Demokratie und Demokratismus

Vorab: Das hier soll nicht „verfassungsfeindlich“ werden. Das deutsche Grundgesetz ist völlig legitim. Das Problem taucht auf, wo Leute es mit falschen Behauptungen untermauern und damit alle möglichen anderen Verfassungen anderer Länder und Epochen delegitimieren wollen.

Ich will hier zwei Dinge unterscheiden: Demokratie und Demokratismus.

Die Demokratie ist einfach eine Regierungsform, eine unter mehreren legitimen Regierungsformen. Sie ist nicht mal eine Erfindung der Moderne; die Schweizer Eidgenossenschaft wurde schon im Mittelalter demokratisch, und war dabei gleichzeitig erzkatholisch; Ähnliches gilt für Island, bevor die Dänen es regierten.

Der Demokratismus ist etwas weitergehendes, eine Weltanschauung oder Ideologie, derzufolge die Demokratie die einzig legitime Regierungsform sei und demokratische Regierung wichtiger sei als gute Regierung. Demokratie wird hier zum Selbstzweck, während sie eher ein Mittel zum Zweck sein sollte. Der Demokratismus ist unterschwellig sehr weit verbreitet und wird oft als selbstverständlich genommen, auch wenn er sogar der deutschen Verfassung teilweise widerspricht.

Regierungen sind dafür da, das Gemeinwohl zu sichern. Das ist ihr Zweck in Gottes Ordnung; wenn sie das nicht tun (zumindest halbwegs, zumindest besser als Anarchie sind), haben sie keine Daseinsberechtigung. Wenn es nun darum geht, welche Regierungsform man wählt (falls eine neue eingeführt wird; oft ist es besser, auch bei unidealen Formen Stabilität zu bewahren), sollte man deshalb darauf achten, welche unter den konkreten Umständen in diesem Volk mit seinen konkreten Prägungen die besten tatsächlichen Ergebnisse hat, am besten für das Gemeinwohl sorgt. Befürwortung der Demokratie ohne Demokratismus findet man z. B. in dem Churchill-Zitat, Demokratie sei die schlechteste Regierungsform, abgesehen von allen anderen Regierungsformen.

Die erste Illusion des Demokratismus ist, dass man tatsächlich jeden an der Macht beteiligen könnte. Das ist schlicht nicht möglich. Kinder, Demenzkranke, geistig Behinderte sind sowieso ausgeschlossen; sie können ihre Interessen nicht selbst vertreten, aber trotzdem haben sie Interessen, die irgendwie vertreten sein müssen. Hier könnte man sich trefflich streiten, was wirklich demokratisch wäre: Sollte man Eltern von Kindern zusätzliche Wahlstimmen als Vertreter ihrer Kinder geben? Oder würde das wieder Ungleichheit bedeuten? Aber auch ansonsten ist es Quatsch. Offensichtlich kommt es auf ganz banale Faktoren an: Wer hat Verbindungen zu den Medien und den jetzt schon Mächtigen, wer kann geschickter Werbung machen und Menschen beeinflussen?

Die zweite Illusion des Demokratismus ist, dass es ein inhärentes Recht von 51% der Bevölkerung gäbe, über 49% der Bevölkerung zu herrschen. Wie will man das begründen? Demokratie kann auch zur Unterdrückung von Minderheiten ausarten, es gab in der Weltgeschichte demokratisch „legitimierte“ Völkermorde. Theoretisch könnte man sich andere Spielarten der Demokratie ausdenken – z. B. dass immer Lösungen gefunden werden müssen, denen eine 2/3-Mehrheit zustimmt, oder sogar, dass man so lange verhandeln müsste, bis irgendein Kompromiss gefunden ist, dem alle zustimmen (z. B. indem in der Regierung alle im Parlament vertretenen Parteien, nicht nur die, die eine Mehrheit bilden können, vertreten sein müssen). Aber das ist doch auch nicht so recht machbar, vor allem werden nie 100% der Bevölkerung einverstanden sein. Trotzdem muss geherrscht werden; irgendjemand muss nachgeben.

Die dritte Illusion des Demokratismus ist, dass überhaupt alle Menschen sich selbst regieren wollen. So sind Menschen nicht. Sie geben gerne Verantwortung ab, wollen jemandem folgen. Das ist kein grundsätzlich falscher Impuls; Bewunderung für Menschen, die besser sind als man selbst, und die Fähigkeit, sich auch mal unterzuordnen, zeigt die Tugend der Demut. Freilich muss sie ergänzt werden mit Eigenverantwortung, und die fehlt einigen Menschen. Es ist aber schon ironisch, dass viele Menschen, die eine wirklich freie Wahl hätten, Selbstregierung ablehnen würden. Ist es noch Demokratie (Volksherrschaft), wenn der Willle des Volkes Nicht-Demokratie ist?

Die vierte Illusion des Demokratismus ist, dass (mehr oder weniger) alle Menschen geeignet wären, sich selbst zu regieren. Diese Illusion ist auch am leichtesten widerlegt. Jeder weiß, dass viele Menschen dumm und einige böse sind. In der Vergangenheit haben deshalb manche Staaten den Kreis der Wahlberechtigten eingegrenzt – z. B. auf Staatsbürger mit einer gewissen Bildung, oder Staatsbürger mit Grundbesitz, oder Staatsbürger, die eine bestimmte Summe an Steuern zahlten (letzteres mit der Absicht, dass quasi nur die nützlichen Bürger, die unterm Strich etwas zum Gemeinwesen beitragen würden, mitbestimmten könnten). Das hatte freilich auch seine Fehler – wer sagt, dass die Reichen wirklich die Nützlichen und Weisen sind und nicht nur zufällig profitieren, oder dass den Gebildeten nicht einfach nur langwierig der gesunde Menschenverstand aberzogen wurde? Aber eine funktionierende Selbstregierung setzt jedenfalls voraus, dass die Leute Ahnung von politischen Themen haben, sich informieren können und das auch tun. Und das ist auch dann nicht gegeben, wenn für sämtliche Leute Schulpflicht gilt und man mehrere Jahre Sozialkunde hat, aber wohl erst recht nicht, wenn man viele Analphabeten hat, die keine Muße haben, sich mit politischen Themen zu befassen, und auch für Lesekundige die nötigen Bücher extrem teuer sind. In solchen Fällen könnte man ggf. noch in gewissem Maß lokale Demokratie haben, Dorfversammlungen und dergleichen, aber Demokratie in großen, zentralistischen Staaten wird schwierig.

Tatsächlich lässt das deutsche Grundgesetz gerade wegen dieser Mängel u. a. keine bundesweiten Volksabstimmungen zu; das Volk könnte ja von „Populisten“ verführt werden. (Ein Fehler, wie ich finde; denn das Volk ist zwar oft dumm, aber nicht unbedingt dümmer als das Parlament; und Hitlers Ermächtigungsgesetz wurde immerhin vom Parlament beschlossen, nicht per Volksabstimmung; beim Volk hatte er in freien Wahlen immer unter 50% Zustimmung.)

Aber lassen wir das beiseite: Jedenfalls kann wegen all dieser Mängel eine reine Demokratie unmöglich existieren, sondern immer nur ein Staat mit demokratischen Elementen. Freilich kann es auch keine reine Monarchie (Einzelherrschaft) oder Aristokratie (Herrschaft einer Elite) geben, und genau deswegen haben viele klassische Denker in einer Mischung das Ideal gesehen.

Wer Demokratie als Selbstzweck sieht, sieht sie als Inbegriff von Freiheit und Selbstbestimmung, und das ist sie nicht – aber sie muss es auch nicht sein, weil es ok ist, einer Regierung unterworfen zu sein, die man nicht gewählt hat. Das muss so sein. Freiheit muss man eher da verteidigen, wo eine Regierung (egal, auf welche Art gewählt oder ernannt) zu sehr ins Leben ihrer Bürger eingreifen will. Auch unter einer gewählten Regierung, die für jedes Vogelhäuschen eine Genehmigung verlangt oder ihre Bürger mit falschen Ideologien schikaniert, kann man sich unfrei fühlen.

Churchill meinte, die Demokratie – also der klassische indirekt-demokratische moderne Parteienparlamentarismus – sei immer noch das geringste Übel. Das kann man so sehen. Aber wenn man kein unbedingter Demokratist ist, kann man auch die Vorteile anderer Systeme (heute unüblicher demokratischer Systeme ebenso wie nichtdemokratischer Systeme) sehen, zumindest in manchen Ländern mit ihrem konkreten Kontext. Z. B.:

  • Wenn das Staatsoberhaupt durch Erbfolge bestimmt wird, werden eher Menschen mit durchschnittlichem Charakter auf diesem Posten landen, die schon von klein auf darauf vorbereitet wurden, und das Amt als ihnen übertragene Verantwortung sehen, nicht überdurchschnittlich ehrgeizige und machtgierige Menschen, die sich durch Parteiintrigen hocharbeiten mussten, und das Amt als ihre Belohnung dafür sehen. Ist der jeweilige Premierminister in England wirklich so viel besser geeignet für die Regierung als König Charles oder vorher Queen Elizabeth es gewesen wäre?
  • Wenn ein Staatsoberhaupt sein Leben lang auf diesem Posten bleibt, muss es nicht kurzsichtig auf die nächste Wahl schauen, sondern kann langfristig auf das Wohl des Landes schauen.
  • In einem korporatistischen Staat/“Ständestaat“, in dem die Menschen nicht Parteienvertreter wählen, sondern Ständevertreter (die Stände können z. B. Berufsgruppen sein), gehen keine Gruppen unter, nur weil sie nicht von den etablierten Parteien beachtet werden.
  • Wenn es wie in der Schweiz mehr direkt-demokratische Elemente statt indirekt-demokratische Elemente gibt, siegt öfter eher der gesunde Menschenverstand des Volkes als die verfahrenen Meinungen der Parteien.
  • Wenn in einem Losverfahren z. B. 20 beliebige Bürger ausgewählt werden, um einen Rat zu bilden, könnten die die gewöhnliche Bevölkerung evtl. besser repräsentieren als von Parteien ausgewählte Vertreter, die gewählt wurden.

Auch gegen alle diese Regierungsformen gibt es wieder andere Argumente, die ich hier nicht alle einzeln aufzählen muss – man könnte z. B. gegen den Korporatismus argumentieren „aber ich will mich lieber mit anderen, die meine Weltanschauung teilen, zu einer Partei zusammenschließen, als mit meinen Kollegen, mit denen ich gar nichts gemeinsam habe, in einen Berufsverband gezwängt zu werden“. Aber es zeigt einfach, dass z. B. Monarchisten des 19. oder Korporatisten des 20. Jahrhunderts nicht ganz dumm waren, und es auch für andere Formen der Demokratie als unsere Argumente gibt. Das ist, wie gesagt, kein Plädoyer für eine bestimmte Regierungsform – eher eine Einladung, sich mal zu fragen, wieso wir z. B. Liechtenstein oder Monaco nicht sympathisch finden dürfen sollen, oder wieso man uns eintrichtert, dass alle Menschen vor 1789 in gar grauslichen Diktaturen gelebt hätten und es keine anderen Regierungsformen als Demokratie und Diktatur gäbe.

Römische Senatssitzung, Cesare Maccari.