Die rote Pille und die Realität

Sie geistern seit einigen Jahren durch das Internet: die Ideen der Leute, die man als sog. Incels, involuntary celibates, bezeichnet, also Männer, die keine Frauen finden. Ich will hier nicht auf „pff, sind doch erbärmliche Idioten“ machen; Beziehungen sind eine Sache, die Menschen sehr nahegeht, das ist ein Bereich, in dem man sehr verletzlich ist und auch viel auf dem Spiel steht. Und ein Bereich, in dem heute viel kaputt ist.

Aber zum Glück sind viele dieser Ideen auch falsch. Solche Ideen sind z. B.:

  • 80% der Frauen würden sich an 20% der Männer – die attraktivsten, „ranghöchsten“ – heranschmeißen und die übrigen 80% der Männer ignorieren oder verachten; sie wären „hypergam“ (und würden evtl. auch in Kauf nehmen, dass der ranghöhere Mann dann noch andere Frauen nebenher hätte).
  • Frauen wären, wenn sie jung und attraktiv sind, promiskuitiv und würden sich „Alpha-Männer“ als Sexpartner suchen. Später, wenn sie vielleicht 35 wären und ein uneheliches Kind von einem Alpha-Mann hätten, würden sie sich einen Beta-Mann, den sie nicht arg attraktiv finden, der aber für sie sorgen soll, suchen. Auch wenn Frauen schon in einer Beziehung mit einem Beta wären, würden sie ihn gerne mal mit einem Alpha betrügen, weil sie vor allem in ihrer fruchtbaren Phase unbewusst gute Gene für ihre Kinder wollen würden. „Alpha f*cks, Beta bucks“ (Alpha f*ckt, Beta zahlt).
  • Vor allem heißt es dann: „AWALT“, „All women are like that“. Frauen wären einfach alle so, das wäre eben biologisch. Das wäre die rote Pille, die man nehmen müsste, der Realität müsste man ins Gesicht sehen.

Ich will hier nicht zu sehr die Soziologie loben. Aber Sexualverhalten kann nun mal objektiv gemessen werden – sowohl durch das, was Leute von sich selbst sagen, als auch durch das, was man an ihnen feststellen kann (z. B. die Übertragungsraten von sexuell übertragbaren Krankheiten). Und da findet man immer dasselbe, wieder und wieder repliziert:

Unter Heterosexuellen sind es ungefähr 10-20% der Männer und 10-20% der Frauen, die promiskuitiv sind und miteinander durchwechseln (und sich Geschlechtskrankheiten einfangen). Die übrigen 80-90% der Männer und 80-90% der Frauen sind eher auf langfristige Beziehungen aus und haben wenige Sexualpartner (Geschlechtskrankheiten sind eher selten). 80-90% der Männer und Frauen haben nur Sex mit Partnern in einer Beziehung und keine One-Night-Stands. Es hilft, sich anzusehen, wie häufig „Kuckuckskinder“ sind, also wie oft Kinder einen anderen Vater haben als den Partner der Mutter, der sich für den Vater hält. Die Zahl ist ziemlich konstant: Ca. 1%, und zwar sowohl für westliche Gesellschaften heute und in der Vergangenheit als auch für manche nicht-westliche Gesellschaften. Genanalysen sind durchaus hilfreich. Männer geben normalerweise an, im Lauf ihres Lebens etwas mehr Sexualpartner als Frauen gehabt zu haben; in den USA liegt der Medianwert bei etwas mehr als 4 für Frauen und etwas mehr als 6 für Männer; in Deutschland liegt der Durchschnitt (den Median habe ich nicht gefunden) bei 6 für Frauen und knapp 10 für Männer. (Vielleicht spielt in die unterschiedlichen Angaben hinein, dass Männer häufiger zu Prostituierten gehen, die Prostituierten aber selber in den Statistiken auf der weiblichen Seite nicht auftauchen, oder dass Männer großzügiger schätzen.) 90% der Männer und Frauen haben weniger als 20 Partner im Lauf ihres Lebens.

Einige heterosexuelle Männer und Frauen sind aber auch apathisch geworden und bleiben einfach Single, gehen nicht auf Dates und bemühen sich gar nicht um das andere Geschlecht. Das ist ein Problem, das heute größer ist als früher – z. B. durch Pornographiekonsum werden Männer apathisch und haben weniger stark den Wunsch nach einer realen Frau. Männer und Frauen sind sich weniger im klaren, was man von einer Beziehung erwarten soll oder kann, Kinderkriegen wird herabgesetzt, und die Leute sind sich in ihrer Identität als Mann oder Frau unsicherer (auch durch diese Geißel der Menschheit, den Feminismus). Heute sind einfach mehr Leute beider Geschlechter einsam als früher.

Natürlich sind die meisten Leute auch ein wenig promiskuitiver – man hat eben Sex mit drei oder vier Leuten in einer halbwegs stabilen Beziehung, die dann wieder auseinandergeht, bevor man mit 30 jemanden zum Heiraten findet (und vielleicht geht dann die Ehe später auseinander und man sitzt mit 45 Jahren und zwei Kindern einsam da). Aber die meisten Leute sind nicht sehr promiskuitiv; Promiskuität ist nun mal nicht natürlich. Sie wollen langfristige Beziehungen, auch wenn sie von unseren erbsündlichen Neigungen leider dazu getrieben werden, sich da erst mal nicht zu sehr zu binden und trotzdem schon miteinander zu schlafen, und dann die Beziehung auch schnell wieder aufzugeben. Serielle Monogamie, aber immer noch Monogamie.

Wie kommt es dann, dass Männer öfter die Erfahrung berichten, es auf Dating-Apps schwerer zu haben? Ganz einfach: Deutlich mehr Männer als Frauen benutzen Dating-Apps, auf den Apps sind gar nicht genug Frauen für alle Männer; zwangsläufig muss ein großer Teil der Männer ohne Match bleiben. (Und nebenbei: Statistiken, die nur messen, dass z. B. die meisten Frauen auf Tinder vor allem 20% der Profile der Männer anschauen sollen, messen auch nicht das Sexualverhalten, das am Ende dabei herauskommt – abgesehen davon, dass sie eben nur das Verhalten der Leute messen, die auf Tinder sind. Die meisten Leute treffen ihre Sexualpartner nicht auf Tinder.)

Haben Frauen es leichter, schnellen Sex zu haben? Wahrscheinlich. Wenn eine promiskuitive Frau gelegentlich, aber nicht ständig, Sex mit Fremden will, werden gleich genug Männer bereitstehen, auch wenn sie vielleicht nicht die attraktivste Frau auf dem Planeten ist, und sie wird eine größere Auswahl haben. Es ist eine Frage von Angebot und Nachfrage, die nicht übereinstimmen. Es ist unlogisch, Frauen für größere Schlampen zu halten, weil Männer mehr Sex wollen. Ich will hier nicht umgekehrt sämtliche Männer verurteilen; Biologie und Erbsünde prägen uns unterschiedlich. Aber es ergibt definitiv keinen Sinn, deswegen sämtliche Frauen zu verurteilen.

Für Statistiken zu diesem Thema kann ich diese Seite empfehlen.

Das alles zeigt letztlich auch die brutale Ironie der Sexuellen Revolution. Es kam nie dazu, dass alle miteinander ins Bett steigen wie die Bonobo-Äffchen (und erst recht nicht dazu, dass sie damit glücklich sind). Stattdessen haben wir einfach mehr Instabilität und Unsicherheit und Einsamkeit, aber immer noch das Streben nach Monogamie, Treue, Liebe.

Und da hilft es wenig, sich von Geldmachern auf Youtube zum Pick-up-artist ausbilden lassen zu wollen, damit man selber Alpha sein und Frauen manipulieren kann. (Wie glücklich würde man überhaupt mit Frauen werden können, wenn die tatsächlich alle nur geld- und statusgierige Schlampen wären?) Sondern eher, sich in Kreisen zu bewegen, in denen man normale Leute mit einer anständigen Grundeinstellung kennenlernen kann, die langfristige Beziehungen wollen, und diese idealerweise auch nicht schnell wieder aufgeben wollen. (Als Christ hat man zwangsweise eine gute Teststrategie: Man schaut einfach, ob Leute bereit sind, mit dem Sex bis zur Ehe zu warten; sind sie es nicht, nicht mal widerwillig, haben sie offensichtlich die falschen Prioritäten; sind sie es, schaut es besser aus. Was eben mal wieder die Weisheit der Kirche zeigt.) Manchmal dauert das einige Zeit, und auch in solchen Kreisen kann es sein, dass man einfach Pech hat und niemanden findet, der zu einem passt; aber dieses Pech ist zum Glück nicht extrem weit verbreitet. Vielleicht kann man auch ein paar Sachen finden, die man verbessern kann und die die Chancen erhöhen. Die oben genannten Ideen haben den einen wahren Kern, dass Frauen gerne zu ihrem Mann aufsehen und ihn bewundern können wollen. Aber diese Bewunderung kann sich doch auf ein paar Sachen mehr erstrecken als, sagen wir, Körpergröße und Armmuskeln.

Gott hat uns kein Beziehungsglück versprochen; aber man muss nicht zu schnell aufgeben. Und auch keinen falschen Ideen zu den Gründen dafür aufsitzen, die einen nur frustrierter und hilfloser machen.

Ferdinand Georg Waldmüller, Eintritt der Neuvermählten.