In meinem letzten Artikel habe ich ein bekanntes Werk der sog. Aufklärung kritisiert – Lessings Ringparabel – und mich dabei auch allgemein kritisch zu dieser Bewegung geäußert. Unter diesem Artikel wurde ein Kommentar hinterlassen, in dem es heißt:
„Die meisten Menschen haben positive Assoziationen zu dem Begriff ‚Aufklärung‘ wie Freiheit, Vernunft oder Gleichheit.
Die Argumente lauten dabei meist wie folgt: […]
Was sagst du zu diesen Argumenten, die in der öffentlichen Meinung weit verbreitet sind?“
Das war eine sehr gute Frage und der nötige Anstoß zu ein paar Artikeln, die ich schon lange einmal schreiben wollte. Der Kommentar fasst gängige Argumente für die Aufklärung gut zusammen, deshalb hier jetzt ausführliche Antworten auf sie. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass:
- die Aufklärer sich für ein paar gute Ziele einsetzen, für die sich aber auch schon vor ihnen rechtgläubige Christen eingesetzt hatten; sie werden extrem überbewertet.
- die Aufklärer gleichzeitig mehrere falsche und z. T. absolut toxische neue Ideen aufbrachten.
Heute erst einmal zu den ersten zwei mutmaßlichen Errungenschaften der Aufklärung, die der Kommentar nennt; zu den übrigen zwei im nächsten Beitrag; und im übernächsten dann noch ein paar weitere eigene Gedanken.
1) Menschenwürde und Menschenrechte
„1) Die Aufklärung ist die Grundlage für die heutigen Menschenrechte. Die Intellektuellen der Aufklärung haben immer wieder betont, dass alle Menschen frei und gleich sein sollen. Ebenso wurde die Humanitätsidee, die besagt, dass alle Menschen eine Würde haben und entsprechend behandelt werden sollen, entwickelt. Auf der Grundlage dieser aufklärerischen Prinzipien wurden Folter und Leibeigenschaft abgeschafft. Religiöse Toleranz und Religionsfreiheit wurden eingeführt, sodass ab dem Zeitalter der Aufklärung erste Ansätze zur Judenemanzipation sichtbar wurden.“
Gehen wir das Ganze nacheinander durch.
Die Idee der Menschenwürde ist eine christliche Idee. Sie beruht darauf, dass Gott alle Menschen mit einer unsterblichen Seele ausgestattet und nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Sie ist eine Kirchenlehre, die sich aus atheistischer, agnostischer oder heidnischer Sicht nicht begründen lässt. Es ist kein Wunder, dass es sie in vorchristlicher Zeit nicht gab und auch die großen Philosophen der Antike auf Sklaven, Frauen, Ungebildete, geistig Behinderte etc. herabsahen. Nun waren viele der Aufklärer des 18. Jahrhunderts immerhin noch Deisten (d. h. sie glaubten an einen Gott, der die Welt irgendwann einmal gemacht, geordnet, mit Gesetzen ausgestattet, dann aber sich selbst überlassen hatte), oder manchmal auch noch Theisten (d. h. sie glaubten an einen Gott, der auch noch persönlich ansprechbar war), aber auch gemäß einem solchen Weltbild ist es, wenn man den christlichen Glauben abgelegt hat, nicht so einfach, abzuleiten, wieso z. B. ein schwer geistig Behinderter dieselbe Menschenwürde haben soll wie alle anderen Menschen.
Mit anderen Worten: die Aufklärer redeten zwar von Menschenrechten, hatten aber oft keine theoretische Grundlage, auf der sie diese Menschenrechte aufbauen konnten, sondern zehrten von einem christlichen Weltbild, das viele von ihnen (nicht alle – es gab auch christliche Aufklärer) gleichzeitig ablehnten; und sie waren definitiv nicht die Erfinder der Idee der Menschenwürde.
Gutes Anschauungsmaterial für die Entwicklung der Ideen von Menschenwürde und Menschenrechten – und für deren Umsetzung – bietet die Entwicklung der Sklaverei.
Um Christi Geburt war sie auf der ganzen Welt eine normale Gegebenheit. Im Christentum wurde sie zu einer Folge der Sünde erklärt und es fanden sich schon in Antike und Frühmittelalter vereinzelte Stimmen, die sie für grundsätzlich unrechtmäßig hielten und ihre Abschaffung forderten, etwa im 4. Jahrhundert Gregor von Nyssa („Wenn ein Mensch das ‚Eigentum‘ Gottes zu seinem eigenen Eigentum macht und sich die Herrschaft über seine eigene Gattung anmaßt, so daß er sich für den Herrn von Männern oder Frauen hält, was macht er dann anderes als hochmütig die Natur überschreiten, indem er sich für etwas anderes als die Beherrschten hält?“*) und Johannes Chrysostomus; die Synode von Chalons um 650; oder etwas später Atto von Vercelli (885-960). Das war nicht die generelle Sicht; aber die war, dass auch, wenn manche Menschen unfrei waren, diese Menschen grundsätzliche Rechte hatten, ihr Herr sie also nicht einfach totschlagen, ihnen ihre Nahrung verweigern oder das Heiraten verbieten durfte, und eher ihre Arbeitskraft ihrem Herrn gehörte, nicht sie als Person.
Papst Gregor der Große erklärte in einer Freilassungsurkunde im Jahr 595, es sei heilsam gehandelt, „wenn Menschen, welche die Natur als Freie hervorbrachte und die vom Recht der Völker unters Joch der Sklaverei gezwängt wurden, durch die Wohltat eines Freilassers in jene Freiheit zurückversetzt werden, in der sie geboren wurden“**. In Nordwesteuropa wurde aus der Sklaverei allmählich die Leibeigenschaft, wo der Leibeigene zumindest einige Rechte hatte (dieser Prozess geschah etwa in England zwischen 1066 und ca. 1120); und Städte führten das Recht „Stadtluft macht frei“ ein. Der Sachsenspiegel von 1235 erklärt die Unfreiheit grundsätzlich für Unrecht und begründet das mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Der französische König Philipp der Schöne erklärte 1299 alle Leibeigenen auf seinen Krongütern für frei, und seine Ordonnanz beginnt mit „Berücksichtigend, daß jegliches menschliche Geschöpf, welches nach dem Bild unseres Herrn geformt ist, kraft des natürlichen Rechts im allgemein frei sein muß“***. Wir sehen also: die Begriffe und Argumente zur Menschenwürde sind da, auch wenn sich – was nicht verwunderlich ist – nicht alle Herrscher bequemen, sich in der Praxis danach zu richten. Das ist ja heute nicht anders; in wie vielen Staaten, die die ein oder andere Menschenrechtserklärung unterschrieben haben, gelten denn die Menschenrechte tatsächlich?
Als die Portugiesen und Spanier dann die „Neue Welt“ entdeckten und gleich mal zu erobern begannen, geschah wieder ein Rückschritt: So legten sie dort auch Plantagen an, wofür sie Arbeitskräfte brauchten; also wurden in Südamerika und der Karabik die Einheimischen unterjocht und an der westafrikanischen Küste afrikanischen Fürsten Sklaven abgekauft und nach Amerika importiert (weil die Indios zu schnell wegstarben). In Europa brachen kirchliche und juristische Dispute darüber aus; 1537 schrieb Papst Paul III. folgende Enzyklika:
„Der höchste Gott hat das Menschengeschlecht so sehr geliebt, dass Er den Menschen in einer solchen Weise geschaffen hat, dass er nicht nur an den Gütern, an denen sich andere Geschöpfe erfreuen, teilhaben sollte, sondern ihn mit der Möglichkeit ausgestattet hat, das unzugängliche und unsichtbare Höchste Gut [= Gott] zu erreichen und von Angesicht zu Angesicht zu sehen […]
Der Feind des Menschengeschlechts [= der Teufel], der sich allen guten Werken entgegenstellt, um den Menschen zu zerstören, hat, da er dies sah und neidisch war, ein Mittel erfunden, von dem nie zuvor gehört wurde, durch das er die Verkündigung von Gottes rettendem Wort zu den Menschen verhindern könnte: er stiftete seine Anhänger an, die, um ihm zu Gefallen zu sein, nicht zögerten, in der Fremde verlauten zu lassen, dass die Indianer des Westens und Südens und andere Völker, von denen wir vor kurzem erfahren haben, wie stumpfsinnige Tiere behandelt werden sollten, die zu unserem Dienst geschaffen wären, wobei sie vorgaben, diese wären unfähig, den katholischen Glauben zu empfangen.
Wir, die wir, obgleich unwürdig, auf Erden die Macht unseres Herrn ausüben und mit all unserer Kraft versuchen, die Schafe seiner Herde, die draußen sind, in den Pferch zu bringen, der unserer Verantwortung untersteht, sagen allerdings, dass die Indianer wirklich Menschen sind und dass sie nicht nur fähig sind, den katholischen Glauben zu verstehen, sondern dass sie sich laut unseren Informationen auch außerordentlich nach ihm sehnen. Da wir wünschen, diesen Übeln abzuhelfen, bestimmen und erklären wir mit diesen unseren Briefen, oder mit jeglicher Übersetzung derselben, die von irgendeinem öffentlichen Notar unterschrieben und mit dem Siegel irgendeines Würdenträgers der Kirche versiegelt sind, welche genauso angesehen werden sollen wie die Originale, dass, gleich, was Gegenteiliges gesagt worden sein mag oder gesagt werden möge, die besagten Indianer und alle anderen Völker, die vielleicht später von Christen entdeckt werden mögen, auf keine Weise ihrer Freiheit oder ihres Besitzes beraubt werden sollen, selbst wenn sie sich außerhalb des Glaubens Jesu Christi befinden; und dass sie frei und rechtmäßig ihre Freiheit und ihre Besitztümer genießen sollen, und nicht auf irgendeine Weise versklavt werden sollen; sollte das Gegenteil passieren, soll es nichtig sein und keine Wirkung haben.“
(Paul III., Sublimus Dei, Übersetzung von mir aus der englischen Übersetzung.)
In Spanien wurde die Versklavung der Indios schließlich verboten; afrikanische Sklaven wurden allerdings in begrenztem Maß noch importiert (wenn auch weniger als bei den Portugiesen in Brasilien). Auch der französische Staatstheoretiker Jean Bodin, obwohl einer der Vordenker des Absolutismus, forderte schon 1570, man solle die Sklaverei völlig abschaffen und den ehemaligen Sklaven das Bürgerrecht geben. Und auch wenn die Sklaverei in den Kolonien noch weiter bestand, wurde sie in den europäischen Mutterländern – außer in Portugal und einigen italienischen Städten – nicht mehr geduldet; wer als Sklave dorthin kam, wurde frei.
Die Idee natürlicher Rechte, die allen Menschen zustehen, war also definitiv nichts, auf das erst im 18. Jahrhundert jemand gekommen wäre.
Das Thema Sklaverei bietet übrigens auch ein gutes Beispiel für die Zwiespältigkeit der Aufklärung: Es waren gar nicht alle Aufklärer gegen die Sklaverei und Unterdrückung der Einheimischen in den Kolonien (bzw. besonders engagiert dagegen). Thomas Jefferson etwa hielt selbst Sklaven – jawohl, Thomas Jefferson, Mitautor einer gewissen Unabhängigkeitserklärung, in der es heißt: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ Oder sehen wir die sog. „Jesuitenreduktionen“ an. In Südamerika bauten die Jesuiten, die als Missionare zu einigen entlegenen Stämmen gingen, eigene kleine selbstverwaltete Quasi-Staaten auf, zu denen Weiße keinen Zutritt hatten und in denen die Indios vor Sklavenjägern geschützt waren. Unter den Kolonialisten gingen bald Gerüchte um, diese seien unheimlich reich; und überhaupt wurden die Jesuiten zu dieser Zeit ziemlich angefeindet. Was geschah? 1750 ging das Gebiet, auf dem einige dieser Reduktionen lagen, von Spanien an Portugal, Portugal ließ die Reduktionen auflösen, ein Aufstand der Indios dagegen wurde niedergeschlagen, und 1759 wurden die Jesuiten aus den portugiesischen Gebieten ausgewiesen. Verantwortlich für all das war der Erste Minister Portugals, der Marques de Pombal – ein besonders überzeugter Aufklärer und Kirchenfeind.
(Louis-Michel van Loo und Claude Joseph Vernet, Darstellung der Ausweisung der Jesuiten durch den Marques de Pombal. Gemeinfrei.)
Der Abolitionismus des 18. und 19. Jahrhunderts dann war eine Bewegung, die vor allem von englischen und nordamerikanischen Evangelikalen und Quäkern geprägt war; einer der wichtigsten englischen Abolitionisten, John Newton, ein bekehrter Sklavenhändler, ist der Autor des berühmten Kirchenliedes „Amazing Grace“; William Wilberforce, der nach endlosen Bemühungen in England das Verbot des Sklavenhandels erreichte, war ein Erweckungsprediger.
Natürlich waren auch einige Aufklärer gegen die Sklaverei und die Leibeigenschaft. Sie erreichten manchmal auch etwas; die Leibeigenschaft in Frankreich wurde, wo sie noch bestand, zu Beginn der Französischen Revolution abgeschafft; in den deutschen Gebieten geschah das zu Napoleonischer Zeit ebenfalls unter französischem Einfluss. Aber prinzipiell hätte es keine „Aufklärung“ gebraucht, um beides abzuschaffen (mancherorts war die Leibeigenschaft damals auch schon fast verschwunden), und ob der Beitrag von Aufklärern in der Praxis entscheidend war, oder ob dasselbe auch ohne sie geschehen wäre, ist fraglich. Tatsache ist, dass die sog. Aufklärung keine neuen Argumente auf den Tisch gebracht hat, die man vorher nie gehört gehabt hätte.
Was die Folter angeht, gegen die sprach sich schon Papst Nikolaus I. im 9. Jahrhundert aus. Ja, ich weiß; viele Gerichte in Europa wendeten sie noch lange Zeit weiter an, weil sie Angeklagte nur nach einem Geständnis, nicht aufgrund von Indizien verurteilen wollten; also mussten Geständnisse eben erzwungen werden. Allerdings gab es auch Regeln und Begrenzungen für ihre Anwendung (wie lange / womit gefoltert werden durfte, dass ein Geständnis ohne Folter wiederholt werden musste o. Ä.). Für einige Zeit (zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert) übernahmen auch Kirchengerichte die Folter in begrenztem Maß. Die Römische Inquisition stellte ihre Anwendung allerdings schon im frühen 17. Jahrhundert ganz ein; und jemand, der sich besonders gegen sie einsetzte, war auch der Autor der Cautio Criminalis – der Jesuit Friedrich Spee. (Weier unten mehr zu ihm.) Ja: Auch Aufklärer setzten sich gegen die Folter ein, und ich meine (ich müsste das genauer recherchieren), dass ihr Beitrag hier auch bedeutender war als bei der Sklaverei. Aber auch hier hätte es sie nicht gebraucht, und sie brachten keine prinzipiell neuen Argumente.
Zur Judenemanzipation und zur Religionsfreiheit im Allgemeinen unter Punkt 3 (Meinungsfreiheit) im nächsten Post.
2) „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – Die Aufklärer und die Vernunft
„2) Philosophen der Aufklärung wie Immanuel Kant haben immer wieder darauf hingewiesen, dass wir unseren Verstand benutzen und kritisches Denken üben sollen. Aufgrund dieses wichtigen Prinzips der Aufklärung wurde Schulbildung gefördert und Aberglauben eingedämmt, sodass ab dem 18. Jahrhundert keine Hexen mehr in Europa verbrannt wurden. Rationale Instrumente der Beweisführung wurden nun eingeführt und auf Aberglauben basierende Praktiken wie die Wasserprobe wurden dafür eingestellt.“
Den eigenen Verstand benutzen ist etwas sehr Gutes. Das sollten die Leute tatsächlich öfter tun. Freilich ist es auch manchmal nötig, anzuerkennen, dass der eigene Verstand und das eigene Wissen begrenzt sind und andere vielleicht klüger sein oder mehr Ahnung haben könnten als man selber, aber ja: Natürlich sollten die Leute prinzipiell öfter selber denken. Aber nicht jeder, der mal gesagt hat „Denkt selber!“ oder, etwas fancier, „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, hat sich selber auch gute Gedanken gemacht, wenn er selber gedacht hat.
Zudem ist es ja nicht so, dass die Kirche eine Feindin des vernünftigen Denkens wäre – das genaue Gegenteil ist der Fall. Man lese mal Thomas von Aquin und behaupte, der habe nicht selber gedacht. Wir brauchen die Vernunft – sie ist uns von Gott gegeben; wieso sollte sie also von Ihm wegführen? Die Kirche hat die Vernunft immer als eine der höchsten Fähigkeiten des Menschen betrachtet und ihr z. B. auch zugetraut, Gottes Existenz und das Naturrecht zu erkennen.
Freilich kann man es mit dem Rationalismus auch mal übertreiben. Wenn man meint, es gäbe nichts in der Welt, was der Vernunft widersprichen kann, dann hat man Recht; aber wenn man meint, es gäbe überhaupt nichts, was die begrenzte Vernunft des Menschen übersteigen kann, keine Mysterien, denen er sich mit ihr nur annähern kann, dann hat man Unrecht.
Die Aufklärer hatten ein sehr simples Weltbild. Man hat ihren deistischen Gott zu Recht als „Uhrmachergott“ bezeichnet: Er richtet eine simple mechanische Welt ein, in der alles nach ganz einfachen Regeln funktioniert. Das Weltbild der Aufklärer passt gut zum Universum von Newton – allerdings weniger zum wirklichen Universum, dem komplizierteren Universum, das die Quantenphysik erforscht. Und ihre Theologie passt eben auch nicht zum wirklichen Gott, der ebenfalls etwas komplizierter ist, als sie Ihn sich vorstellten – in einem Wesen drei Personen, und eine der drei Personen noch dazu aus Liebe zu den Menschen Mensch geworden. Die Newtonschen Gesetze sind nicht falsch, sie sind nur nicht alles; ebenso ist die deistische Gottesvorstellung nicht direkt falsch, aber sie ist defizitär.
Auch die Bildung fördern kann man ohne die Ideen der Aufklärer. Im Mittelalter wurden in Europa zahlreiche Universitäten gegründet, während der Reformation und der Gegenreformation förderte man die Schulbildung weiter. Der Fortschritt der Bildung war eher eine Sache des technologischen Fortschritts – z. B. konnten ab 1450 Bücher mit der Druckerpresse leichter produziert werden – als geänderter Weltanschauungen. Aber ja, auch einige Aufklärer machten sich darum verdient, Schulbildung für breitere Schichten des Volkes zugänglich zu machen. Freilich taucht hier auch das Problem auf, dass sie die Schulen unter der Kontrolle des Staates haben und vor allem treue und nützliche Staatsdiener heranziehen wollten und z. B. von Ordensgemeinschaften geführte Schulen am liebsten aufgelöst sehen wollten.
Was die Hexenverfolgungen angeht, so endeten sie nicht unbedingt wegen irgendwelcher Aufklärer. In den deutschen Gebieten war der oben bereits erwähnte Jesuit Friedrich Spee besonders einflussreich, der 1631 sein Buch „Cautio Criminalis oder Rechtliche Bedenken wegen der Hexenprozesse“ veröffentlichte. Darin argumentiert er übrigens wie folgt gegen die Folter:
„27. Ist die Folter ein geeignetes Mittel zur Enthüllung der Wahrheit?
Bei der Folter ist alles voll von Unsicherheit und Dunkel […]; ein Unschuldiger muß für ein unsicheres Verbrechen die sichersten Qualen erdulden.
28. Welches sind die Beweise derer, die sofort die auf der Folter erpressten Geständnisse für wahr halten?
Auf diese Geständnisse haben alle Gelehrten fast ihre ganze Hexenlehre gegründet, und die Welt hat’s ihnen, wie es scheint, geglaubt. Die Gewalt der Schmerzen erzwingt alles, auch das, was man für Sünde hält, wie lügen und andere in üblen Ruf bringen. Die dann einmal angefangen haben, auf der Folter gegen sich auszusagen, geben später nach der Folter alles zu, was man von ihnen verlangt, damit sie nicht der Unbeständigkeit geziehen werden. […] Und die Kriminalrichter glauben dann diese Possen und bestärken sich in ihrem Tun. Ich aber verlache diese Einfältigkeit. […]
29: Muss die so gefährliche Folter abgeschafft werden?
Ich antworte: entweder ist die Folter gänzlich abzuschaffen oder so umzugestalten, dass sie nicht mit moralischer Sicherheit Unschuldigen Gefahr bringt. […] Man darf mit Menschenblut nicht spielen, und unsere Köpfe sind keine Bälle, die man nur so hin und her wirft. Wenn vor dem Gericht der Ewigkeit Rechenschaft für jedes müßige Wort abgelegt werden muss, wie steht’s dann mit der Verantwortung für das vergossene Menschenblut? […]“
(Titelblatt des Erstdrucks der Cautio Criminalis, 1631. Gemeinfrei.)
Auch um Hexenproben abzulehnen braucht es keine Aufklärer: Die Kirche erklärte schon im Mittelalter sog. Gottesurteile (bei Prozessen im Allgemeinen, nicht nur bei Hexenprozessen) für unzulässig, da man hier Gott zwingen wollte, ein Wunder zu wirken – und es gilt ja: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.“
Auch andere wichtige Gegner der Hexenprozesse waren Theologen, etwa der reformierte Geistliche Anton Praetorius, der schon 1598 ein Buch gegen die Verfolgungen veröffentlichte, und der ebenfalls die Folter ablehnte.
Die Argumentation christlicher Gegner der Hexenprozesse konnte lauten, dass es gar nicht möglich sei, durch einen Pakt mit Dämonen wirkliche Macht z. B. für Wetterzauber zu erhalten, weil Gott in seiner Allmacht den Dämonen keine solche Macht einräume. Nun ist das eine Frage, in der sich die Theologen im Lauf der Kirchengeschichte nicht ganz einig waren; aber selbst diejenigen, die geglaubt hätten, dass Schadenszauber wirksam sein können, weil Gott den Dämonen schon eine begrenzte Macht einräume, hätten deswegen trotzdem gegen die Massenpanik sein können, die in der Frühen Neuzeit einsetzte.
Schon in der Antike glaubten die Leute ja an Schwarze (und Weiße) Magie, fürchteten sich vor ihr und praktizierten sie selber; und die Kirchenväter sagten dazu: Christus hat die Dämonen besiegt, sie können euch nichts mehr anhaben, wenn ihr Ihm nur vertraut. Im Frühmittelalter unterband die Kirche Hexenverfolgungen direkt – die Synode von Paderborn im Jahr 785 legte fest, dass, wer vom Teufel verleitet nach Art der Heiden behaupte, dass es Hexen gäbe, und diese verbrenne, selbst mit dem Tod bestraft werden sollte; auch den noch mehr oder weniger heidnischen Sachsen wurde von Kaiser Karl dem Großen die Hexenverfolgung untersagt.
Gegen Aberglauben – die Verwendung von Talismanen und Ähnliches – war die Kirche schon immer. Das wurde den Leuten auch immer gepredigt. Freilich hielten sie sich nicht immer daran – auch wenn ich mich frage, ob sie sich zumindest mehr daran hielten als heutzutage, wo sie ja auch ziemlich gerne Traumfänger und Heilkristalle im Wohnzimmer deponieren und zum Warzenabbeten und Pendeln gehen.
Die moderne wissenschaftliche Methode – wiederholbare Experimente, Falsifizierbarkeit usw. – stammt übrigens schon spätestens aus dem 17. Jahrhundert und von Leuten wie Galilei oder Newton, die ohne Zweifel fromme Christen waren (auch wenn Galilei sich mal ein wenig mit seinem Gönner, dem Papst, überwarf, weil er die heliozentrische Theorie nicht als Hypothese, sondern als bereits bewiesen dargestellt hatte; zur Galilei-Angelegenheit ausführlicher hier, wenn es jemanden interessiert). Natürlich prägte die neue Wissenschaft auch die Aufklärung – aber die Aufklärung erfand nicht diese Wissenschaft.
Zuletzt eine Frage: Haben die Leute denn inzwischen gelernt, wirklich kritisch zu denken? Hinterfragen sie denn immer das, was in den Schulbüchern oder der Bravo Girl! steht, was in der Tagesschau oder bei RTL News gesagt wird, was die gute Bekannte oder der Heilpraktiker oder die Sozialberatungsstelle erzählt oder die Leute, denen man auf Twitter folgt, schreiben, usw.?
Nun ja, sagen wir mal so. Es gibt sehr viele Leute, die homöopathische Medikamente – also Zuckerkügelchen – nehmen. Manche meinen, man solle Kinder um der „frühkindlichen Bildung“ willen im Alter von einem Jahr von den Eltern trennen. Es gibt sogar Leute, die an eine flache Erde glauben. Und eine Mehrheit der Leute in Deutschland ist nicht katholisch. Nein, ich meine tatsächlich, dass die Menschheit allgemein nicht sehr viel besser im kritischen Denken geworden ist.
Die Aufklärung hat eher für ein zusätzliches Problem gesorgt: Die Leute meinen, sie wären besser im kritischen Denken, weil sie ja schließlich nach dem 18. Jahrhundert geboren sind und deshalb aufgeklärt sein müssen – oder so. Das macht sie erst recht blind für ihre Vorurteile, z. B. auch derer zugunsten der Meinungen der sog. Aufklärer.
* zitiert nach: Egon Flaig, Weltgeschichte der Sklaverei, 3. Aufl., C. H. Beck 2018, S. 81.
** Ebd., S. 82.
*** Ebd., S. 159.