Die wahre Liebe des Jesus von Nazareth

(Eins verrate ich gleich: Es ist nicht Maria Magdalena!)

Eins meiner Lieblings-Kirchenlieder ist „Tomorrow shall be my dancing day“:

Der Text dieses Liedes stammt wohl bereits aus dem England des späten Mittelalters; die Melodien, die man in den Youtube-Videos dazu hört, dagegen aus dem 19. Jahrhundert (oder von später). Aus dieser Zeit stammt wahrscheinlich auch der Brauch, das Lied zu Weihnachten zu singen und einen großen Teil der Strophen wegzulassen, damit es eben so einigermaßen als Weihnachtslied durchgehen kann, und es den Leuten nicht auffällt, dass es eigentlich zu einem Passionsspiel gehört; jedenfalls gehört es das laut Wikipedia wahrscheinlich, und so ergibt der Text, in dem übrigens Jesus in der Ich-Perspektive spricht, auch ehrlich gesagt am meisten Sinn. Vollständig lautet er:

Tomorrow shall be my dancing day;

I would my true love did so chance

To see the legend of my play,

To call my true love to my dance.

Sing, oh! my love, oh! my love, my love, my love,

This have I done for my true love.

Then was I born of a virgin pure,

Of her I took fleshly substance

Thus was I knit to man’s nature

To call my true love to my dance.

 

Sing, oh! my love, oh! my love, my love, my love,

This have I done for my true love.

In a manger laid, and wrapped I was

So very poor, this was my chance

Between an ox and a silly poor ass

To call my true love to my dance.

 Sing, oh! my love, oh! my love, my love, my love,

This have I done for my true love.

Then afterwards baptized I was;

The Holy Ghost on me did glance,

My Father’s voice heard I from above,

To call my true love to my dance.

Sing, oh! my love, oh! my love, my love, my love,

This have I done for my true love.

Into the desert I was led,

Where I fasted without substance;

The Devil bade me make stones my bread,

To have me break my true love’s dance.

Sing, oh! my love, oh! my love, my love, my love,

This have I done for my true love.

The Jews on me they made great suit,

And with me made great variance,

Because they loved darkness rather than light,

To call my true love to my dance.

Sing, oh! my love, oh! my love, my love, my love,

This have I done for my true love.

For thirty pence Judas me sold,

His covetousness for to advance:

Mark whom I kiss, the same do hold!

The same is he shall lead the dance.

Sing, oh! my love, oh! my love, my love, my love,

This have I done for my true love.

Before Pilate the Jews me brought,

Where Barabbas had deliverance;

They scourged me and set me at nought,

Judged me to die to lead the dance.

Sing, oh! my love, oh! my love, my love, my love,

This have I done for my true love.

Then on the cross hanged I was,

Where a spear my heart did glance;

There issued forth both water and blood,

To call my true love to my dance.

Sing, oh! my love, oh! my love, my love, my love,

This have I done for my true love.

Then down to hell I took my way

For my true love’s deliverance,

And rose again on the third day,

Up to my true love and the dance.

Sing, oh! my love, oh! my love, my love, my love,

This have I done for my true love.

Then up to heaven I did ascend,

Where now I dwell in sure substance

On the right hand of God, that man

May come unto the general dance.

Sing, oh! my love, oh! my love, my love, my love,

This have I done for my true love.

Hier wird also das Heilsgeschehen und insbesondere Jesu Tod als Tanz beschrieben.

„Tomorrow shall be my dancing day / I would my true love did so chance / to see the legend of my play / to call my true love to my dance“ heißt es in der ersten Strophe; etwa: Morgen soll mein Tanztag sein / ich wünschte mir, meine wahre Liebe würde die Gelegenheit ergreifen / die Geschichte meines Spiels zu sehen / ich wünschte mir, meine wahre Liebe zu meinem Tanz zu rufen. [„Legend“ konnte übrigens einfach etwas zu Lesendes, also Text oder Geschichte, bedeuten, so nämlich die wörtliche Bedeutung (legere = lesen), nicht zwangsläufig einen Mythos oder eine Sage. „Play“ würde ich mit Theaterspiel, Theaterstück oder etwas in der Richtung übersetzen, da das Leben und die Welt im Allgemeinen früher oft mit einem Theater verglichen wurden, in dem jeder seine besondere Rolle zu spielen hatte („Weltbühne“ usw.); solche Vergleiche kann man z. B. auch bei Shakespeare lesen, der ja örtlich und zeitlich nicht allzu weit von der Entstehung dieses Liedtextes entfernt ist. Außerdem ist der Text dann wieder doppeldeutig, da sich „play“ auf Jesu ursprüngliches Leben und gleichzeitig auf ein darüber aufgeführtes Theaterstück beziehen kann, was zum Sinn des Liedes passt. Bei der Übersetzung der letzten Zeile war ich mir nicht ganz sicher, worauf sie sich bezieht – ist das Spiel dazu da, zum Tanz zu rufen, oder sollte man es so übersetzen, wie ich es oben getan habe?]

Die erste Strophe heißt also jedenfalls übersetzt: Liebe Christen, kommt doch alle zum Passionsspiel, wenn es jetzt vor Ostern aufgeführt wird, und zwar, um zu sehen was euer göttlicher Bräutigam für euch getan hat.

Das Lied scheint zum Anfang eines solchen Mysterien- oder Passionsspiels zu gehören, wie sie vor allem im späten Mittelalter und auch noch in der Frühen Neuzeit oft aufgeführt wurden. (Es gibt sie natürlich auch heute noch, aber sie spielen keine so wichtige Rolle mehr in der Kirche – leider, meiner Ansicht nach.) Jesus blickt zurück auf sein irdisches Leben, seinen Tod, seine Auferstehung und seine Himmelfahrt und voraus auf den großen Tanz – den „general dance“, den allgemeinen Tanz – im Himmel, zu dem er die Menschen ruft, die noch auf der Erde leben. „Morgen“ („mein Tanztag“) bezieht sich wohl auf den Karfreitag; den jährlich wiederkehrenden Karfreitag, an dem das Passionsspiel aufgeführt wird, das die ursprüngliche Passion, den eigentlichen Beginn des Tanzes, wieder ins Leben ruft.

Für die Kirche – Kirche im Sinn aller Christen – gibt es verschiedene Titel. Einer der bekanntesten ist „Braut Christi“.

Der Apostel Paulus schreibt im Epheserbrief: „Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat, um sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen. So will er die Kirche herrlich vor sich erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos. Darum sind die Männer verpflichtet, ihre Frauen so zu lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst. Keiner hat je seinen eigenen Leib gehasst, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche. Denn wir sind Glieder seines Leibes. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein. Dies ist ein tiefes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche.“ (Epheser 5,25-32) Und im 2. Korintherbrief schreibt er: „Denn ich liebe euch mit der Eifersucht Gottes; ich habe euch einem einzigen Mann verlobt, um euch als reine Jungfrau zu Christus zu führen.“ (2 Korinther 11,2) Die Kirche als die Braut Christi zu bezeichnen, hat von daher ziemlich lange Tradition. Auch Jesus selber spricht in den Evangelien bildlich von sich als dem „Bräutigam“: In der Antwort auf die Frage der Johannesjünger, wieso Jesu Jünger, anders als sie und die Pharisäer, nicht fasteten: „Können denn die Hochzeitsgäste trauern, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da wird ihnen der Bräutigam genommen sein; dann werden sie fasten.“ (Mt 9,15) Im Gleichnis von den zehn Jungfrauen, die als eine Art Brautjungfern dem Bräutigam entgegengehen, in Mt 25,1-13. Im Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl („Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem König, der die Hochzeit seines Sohnes vorbereitete.“) in Mt 22,1-14. Dasselbe bezeugt Johannes der Täufer: „Ihr selbst könnt mir bezeugen, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht der Messias, sondern nur ein Gesandter, der ihm vorausgeht. Wer die Braut hat, ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dabeisteht und ihn hört, freut sich über die Stimme des Bräutigams. Diese Freude ist nun für mich Wirklichkeit geworden. Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden.“ (Joh 3,28-30)

Und diese allegorische Tradition hat nicht einmal erst mit dem Christentum begonnen: Im Alten Testament wird die Beziehung Gottes zu seinem Volk Israel andauernd mit einer Ehe verglichen: „Ich traue dich mir an auf ewig; ich traue dich mir an um den Brautpreis von Gerechtigkeit und Recht, von Liebe und Erbarmen, ich traue dich mir an um den Brautpreis meiner Treue: Dann wirst du den Herrn erkennen.“ (Hosea 2,21-22). (Dieser Vergleich wurde übrigens dann auch dahingehend gedeutet, dass das Anbeten anderer Götter dann logischerweise mit Ehebruch gleichzusetzen war; eben etwa beim Propheten Hosea, der auf Gottes Geheiß hin eine Prostituierte heiratet, die ihm auch später noch untreu ist: „Der Herr sagte zu Hosea: Geh, nimm dir eine Kultdirne zur Frau und (zeuge) Dirnenkinder! Denn das Land hat den Herrn verlassen und ist zur Dirne geworden. Da ging Hosea und nahm Gomer, die Tochter Diblajims, zur Frau; sie wurde schwanger und gebar ihm einen Sohn.“, Hosea 1,2f.; „Der Herr sagte zu mir: Geh noch einmal hin und liebe die Frau, die einen Liebhaber hat und Ehebruch treibt. (Liebe sie) so, wie der Herr die Söhne Israels liebt, obwohl sie sich anderen Göttern zuwenden und Opferkuchen aus Rosinen lieben.“, Hosea 3,1. (Eine wunderbare Bibelstelle.) Oder in Ezechiel 16: „Ich leistete dir den Eid und ging mit dir einen Bund ein – Spruch Gottes, des Herrn – und du wurdest mein. […] Mit Gold und Silber konntest du dich schmücken, in Byssus, Seide und bunte Gewebe dich kleiden. Feinmehl, Honig und Öl war deine Nahrung. So wurdest du strahlend schön und wurdest sogar Königin. Der Ruf deiner Schönheit drang zu allen Völkern; denn mein Schmuck, den ich dir anlegte, hatte deine Schönheit vollkommen gemacht – Spruch Gottes, des Herrn. Doch dann hast du dich auf deine Schönheit verlassen, du hast deinen Ruhm missbraucht und dich zur Dirne gemacht. Jedem, der vorbeiging, hast du dich angeboten, jedem bist du zu Willen gewesen. Du hast deine bunten Gewänder genommen und dir an den Kulthöhen ein Lager bereitet und darauf Unzucht getrieben.“ (Ezechiel 16,8.13-16; Anmerkung: Diese Metapher bot sich auch deshalb an, da zu einigen der verschiedenen heidnischen Götterkulte auch Tempelprostitution gehörte (und übrigens, wie an späterer Stelle in Ezechiel 16 beschreiben, teilweise auch Menschenopfer – „Du hast deine Söhne und Töchter, die du mir geboren hast, genommen und ihnen als Schlachtopfer zum Essen vorgesetzt. War dir dein unzüchtiges Treiben noch nicht genug? Musstest du auch noch meine Söhne schlachten, um sie ihnen darzubringen und für sie durch das Feuer gehen zu lassen?“, Ezechiel 16,20f.)))

Ganz besonders wird diese Beziehung Gott – Volk Gottes auch im Hohenlied deutlich, das sich in seinen kurzen acht Kapiteln allein diesem Thema widmet. „Alles an dir ist schön, meine Freundin; kein Makel haftet dir an. Komm doch mit mir, meine Braut, vom Libanon, weg vom Libanon komm du mit mir! […] Verzaubert hast du mich, meine Schwester Braut; ja verzaubert mit einem [Blick] deiner Augen, mit einer Perle deiner Halskette.“ (Hohelied 4,7-9)

Und die Kirche ist ja schließlich das Volk Gottes des Neuen Bundes, das neue Israel, das aus Juden und Heiden zusammengesetzt ist. [Juden und Heiden hier im ethnischen Sinne. Heute besteht die Kirche zwar zum großen Teil aus Heidenchristen, aber einige Judenchristen gibt es ja auch noch (der 2007 verstorbene Pariser Kardinal Lustiger wäre ein bekanntes Beispiel); in ihrer frühesten Zeit herrschte das umgekehrte Verhältnis, aber da es auf der Welt einiges mehr an Heiden als an Juden gab und gibt, und ja auch nicht alle Juden Christen wurden bzw. sind, drehte es sich bald.]

Also ist das Verhältnis der Kirche, d. h. der Gemeinschaft aller Christen, zu Jesus wie das Verhältnis einer Braut zu ihrem Bräutigam, und dasselbe kann man auch von jedem Christen als Einzelnem sagen. Auch in der Offenbarung des Johannes steht schon wieder dasselbe: „Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem“, schreibt Johannes, „von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat.“ (Offenbarung 21,2) (Jerusalem steht pars pro toto für Israel, das neue Jerusalem daher für das neue Israel.) Im selben Buch ist auch die Rede vom „Hochzeitsmahl des Lammes“. „Denn gekommen ist die Hochzeit des Lammes und seine Frau hat sich bereit gemacht. Sie durfte sich kleiden in strahlend reines Leinen. Das Leinen bedeutet die gerechten Taten der Heiligen. Jemand sagte zu mir: Schreib auf: Selig, wer zum Hochzeitsmahl des Lammes eingeladen ist.“ (Offb 19,7-9)

Um wieder zu dem Lied zurückzukommen: Den Tod mit der Allegorie des Tanzes zu beschreiben, kann einen zunächst an die spätmittelalterlichen Totentanzbilder denken lassen, aber bei näherer Betrachtung wird einem schnell der Unterschied auffallen. Beim Totentanz wird die Macht des Sensenmanns gezeigt, alle Menschen unterschiedslos zu seinem Tanz zu führen (nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, sozusagen): Arme und Reiche, Untertanen und Könige, Bettler, Bauern, Händler, Priester, Päpste. Hier dagegen wird das Bild des Tanzes einfach deshalb verwendet, weil Tanz für Liebe steht. Und weil Jesus aus Liebe gelitten hat und gestorben ist – „for my true love’s deliverance“, für die Erlösung meiner wahren Liebe. (Unter Tanzen verstand man damals offensichtlich keine vorgeführten Tänze, wie Hip-Hop oder Ballett, sondern Paartänze, insbesondere Paartänze in Gruppen – was auch dazu passt, dass vom Führen des Tanzes gesprochen wird. (Z. B. an der Stelle, wo Judas spricht: „Mark whom I kiss, the same do hold! / The same is he shall lead the dance.“ – Seht, wen ich küsse, diesen nehmt fest! Dieser ist es, der den Tanz anführen soll. Oder eine Strophe weiter: „They […] judged me to die to lead the dance.“ – Sie verurteilten mich, zu sterben, um den Tanz anzuführen.))

Deshalb wird zwar auch der Tanztag, der Karfreitag, besonders hervorgehoben, aber der große Tanz dauert eigentlich schon Jesu ganzes Leben lang an. Alles, was Jesus tut und was Er leidet, tut und leidet Er aus Liebe. Und diese Liebe wird ihre Vollendung im Jenseits finden; am Ende geht der große Tanz im Himmel weiter – dort, wo es kein Leiden mehr gibt, aber Liebe in Fülle. Zu diesem Tanz ruft Jesus seine wahre Liebe, das heißt jeden einzelnen; Er ruft sie von seinem Kreuz herab; Sein Tod ist, wenn man diesen Teil des Liedes so interpretieren will, noch nicht der Tanz selbst, sondern der Ruf dazu: „Then on the cross hanged I was, / Where a spear my heart did glance; / There issued forth both water and blood, / To call my true love to my dance.“ [Dann wurde ich ans Kreuz gehängt, / Wo eine Lanze mein Herz durchbohrte; / Daraus strömten Wasser und Blut hervor, / Um meine wahre Liebe zu meinem Tanz zu rufen.] Das Wasser hier wird wohl Lungenflüssigkeit gewesen sein; jedenfalls wurde dieser Vers über Wasser und Blut immer auch als eine geheimnisvolle Vorausdeutung auf die zentralen Sakramente der Taufe und der Eucharistie gelesen, die zum Eingang in die Kirche gehören, also sozusagen zur Hochzeitsfeier mit Jesus Christus. Der Tod und die Auferstehung Jesu werden in jeder hl. Messe wieder gegenwärtig; und sie sind es, die ewiges Leben bringen. Jeder einzelne Mensch ist dazu gerufen, zu Jesus Christus zu kommen, Christ zu werden, zu seiner Braut, der Kirche, zu gehören.

Insofern sollte ich den ersten Satz dieses Artikels wohl revidieren. Die heilige Maria von Magdala ist ja ein Geschöpf Gottes, also von Christus geliebt, und sie ist ein Geschöpf, das auch auf seine Liebe geantwortet hat, sie gehört also selbstverständlich zu seiner Braut, der Kirche, seiner wahren Liebe.

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(James Tissot, Jésus regardant à travers le treillis, Wikimedia Commons; dieses allegorische Bild ist an Hohelied 2,9 angelehnt – „er blickt durch die Fenster, späht durch die Gitter“)