Glauben. Und Gott ist bekanntlich nicht nur für die geistig Gesunden da; wir Geistesgestörten haben ebenso das Recht, in der Kirche zu sein wie jeder andere.

Es wird in der Kirche immer Menschen geben, die stundenlang Fragen hin- und herwälzen wie etwa, ob ihre letzte Beichte gültig war, weil sie ein bisschen genuschelt haben, als sie die letzte Sünde erzählt haben; der Gedanke daran, dass man hätte deutlicher reden müssen, ist einem zwar erst fünf Minuten, nachdem man den Beichtstuhl schon wieder verlassen hatte, gekommen, aber man hätte es ja in dem Augenblick vielleicht wissen müssen, dass der Priester es vielleicht nicht ganz verstanden haben könnte, und es noch einmal wiederholen müssen, und eigentlich ist einem irgendwo bewusst, dass man auf solche Zweifel nichts geben sollte, aber in diesem Fall war das ja vielleicht etwas anderes, und überhaupt und sowieso, und wahrscheinlich kommt man sowieso in die Hölle. (Wenn man die jetzigen Kirchengebote durch andere Gebote ersetzen würde, würden Menschen sich eben deswegen sorgen. Hätte man noch einmal die Zutatenliste auf der Packung überprüfen müssen, um sicher zu sein, dass die Gummibärchen, die es beim DVD-Abend bei den Freunden gab, keine tierische Stoffe enthalten, weil die Gastgeberin es nicht hundertprozentig wusste und sich nur relativ sicher war, dass es vegane Gummibärchen wären, und man auf keinen Fall Tiere essen darf?)

Wie gesagt, wenn die Ängste anfangen, ist man sich vielleicht noch nicht sicher, was das ist. Man hat vielleicht auch keinen Begriff dafür. Vielleicht meint man, man macht irgendetwas falsch, oder man meint, irgendetwas stimmt vielleicht doch mit diesem Glauben nicht. Es ist eine Erleichterung, zu wissen: Es gibt so etwas wie ein skrupulöses Gewissen; damit hatten sogar Heilige schon zu kämpfen; und es gibt diese und jene Dinge, die dagegen helfen, diese und jene Richtlinien und Ratschläge.

Deshalb meine ich, dass darüber geredet werden sollte; gerade zum Beispiel von Jugendseelsorgern (z. B. könnte man, wenn es in der Katechese um Gewissensbildung geht, darauf eingehen, dass das Gewissen sowohl zu lax als auch skrupulös werden kann). Es ist gut, auch unter Nichtskrupulanten darüber zu reden, weil vielleicht doch jemand dabei ist, der insgeheim skrupulös ist, oder es einmal werden wird, oder der einmal mit einem skrupulösen Freund oder Familienmitglied zu tun haben wird. Auch mal auf die Gefahr hin, dass die nichtkatholische Welt und manche Katholiken dann abgestoßen sind. Das ist dann eben so. Man kann nicht alles verhindern. Und die Wahrheit sieht eben so aus.

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(Guillaume Bodinier, Bäuerin aus Frascati am Beichtstuhl. Gemeinfrei.)

 

Skrupulosität: Besser Vorsicht als Nachsicht?

Ich habe hier schon öfter über Skrupulosität, also eine zwanghafte, übertriebene Angst, zu sündigen, die ich gut kenne und mittlerweile zumindest, na ja, so einigermaßen halbwegs überwunden habe, geschrieben. Eine Falle, in die man als Skrupulant tappen kann, wenn man eigentlich schon eingesehen hat, dass man es übertreibt und dass das nicht mehr gesund ist, ist folgender Gedanke:

„Ja, gut, höchstwahrscheinlich war das und das keine schwere Sünde, höchstwahrscheinlich war meine letzte Beichte schon gültig, höchstwahrscheinlich muss ich mir wegen dieser und jener Situation keine Gedanken machen. Ja, gut, ich bin ständig in Panik und das beeinträchtigt mein Leben. Aber wenn ich dafür nicht in die Hölle komme, nehme ich die Panik und die zusätzlichen Absicherungen und Vorsichtsmaßnahmen lieber in Kauf. Lieber auf Nummer sicher gehen. Wenn ich mich jetzt beruhige, schön, dann habe ich es vielleicht kurzfristig leichter, aber wenn dann der unwahrscheinliche Fall, den ich gefürchtet habe, doch eintritt und ich dann mal in der Hölle bin, hilft mir das auch nicht mehr.“

Der Gedanke scheint was für sich zu haben, oder? Aber hier übersieht man die negativen geistlichen Folgen, die die Skrupulosität selbst haben kann. Der Theologe Adolphe Tanquerey (1854-1932) schreibt in seinem Werk „Grundriss der aszetischen und mystischen Theologie“ über Skrupel, die er zwar nicht bei den Sünden, aber bei den Versuchungen, die zu Sünden führen können, einreiht, Folgendes:

„Lässt man sich unglücklicherweise von den Skrupeln beherrschen, so bringen sie an Leib und Seele die schlimmsten Wirkungen hervor:

a. Allmählich führen sie Schwächung und gewissermaßen Zerrüttung des Nervensystems herbei. Beständige Furcht und Angst wirken niederdrückend auf die Gesundheit des Leibes. Sie können zu einer wahren Besessenheit werden und in eine fixe Idee ausarten, die an Irrsinn grenzt.

b. Sie verblenden den Geist und fälschen das Urteil . Nach und nach verliert man die Fähigkeit zu unterscheiden, was Sünde ist und was nicht, was schwer und was lässlich ist. Die Seele wird ein Schiff ohne Steuer.

c. Oft ist Mangel an Andacht des Herzens deren Folge. Da man nämlich immer in Aufregung lebt und in Verwirrung, wird man schrecklich egoistisch, misstraut aller Welt, selbst Gott, den man zu streng findet. Man klagt darüber, dass er uns in diesem unglücklichen Zustande lässt und ist ungerecht in der Klage gegen ihn. Dabei kann von wahrer Andacht natürlich keine Rede sein.

d. Endlich kommen Schwächen und Niederlagen. Der Skrupulant verbraucht in nutzlosen Anstrengungen bei Kleinlichkeiten seine Kräfte und hat dann deren nicht mehr genug zum Kampfe an den wichtigsten Punkten. Die Aufmerksamkeit nämlich kann sich nicht über die ganze Linie erstrecken. Daher Überrumpelung, Niederlagen und manchmal schwere Vergehen. Übrigens sucht man instinktiv Erleichterung der Qualen und da man sie in der Frömmigkeit nicht findet, sucht man sie anderswo, in Büchern, gefährlichen Bekanntschaften. Diese sind zuweilen Ursache bedauernswerter Fehltritte, und man verfällt der Entmutigung.“

(Den Abschnitt über Skrupel gibt es hier auf Deutsch als PDF, das ganze Buch gibt es auf Englisch als Digitalisat bzw. auch als PDF.)

Ich kenne das selbst, diese Verwirrung und Erschöpfung. Trost im Gebet? Weniger. Öfter hat man das Gefühl, unter den anklagenden Augen Gottes zu stehen und sich irgendwie rechtfertigen zu müssen. Wenn man sich ruhig und getröstet und geliebt fühlen könnte, hinterfragt man es oft gleich – vielleicht will man es sich bloß selbst einreden, dass Gott nicht wütend auf einen ist, während Er es tatsächlich noch ist. Also betet man am Ende weniger, weil es mehr anstrengend als schön ist. Nicht das gewünschte Resultat.

Die Art von Erleichterung, die man dann sucht, kann schlimmstenfalls nicht nur in den gängigen Sünden enden, sondern auch in der Häresie, z. B. in der Mischung aus Verzweiflung und Vermessenheit, die einige protestantische Kirchen vertreten: Man kann gar nicht gut sein, Jesus erklärt einen für gerechtfertigt, sobald man sich ihm anvertraut, und wenn man einmal gerettet ist, kann man nie wieder verlorengehen.

Kurz gesagt: Skrupulosität kann einen auf einen Weg bringen, der auch in der Hölle enden kann. Hundertprozentige Sicherheit gibt es auf keinem Weg, egal, wie gern man sie hätte, man kann immer höchstens eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit haben.

Skrupulosität ist ja nicht Heiligkeit. Die meisten Skrupulanten haben wohl keine überdurchschnittlich schlimmen Sünden im Vergleich zu nichtskrupulösen Christen, sind aber auch nicht die allerbesten und vorbildlichsten Menschen. Heiligkeit bedeutet auch Vertrauen in Gott, Zuversicht – besser ausgedrückt, Glaube und Hoffnung. Es wird einem leichter fallen, in den Himmel zu kommen, wenn man die Skrupel bekämpft.

ABER WAS, WENN DOCH…

Ja. Dieses ABER WAS, WENN DOCH ist furchtbar. Egal, was einem die Vernunft oder ein Priester bei der Beichte oder ein Handbuch der Moraltheologie sagen: Gleich drängt sich wieder der Gedanke dazwischen: MEINETWEGEN, DAS MAG ALLGEMEIN SO SEIN, ABER WAS, WENN ES DOCH IN DIESEM EINEN SPEZIELLEN FALL BEI MIR ANDERS IST???

Das ist die typische ängstliche Skrupulanten-Sturheit. Die muss man überwinden. Sie ist nicht gut. Und ja, da kann man sich jetzt denken „Das schreibt sich so leicht“. Hey, ich krieg’s ja auch nicht immer besonders gut hin. Aber Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.

Aber was, wenn doch? Was, wenn man sich doch einmal geirrt hat?

Ganz einfach: Dann ist Gott gerecht. Gott ist gerecht. Und Gott will, dass wir uns auf unsere Vernunft und auf die Autorität der Kirche verlassen, nicht auf irrationale Ängste, und wenn wir dann doch mal fehlgehen, während wir versucht haben, diesem Prinzip zu folgen, wird Er wissen, dass das keine Absicht war. Gott ist gerecht. Und nicht nur gerecht, sondern auch gnädig und geduldig.

Jesus nennt den Heiligen Geist im Johannesevangelium den „Paraklet“. Das wird oft mit „Beistand“ übersetzt und heißt wörtlich auch so etwas wie „Anwalt, Gerichtsbeistand“. Der Heilige Geist selber ist unser Beistand im Gericht (während der „Ankläger“ der Satan ist – vgl. Offb 12,10). Der Anwalt sieht sämtliche mildernden Umstände und Intentionen, und der gerechte Richter, der Herr Jesus, zieht sie in Betracht.

„Was sollen wir nun dazu sagen? Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer kann die Auserwählten Gottes anklagen? Gott ist es, der gerecht macht.Wer kann sie verurteilen? Christus Jesus, der gestorben ist, mehr noch: Der auferweckt worden ist, er sitzt zur Rechten Gottes und tritt für uns ein.Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht: Um deinetwillen sind wir den ganzen Tag dem Tod ausgesetzt; wir werden behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat.Doch in alldem tragen wir einen glänzenden Sieg davon durch den, der uns geliebt hat.Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten,weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,31-39)

Abschließende Gedanken: Zwei Dinge, die mir helfen, und die ich viel öfter tun sollte, sind das Lesen in der Bibel und das Beten des Stundengebets (das Stundenbuch gibt es als App im Playstore). Das nimmt einen aus den eigenen kreisenden Gedanken heraus und man hört Gottes Wort; oft ein sehr tröstendes Wort.

Moraltheologie und Kasuistik, Teil 1: Entscheidungsfindung bei Unsicherheiten – über Tutiorismus, Probabilismus und Laxismus

Die praktische moraltheologische Bildung der Katholiken muss dringend aufgebessert werden – ich hoffe, da werden meine Leser mir zustimmen. Und ich meine hier schon auch ernsthafte Katholiken. In gewissen frommen Kreisen wird man heutzutage ja, wenn man Fragen hat wie „Muss ich heute Abend noch mal zur Sonntagsmesse gehen, wenn ich aus Nachlässigkeit heute Morgen deutlich zu spät zur Messe gekommen bin?“ oder „Darf ich als Putzfrau oder Verwaltungskraft in einem Krankenhaus arbeiten, das Abtreibungen durchführt?“ oder „Wie genau muss ich eigentlich bei der Beichte sein?“ mit einem „sei kein gesetzlicher Erbsenzähler!“ abgebügelt. Und das ist nicht hilfreich. Gar nicht. Weil das ernsthafte Gewissensfragen sind, mit denen manche Leute sich wirklich herumquälen können. Und andere Leute fallen ohne klare Antworten in einen falschen Laxismus, weil sie keine Lust haben, sich ewig mit diesen Unklarheiten herumzuquälen und meinen, Gott werde es eh nicht so genau nehmen, und wieder andere in einen falschen Tutiorismus, wobei sie meinen, die strengste Möglichkeit wäre immer die einzig erlaubte.

 Auf diese Fragen kann man sehr wohl die allgemeinen moraltheologischen Prinzipien – die alle auf das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe zurückgehen – anwenden und damit zu einer konkreten Antwort kommen. Man muss es sich nicht schwerer machen, als es ist. Und nochmal für alle Idealisten: „Das und das ist nicht verpflichtend“ heißt nicht, dass man das und das nicht tun darf oder es nicht mehr empfehlenswert oder löblich sein kann, es zu tun. Es heißt nur, dass die Kirche (z. B. in Gestalt des Beichtvaters) nicht von allen Katholiken verlangen kann, es zu tun.

 Zu alldem verweise ich einfach mal noch auf einen meiner älteren Artikel. Weiter werde ich mich gegen den Vorwurf der Gesetzlichkeit hier nicht verteidigen.

 Jedenfalls, ich musste öfters lange herumsuchen, bis ich zu meinen Einzelfragen Antworten gefunden habe, und deshalb dachte mir, es wäre schön, wenn heute mal wieder etwas mehr praktische Moraltheologie und Kasuistik betrieben/kommuniziert werden würde; aber manches, was man gerne hätte, muss man eben selber machen, also will ich in dieser Reihe solche Einzelfragen angehen, so gut ich kann, was hoffentlich für andere hilfreich ist. Wenn ich bei meinen Schlussfolgerungen Dinge übersehe, möge man mich bitte in den Kommentaren darauf hinweisen. Nachfragen sind auch herzlich willkommen.

Wer nur knappe & begründungslose Aufzählungen von christlichen Pflichten und möglichen Sünden sucht, dem seien diese beiden Beichtspiegel empfohlen. (Bzgl. dem englischen Beichtspiegel: Wenn hier davon die Rede ist, andere zu kritisieren, ist natürlich ungerechte, verletzende Kritik gemeint, nicht jede Art Kritik, und bei Ironie/Sarkasmus ist auch verletzende Ironie/Sarkasmus gemeint.)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/19/St_Alphonsus_Liguori.jpg

 (Der hl. Alfons von Liguori (1696-1787), der bedeutendste kath. Moraltheologe des 18. Jahrhunderts. Gemeinfrei.)

Alle Teile hier.

[Updates zu diesem Artikel weiter unten.]

Bevor ich zu den Einzelfragen komme, erst einmal zu den Prinzipien. Heute zu einer sehr grundsätzlichen Frage: Das Ergebnis, wenn man mit allgemeinen moralischen Prinzipien an einen konkreten Fall herangeht, kann sein: „Es ist klar: Du musst das und das tun / darfst das und das nicht tun.“ Oder: „Es ist klar: Du kannst frei zwischen den und den Möglichkeiten wählen.“ Aber es kann auch mal  sein: „Das ist ein Grenzfall; es ist nicht ganz klar, was deine Pflicht ist, am wahrscheinlichsten ist es so, aber andere würden vielleicht sagen, es wäre so, wahrscheinlich wäre auch noch diese dritte Möglichkeit erlaubt, diese vierte hier wohl eher nicht.“ Diese Fälle sind immer die schwierigsten. Und hier kommen die sog. Klugheitsregeln und die sog. Moralsysteme ins Spiel.

1) Es gibt Fälle, in denen es klar ist, dass man ein Ziel anstreben oder ein Gesetz erfüllen muss, und nur die Mittel sind zweifelhaft. In diesen Fällen muss man ein einigermaßen sicheres Mittel nehmen. (Z. B.: ich bin sicher verpflichtet, zu einem Termin um 17:00 Uhr zu kommen. Um 16:00 Uhr fährt sicher ein Bus, und um 16:30 Uhr fährt vielleicht auch noch ein Bus. Natürlich muss ich den Bus um 16:00 Uhr nehmen, um sicher hin zu kommen, und kann nicht auf gut Glück um 16:30 Uhr an der Haltestelle erscheinen, weil vielleicht ja noch ein Bus kommt. Natürlich kann man nicht jeden noch so geringen Zweifel ausschließen; es kann immer sein, dass der Bus um 16:00 wegen eines Unfalls nicht kommt.)

2) Aber es gibt auch Fälle, in denen es zweifelhaft ist, ob ein Gesetz überhaupt existiert oder auf einen bestimmten Fall anzuwenden ist. Grundsätzlich gilt dann die Regel „ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht“ (lex dubia non obligat).

Aber was heißt das jetzt für die Praxis? Wann ist ein Gesetz zweifelhaft? Sagen wir, mir geht es nicht so gut und ich bin mir nicht sicher, ob die Sonntagspflicht (das Gebot, sonntags eine Messe zu besuchen) für mich noch gilt oder ich auch zuhause bleiben kann. Wonach entscheide ich?

Im 17. und 18. Jahrhundert war das ein ziemlicher Streitpunkt unter den Theologen. Sie entwickelten dabei die folgenden sog. Moralsysteme:

Der Tutiorismus (von „tutior“, lateinisch für „sicherer“) wäre die Ansicht, man müsste immer die strengste, die sicherste, die beste aller Möglichkeiten wählen. Die Tutioristen erkannten das Prinzip lex dubia non obligat eigentlich gar nicht erst an. Du bist dir nicht völlig sicher, ob du krank genug bist, um von der Messe daheim zu bleiben? Dann geh zur Messe. Du weißt nicht hundertprozentig, ob du bei deinem Job vielleicht in Gewissenskonflikte gerätst? Dann kündige. Man muss das Gebot immer befolgen, auch wenn sehr starke Gründe gegen seine Geltung in einem bestimmten Fall sprechen. Diese Ansicht billigt die Kirche nicht. Das macht ja auch Sinn: Sie ist letztlich nicht lebbar. Bei jeder noch so kleinen Unsicherheit gäbe es keinen Spielraum mehr. Und so würden auch viele falsche Entscheidungen getroffen werden – weil manche Leute sich z. B. auch bei Krankheiten, bei denen sie wirklich im Bett bleiben sollten, nicht völlig sicher wären, ob sie es nicht doch in die Kirche schaffen könnten. Einer vernünftigen Abwägung kann man nicht entgehen, indem man immer nach der einen Seite steuert. So landet man nur im Graben. Als die Jansenisten verurteilt wurden, wurde in einem Dekret von 1690 u. a. der Satz „Es ist nicht erlaubt, einer [wahrscheinlichen] Meinung oder unter wahrscheinlichen der wahrscheinlichsten zu folgen“ verurteilt.

Dann gäbe es den Probabilismus, von „probabilis“, „wahrscheinlich“. Wenn wahrscheinliche Gründe gegen die Geltung eines Gebots in meinem Fall sprechen, ist es nicht bindend. Neben dem reinen Probabilismus gibt es noch ein paar Unterformen. Da ist der Probabiliorismus (probabilior = wahrscheinlicher), nach dem die Gründe, die gegen die Geltung sprechen, zumindest wahrscheinlicher sein müssen als die Gründe dafür. Dann der Äquiprobabilismus, nach dem die Gründe dagegen zumindest genauso groß sein müssen wie die Gründe dafür. Nach dem Kompensationssystem kann es auch einmal sein, dass gute Gründe gegen die Verpflichtung sprechen, die aber weniger gewichtig sind als die, die dafür sprechen, und dass man trotzdem nicht verpflichtet ist, weil gewichtige praktische Gründe dagegen sprechen, d. h. es sehr schwer durchführbar ist. (Extremes Beispiel: Ich bin mir nicht sicher, ob ich xyz nach dem göttlichen Gesetz tun muss, es gibt ganz gute Gründe dagegen, aber noch bessere Gründe dafür – aber wenn ich es tue, steckt mich der ungerechte Staat, in dem ich lebe, für zwanzig Jahre ins Arbeitslager. Ergo: nach dem Kompensationssystem nicht verpflichtend.) Die probabilistischen Moralsysteme werden von der Kirche gebilligt.

Der Laxismus wäre die Ansicht, man dürfte frei zwischen allen Möglichkeiten wählen, die nicht ganz und gar absolut sicher verboten sind. Für als laxistisch bezeichnete Theologen war ein Gesetz schon dann zweifelhaft, wenn nur sehr schwache Gründe gegen seine Geltung sprachen – mit anderen Worten, für sie hätte man auch mit einem leichten Schnupfen von der Kirche daheim bleiben können. Wie die etwas abfällige Bezeichnung schon nahelegt, ist das eine Ansicht, die die Kirche nicht so ganz billigt; verschiedene laxistische Sätze wurden von Rom als „zumindest ärgerniserregend und in der Praxis verderblich“ verurteilt.

Bei Skrupulanten (also Leuten mit einer religiösen Zwangsstörung) im Speziellen ist es allerdings etwas komplizierter: Weil die dazu neigen, alles stundenlang hin und her zu wälzen und immer auf Nummer sicher gehen wollen und Angst haben, sich bei einem zweifelhaften Gebot nicht als gebunden zu betrachten, auch wenn die Gründe dafür eigentlich wahrscheinlich wären, weil man sich bei der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit ja irren könnte, was ja vielleicht davon kommen könnte, dass man unterbewusst Gott nicht gehorchen will, usw. usf., dürfen die sich in der Praxis nach einem etwas mehr laxistischen Prinzip verhalten, jedenfalls in den Bereichen, die ihre Skrupulosität betrifft. Wenn man dazu neigt, immer in die eine Richtung zu steuern, muss man jetzt erst einmal mehr in die andere Richtung steuern, um das zu korrigieren. Weil Skrupulanten die Geltung eines Gebots in ihrem Einzelfall oft erst dann anzweifeln, wenn es wirklich wahrscheinliche Gründe dagegen gibt, und weil es für sie sowieso erst einmal wichtig ist, ihre ungesunde Angst abzulegen, sollen sie sich erst dann gebunden sehen, wenn sie sich wirklich sicher sind.

Soweit zu den Prinzipien. Und nicht vergessen: Wenn man sich in der Beurteilung eines konkreten Falls mal geirrt hat, dann ist das nicht so schlimm. Gott rechnet einem nichts an, was man im guten Glauben, es wäre erlaubt, getan hat. In diesem Sinne stimmt es, dass Gott kein Erbsenzähler ist – Er sieht mehr auf die Absicht als auf die Tat.

Updates: Um die Prinzipien deutlicher zu machen und einige weitere Regeln zu erwähnen, möchte ich noch zwei gute Moraltheologiebücher anführen. Dazu möchte ich erst einmal eine längere Passage aus Austin Fagotheys Buch „Right and Reason“ zitieren:

„Was muss dann eine Person mit einem zweifelhaften Gewissensurteil tun? Seine erste Pflicht ist es, zu versuchen, den Zweifel aufzulösen. Er muss über die Sache nachdenken, um zu sehen, ob er nicht bei einer sicheren Schlussfolgerung ankommt. Er muss nachforschen und Rat suchen, auch von Experten, wenn die Sache wichtig genug ist. Er muss die Fakten bei dem Problem ansehen und sich ihrer vergewissern, wenn möglich. Er muss all die Mittel nutzen, die auf gewöhnliche Weise besonnene Menschen gewohnt sind, zu benutzen, abhängig von der Wichtigkeit des Problems. […]

Was, wenn der Zweifel nicht aufgelöst werden kann? […]

Die Antwort auf die Schwierigkeit ist, dass in der tatsächlichen Praxis jedes zweifelhafte Gewissensurteil in ein sicheres Gewissensurteil verwandelt werden kann, so dass niemand jemals im Zweifel darüber bleiben muss, was er zu tun hat. Wenn die beschriebene direkte Methode der Nachforschung und Untersuchung benutzt wurde und sich als fruchtlos herausgestellt hat, dann greifen wir zurück auf die indirekte Methode, unser Gewissen zu formen, indem wir Klugheitsregeln anwenden. Man beachte, dass uns keine Wahl zwischen der direkten oder der indirekten Methode angeboten wird. Wir müssen die direkte Methode zuerst benutzen. Erst wenn die direkte Methode keine Ergebnisse hervorbringt, dürfen wir zur indirekten Methode schreiten. […]

Der wichtige Punkt, den wir festhalten müssen, ist, dass es einen zweifachen Zweifel gibt:

(1) Was ist die tatsächliche Wahrheit über diejenige Sache?
(2) Was ist man in einer solchen Situation verpflichtet, zu tun?

Der erste ist der theoretische oder spekulative Zweifel, und das ist die Frage, die nicht beantwortet werden kann, weil die direkte Methode benutzt worden ist und keine Ergebnisse gebracht hat. Der zweite ist der praktische oder operative Zweifel, und von diesem allein behaupten wir, dass er in jedem Fall lösbar ist.

Obwohl viele Zweifel theoretisch unüberwindlich sind, kann jeder Zweifel praktisch überwunden werden. Ein Mensch kann sicher herausfinden, was er zu tun verpflichtet ist, wie zu handeln von ihm erwartet wird, welches Verhalten von ihm verlangt wird, während er in einem Zustand des ungelösten theoretischen Zweifels bleibt. […] Mit anderen Worten, er findet die Verhaltensweise heraus, die für eine zweifelnde Person sicher rechtmäßig ist. […]

Der Prozess der Gewissensbildung wird durch die Anwendung von Klugheitsregeln vollbracht […]. Zwei solche Prinzipien sind hier anzuwenden:

(1) Der moralisch sicherere Weg ist zu wählen.
(2) Ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht.

Das erste Prinzip darf immer benutzt werden, aber das zweite ist genauen Begrenzungen unterworfen.

Der moralisch sicherere Weg – Mit dem moralisch sichereren Weg meinen wir den, der mit größerer Sicherheit das Sittengesetz einhält, mit größerer Sicherheit die Sünde vermeidet. Oft ist er physisch gefährlicher. Manchmal scheint keine der Alternativen moralisch sicherer, aber die Verpflichtung auf beiden Seiten scheint gleich; dann können wir eine jede davon wählen.

Es ist immer erlaubt, den moralisch sichereren Weg zu wählen. Wenn ein Mensch sicherlich nicht verpflichtet ist, zu handeln, aber zweifelt, ob ihm erlaubt ist, zu handeln, ist der moralisch sicherere Weg, die Handlung zu unterlassen; wenn ich demnach zweifle, ob dieses Geld gerechterweise mir zusteht, kann ich es einfach verweigern. Wenn es einem Menschen mit Sicherheit erlaubt ist, zu handeln, er aber zweifelt, ob er verpflichtet ist, zu handeln, ist der moralisch sicherere Weg, die Handlung zu vollziehen; wenn ich demnach zweifle, ob ich eine Rechnung bezahlt habe, kann ich das Geld anbieten, und riskieren, sie doppelt zu zahlen. So stelle ich sicher, dass ich das Sittengesetz nicht verletzt habe.

Manchmal sind wir verpflichtet, dem moralisch sichereren Weg zu folgen. Wir müssen das tun, wenn wir sicher verpflichtet sind, einen Zweck mit besten Kräften zu erreichen [Hervorhebung von mir], und unser Zweifel nur die Effektivität der Mittel betrifft, die für diesen Zweck eingesetzt werden. Hier impliziert die unbezweifelbare Verpflichtung, den Zweck zu erreichen, die Verpflichtung, sicher effektive Mittel zu verwenden. Ein Arzt darf kein zweifelhaftes Heilmittel an seinem Patienten zur Anwendung bringen, wenn er ein sicheres zur Hand hat. Ein Anwalt darf sich nicht aussuchen, seinen Klienten mit schwachen Argumenten zu verteidigen, wenn er starke zu präsentieren hat. Ein Jäger darf nicht in die Büsche feuern, wenn er zweifelt, ob das sich bewegende Objekt ein Mensch oder ein Tier ist. Ein Kaufmann darf eine sicher existierende Schuld nicht mit wahrscheinlich gefälschtem Geld zahlen oder wahrscheinlich beschädigte Artikel als Güter erster Klasse verkaufen. In solchen Fällen ist die Verpflichtung der Person klar und sie muss Mittel benutzen, die sie sicher erfüllen.

Aber es gibt andere Fälle, in denen die Verpflichtung selbst zweifelhaft ist [Hervorhebung von mir]. Hier haben wir eine ganz andere Frage vor uns. Der moralisch sicherere Weg, obwohl immer erlaubt, ist oft kostspielig und unangenehm, manchmal heroisch. Aus einem Wunsch heraus, das Bessere zu tun, folgen wir ihm oft ohne Frage, aber, wenn wir verpflichtet wären, ihm in allen Zweifelsfällen zu folgen, würde das Leben unerträglich schwer werden. Um moralisch auf der sicheren Seite zu sein, müssten wir jedem zweifelhaften Anspruch von anderen nachkommen, die kein besseres Recht haben, und so zu Opfern von jedem Gauner und Betrüger werden, dessen Gewissen weniger zart ist als unseres. Solche Schwierigkeiten werden durch den Gebrauch der zweiten Klugheitsregel vermieden: ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht.

Ein zweifelhaftes Gesetz. – Das Prinzip ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht ist nur anzuwenden, wenn ich zweifle, ob ich durch eine Verpflichtung gebunden bin oder nicht, wenn mein Gewissenszweifel die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit einer Handlung, die vollbracht werden soll, betrifft. Ich darf dieses Prinzip in den beiden folgenden Situationen anwenden:

(1) Ich zweifle, ob ein solches Gesetz existiert.
(2) Ich zweifle, ob das Gesetz auf meinen Fall zutrifft.

Zum Beispiel: Ich kann zweifeln, ob das Jagdrecht mir verbietet, Wild auf meiner Farm zu schießen, ob die Früchte vom Baum meines Nachbarn, die über meinen Zaun hängen, ihm oder mir gehören, ob ich krank genug bin, um davon entschuldigt zu sein, heute zur Arbeit zu gehen, ob der Schaden, den ich verursacht habe, reiner Zufall oder meiner eigenen Fahrlässigkeit geschuldet war. Es ist wahr, dass hier faktische Fragen enthalten sind, die nicht beantwortet werden können, aber sie bringen alle Fragen der Rechtmäßigkeit oder Erlaubtheit einer Handlung auf: Darf ich das Wild schießen, die Früchte pflücken, von der Arbeit zu Hause bleiben, mich weigern, den Schaden zu reparieren? Existiert irgendein Gesetz, auf meinen Fall anwendbar, das es mir sicher verbietet? Wenn die direkte Methode keines beweist, dann bin ich moralisch berechtigt, diese Dinge zu tun aufgrund des Prinzips, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet.

Der Grund hinter diesem Prinzip ist, dass die Promulgation zum Wesen des Gesetzes gehört, und ein zweifelhaftes Gesetz ist nicht genügend promulgiert, da es der Person, die jetzt und hier drauf und dran ist, zu handeln, nicht genügend bekannt gemacht wurde. Das Gesetz erlegt Pflichten auf, was für gewöhnlich Beschwerden bedeutet, und wer einem anderen Pflichten auferlegen oder seine Freiheit einschränken will, muss sein Recht beweisen, das zu tun. […]

Systeme der Wahrscheinlichkeit

So gut wie alle Moralisten, die dieses Thema behandeln, akzeptieren das Prinzip, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet, aber unterscheiden sich bei dem Grad des Zweifels oder der Wahrscheinlichkeit, die einen von der Verpflichtung durch das Gesetz entbinden würde. Wie zweifelhaft muss das Gesetz sein, um seine Bindungskraft zu verlieren? Muss die Existenz oder die Geltung des Gesetzes zweifelhafter sein als seine Nichtexistenz oder Nichtgeltung, oder ebensosehr zweifelhaft, oder wird jeder Zweifel ausreichen, um einen von der Verpflichtung zu entbinden? Zu diesem Punkt gibt es mehrere Schulen, die unten nach abnehmender Strenge aufgelistet werden.

Damit ein Mensch frei von einer Verpflichtung ist, muss sich zeigen, dass die Nichtexistenz eines Gesetzes, das eine solche Verpflichtung auferlegt, oder die Nichtgeltung des Gesetzes für seinen Fall

(1) sicher oder fast sicher               Tutiorismus
(2) wahrscheinlicher                       Probabiliorismus
(3) gleich wahrscheinlich               Äquiprobabilismus
(4) solide wahrscheinlich               Probabilismus
(5) gerade so möglich                     Laxismus

ist.

Von diesen Systemen sind die beiden Extreme, Tutiorismus und Laxismus, völlig inakzeptabel und werden nur als mögliche Sichtweisen erwähnt. Keine wendet wirklich das Prinzip an, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet. Der Tutiorismus lehrt, dass wir an praktisch jede Verpflichtung gebunden sind, von deren Existenz wir einen begründeten Verdacht haben. Das ist eine unerträgliche Last und in der Praxis praktisch nicht anwendbar. Der Laxismus schafft praktisch jede Verpflichtung ab; ein geringfügiger und unbedeutender Grund bedeutet keine wirkliche Wahrscheinlichkeit, und kann nicht Grundlage für einen vernünftigen Zweifel sein. Wenn das alles ist, was wir haben, sind wir praktisch sicher, dass das Gesetz existiert oder [auf diesen Fall] zutrifft, und sind gehalten, ihm zu gehorchen.

Von den verbleibenden drei Systemen ist der Probabilismus das am meisten akzeptierte System. Er ist die beste Anwendung des Prinzips: ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht. Der Beweis für den Probabilismus sieht folgendermaßen aus:

Ein zweifelhaftes Gesetz bindet nicht, denn die Promulgation gehört zum Wesen des Gesetzes, und ein zweifelhaftes Gesetz ist nicht genügend promulgiert.
Aber ein Gesetz, gegen dessen Existenz oder Geltung ein solide wahrscheinliches Argument steht, ist ein zweifelhaftes Gesetz, da auch nur ein solide wahrscheinliches Argument die Sicherheit der gegenteiligen These zerstört.
Daher bindet ein Gesetz, gegen dessen Existenz oder Geltung ein solide wahrscheinliches Argument steht, nicht.

Wenn wir zeigen können, dass der Äquiprobabilismus zu streng ist, wird folgen, dass der Probabiliorismus unhaltbar ist, da er noch strenger ist. Aber der Äquiprobabilismus ist zu streng, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis, wie die folgenden Argumente zeigen. Daher bleibt, da der Tutiorismus und der Laxismus beide verworfen wurden, nur der Probablismus.

1. Der Äquiprobabilismus ist in der Theorie zu streng. Er richtet sich nach dem Prinzip, dass ein zweifelhaftes Gesetz nicht bindet, aber nimmt an, dass ein Gesetz nicht genügend zweifelhaft ist, um eine Person davon zu entschuldigen, ihm zu gehorchen, wenn nicht die Gründe gegen das Gesetz ebenso wahrscheinlich sind wie die Gründe für das Gesetz. Aber es gibt keinen Grund dafür, gleiche Gründe auf beiden Seiten zu verlangen. Eine Verpflichtung existiert nicht, wenn sie nicht sicher ist, da das Gesetz, das eine solche Verpflichtung auferlegen würde, nicht genügend promulgiert wurde. Jede These ist zweifelhaft, wenn ein solide wahrscheinlicher Grund gegen sie steht, egal wie viele oder wie stark die Gründe dafür sind. Keine These kann sicher feststehen, wenn es einen solide wahrscheinlichen Grund für ihr Gegenteil gibt.

2. Der Äquiprobabilismus ist in der Praxis zu streng. Das natürliche Sittengesetz ist von Gott nicht dazu gedacht, dem Menschen unvernünftige und unerträgliche Bürden aufzuerlegen. Aber das Abwägen der Wahrscheinlichkeiten auf jeder Seite, um herauszufinden, ob sie gleich sind, oder größer auf der einen Seite als auf der anderen, wäre eine unvernünftige Bürde. Der Durchschnittsmensch hat weder die Zeit noch das Wissen noch die Befähigung für einen solchen Vergleich. Die Gelehrten sind nach Jahren des Studiums oft unfähig, den exakten Umfang der Wahrscheinlichkeit auf jeder Seite eines Falls festzulegen. In der Praxis müssen Entscheidungen für gewöhnlich prompt getroffen werden, und müssen trotzdem mit einem sicheren Gewissen getroffen werden.

Die Äquiprobabilisten verlangen natürlich kein mathematisches Messen der Wahrscheinlichkeiten auf jeder Seite, sondern sagen, dass wir der Meinung, die für das Gesetz spricht, folgen müssen, wenn sie sicher wahrscheinlicher ist, und ihr nicht folgen müssen, wenn sie sicher weniger wahrscheinlich ist. Es ist der Fall der Ebenbürtigkeit, oder nahezu Ebenbürtigkeit, bei den Wahrscheinlichkeiten, der die Schwierigkeiten verursacht. Wenn der Zweifel die Existenz des Gesetzes betrifft, sagen sie, dass die Freiheit im Besitzstand ist und das Gesetz nicht befolgt werden muss; aber wenn der Zweifel das Außerkrafttreten des Gesetzes betrifft, ist das Gesetz im Besitzstand und muss befolgt werden. Die Schwierigkeit des Systems bleibt dennoch. Es erfordert ein sorgfältiges Abwägen, wenn auch keine mathematische Messung, des Gewichts der Wahrscheinlichkeit auf jeder Seite und ein weiteres Urteil darüber, wie sorgfältig ein solches Abwägen sein muss, neben der Unterscheidung zwischen der Existenz und dem Außerkrafttreten des Gesetzes. Selbst die gröbste Schätzung des Gewichts der Wahrscheinlichkeit kann oft sehr schwierig sein, zu schwierig für den praktischen Gebrauch.

Es könnte eingewandt werden, dass es nicht schwieriger ist, den Grad der Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, als zu bestimmen, ob oder ob nicht eine Meinung solide wahrscheinlich ist. Ein wenig Nachdenken wird zeigen, dass dem nicht so ist. Solide Wahrscheinlichkeit bedeutet nur, dass eine Meinung wirklich und tatsächlich wahrscheinlich ist, dass die Gründe, die für sie sprechen, nicht lächerlich oder unbedeutend sind, wie solche, mit denen die Laxisten sich zufrieden geben würden. Um zu bestimmen, dass eine Meinung solide wahrscheinlich ist, genügt es, ein paar oder sogar nur ein gutes, gewichtiges Argument für sie zu haben, obwohl die Argumente gegen sie vielleicht stärker sein könnten. Um zu zeigen, dass eine Seite gleiche oder größere Wahrscheinlichkeit für sich hat, wie der Äquiprobabilismus und der Probabiliorismus verlangen, müssen alle Argumente für und gegen sie aufgezählt und ihr jeweiliger Wert abgewogen werden. Das ist oft eine hoffnungslose Aufgabe, die die besten Experten vor ein Rätsel stellt. Der Probabilismus macht sie unnötig.

Muss man bei der Anwendung des Probabilismus konsistent sein? Wenn es wahrscheinlich ist, dass ein Gesetz bindet, ist es auch wahrscheinlich, dass es nicht bindet. Darf eine Person in einem Fall der Meinung folgen, dass das Gesetz bindet, und dann in einem anderen, aber genau gleichen Fall, der Meinung folgen, dass das Gesetz nicht bindet? Da die ganze Theorie des Probabilismus bedeutet, dass man, wenn Sicherheit nicht erreicht werden kann, jeder solide wahrscheinlichen Meinung folgen darf, gibt es keinen Grund, warum man nicht von jeder Meinung Gebrauch machen darf, und daher von unterschiedlichen Meinungen in verschiedenen individuellen Fällen, ob sie ähnlich sind oder nicht. Daher darf ein Anwalt der wahrscheinlichen Meinung folgen, dass ein Testament gültig ist, wenn das seinem Klienten in diesem Fall hilft; dann in einem anderen, aber genau gleichen Fall, darf er der wahrscheinlichen Meinung folgen, dass ein solches Testament ungültig ist, wenn das dem Klienten hilft, den er jetzt hat. Aber in Bezug auf dasselbe einzelne Testament wäre es ihm nicht erlaubt, der Meinung zu folgen, dass es gültig ist, um das Erbe anzunehmen, und auch der gegenteiligen Meinung zu folgen, dass es ungültig ist, um zu vermeiden, die Verbindlichkeiten zu erfüllen; ein und dasselbe individuelle Testament kann nicht gleichzeitig für gültig und ungültig gehalten werden.

Fazit

Diese ganze Angelegenheit der Gewissensbildung scheint eine ganze Menge Feinheiten und Kasuistik zu enthalten. Manche Menschen haben eine gefühlsmäßige Abneigung gegen diese Feinheiten, als einen Gegensatz zu geradliniger Einfachheit und Ehrlichkeit. Das erste, was man als Antwort auf solche Beschwerden anmerken muss, ist, dass man immer dem moralisch sichereren Weg folgen darf. Aber in der Ethik studieren wir nicht nur, was die bessere, edlere, und heldenhaftere Tat ist, sondern auch, was genau ein Mensch streng verpflichtet ist, zu tun. Ein großzügiger Mensch wird nicht um gute Werke feilschen, aber ein aufgeklärter Mensch wird wissen wollen, wann er eine strenge Pflicht erfüllt und wann er großzügig ist.

Genaue moralische Unterscheidung ist besonders notwendig, wenn man das Verhalten anderer beurteilt. In unserem persönlichen Leben können wir vielleicht gewillt sein, auf unsere strengen Rechte zu verzichten und über die Pflicht hinauszugehen, aber wir haben nicht das Recht, anderen eine Verpflichtung aufzuerlegen, das zu tun. Die Grenze zwischen Richtig und Falsch ist schwer zu bestimmen. Es ist närrisch, zu nahe an ihr zu fahren, aber es ist uns nicht erlaubt, einen anderen Menschen eines Fehlverhaltens zu beschuldigen, wenn er sich nicht falsch verhalten hat.“

(Austin Fagothey SJ, Right and Reason. Ethics in theory and practice based on the teachings of Aristotle and St. Thomas Aquinas, Charlotte, North Carolina, 2000 (Nachdruck der 2. Ausg., St. Louis 1959), S. 214-222.)

Zum selben Thema schreibt Heribert Jone so ziemlich das Gleiche, was hier auch zum Vergleich angeführt werden soll; allerdings enthält sein Buch noch ein paar zusätzliche Klugheitsregeln (weiter unten fett hervorgehoben):

92. Die Bildung eines praktisch sicheren Gewissens

Da man nie mit einem praktischen Zweifel über die Legitimität einer Handlung handeln darf (s. Nr. 88), muss man danach streben, ein praktisch sicheres Gewissensurteil zu bilden.

I. Die direkte Lösung eines Gewissenszweifels ist normalerweise einfach genug zu finden, vor allem in den weniger wichtigen Fällen, indem man die Frage näher ansieht und studiert oder indem man Rat sucht.

[…]

93. – II. Eine indirekte Lösung eines Gewissenszweifels, d. h. eine Lösung mit den verschiedenen Moralprinzipien und Moralsystemen, ist erlaubt, wenn man mit den direkten Mitteln keine Sicherheit erreichen kann.

Bei einer solchen Lösung bleibt der theoretische Zweifel, der die Legitimität oder Notwendigkeit einer Aktion betrifft, aber man erreicht dennoch eine Sicherheit darüber, was man gegenwärtig tun darf oder tun muss.

1. Wenn es sich darum handelt, ein notwendiges Ziel zu erreichen, muss man den sichereren Weg wählen, wenn man den theoretischen Zweifel nicht lösen kann.

[…] Wenn es sich um die Spendung der Sakramente handelt, muss man sich aus Respekt vor dem Sakrament, oft auch aufgrund der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe, im Zweifelsfall oft für die Meinung entscheiden, die die gültige Spendung sicher garantiert. Aber wenn man sich bei der Spendung eines Sakraments keine sicher gültige Materie verschaffen kann, kann man sich im Interesse der Seelen mit einer zweifelhaften Materie begnügen. – Wenn es sich um das sichere Recht eines Dritten handelt oder um einen Schaden für ihn, der zu vermeiden ist, muss man sich der Meinung anschließen, die es ermöglicht, dass sein Recht sicher aufrechterhalten wird oder dass die Gefahr von ihm entfernt wird. Daher hat ein Arzt nicht das Recht, gefährliche Heilmittel zu verwenden, wenn er sich andere verschaffen kann; ein Jäger hat nicht das Recht, zu schießen, wenn er Gründe hat, zu fürchten, dass er beim Schießen einen Menschen verletzen könnte.

94. 2. Wenn es sich um die Erlaubtheit einer Handlung handelt, kann man jeder Meinung folgen, die sicherlich gut fundiert ist, auch wenn die gegenteilige Meinung besser fundiert wäre.

a) Eine Meinung ist gut fundiert, wenn sie einen vernünftigen Menschen dazu bewegen kann, ihr zuzustimmen, auch nachdem er die gegenteiligen Gründe abgewogen hat. Die Furcht, dass die gegenteilige Meinung wahr sein könnte, kann dabei fortbestehen.

Die Gründe für eine Meinung können intrinsisch oder extrinsisch sein, je nachdem, ob sie sich auf eine persönliche Prüfung der Frage oder auf die Autorität eines anderen stützen, aber im letzteren Fall nimmt man an, dass jene, deren Meinung man folgt, die Frage selbst studiert haben. […] Ein unkultivierter Mensch muss sich auf das Urteil eines klugen Beichtvaters oder seines Pfarrers verlassen. Die Seelenführer [Beichtväter] können sich auf die Meinung anerkannter Moralisten oder sogar allein auf die des hl. Alphons verlassen.

Es wird in vielen Fällen relativ einfach sein, zu erkennen, dass eine Meinung, die für die Freiheit [vom Gesetz] spricht, gut fundiert ist, indem man auf Klugheitsregeln zurückgreift: im Zweifelsfall ist sich an die allgemein geübte Praxis zu halten (in dubio judicandum est ex communiter contingentibus); im Zweifelsfall muss man sich für die Gültigkeit einer [bereits] vollbrachten Handlung aussprechen (in dubio standum est pro valore actus); niemand darf für einen Übeltäter gehalten werden, bevor seine Bosheit nicht bewiesen ist (nemo malus nisi probetur); im Zweifelsfall muss man großzügig interpretieren, was günstig ist, streng begrenzt interpretieren, was ungünstig ist (favores ampliandi, odiosa restringenda). [Hervorhebungen in fetter Schrift von mir.]

b) Man darf einer auf diese Weise gut fundierten Meinung folgen:

α) In Bezug auf jedes Gesetz.

Es ist hier die Rede von menschlichen Gesetzen wie auch positiven göttlichen Gesetzen und dem Naturrecht. Der Zweifel kann die Existenz des Gesetzes betreffen, sein Außerkrafttreten oder seine Durchführung.

β) Selbst wenn man sich in einem anderen Fall für die gegenteilige Meinung entschieden hat.

Man darf dementsprechend in einem Fall ein Erbe, das aus einem informellen Testament stammt, in Besitz nehmen, und in einem anderen Fall ein Testament dieser Art gerichtlich anfechten. – Aber wenn es sich um ein und dieselbe Handlung handelt, kann man nicht den beiden gegenteiligen Meinungen folgen, da man damit mit Sicherheit das Gesetz verletzen würde. Dementsprechend ist derjenige, der ein Testament, das der juristischen Form entbehrt (informell), angenommen hat, gehalten, die in diesem Testament enthaltenen Vermächtnisse [Schulden] für gültig zu halten und sie zu begleichen.

95. Bemerkung. – Die verschiedenen Moralsysteme.

Da die hier vorgestellte Meinung (Nr. 94) nicht von allen Moralisten geteilt wird, werden wir eine kurze Übersicht über die verschiedenen Moralsysteme geben.

a) Der absolute Tutiorismus lehrt, dass man jedes Mal, wenn es verschiedene Meinungen gibt, die sicherste wählen und sich demnach für das Befolgen des Gesetzes aussprechen muss; allein die offenkundige Gewissheit des Gegenteils kann uns von der Verpflichtung befreien.

b) Nach dem abgeschwächten Tutiorismus ist man von der Verpflichtung durch das Gesetz befreit, wenn die Meinung, die für die Freiheit spricht, sehr wahrscheinlich ist.

c) Der Probabiliorismus lehrt, dass man der Meinung, die für die Freiheit spricht, nur folgen darf, wenn diese Meinung wahrscheinlicher ist als jene, die für das Gesetz spricht.

d) Der Äquiprobabiliorismus verlangt, dass die Meinung, die für die Freiheit spricht, gleich wahrscheinlich oder fast gleich wahrscheinlich ist wie die Meinung, die für das Gesetz spricht. Allerdings könnte man dieses Prinzip nur bei einem Zweifel über die Existenz des Gesetzes anwenden, aber nicht bei einem Zweifel über sein Außerkrafttreten oder seine Erfüllung.

e) Der Kompensationismus lehrt, dass es im Zweifel über die Erlaubtheit einer Handlung einen genügend ernsthaften Grund braucht, um sich für die Meinung, die gegen das Gesetz spricht, zu entscheiden. Je wichtiger das Gesetz ist, und je wichtiger die Gründe sind, die für es sprechen, desto ernstere Gründe muss man haben; um so die Gefahr einer materiellen Gesetzesübertretung zu vermeiden.

f) Der Probabilismus lehrt die Sichtweise, die weiter oben dargelegt wurde (Nr. 94), nämlich dass man die Meinung, die für die Freiheit spricht, wählen darf, vorausgesetzt, dass sie gut fundiert ist, selbst wenn die gegenteilige Meinung wahrscheinlicher ist.

g) Nach dem Laxismus kann man der Meinung folgen, die für die Freiheit spricht, selbst wenn sie nur kaum oder zweifelhaft wahrscheinlich ist.

Um die Systeme zu beurteilen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass der Tutiorismus und der Laxismus von der Kirche verurteilt wurden. Was die anderen angeht, so sind sie alle erlaubt.

In der Praxis strebe der Beichtvater danach, was seine persönlichen Angelegenheiten betrifft, immer freiwillig das Vollkommenere zu wählen, und seinen Pönitenten zuzureden, dasselbe zu tun. Aber dass er nicht vergesse, dass er nicht das Recht hat, seine Meinung seinen Pönitenten aufzuzwingen, wenn die gegenteilige Meinung wahrscheinlich ist (s. Nr. 605).“ 

(Heribert Jone OFMCap, Précis de théologie morale catholique, ins Französische übersetzt von Marcel Gautier, 5. Ausg., Mulhouse 1935, Nr. 92-95; zurück ins Deutsche übersetzt von mir.)

Was ist meine Berufung?

Berufungen. Ach ja. Es wird bei uns in der Kirche gerne um welche gebetet, und viel über sie geredet, aber was das eigentlich ist – eine Berufung -, das wird auch gerne missverstanden. Und das kann dann für einigen unnötigen Stress sorgen. Bin ich zum Ordensleben oder Priestertum berufen? Oder will Gott mich vielleicht doch lieber in der Ehe sehen? Soll ich das Studium machen, oder die Ausbildung hier? Was, wenn ich den falschen Weg einschlage? Woran erkennt man eine Berufung? Es gibt vielleicht junge Männer, die sich fragen, ob sie Priester werden können, auch wenn sie nicht diese anscheinend manchmal erwartete innerliche Gewissheit verspüren, dass Gott sie beruft; oder junge Frauen, die sowohl den Gedanken daran, verheiratet und Mutter von drei, vier, fünf Kindern zu sein, als auch die Vorstellung, als Franziskanerin in einem Kloster zu leben, attraktiv finden und nicht wissen, wo Gott sie jetzt eigentlich haben will. Hinter manchen unnötigen Sorgen steckt auch der Gedankengang: Gott hat genau einen bestimmten Weg für mein Leben vorgesehen und wenn ich diesen Weg nicht finde, sündige ich und verpasse außerdem den ganzen Sinn und Zweck meines Daseins.

(Ewige Profess in einem Benediktinerinnenkloster, 2006, Quelle: Bischöfliche Pressestelle Hildesheim.)

Hauptsächlich und klassischerweise geht es bei der Frage nach einer „Berufung“ um die Wahl zwischen der Ehe und einem gottgeweihtem Leben gemäß den evangelischen Räten (Ratschlägen aus dem Evangelium, mit einer gewissen häretischen Konfession hat das nichts zu tun), also Armut, eheloser Keuschheit und Gehorsam. Dazu hat der hl. Paulus eigentlich alles Entscheidende schon im 1. Korintherbrief gesagt:

„Ich wünschte, alle Menschen wären unverheiratet wie ich. Doch jeder hat seine eigene Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so. Den Unverheirateten und den Witwen sage ich: Es ist gut, wenn sie so bleiben wie ich. Wenn sie aber nicht enthaltsam leben können, sollen sie heiraten. Es ist nämlich besser zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren. […] Was aber die Unverheirateten betrifft, so habe ich kein Gebot vom Herrn. Ich gebe euch nur einen Rat als einer, den der Herr durch sein Erbarmen vertrauenswürdig gemacht hat. Ich meine, es ist gut wegen der bevorstehenden Not, ja, es ist gut für den Menschen, so zu sein. Bist du an eine Frau gebunden, suche dich nicht zu lösen; bist du ohne Frau, dann suche keine! Heiratest du aber, so sündigst du nicht; und heiratet eine Jungfrau, sündigt auch sie nicht. Freilich werden solche Leute Bedrängnis erfahren in ihrem irdischen Dasein; ich aber möchte sie euch ersparen. Denn ich sage euch, Brüder: Die Zeit ist kurz. Daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht; denn die Gestalt dieser Welt vergeht. Ich wünschte aber, ihr wäret ohne Sorgen. Der Unverheiratete sorgt sich um die Sache des Herrn; er will dem Herrn gefallen. Der Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; er will seiner Frau gefallen. So ist er geteilt. Die unverheiratete Frau aber und die Jungfrau sorgen sich um die Sache des Herrn, um heilig zu sein an Leib und Geist. Die Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; sie will ihrem Mann gefallen. Dies sage ich zu eurem Nutzen: nicht um euch eine Fessel anzulegen, vielmehr, damit ihr euch in rechter Weise und ungestört immer an den Herrn haltet. Wer sich gegenüber seiner Verlobten ungehörig zu verhalten glaubt, wenn sie herangereift ist und es so geschehen soll, der soll tun, wozu es ihn drängt, nämlich heiraten, er sündigt nicht. Wer aber in seinem Herzen fest bleibt, weil er sich in der Gewalt hat und seinem Trieb nicht ausgeliefert ist, wer also in seinem Herzen entschlossen ist, seine Verlobte unberührt zu lassen, der handelt gut. Wer seine Verlobte heiratet, handelt also gut; doch wer sie nicht heiratet, handelt besser.“ (1 Kor 7,7-9.25-38)

Zu dieser Stelle habe ich hier schon mal etwas geschrieben; ich zitiere der Einfachheit halber mal mich selber:

„Dann ist es wichtig, zu sehen, dass Paulus hier keinen versteckten moralischen Druck aufbauen will, à la ‚Na ja, also… so richtig sündigen tut ihr jetzt nicht, wenn ihr heiratet, aber ihr solltet euch das lieber mal gut überlegen, es wäre schon besser, wenn ihr das nicht machen würdet…‘. Nein, wenn er sagt, ‚Heiratest du aber, so sündigst du nicht‘ oder ‚Wer seine Verlobte heiratet, handelt also gut‘ oder ‚Was aber die Unverheirateten betrifft, so habe ich kein Gebot vom Herrn. Ich gebe euch nur einen Rat‘, dann meint er das auch. Was nicht Sünde ist, darf man machen; hier lässt Gott uns jede Freiheit, und er nimmt es uns nicht übel, wenn wir uns für das an sich ‚Minderwertigere‘ entscheiden. Denn noch eins sollte hier klar sein: Minderwertig heißt für Paulus eben nicht ’schlecht‘, wie wir das Wort oft verwenden, sondern ‚wertvoll, nur von minderem Wert gegenüber etwas noch Besserem‘. Die Ehe ist gegenüber der Jungfräulichkeit für ihn so etwas wie die Arbeit eines Krankenpflegers gegenüber der eines Arztes; beides wichtig, beides gut (Gnadengaben vom Herrn), beides sogar unersetzlich, das eine eben für den einen Menschen geeignet, das andere für den anderen. Und ja, das ist immer noch offizielle Kirchenlehre: Die gottgeweihte Jungfräulichkeit bzw. Enthaltsamkeit steht an sich über der Ehe, wie z. B. Engel über Menschen stehen oder Apfelsaft nahrhafter ist als Leitungswasser. Man darf trotzdem Leitungswasser vorziehen.“

Diese Lehre hat übrigens sogar den Rang eines Dogmas; beim Konzil von Trient heißt es: „Wer sagt, der Ehestand sei dem Stand der Jungfräulichkeit oder des Zölibates vorzuziehen, und es sei nicht besser und seliger, in der Jungfräulichkeit und dem Zölibat zu bleiben, als sich in der Ehe zu verbinden: der sei mit dem Anathema belegt.“ Ja, das heißt, wenn jemand dir sagt, dass Ehe und Jungfräulichkeit genau gleich viel wert sind, ist er streng genommen zumindest ein materieller Häretiker.*

Also, zwei Sachen werden hier ganz deutlich: 1) Eine der beiden Berufungen ist objektiv höherwertig. Das nur auf Gott ausgerichtete Leben ist etwas ganz Besonderes, das es in der Kirche auf jeden Fall braucht – übrigens auch, um der Welt klarzumachen, dass unsere Hoffnung nicht in dieser Welt liegt, sondern bei Gott. 2) Es ist keine Sünde, nicht das Höherwertige zu wählen. Ich glaube, es ist nötig, es immer und immer wieder zu sagen: Das Bessere ist nicht der Feind des Guten. Und Gott liebt einen nicht weniger, wenn man das weniger Gute wählt.

Interessant ist auch: Paulus sagt zwar: „Doch jeder hat seine eigene Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so.“ Aber dann sagt er doch allgemein: Wer nicht heiratet, handelt besser; nur, wenn das zu schwierig für ihn ist, dann soll er halt heiraten und muss sich deswegen kein schlechtes Gewissen machen. Mit den Gnadengaben scheint er eher die Fähigkeit als die gefühlsmäßig empfundene persönliche Beauftragung zu einem Leben allein zu meinen. (Nur mal so: bei einem Verzicht auf die Ehe geht es ja nicht nur um einen Verzicht auf Sex, das zwar auch, aber auch um einen Verzicht auf Partnerschaft, auf Kinder, usw. Das muss man auch aushalten können.)

Auch zwei Stellen in den Evangelien sind hier wichtig. Als Jesus klargestellt hat, dass Ehescheidung nicht geht, geht es so weiter: „Da sagten seine Jünger zu ihm: Wenn das Verhältnis des Mannes zur Frau so ist, dann ist es nicht gut zu heiraten. Jesus sagte zu ihnen: Nicht alle können dieses Wort erfassen, sondern nur die, denen es gegeben ist. Denn manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig, manche sind von den Menschen dazu gemacht und manche haben sich selbst dazu gemacht – um des Himmelreiches willen. Wer es erfassen kann, der erfasse es.“ (Mt 19,10-12) Manchen ist es also gegeben, auf die Ehe zu verzichten – und wenn einer sich dafür geeignet sieht, ist es auch gut, wenn er es tut.

Dann kommt die Geschichte von dem reichen Jüngling: „Und siehe, da kam ein Mann zu Jesus und fragte: Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Er antwortete: Was fragst du mich nach dem Guten? Nur einer ist der Gute. Wenn du aber in das Leben eintreten willst, halte die Gebote! Darauf fragte er ihn: Welche? Jesus antwortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Der junge Mann erwiderte ihm: Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir noch? Jesus antwortete ihm: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib ihn den Armen; und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach! Als der junge Mann das hörte, ging er traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen.“ (Mt 19,16-22) Als der reiche junge Mann fragt, was er tun muss, nennt Jesus ihm einfach die allgemeinen Gebote; als er noch mehr tun will, lädt Jesus ihn ein, auch auf seinen Besitz zu verzichten.

Der hl. Thomas nennt das Leben nach den evangelischen Räten den „Stand der Vollkommenheit“. Wir verwenden das Wort „vollkommen“ ja eigentlich mit zwei Bedeutungen: 1) „makellos“, d. h. ohne Fehler oder Verunreinigungen, 2) am höchsten, das Bestmögliche. Nach Vollkommenheit im ersten Sinne soll jeder Christ streben (d. h. jeder soll keine Sünden begehen – klar wird man sie nicht alle vermeiden können, aber man muss es sich als Ziel setzen und versuchen), Vollkommenheit im zweiten Sinne ist etwas Freiwilliges für die, die sie auf sich nehmen wollen, dafür geeignet und nicht durch irgendwelche äußeren Umstände daran gehindert sind. Und zu dieser zweiten Vollkommenheit gehören die evangelischen Räte. (Hier noch mehr zum Thema Gutsein & Vollkommenheit.) „Da jedoch die Vorschrift des Gesetzes in verschiedener Weise erfüllt werden kann, so ist deshalb noch nicht jemand ein Gesetzesübertreter, wenn er nicht auf die beste Weise es erfüllt; vielmehr genügt es, wenn er irgendwie dies thut.“ (Aus: Summa Theologiae II/II 184,3, Antwort auf den zweiten Einwand.)

Laut Thomas ist das Leben nach den Räten ein besonders gut geeignetes Mittel, um zur Heiligkeit zu gelangen – aber eben kein Endzweck in sich selbst. Der Endzweck ist die Gottes- und Nächstenliebe. „In untergeordneter Weise und wie in einem Werkzeuge aber besteht die Vollkommenheit in den Räten, welche alle, aber anders wie die Gebote, zur heiligen Liebe in Beziehung stehen. Denn die Gebote entfernen Alles, was zur Liebe selbst im Gegensatze steht, womit die Liebe also nicht bestehen kann; die Räte aber entfernen Hindernisse für die thatsächliche Äußerung oder Bethätigung der Liebe, welche jedoch zur Liebe selber nicht im Gegensatze stehen, wie z. B. die Ehe, die Beschäftigung mit Weltlichem. Deshalb sagt Augustin (Enchir. 121.): ‚Was auch immer geboten ist, wie z. B.: du sollst nicht ehebrechen; oder was auch immer geraten ist, wie z. B.: Gut ist es für den Menschen, ein Weib nicht zu berühren; — dies Alles geschieht dann recht, wenn es bezogen wird auf Gott und um Gottes willen auf den Nächsten.‘ Und in den collat. Patr. (1, 7.) heißt es: ‚Fasten, Nachtwachen, Betrachten der Schrift, Entblößung und Verzicht auf allen Besitz bilden nicht die Vollkommenheit, sondern sind deren Werkzeuge; denn nicht dies Alles ist der Zweck, sondern vermittelst dessen gelangt man zum Zwecke, … auf diesen Stufen steigen wir zur heiligen Liebe empor.'“ (Aus: Summa Theologiae II/II 184,3)

Thomas schreibt interessanterweise auch, dass es nicht nötig sei, sich um einen Ordenseintritt ewig Gedanken zu machen: „Ich antworte, in großen Zweifeln bedürfe man langer Beratung mit vielen Zweifeln. In zuverlässig gewissen Dingen bedarf es keiner Beratung. (3 Ethic. 3.) Nun kann rücksichtlich des Eintritts in den Ordensstand dreierlei berücksichtigt werden: 1. Der Eintritt selber; da liegt an und für sich ein besseres Gut vor, und wer daran zweifelt, der fehlt gegen Christum selber, welcher diesen Rat gegeben. Deshalb sagt Augustin (de verb. Dom. serm. 7. c. 2.): ‚Die aufgehende Sonne, d. i. Christus, ruft dich und du willst auf den Untergang achten d. i. auf einen sterblichen, des Irrtums fähigen Menschen!‘ 2. Der Eintritt mit Rücksicht auf die Kräfte des eintretenden; da aber vertrauen die eintretenden nicht auf ihre Kräfte, sondern auf den Beistand Gottes, nach Is. 40.: ‚Die auf den Herrn hoffen, wechseln ihre Stärke, sie werden Flügel annehmen wie die Adler; fliegen werden sie und nicht schwach werden.‘ Besteht jedoch nach dieser Seite hin ein besonderes Hindernis, wie körperliche Schwäche, Schuldenlast etc.; darüber muß man Rats pflegen mit verständigen Personen, die nicht gegen den Eintritt sind und selben hindern wollen, nach Ekkli. 37, 12. Ein langes Beraten ist jedoch auch da nicht nötig; wie Hieronymus sagt (ad Paulinum): ‚Eile, ich bitte dich, haue vielmehr das Seil durch, welches das Schifflein am Ufer festhält, anstatt es zu lösen.‘ 3. Der bestimmte Orden, in den man eintreten will und die Art und Weise des Eintretens; darüber kann man ebenfalls Rats pflegen mit denen, die nicht hindern wollen.“ (Summa Theologiae II/II 189,10)

Die Ehe, ein normales Leben in der Welt mit einer Familie, ist eher der Standard – das, was man eben normalerweise so macht, sobald man einen netten Partner findet. Dazu braucht es eigentlich keine besondere „Berufung“. Aber dann gibt es eben den allgemeinen Ratschlag an alle Christen: Es ist auch gut, auf Ehe, Besitz und Unabhängigkeit zu verzichten, das macht es einfacher, heilig zu werden. Das ist kein total seltener Ruf an nur ganz vereinzelte herausgehobene Christen, sondern ein allgemeiner, mit Gottes Gnade auch erfüllbarer Rat. (Wer durch äußere Umstände statt durch die eigene Wahl arm oder ehelos ist, muss das ja auch aushalten können.)

Das Gefühl, sowohl gerne heiraten als auch gerne im Kloster leben zu wollen, ist übrigens normal. Der Wunsch zur Ehe ist ganz natürlich, und der Verzicht auf die Aussicht darauf tut fast jedem weh. Okay, es gibt sicher den ein oder anderen asexuellen introvertierten Einzelgänger oder so. Aber für gewöhnlich ist ein Verzicht eben ein Verzicht. Die Frage stellt sich dann: Kann und will ich diesen Verzicht auf mich nehmen?

Für eine Berufung entscheidet man sich übrigens auch nicht allein: Bei der Ehe muss natürlich der andere Partner ja sagen, und beim Priestertum eben der Bischof, beim Ordensleben der Abt oder die Äbtissin. Das macht auch Sinn: Andere sehen vielleicht Umstände, die eine Berufung behindern. Das können Dinge sein, für die man nichts kann, aber auch bestimmte eigene Sünden. Vielleicht ist jemand nicht intelligent genug oder gesundheitlich zu angeschlagen, um Priester zu werden, und deshalb muss der Bischof ihm leider nein sagen; oder jemand ist zu rechthaberisch und eingebildet, um sich in eine Ordensgemeinschaft einzufügen, und deshalb muss der Abt ihn wegschicken.

Und was, wenn man keinen der beiden klassischen Wege gehen kann – also z. B. weder von einem Orden genommen wird noch einen Partner findet? Na ja, das ist eben einfach eins dieser Kreuze, die einem manchmal im Leben begegnen. Die hl. Anna Schäffer wollte Missionsschwester werden, hatte aber mit 18 Jahren, als sie als Dienstmädchen arbeitete, um sich ihre Mitgift für ein Kloster zu verdienen, einen so schweren Unfall, dass sie für die restlichen 24 Jahre ihres Lebens bettlägerig wurde. Ja, sie wurde trotzdem eine Heilige.

(Die hl. Anna Schäffer, um 1920, Quelle: Wikimedia Commons.)

Aber beim Thema Berufung geht es ja oft nicht nur um Ehe vs. Jungfräulichkeit. Dann gibt es auch noch Fragen wie: Will Gott, dass ich genau diese Person heirate? In diesen Orden hier eintrete? Diesen Beruf lerne? In diese Stadt ziehe? Bei dieser kirchlichen Bewegung mitmache? Und auch da findet sich oft diese Denkweise: Ich muss irgendwie ganz genau herausfinden, was Gott in jedem einzelnen Punkt von mir will.

Ich kenne das übrigens. Ich habe mich z. B. vor ein paar Jahren mit der Vorstellung herumgequält, Gott könnte von mir verlangen, Religionslehrerin (oder irgendetwas Ähnliches) zu werden. Ist ja ein wichtiger Job, wo lehramtstreue Leute benötigt würden. Nun wollte (und will) ich auf keinen Fall Lehrerin werden – ich käme mit dem Stress nicht klar und könnte keine Klasse unter Kontrolle halten, auch wenn ich noch so viel Ahnung von der Materie hätte und gute Vorträge über die Auferstehung Jesu halten könnte. Ein Priester hat mir damals mit dem Hinweis geholfen, dass Gott von uns nicht etwas verlangt, für das wir nicht wirklich geeignet sind und das uns überfordern würde.

Wir haben auch hier oft die Vorstellung: Gott hat nur genau einen bestimmten Weg für uns vorgesehen, und den dürfen wir nicht verpassen. Woher kommt diese Vorstellung? Wieso sollte es nicht so sein, dass Gott uns verschiedene gute Möglichkeiten vorlegt, und uns dann auch die Freiheit lässt, zwischen diesen zu wählen? In der Welt gibt es so unendlich viele Wege. Wir Tradi-Katholiken schauen ja gerne – zu Recht – etwas auf diese Vorstellung hinunter, es gäbe den einen Seelenverwandten, den man finden müsste, um glücklich zu werden; nö, auf der großen weiten Welt gäbe es sicher einige Menschen, die gut genug zu einem bestimmten Menschen passen würden, um eine glückliche Partnerschaft hinzukriegen. Dann seien wir doch mal konsequent und dehnen wir das Prinzip auf das Feld der Berufung allgemein aus.

Natürlich gibt es Wege, für die man eher geeignet oder weniger geeignet wäre. Es wird wohl Möglichkeiten geben, von denen es Gott lieber wäre, dass wir sie wählen würden. Vielleicht gibt es ein Feld, wo dringend Leute gebraucht werden und wo Er uns am liebsten haben möchte. Und da können wir erstmal unseren von Ihm gegebenen Verstand anwenden und schauen: Was sind meine Neigungen? (Gott ist nicht darauf aus, uns zu quälen, und einen Job, den man absolut hasst, macht man oft auch nicht gut.) Was sind meine Talente? (Logisch.) Bei welchem Weg gäbe es vielleicht praktische Hindernisse? (Was nicht praktikabel ist, kann in der Theorie noch so toll ausschauen.) Was denken andere, wofür ich geeignet wäre? (Andere sehen einen manchmal klarer als man sich selbst.) Vielleicht gibt Gott einem wirklich auch mal einen Wink, ein Zeichen, eine Eingebung. Ein anderes Hilfsmittel, um zu einer Entscheidung zu finden, wäre auch, sich vorzustellen, man ist achtzig Jahre alt und blickt (z. B.) auf eine lange Ehe und Kinder und Enkelkinder zurück; sich dann vorzustellen, man ist achtzig Jahre alt und blickt (z. B.) auf ein langes Leben im Kloster zurück; und dann zu schauen, welche Vorstellung einem eigentlich besser gefallen hat. Eine absolute Sicherheit, das gefunden zu haben, was Gottes idealer Wille für uns ist, wird es dann aber nicht geben – man kann sich dem nur annähern. Aber die braucht es auch nicht. Gott verlangt gar nicht, dass wir uns endlos unentschlossen herumquälen und auf ein Zeichen warten, sondern dass wir uns, nach einem vernünftigen Maß an Nachdenken und Prüfen, für irgendeinen sinnvollen Weg entscheiden.

Eine gute Methode ist es auch, sich eine Liste der jeweiligen Vor- und Nachteile beider möglicher Wege aufzuschreiben – und zwar vor allem auch der Vor- und Nachteile in Bezug auf das Seelenheil, denn wir sind ja auf der Erde, um das Heil unserer Seele zu wirken.

Und selbst, wenn wir mal etwas gewählt haben, das wir lieber nicht hätten wählen sollen – weil wir persönlich dafür gar nicht geeignet waren, oder weil es vielleicht tatsächlich etwas objektiv Sündhaftes war -, kann Gott die Situation immer wieder noch zum Guten wenden – nur eben auf andere Weise, als es sonst passiert wäre. Case in point: Der Sündenfall. Wenn die ersten Menschen nicht von Gott abgefallen wären, wäre uns vieles erspart geblieben, aber auch so hat Gott uns nicht verlassen. Schon gewusst, dass Adam und Eva als Heilige verehrt werden, also jetzt im Himmel sind?

Wir werden nie wissen, was gewesen wäre. Und das ist auch nicht so wichtig. Man muss sich auch nicht endlos mit Entscheidungen herumquälen. Wieso nicht einfach etwas ausprobieren? Mit jemandem ausgehen, den man sympathisch findet, eine Beziehung eingehen. Oder sich über die unterschiedlichen Orden informieren, bei einem Infotag vorbeischauen, Postulantin werden. Das ist besser, als ewig in sich hineinzuhorchen, auf eine göttliche Stimme zu warten und nie eine Entscheidung zu fällen. Bis man eine endgültige Entscheidung treffen muss, hat man noch Zeit, und wenn sich einem bis dahin ernsthafte Hindernisse in den Weg stellen sollten, kann man sehen, dass es vielleicht doch keine gute Idee war. Und wenn das nicht der Fall ist, und man diesen Weg immer noch einschlagen will: Na dann, wieso nicht?

Wenn man sich dann allerdings einmal endgültig festgelegt hat (also ab der Eheschießung, der Diakonatsweihe, den Ewigen Gelübden), muss man auch dabei bleiben. Gelübde sind einzuhalten, das ist einfach eine Frage der allgemeinen Moral – da hilft auch kein „vielleicht war das doch nicht Gottes Wille für mich“ mehr. Gott wird dann die nötige Gnade geben, dem eingeschlagenen Weg zu folgen.**

* Vermutlich kein formeller, d. h. kein „richtiger“ Häretiker, weil auch viele Leute, die lehramtstreu sein wollen, diese Ansicht aus Unwissenheit vertreten und sie ändern würden, wenn sie von dem Dogma wüssten.

** Freilich ist bei der Ehe eine Trennung möglich, wenn der andere Partner einen z. B. verlässt, betrügt, misshandelt o. Ä. – allerdings (wenn es um eine sakramentale & vollzogene Ehe geht) keine Auflösung der Ehe, die eine erneute Heirat möglich machen würde. Und auch das ist eben ein der Sünde geschuldeter Ausnahmefall. Bei den Ewigen Gelübden oder dem einfachen Zölibatsversprechen, das ein Weltpriester ablegt, kann die Kirche einen unter bestimmten Umständen ausnahmsweise davon entbinden (sie sind kein Sakrament wie die Ehe), aber das ist auch kein sehr empfehlenswerter Weg, und, wieder, eine Ausnahme. Ein ganz anderer Fall wären von vornherein ungültige Ehe- oder Ordensgelübde, die für nichtig erklärt werden können (also z. B. solche, die unter Zwang abgelegt worden waren).