Auch wenn ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündete: Das Problem mit dem Islam

Der Islam gilt bei vielen als eine der „abrahamitischen Religionen“, die uns Christen doch verwandt wäre, mit der wir doch gut auskommen müssten. Ganz falsch ist das nicht – dazu unten -, aber er ist, wenn man die Sache so durchdenkt, trotzdem genau die Religion, die der Teufel sich im 7. Jahrhundert wünschen konnte.

Die Situation war diese: Das Oströmische Reich (Griechenland, Kleinasien, Naher Osten, Nordafrika) war christlich; die germanischen Stämme, die das Weströmische Reich überrannt hatten, nahmen einer nach dem anderen das Christentum der von ihnen unterworfenen Weströmer an; Irland war christlich; Armenien war christlich; Äthiopien war christlich; in Persien und Arabien gab es schon einige Christen und einzelne sogar in Indien. Es war materiell gesehen nicht die beste Zeit, mit vielen Kriegen und Krankheiten und Klimaverschlechterung, aber dennoch war insgesamt das Christentum auf dem Vormarsch. Die Verehrung von Ahnen, Naturkräften und Geistern verlor an Überzeugungskraft, der eine Gott wirkte logischer und zeigte Seine Macht. Brutale heidnische Sitten wie Stammesfehden waren nicht verschwunden, aber ihnen wurde ganz allmählich entgegengewirkt. (Das Judentum war auch noch relativ stark, auch wenn es nicht so sehr wuchs.)

Nun tritt da in Arabien ein angeblicher Prophet namens Mohammed auf, der erklärt, ein Engel sei ihm erschienen, und ja, es gebe nur einen Gott, aber diese früheren jüdischen und christlichen Offenbarungen seien alle verfälscht, und er sei jetzt als entscheidender Prophet gesandt worden, um alles zu korrigieren. Jesus sei nicht gekreuzigt worden und nicht auferstanden und habe eigentlich überhaupt nichts Besonderes getan, außer zu verkünden, es sei nur ein Gott, und ihn, Mohammed, anzukündigen. Ja, in der Bibel sei alles verfälscht, nur die eine Stelle, an der Jesus ankündigt, den Beistand, den Heiligen Geist, zu senden, sei insoweit nicht verfälscht, als mit dem Beistand nicht der Heilige Geist, sondern er, Mohammed, gemeint sei. („Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“ Joh 14,26) Nein, er kann keine alten Manuskripte vorzeigen, die unverfälscht sind, nein, auch keine anderen Leute, die noch die ursprüngliche Wahrheit über Jesus bewahrt haben, nein, er kann auch keine öffentlichen Wunder wie Heilungen vorzeigen, die ihn als von Gott gesandt bestätigen würden, obwohl er selbst anerkennt, dass Jesus noch solche Wunder gewirkt hat. Hey, immerhin wäre er nachts einmal nach Jerusalem und in den Himmel entrückt worden, das solle man ihm gefälligst glauben, auch wenn es niemand gesehen hat, das sei doch Zeugnis genug. (Außerdem wird 200 Jahre später in einer Hadithensammlung aufgezeichnet, er habe den Mond gespalten, was ein paar wenige Leute gesehen haben sollen – nein, da macht es nichts, dass niemand von seinen Zeitgenossen etwas davon berichtet und niemand sonst es gesehen haben soll.) Außerdem seien seine zusammenhanglosen Predigten, die zu einem Buch zusammengestellt werden, literarisch auf Arabisch so schön, dass das sein Prophetentum beweise. Wer ihm nicht glaube, der komme eben in die Hölle, selber schuld. Bei seinen Predigten gegen die Christen machte er lachhafte Fehler – z. B. impliziert er an einer Stelle, die Christen würden Jesus und Maria (Maria, nicht einmal den Heiligen Geist!) als getrennte Götter neben Gott anbeten: „Und wenn Allah sagt: ‚O ʿĪsā, Sohn Maryams, bist du es, der zu den Menschen gesagt hat: ‚Nehmt mich und meine Mutter außer Allah zu Göttern!‘?‘, wird er sagen: ‚Preis sei Dir! Es steht mir nicht zu, etwas zu sagen, wozu ich kein Recht habe. Wenn ich es (tatsächlich doch) gesagt hätte, dann wüßtest Du es bestimmt. Du weißt, was in mir vorgeht, aber ich weiß nicht, was in Dir vorgeht. Du bist ja der Allwisser der verborgenen Dinge.“ (Sure 5, Vers 116) (Es ist keine einzige christliche Sekte bekannt, die Maria als Göttin verehrt hätte.)

Mohammeds Himmelfahrt, Persien, 16. Jahrhundert.

Kein kluger und ernsthafter Christ hätte diesen Mann ernst nehmen können. Alle Beweise und Zeugnisse der Apostel, die für ihren Glauben immerhin den Märtyrertod erlitten hatten, standen dagegen, es war schlichtweg lachhaft. Gute Dichtkunst können sehr viele Menschen schaffen, und niemand sieht deshalb Homer als gottgesandten Propheten, der alle anderen Propheten übertrumpfen soll. Wieso sollte man an ihn glauben und alles andere verwerfen? (Auch heute wissen wir, dass alle frühesten Bibelmanuskripte sowie die sonstigen Quellen und archäologischen Beweise übereinstimmen, das Christentum eben nicht ursprünglich etwas anderes lehrte. Das sollte auch das zentrale Argument gegen den Islam sein: Nicht dass diese oder jene seiner Regeln falsch ist, denn damit stößt man bei Moslems sowieso auf taube Ohren, sondern dass er von Grund auf unglaubwürdig, das Christentum aber längst bewiesen ist.)

Wer würde an Mohammed glauben? Vielleicht dumme Leute, die begierig waren, einen richtigen echten Propheten in ihren Tagen zu sehen, oder Polytheisten, die bisher noch nicht viel von Christen- und Judentum mitbekommen hatten. Und zwar insbesondere solche, denen es in ihrem persönlichen Leben entgegenkam, ihm zu glauben.

Mohammed hatte ein paar taktische Vorteile, er kam den heidnischen Arabern entgegen:

  • Seine Religion erlaubte die Polygamie (bis zu vier Frauen), während das Christentum die Monogamie verlangte.
  • Seine Religion erlaubte die Unzucht mit bzw. Vergewaltigung von unbegrenzt vielen Sklavinnen. Auch eine verheiratete Frau, die in Kriegsgefangenschaft geriet, hatte damit automatisch als von ihrem Ehemann geschieden zu gelten und hatte dem sie raubenden Muslim zur sexuellen Verfügung zu stehen. (Es ist fast lustig, wie sich moderne islamische Apologeten verknoten, das zu rechtfertigen. „Nein, wirklich, diese Frauen haben bestimmt bald gesehen, wie die Muslime im Recht waren und ihre Leute im Unrecht und wollten jetzt zu den Muslimen gehören, ganz ehrlich! Und außerdem werfen sich Frauen doch sowieso gern dem Sieger an den Hals und überhaupt!“ Das war im übrigen etwas Neues im Vergleich zu den anderen monotheistischen Religionen. Das Gesetz des Mose verlangte, dass ein Mann eine Sklavin wenigstens ordentlich zur Ehefrau – zumindest zur Nebenfrau – nehmen, also auch zu einer freien Frau machen musste, wenn er Sex mit ihr wollte, und schimpfte über solches Benehmen, und das Christentum verurteilte solche Taten natürlich völlig.)
  • Seine Religion erlaubte die Scheidung, ähnlich wie das Judentum, anders als das Christentum.
  • Seine Religion erlaubte die „Ehe auf Zeit“ z. B. während Feldzügen.
  • Seine Religion erlaubte Abtreibung bis zu einer gewissen Frist.
  • Seine Religion erlaubte es, im Notfall zu lügen und sich nicht zu ihr zu bekennen, wenn man dafür Verfolgung zu befürchten hatte.
  • Seine Religion verlangte keine Feindesliebe.
  • Seine Religion sah ausdrücklich den Krieg als primäres Mittel der Ausdehnung der Gemeinschaft der Muslime vor. Das war damals auch etwas Neues, keine Angelegenheit von „das war eben im 7. Jahrhundert so“. Natürlich hatte Religion oder die Ablehnung einer Religion auch bisher oft eine Rolle in Kriegen oder politischen Konflikten gespielt – wie auch nicht, sie ist zentral wichtig für sämtliche Menschen -, aber Propheten oder Philosophen waren nicht vorrangig als Kriegsherren aufgetreten. Das gilt auch für seltsame Sektengründer. Zarathustra, Mani, Simon Magus, Arius, Markion, Montanus – keiner von ihnen war wie Mohammed gewesen.

Mohammed fand also nach und nach doch genug Anhänger, die ihn als Führer anerkannten und unter ihm gute Positionen fanden, und so wurde das islamische Kalifat begründet und breitete sich schnell immer weiter aus.

Man hört manchmal Christen argumentieren (ich selber fand es nicht ganz unplausibel): „Der Islam kennt wenigstens den Glauben an einen Schöpfer der Welt, der über Gut und Böse richten wird. Das ist besser als nichts, viel besser als der Polytheismus mit seinem absurden Götzendienst und seinen irrsinnigen, abergläubischen Praktiken, auch viel besser als der Atheismus, der Gott komplett die Anerkennung verweigert. Muslime könnten eigentlich unsere Verbündeten gegen einen aggressiven Atheismus sein.“

Das ist nicht ganz falsch, aber hier übersieht man etwas. Gerade, dass der Islam „nicht so schlimm“ ist, ist eine seiner Fallen. Jede falsche Ideologie braucht irgendwo eine Anziehungskraft, und der Islam hat die eher als z. B. der Atheismus oder der Polytheismus. Und so konnte er mächtig werden, und einen mächtigen negativen Einfluss ausüben.

Der Islam verhinderte die weitere Ausbreitung des Christentums. Er schnitt die Äthiopier und Inder vom Rest der Christenheit ab, unterdrückte das aufkeimende Christentum in Persien und Arabien. Er war Gift für jede christliche Mission. Ohne den Islam hätte sich die Kirche vielleicht ganz normal allmählich bis zu den Chinesen und Turkvölkern ausgebreitet, so wie sie sich im Westen zu den Wikingern und Slawen ausbreitete. Die Christen in Ländern wie Ägypten oder Syrien durften zunächst gegen Schutzgeldzahlungen weiterhin unter ihren islamischen Herren leben, aber sie waren beständiger Repression ausgeliefert, und auch einem schädlichen kulturellen Einfluss der islamischen Welt.

Heiden (Polytheisten, Animisten) nehmen viel leichter das Christentum an als Muslime, das haben christliche Missionare in Afrika erlebt. Dort sind die Volksgruppen, die vorher Heiden waren, mittlerweile mit deutlicher Mehrheit Christen (auch wenn sie oft noch Aberglauben beibehalten haben und teilweise bescheuerten Pfingstkirchen folgen); die Volksgruppen, die vorher Muslime waren, sind es auch jetzt noch.

Der Islam impft den Muslimen eine Abwehrreaktion gegen das Christentum ein, v. a. in Bezug auf die Dreieinigkeit. „3 ist nicht 1, 1 ist nicht 3, basta, weiter hören wir nicht zu.“ Dabei übersehen sie, wie gerade das Geheimnis der Dreieinigkeit ein bisschen Licht ins Dunkel um das Wesen Gottes bringt. Wir wissen: Gott ist das Gute und damit ist Er die Liebe; Gott ist sich selbst genug und hatte es nicht nötig, Geschöpfe zu erschaffen, um nicht einsam zu sein (Er hat uns rein aus überfließender Liebe geschaffen); Gott enthält in sich auf irgendeine Weise alles Gute, das wir in den Geschöpfen stückhaft sehen, und eins dieser guten Dinge ist Gegenseitigkeit, Ausgerichtetsein auf einen anderen. Das macht auf einmal viel mehr Sinn, wenn man weiß, dass es in Gott auf irgendeine Weise eine Gemeinschaft, ein Gegenüber gibt. Gleichzeitig ist Er vollkommen eins und besteht nicht aus Teilen; die drei Personen in Gott sind vollkommen eins und damit die wirklichste Liebesgemeinschaft, die es geben kann. Natürlich ist das ein Mysterium, aber was erwartet man denn bei Gott? Auch von Dingen wie Unendlichkeit oder Allwissenheit können wir uns keine rechte Vorstellung machen. Und Gott hat das nun mal offenbart.

Der Islam lässt seine Anhänger glauben, sie wären große Heilige, während sie nur ihre niederen Triebe ausüben, und bringt sogar gute Menschen dazu, Schlechtes gutzuheißen. Er stellt ein paar Forderungen, bei denen sich die Muslime stolz sagen können, wie radikal er sei, aber macht dann wieder bequeme Kompromisse. Er erlaubt es, Hass voll auszuleben. Der Dschihad ist eigentlich etwas für testosterongesteuerte Knaben, die den Kick des Krieges wollen, die irgendeinen Einsatz wollen, und die außerdem arrogant sind und sich über all den dummen Pöbel, die Kuffar, erheben wollen, die sich aber nicht wirklich selbst verleugnen wollen und die sogar für ihren Tod im Krieg noch ein himmlisches Bordell als Belohnung erwarten – nicht für wirkliche Männer. Der Islam verlangt keine Feindesliebe, kein Verständnis für Irrtum, keine langwierigen Bemühungen, jemanden mit Argumenten zu überzeugen, keine Nächstenliebe auch gegenüber Irrenden. Er macht die Menschen, die ihm voll und ganz folgen, zu schlechten Menschen, die im Zuge dessen ihr Gewissen abschalten müssen.

Der Islam macht es außerdem Muslimen, die seine Falschheit erkannt haben, sehr schwer, ihn zu verlassen (er schreibt immerhin die Tötung von abgefallenen Muslimen vor), und bringt auch sie damit dazu, gegen ihr Gewissen zu handeln.

Es wird sicher einige Muslime geben, die, da sie immerhin Gott und eine rudimentäre Moral kennen, mithilfe von unverschuldeter Unwissenheit in den Himmel kommen – meiner Vermutung nach wahrscheinlich vor allem fromme, altmodische, friedlich gesinnte Leute, die sich eher auf Aspekte wie Gebet, Fasten und Almosen konzentrieren, die zwar wollen, dass ihre Frauen aus Sittsamkeit Kopftuch tragen, aber den Gesichtsschleier für übertrieben halten, und die lieber nicht an Aspekte wie Sexsklaverei denken bzw. sich da mit dem angeblichen historischen Kontext herausreden. Aber das sind nicht alle Muslime. Es gibt auch die Sorte junge Männer, die sich sonst was auf ihre Herkunft einbilden, aus islamischen Einstellungen heraus sämtliche kopftuchlosen Frauen als Schlampen verachten und selber Pornos konsumieren, und sich wie Mehmed der Eroberer vorkommen, wenn sie sich in der Integrationsklasse der Berufsschule aufführen wie der letzte Depp. Der Islam versperrt den Zugang zu vielen Gnadenhilfen und sorgt damit auch dafür, dass die Muslime nicht mal seinen kompromisslerischen Vorschriften nachkommen, und er pervertiert den Sinn für Gut und Böse, sodass Muslime Dinge tun, die sie auch ohne Christentum als falsch erkennen müssten.

Der Islam ist, kurz gesagt, eine verdrehte Nachäffung des Christentums, und gerade dadurch gefährlicher als die Kulte von Jupiter und Odin.

Es gibt ja verschiedene Theorien, wieso Mohammed sich zum Propheten erklärte:

  • Er war ein Lügner.
  • Er hatte psychische Probleme.
  • Er war von einem Dämon getäuscht, der sich als „Engel des Lichts“ ausgab.

Dass er ein Lügner war, halte ich für unwahrscheinlich, er scheint schon selbst von seiner Botschaft überzeugt gewesen zu sein; da macht eine der beiden anderen Theorien dann mehr Sinn. Gerade da der Islam dem Teufel so viel genützt haben muss.

Heidentum, Dämonen und Menschenopfer

Wenn man Säkularisten erklären will, vor was für einer Welt das Christentum uns gerettet hat, stößt man öfter auf die Schwierigkeit, dass sie es sich gar nicht richtig vorstellen können. Es hat unsere Kultur so lange geprägt, dass zu vieles zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist; und selbst auf heidnische Regionen wie Asien hatte es über die politische Macht und die kulturelle Dominanz Europas und Amerikas mittelbar einen gewissen Einfluss. Wenn man Leuten darlegt, dass z. B. die alten Kanaaniter/Phönizier Menschenopfer und Tempelprostitution pflegten, wird das leicht zu feindlicher Propaganda erklärt (zumindest solange, bis ein Haufen geopferter Kinderleichen in phönizischen Siedlungen im Mittelmeerraum ausgegraben wird).

Überbleibsel einer phönizischen Opferstätte, Karthago, heutiges Tunesien.

Aber die Sache ist ja die: Das Heidentum existiert immer noch. In geschwächter Form, aber es existiert, und die Leute wissen es nur oft nicht. Indien ist ein gutes Beispiel; dort schafften die englischen Kolonialherren zwar z. B. die Witwenverbrennung ab, aber vieles andere bestand ungehindert fort. (Die East India Company verhinderte übrigens bis Anfang des 19. Jahrhunderts aus geschäftlichen Interessen eine christliche Mission in Indien; andernfalls wäre es vielleicht inzwischen schon besser.)

Menschenopfer existieren heute noch. Sie passieren eben z. B. in Indien, und selbst wenn die Täter zur Rechenschaft gezogen werden, gibt es einflussreiche Hindu-Politiker, die alles zur Verleumdungskampagne erklären. Auch in Afrika kommen sie vor; Uganda hat deswegen erst Anfang 2021 ein eigenes Gesetz zu ihrer Verhinderung erlassen. Das sind nicht zentral geplante Veranstaltungen in großen Tempeln, sie folgen keinen geschriebenen Regeln; eher kommt es vor, dass ein Dorfbewohner, dem ein Heiler eingeredet hat, er sei verhext worden, heimlich ein Nachbarskind entführt und in seiner Hütte auf brutale Weise umbringt, um dadurch einen bösen Geist zu besänftigen oder von ihm Macht zu erlangen. Und doch kann das Ganze einen größeren Umfang annehmen; in Ibadan, Nigeria gab es 2014 Unruhen, als im Wald ein „Haus des Schreckens“ entdeckt wurde, voller Leichen, Leichenteile und halbtoter Gefangener (übrigens wurde es nicht von der Polizei entdeckt, sondern von Motorrad-Taxi-Fahrern, die auf eigene Faust nach einem entführten Kollegen suchten). In Indien gibt es auch trotz eines staatlichen Verbots noch Tempelprostituierte – Devadasi, „Göttersklavinnen“. Junge Mädchen werden mit einer Gottheit „verheiratet“ und vollziehen für diese Gottheit Tänze und Sex; das Geld, das sie mit der Prostitution verdienen, geht teilweise an den Tempel. Früher waren diese Frauen wohl noch mächtiger, heute stammen sie vor allem aus den untersten, armen Kasten; und die halbherzigen Bemühungen der Regierung dagegen helfen nicht viel.

Devadasis um 1920.

Wenn sie an indische/südostasiatische Religion denken, haben die meisten Deutschen wahrscheinlich ein Bild von orangegekleideten Mönchen im Kopf, die im Schneidersitz sitzen und „Om“ sagen. Das ist ein geringer Teil dieser Religionen.

Das Hauptsächliche am Heidentum ist doch seine Verworrenheit. Man hat vage Vorstellungen von einer Welt der Geister und „Götter“, die man besänftigen muss, die man fürchtet. Man hat keine abgegrenzten Lehren, es muss keinen Sinn ergeben; man nimmt alles mögliche auf, was irgendein Guru verkündet, egal, welcher Tradition der angehört. Diese Geister müssen nicht rational zu verstehen sein; vielleicht wollen sie gerade, dass man Irrationales, Böses tut, um ihnen seine Gefolgschaft zu beweisen. Vielleicht sind sie Totengeister, vielleicht verkörpern sie Naturkräfte, vielleicht sind sie böse Geister, die man gerade durch die perversesten Riten gefügig machen oder beeindrucken will, vielleicht sind sie mehr oder weniger gute Geister, die einen für Gastfreundschaft belohnen und für Betrug bestrafen. Banaler Aberglaube existiert neben Philosophen, die die alten Göttergeschichten für irgendwie bildlich gemeint erklären; irgendwo im Hintergrund wird vielleicht ein höchster Schöpfer erkannt, der die ganze Welt gemacht hat, aber im Vordergrund steht ein Schwarm von „Göttern“, die innerhalb der Welt leben und miteinander konkurrieren.

Die indische Göttin Yellamma, zu deren Ehren es Tempelprostituierte gibt.

Die Christen in der Antike, die mit der verworrenen Götterwelt im Mittelmeerraum zu tun hatten (wenn auch solche Dinge wie Menschenopfer dort nicht so häufig waren wie in anderen heidnischen Kulturen), erklärten diese Dinge nicht nur mit menschlicher Dummheit, sondern auch mit einem wirklichen übernatürlichen Einfluss; dem der Dämonen. Die Dämonen sind nach christlichem Verständnis gerade keine Götter, sondern Geschöpfe Gottes, Engel, also reine Geistwesen, die aber durch ihren Hochmut von Ihm abgefallen sind, und, von Gott getrennt, sich selbst zugrunde richteten. Diese Christen waren der Ansicht, dass zumindest manchmal, wenn jemand beanspruchte, eine Vision zu haben, oder von einer Gottheit besessen zu sein, oder die Stimme einer Gottheit zu hören, nicht nur Einbildung oder Lüge, sondern diese Dämonen dahinter steckten. Sie ließen sich gerne als angebliche Götter anbeten, wollten die Menschen vom wirklichen Gott abziehen, und sie nebenbei noch zu an sich schon bösen Riten verführen. Das lässt sich auch bestätigen durch den Psalmvers „Alle Götter der Heiden sind Dämonen“ (Ps 96,5). Wie sehr diese Götter vor allem im Alten Testament verurteilt werden, wird auch verständlich, wenn man sieht, dass einige Israeliten selbst sich verleiten ließen, zu glauben, man solle sich mit ihnen verbünden und ihre Gunst erlangen. „Ja, die Söhne Judas taten, was böse ist in meinen Augen – Spruch des HERRN. Sie haben in dem Haus, über dem mein Name ausgerufen ist, ihre Scheusale aufgestellt, um es zu entweihen. Auch haben sie die Kulthöhen des Tofet im Tal Ben-Hinnom gebaut, um ihre Söhne und ihre Töchter im Feuer zu verbrennen, was ich nie befohlen habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist.“ (Jeremia 7,30f.)

Und wenn man so manche Vorgänge in heidnischen Ländern sieht, wirkt die Deutung mit den Dämonen schon ganz überzeugend.

Die einfache Wahrheit des Christentums ist: Es gibt nur einen Gott, Er hat alles in der Hand und Er ist vollkommen gut und will nicht, dass man Ihm seine Kinder schlachtet. Die Dämonen mögen ein wenig wüten, aber letztlich sind sie machtlos, wenn man sich Gott dem Herrn anvertraut. Und diese Wahrheit bedeutet eine große Befreiung.

Von Gott und Götzen

Alle Götter der Heiden sind Dämonen, so sagt es der Psalm (96(95),5); unsere Kirchenväter sahen dementsprechend in den Kulten ihrer römischen, griechischen, ägyptischen Umgebung vor allem die Dämonen, also die von Gott abgefallenen Engel, am Werk, die sich den Menschen gezeigt und sich als Götter ausgegeben hätten, um sie auf falsche Bahnen zu lenken (manchmal bemerkten sie außerdem, dass hier einfach historische Gestalten göttergleiche Ehren erhielten – wenn zum Beispiel noch das Grab eines Zeus bekannt war -, was sie aber letztlich auch als Werk der Dämonen erklärten). Der Götzendienst jedenfalls, bei dem irgendetwas Geschaffenes, das nicht Gott ist, angebetet wird, so sagen es die Bibel und die Kirche, ist Sünde, was auch immer genau dahintersteckt. (Die Einheitsübersetzung übersetzt statt „Dämonen“ in diesem Psalm, anders als Septuaginta und Vulgata, übrigens „Nichtse“; ich kann das mangels Hebräischkenntnissen nicht beurteilen.) Schon die Sache mit dem Goldenen Kalb nahm der Herr ja nicht so locker.

Soweit, sogut; heißt das nun, dass jede vor- oder nichtchristliche Religion einfach nur Idolatrie ist?

Kurz gesagt, nein, heißt es nicht. Die Kirche lehrt auch, dass der Mensch prinzipiell allein mit seiner Vernunft, noch vor der göttlichen Offenbarung, die Existenz eines einzigen, absoluten, hinter der Welt stehenden Schöpfers erkennen kann, und in manchen Religionen oder Philosophien wurde dieser Schöpfer wirklich erkannt; oft wandte man sich zwar zusätzlich noch an eine bunte Welt von Göttern, Halbgöttern, Geistern, personifizierten Naturkräften und Ahnen, die man sich als übermenschliche Wesen innerhalb der Welt dachte, und solchen Wesen göttliche Ehren zukommen zu lassen, war bzw. ist freilich Götzendienst, wenn auch unter Umständen gutgläubiger Götzendienst; aber das macht die wahre Gottesverehrung, die manchmal gleichzeitig da war/ist, nicht inexistent.

Die antiken Platoniker beispielsweise waren philosophische Monotheisten, und übrigens auch gute Kandidaten für eine Bekehrung zum Christentum; ein Beispiel ist der hl. Justin der Märtyrer / der Philosoph (hingerichtet ca. 165 n. Chr.), der erzählt, dass er noch als Platoniker Gott folgendermaßen definierte, als er in einen Dialog mit einem Christen geriet:

„‚Das Wesen, welches immer in gleicher Weise dasselbe ist, und welches die Ursache des Seins für alles übrige bildet, das ist Gott.‘ So lautete meine Antwort. Er aber hatte seine Freude an meinen Worten und stellte von neuem an mich eine Frage.“

Griechische Philosophen waren aber nicht die einzigen, die Gott erkannten; die nordamerikanischen Indianer kannten den „Großen Geist“ – und auch katholisch gewordene Indianer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die andere Praktiken ihrer Religion aufgegeben hatten und nicht mehr an andere untergeordnete Geister glaubten, bezeichneten Gott manchmal noch immer mit dem Titel „der große Geist“, wie man in damaligen Missionszeitschriften schön nachlesen kann; so sagte ein Kongress der katholischen Sioux zur Ehe:

„Wir glauben an die Lehre Jesu Christi bezüglich der heiligen Ehe: Was der große Geist vereint hat, soll der Mensch nicht trennen. Deshalb verabscheuen wir von ganzem Herzen den Missbrauch, das Band der Ehe zu lösen, und betrachten ihn als einen großen Schandfleck unserer Zeit.“

Die Missionare bauten auf ihrer Gotteserkenntnis auf, und brachten ihnen die Botschaft, dass der große Geist, von dem sie schon wussten, sich auch offenbart hatte und sogar Mensch geworden war.

Ein anderes Beispiel: Kardinal Robert Sarah aus Guinea (Westafrika) erzählt in dem Interview-Buch „Gott oder nichts“, das der Journalist Nicolas Diat mit ihm gemacht hat, im ersten Kapitel auch von seiner Kindheit im ländlichen Guinea; und über die Religion seiner Vorfahren (er selbst wurde schon 1947 als Zweijähriger getauft, hat aber als Kind und Jugendlicher in seiner Umgebung offensichtlich noch einiges von der traditionellen Religion mitbekommen) berichtet er folgendes:

„Das Volk der Coniagui ist sehr religiös, es hängt an Gott, der Ounou genannt wird. Doch es kann mit ihm nur durch die Ahnen in Kontakt treten.

Der Gott meiner Vorfahren ist der Schöpfer des Universums und von allem, was existiert. Er ist ein höchstes Wesen, unaussprechlich, unbegreiflich, unsichtbar und unergründlich. Dennoch ist er im Zentrum unserer Leben und durchdringt unsere ganze Existenz.“ (Eigene Übersetzung aus der französischen Originalausgabe „Dieu ou rien“.)

Seine Eminenz hat über die Religion seiner Vorfahren durchaus nicht nur Positives zu sagen; die Initiationsriten für Jugendliche greift er kurz darauf mit den schärfsten Worten an. Aber dieser grundsätzliche Gottesglaube ist ganz offensichtlich etwas Positives.

(Kardinal Sarah, 2015. Gemeinfrei.)

Dann gibt es da ja noch Religionen, die den Monotheismus vermittelt über Leute, die von der Offenbarung Gottes an das Volk Israel und in Jesus von Nazareth bereits wussten, kennenlernten, aber ihr eigenes Spin-off kreierten, wobei sie eine neue Offenbarung beanspruchten und  die alte für verfälscht oder eine minderwertige Vorstufe erklärten; Beispiele wären die Moslems im 7. oder die Bahai im 19. Jahrhundert.

Natürlich sind das falsche Religionen; und solche Verfälschungen haben irgendwo noch etwas Schlimmeres als vor der Offenbarung vorhandene, sich selbst (natürlich auch mit Gottes versteckt wirkender Gnade) nach der Wahrheit vortastende Philosophien und Religionen. Götzendienst sind sie allerdings auch nicht.

Um einen Freund (dankeschön, Nepomuk!) zu zitieren:

„Begründung, kurzgefaßt: Wer ‚Gott‘ sagt und dabei auch tatsächlich ‚Gott‘ meint – d. h. ein einziges höchstes Wesen, das nicht, wie die vorgestellten Götzen, der Welt angehört, sondern die Welt erschaffen hat – der meint eben per tautologiam auch Gott damit, und Schluß.

Ob man Seinen Sohn ignoriert (wie die heutigen Juden), ihm rabiate Leugnung der Wahrheit Seiner Dreifaltigkeit (wie die Moslems) unterstellt oder geradezu teuflische Züge (um mit Chesterton zu sprechen) bei [der] schuldlosen ewigen Verdammnis von Menschen wie die Kalvinisten, ist natürlich auf je eigene Art und Weise schlecht (vor allem Begriffe wie ‚Apostasie‘ und ‚Häresie‘ fallen da ein), ändert aber an der Tautologie nichts, daß wer Gott verehrt, Gott verehrt.

(Folglich muß ein Katholik, der zum Islam abgefallen ist, beichten ‚ich habe Apostasie begangen‘; er muß aber in der Tat nicht beichten ‚ich habe Götzendienst begangen‘.)“

Die Hindugötter beispielsweise sind tatsächlich Götzen; „Allah“ (das arabische Wort für „Gott“, das, nebenbei bemerkt, auch arabische Christen gebrauchen) ist tatsächlich kein Götze. Es wäre daher nett, wenn christliche Angriffe auf den Islam mit korrekten Begriffen operieren könnten, statt „Allah ist ein Götze“ o. Ä. zu proklamieren, was nun mal leider falsch ist. Anderweitige Angriffsfläche bietet ein gewisser falscher Prophet bekanntlich genug.

(Diese Tatsache, dass Gott nun mal Gott ist, schließt übrigens nicht aus, dass falsche Propheten und Sektenführer, die immerhin noch an Gott glaub(t)en, letztlich auf direkte oder indirekte Weise  von den Dämonen inspiriert waren; selbst immerhin noch christliche Irrlehrer, die sich von der Kirche abspalteten und der vollständigen Wahrheit Adieu sagten, wie beispielsweise Calvin, waren ja vermutlich irgendwie von den Dämonen inspiriert (wie auch sonst viele beim Tun von irgendwelchem Bösem).)

Holman The Golden Calf.jpg Pilgrims worship beside the Ka'bah01.jpg

(Links: Götzendienst; rechts: nicht Götzendienst. (Gemeinfrei.))

 

PS: Anlass für diesen Artikel war, dass man ja schon mal für eine modernistische Götzendienstverharmloserin gehalten wird, wenn man in sozialen Medien die unbestreitbare Tatsache erwähnt, dass Muslime wenigstens Gott ehren.

PPS: Eine interessante Beobachtung, die mir noch in den Sinn gekommen ist: Nicht nur Tradikatholiken, die den Islam angreifen wollen, sondern auch Fundiprotestanten, die den Katholizismus angreifen wollen, haben ja öfter Schwierigkeiten mit der korrekten Definition von „Götzendienst“: Einerseits, was altbekannt ist, werfen sie uns wegen der Heiligenverehrung Götzendienst vor; da können wir noch so oft erklären, dass wir die Heiligen verehren und nicht anbeten; aber komischerweise haben sie mit der tatsächlichen Anbetung der eucharistischen Gestalten (d. h. der gewandelten Hostie und des Weins, die in der Messe zu Leib und Blut Christi werden) durch Katholiken wesentlich weniger Probleme, obwohl das ihrer Lehre nach wirklicher Götzendienst sein müsste, da sie die Hostie für bloßes Brot halten und man Brot ja doch nicht anbeten sollte.

 

 

Ein kurzer Rant betreffs der östlichen Schismatiker

Ich habe vor einiger Zeit mal bemerkt, die Evangelikalen wären die „Lieblingshäretiker“ in unserem Lager der „konservativen“ Katholiken geworden; seit neuestem bekommen sie bei dieser Position allerdings Konkurrenz von den Häretikern aus dem Osten, die sich die „Orthodoxen“ nennen.

In gewisser Weise kann man das ja verstehen: Inzwischen leben auch im Westen mehr griechische, russische, ukrainische, serbische, syrische, irakische usw. Christen und irgendwie findet man die doch faszinierend. Sie haben mehr mit uns gemeinsam als die Protestanten (Sakramente, Apostolische Sukzession usw.), sind aber irgendwie auch fremd und man will ja weltoffen sein und auf sie zugehen. Und: Schöne Ikonen! Komische liturgische Gewänder! Unverständliche Sprachen! Spannend!

(Muttergottes von Wladimir. Gemeinfrei.)

Ein nicht so kleiner Teil der Bewunderung für die östlichen Christen ist m. E. tatsächlich nichts anderes als Orientalismus. Das meine ich gar nicht so verächtlich, wie es vielleicht klingt; es macht Spaß, das Fremde zu bewundern (und wer damit anfängt, fängt fast notwendigerweise bei oberflächlichen Dingen an); und wo kämen wir hin, wenn keiner sich mehr für andere Kulturen begeistern dürfte.* Wenn Westler die östliche Liturgie oder Kunst bewundern, ist das prinzipiell genauso legitim, wie wenn Japaner, Amerikaner und der ein oder andere Preuße nach Neuschwanstein schwärmen und sich da überteuerte Postkarten, Dirndlimitate mit zu kurzen Röcken und Kuckucksuhren an den Souvenirständen kaufen – auch wenn man nicht unbedingt damit rechnen muss, dass die Einheimischen allzu viel für diese Art Bewunderung übrig haben werden. Und wer sich für den Osten begeistert, kann schließlich auch eine griechisch-katholische Liturgie besuchen und muss nicht zu einer schismatischen griechisch-orthodoxen gehen. Der Osten hat, wie der Westen, Großartiges zu bieten.

Aber lächerlich wird es, wenn von manchen Leuten seit neuestem so getan wird, als wären die schismatischen Orthodoxen die standhafte konservative Bastion der Christenheit, während Papst Franziskus und seine liberalen Höflinge die katholische Kirche an den Rand des Untergangs bringen.

Ja, ja, sie mögen schöne lange Gottesdienste haben, die noch nicht in moderne Sprachen übersetzt worden sind. Und ihre liturgischen Gewänder sind ganz hübsch. Ich mag das traditionelle Lateinische zwar lieber, aber das ist nun Geschmackssache. Aber: standhafte Verteidigung der christlichen Lehre? Ernsthaft? Mit der These gibt es so einige offensichtliche Probleme:

  • Die östlichen Schismatiker verbindet eine Sache mit so ziemlich allen Häretikern der Kirchengeschichte wie auch mit den Leuten innerhalb der katholischen Kirche, die sie „modernisieren“ wollen: Sie leugnen die absolute Unauflöslichkeit der sakramentalen und vollzogenen Ehe. Ja, die Scheidung wird nicht gern gesehen; aber wenn jemand aus einem Grund, den die Kirche als ausreichend ansieht, geschieden ist und wieder heiraten will, lassen die orthodoxen Kirchen das zu. (Und zu diesen Gründen gehört nicht nur Ehebruch o. Ä., sondern sogar eine schwere Krankheit eines Partners, die das Familienleben einschränkt – wenn es deinem Partner nicht gut geht, kannst du ihn ersetzen. Von wegen „in guten wie in schlechten Tagen“.) – Gleichzeitig sehen sie diese zweiten oder dritten Ehen nicht gern – und setzen zweite oder dritte Ehen nach dem Tod eines Partners ihnen praktisch gleich. Eine ziemliche Ungerechtigkeit gegenüber wiederverheirateten Witwen oder Witwern, die auf eine Stufe mit Geschieden-Wiederverheirateten gestellt werden. Noch dazu wird nach der dritten Ehe eine willkürliche Grenze gezogen; eine vierte Ehe darf auf keinen Fall geschlossen werden, auch nicht, wenn jemand dreifach verwitwet statt dreifach geschieden ist. – Der Witz daran ist, dass das hier keine komplizierte Frage wäre, wo Bibelstellen oder Kirchenväter einander widersprechen würden oder schwer zu interpretieren wären; sowohl bei  Jesus als auch bei Paulus wird es völlig klar, dass die Ehe zwischen Christen in diesem Leben unauflöslich ist, und durch den Tod dann tatsächlich aufgelöst wird.
  • Auch bei anderen modernen Streitfragen sind sie alles andere als standhaft. Empfängnisverhütung? Die Entscheidung soll den Ehepaaren überlassen werden (nur frühabtreibend wirkende Mittel werden ganz abgelehnt).
  • Dass orthodoxe Patriarchen und Bischöfe bei schwierigen Fragen ins Wanken geraten und von „individuellen Entscheidungen“ reden und sich nicht sicher sind, was die Kirche eigentlich lehren sollte, ist übrigens nichts Neues. Bei der Frage, ob es erlaubt sein könnte, den Glauben zu verleugnen, um dem Tod zu entgehen, war es schon vor Jahrhunderten dasselbe. (Zu Zeiten, als ein großer Teil Osteuropas von den Osmanen beherrscht war und auch im Gebiet der heutigen Türkei (damals Kern des Osmanischen Reiches) noch viele Christen lebten, eine gar nicht unwichtige Frage, da einige Christen dort unter Druck äußerlich den Islam angenommen hatten und für eine offene Rückkehr zum Christentum mit dem Tod zu rechnen gehabt hätten.)

Alles das beruht auf einem Prinzip, das sich „oikonomia“ nennt – bei uns Katholiken sagt man dazu seit neuestem „pastoral sein“ oder „individuelle Gewissensentscheidungen berücksichtigen“ -, was bedeutet: Im Einzelfall müsse man Ausnahmen machen und auch nicht so gute Dinge dulden, um auf die Schwächen der Menschen Rücksicht zu nehmen. Eigentlich ist das eine Beleidigung Gottes, genauer, ein Mangel an Vertrauen gegenüber Gott, da man davon ausgeht, dass Seine Gebote dem Menschen nicht wirklich gut tun würden und es grausam wäre, immer auf ihnen zu bestehen. Aber das ist ein Prinzip der Orthodoxie. Komisch, dass gerade Leute, die Papst Franziskus, der sich oft in einer solchen Weise ausdrückt, nicht besonders mögen, andererseits zu den Orthodoxen hinneigen… hm.

Und da haben wir noch gar nicht mit den anderen Problemen der Orthodoxen angefangen:

  • Sie leugnen das filioque, d. h. die Lehre, dass der Heilige Geist „aus dem Vater und dem Sohn (lat. filioque) hervorgeht“, die sich anhand der Bibel und der Texte der Kirchenväter sehr gut begründen lässt und keineswegs eine westliche Erfindung ist.
  • Sie leugnen den Primat des Papstes. Es ist erstaunlich, wie sehr manche Orthodoxe dafür bereit sind, die Geschichte der Kirche zu ignorieren und sogar offen zu lügen. Ein orthodoxer Bischof (ein von den Orthodoxen als Heiliger verehrter Bischof!) kann einen langen Text über den Papstprimat schreiben, dabei alle möglichen Bibelstellen anführen, und die Bibelstellen, die von Katholiken gebraucht werden, um den Primat zu begründen (z. B. Mt 16,18f., Lk 22,32, Joh 21,15-19), nicht einmal erwähnen. Er kann aus den Briefen des hl. Ignatius zitieren, und dabei den in dieser Frage entscheidenden, den an die Römer, einfach unter den Tisch fallen lassen. Das ist nicht mehr Irrtum, das ist offenes Lügen. Es ist aus der Geschichte der Kirche klar ersichtlich, dass auch im Osten der Papstprimat früher anerkannt wurde (und zwar sowohl vor als auch nach der Errichtung des Patriarchats Konstantinopel); das zu leugnen ist eine erstaunliche Leistung.
  • Und weil sie den Primat des Papstes leugnen, ist ihnen natürlich die Einheit verlorengegangen. Sie sind untereinander z. T. extremer zerstritten als mit dem Westen. Dazu muss man bloß die derzeitige Situation in der Ukraine betrachten; die Rivalität zwischen Moskau und Konstantinopel ist hier wirklich eskaliert. Ökumenische Konzilien bekommen sie logischerweise seit dem Schisma auch nicht mehr hin (anders als, ähem, die katholische Kirche).
  • Ihre Theologie ist oft unklar und verworren – sind katholische, protestantische usw. Taufen nun gültig oder nicht? Sie sind manchmal auch relativ anti-intellektuell eingestellt (und bilden sich einiges auf ihren Anti-Intellektualismus ein) und lehnen die Theologie, wie sie z. B. von den Scholastikern betrieben wurde, dann als unzulässiges Stochern in unzugänglichen Mysterien ab.
  • Dann wäre da ihr Cäsaropapismus. Zuerst die Kaiser des Byzantinischen Reiches, dann die Zaren, heute eben Putin: Wenn man sich dem Papst nicht mehr unterwirft, unterwirft man sich umso blinder dem eigenen säkularen Herrscher.
  • Dazu kommen nicht selten Verleumdungen gegenüber Katholiken. Beispiel gefällig? „Deshalb begreift die orthodoxe Kirche nicht den Priester als den Hauptakteur des liturgischen Geschehens, wie es die abendländische mittelalterliche Mess-Theologie getan hat. Vielmehr ist Christus Selbst der  ‚Darbringende und der Dargebrachte‘. Er ist der das Opfer der versammelten Kirche Empfangende, das Er wiederum als der alleinige Mittler Gott, dem Vater, darbringt. Und Er ist der die heilige Kommunion Austeilende und in ihr Empfangene.“ (Quelle hier.) HABT IHR EIGENTLICH SCHON MAL WAS VON „IN PERSONA CHRISTI“ GEHÖRT, WIR SAGEN AUSDRÜCKLICH AUCH, DASS HIER CHRISTUS SELBST HANDELT UND DER PRIESTER NUR DAS INSTRUMENT IST.
  • Auf orthodoxer Seite hält man den Katholiken gerne die Eroberung Konstantinopels beim 4. Kreuzzug 1204 vor. Okay, kann man machen. Aber dann sollten wir auch betrachten, wie bei den Kreuzzügen zuvor Byzanz den Kreuzfahrern, die eigentlich gekommen waren, um ihm zu helfen, immer wieder in den Rücken gefallen war. Oder später, wie grausam die Orthodoxen häufig gegenüber den Leuten im Osten waren, die die Union mit Rom wollten, und wie sie z. B. 1623 den hl. Erzbischof Josaphat ermordeten, oder in der Sowjetzeit die brutale Verfolgung der Unierten unterstützten. Oder schonvor dem endgültigen Schisma die Intrigen des Usurpators des Patriarchats Konstantinopel Photius im 9. Jahrhundert, der das Schisma vorbereitete. Man sollte auch nicht vergessen, dass es immer Rom war, das sich darum bemühte, nach dem Schisma die Einheit der Kirche wiederherzustellen – was mehrere Male fast geklappt hätte, zuletzt im 15. Jahrhundert beim Konzil von Basel-Ferrara-Florenz.

(Hl. Josaphat Kunzewitsch (1580-1623). Gemeinfrei.)

Ja, ich bin gerade etwas genervt, und ja, ich denke, ich habe Anlass, genervt zu sein.

Langer Rede, kurzer Sinn: Die sog. orthodoxen Kirchen lehren Häresie und befinden sich im Schisma und wir haben keinen Grund für Minderwertigkeitskomplexe ihnen gegenüber.

Wir haben übrigens auch keinen Grund für Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der östlichen (ob schismatischen oder unierten) Theologie, Liturgie, Kunst und Frömmigkeit – im Gegenteil, etwas mehr lateinischer Patriotismus wäre da schon gerechtfertigt. Aus dem Westen stammen der hl. Augustinus, der hl. Benedikt, der hl. Franziskus, der hl. Dominikus, der hl. Thomas, der hl. Ignatius von Loyola, die hl. Therea von Avila, der hl. Franz von Sales, die hl. Thérèse von Lisieux, der hl. Don Bosco, wir haben die Gotik, die Renaissance und den Barock, Fra Angelico und Raffael und Michelangelo, von hier stammen das Rosenkranzgebet und die Herz-Jesu-Verehrung, wir haben unsere eigenen Kirchenlehrer, unsere eigenen vielfältigen Orden, von den Karmelitern über die Franziskaner zu den Dominikanern, unsere eigene heilige Sprache und unsere eigenen liturgischen Traditionen (auch wenn es in den 60ern gewisse Leute für geboten hielten, diese generalzuüberholen und alles Mögliche grundlos zu streichen (das blieb dem Osten ja zum Glück erspart); aber die lateinische Messe existiert trotzdem noch). Übrigens hat unsere Seite gerade missionarisch im 2. Jahrtausend sehr viel geschafft; es waren z. B. die Jesuiten, die nach Japan und China gingen und dort den Glauben verkündeten und zu Märtyrern wurden.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass man deswegen die östlichen Kirchenväter (vor dem Schisma) oder die Traditionen, Liturgie, Ikonen, Theologen usw. der heutigen östlichen Christen irgendwie herabwürdigen sollte; da findet sich auch viel Großartiges; nicht nur bei den unierten, sondern selbst bei den häretischen Ostkirchen. (Wenn sie nicht so offensichtlich so nahe an der Wahrheit wären, müsste man die schismatischen Orthodoxen auch nicht so scharf kritisieren; aber so werden ihre Abweichungen davon noch schlimmer.) Es ist nur ein Plädoyer für ein wenig mehr lateinisches Selbstbewusstsein.

Und wie gesagt: Ich bin gerade etwas genervt. Aber zu Recht.

 

* Okay, wir wissen schon, wohin wir da kämen: Zu Leuten, die sich darüber aufregen, wenn Vierjährige sich als Indianer oder Chinesen verkleiden wollen, weil „cultural appropriation“.

Halloween, und so

Ein nachträglicher Gastbeitrag zu Halloween und dem Reformationstag von Nepomuk.

 

I. Feste am Ende des Oktober

Die deutsche Sprache kennt den Ausdruck „Matthäi am Letzten“, der ungefähr so viel bedeutet wie: „Es wird zappenduster.“ Wenn man so im Internet nachforscht, dann kann man die absurdesten Theorien über dessen Herkunft feststellen (angeblich habe er etwas mit dem hl. Apostel Matthias – dessen Genitiv „Matthiae“ wäre – zu tun, dessen Fest gegen Ende des Februars stattfindet, wenn auch nicht an dessen Ende), welche Herkunft doch dem Kirchgänger eigentlich offen auf der Hand liegend sein müßte: Im alten römischen Ritus, im Lesejahr A nach der Liturgiereform, und (wie man hört) auch bei den Protestanten werden am letzten Sonntag des Kirchenjahres jeweils Evangelien nach Matthäus verlesen, die alle unterschiedlich sind und alle vom Weltgericht handeln. Dann ist Matthäi am letzten; und wenn wir in die Apostelgeschichte schauen, wird es auch in der Tat zappenduster werden (Apg 2,19f).

Soweit sind wir noch nicht; es ist erst Oktober. Matthäi am Letzten ist eben am letzten Sonntag des Kirchenjahres – oder wäre es traditionell, wenn nicht die Liturgiereform in einem ihrer offenkundigsten Fehler uns an diesem Sonntag das Christkönigsfest beschert hätte (dessen in der Enzyklika Quas primas festgelegter Festinhalt eben nicht die vom Festtermin offensichtlich nahegelegte Aufrichtung des Himmelreiches am Jüngsten Tage ist, sondern die weniger, aber eben auch wichtige Herrschaft Christi im Hier und Jetzt, wie sie teils besteht, teils von uns nach unseren Möglichkeiten durchzusetzen ist). Christkönig, nach dem alten Ritus, war gerade eben; und man kann es vielleicht zu einer halben Ehrenrettung der Liturgiereform sagen: daß wir nun darauf im Zusammenhang mit einem ganz anderen Thema darauf zu sprechen kommen (der Zusammenhang wird, so hoffe ich, noch deutlich werden) ist vielleicht ein Hinweis darauf, daß das natürlich auch zusammenhängt.

Ziemlich genau mit dem November setzt die Besinnung der Kirche auf die sogenannten Letzten Dinge ein. (Für die liturgischen Feinschmecker: eigentlich, ausweislich des Festevangeliums, im alten Ritus schon mit dem Apostelfest der hll. Simon und Judas; und in gewisser Weise seit dem achtzehnten Sonntag nach Pfingsten, oder auch schon dem Samstag des Septemberquatembers, der nicht von ungefähr, obwohl er ganz verschieden fällt, im Meßbuch genau vor diesem Sonntag steht). Und am letzten Sonntag, an dem die Hauptfeste des Kirchenjahres vorbei sind, aber wir eben noch nicht mit dem Allerheiligenfest in die eigentliche Letzte-Dinge-Phase eingetreten sind, ist eben im alten Ritus das Christkönigsfest; so die Argumentation bei der Einführung 1925. – Ich schweife ein wenig ab; das ist so meine Art.

Am 1. November ist Allerheiligen, an dem wir die Heiligen des Himmels feiern; am 2. November ist Allerseelen, wo wir der Armen Seelen im Fegfeuer gedenken. Und am 31. Oktober? Da steht eine Menge von Dingen an.

Die Regensburger, natürlich, kümmern sich um den Lauf der restlichen Welt wenig; für sie ist erstmal, vor allem und überhaupt das Fest des hl. Wolfgang, ihres Diözesanpatrons, dann kommt eine ganze Weile nichts. Das ist ja auch schön und gut. Die lokalen Dinge sind sehr wichtig, und nur die wichtigsten Dinge sind wichtiger; so immer der gesunde katholische, subsidiäre Instinkt. Aber davon wollen wir ersteinmal nicht reden (außer es sollte sich eine ganz seltsame Parallele auftun).

Vor allem aber geht regelmäßig das obligatorische Gejammer los, das unsere Brüder und Schwestern Protestanten anstimmen, weil ihr Reformationstag von dem amerikanischen und, so heißt es, unchristlichen Import Halloween verdrängt wird. Ein kleiner Nebenkriegsschauplatz ist das Tanzverbot: an dem Fest Allerheiligen, auch wenn es für sich genommen ein Freudenfest ist, soll wegen des Themenkomplexes, das es einläutet, und wegen des doch ernsten Charakters, das es selbst auch irgendwo hat, und vor allem deswegen, weil Allerseelen nun einmal kein Feiertag ist und das öffentliche Totengedenken deshalb weitgehend an Allerheiligen stattfindet, keine Tanzveranstaltung stattfinden. Dies heißt auch, daß die Halloweenparties rechtzeitig enden müssen.

– Ich kann an dieser Stelle einschieben: Die vor einigen Jahren gefundene Lösung, daß im Freistaat Bayern an Allerheiligen bis zwei Uhr früh, aber nicht länger, getanzt werden darf – während es am Karfreitag ausdrücklich bei Mitternacht bleibt! – mag äußerlich wie ein Kompromiß aussehen, stellt einen der tatsächlichen Komplexität der Ereignisse vollkommen gerecht werdende und uneingeschränkt zu bejubelnde Lösung da. Manchmal schafft so etwas auch heute noch die Politik; dann darf man es auch anerkennen. –

Ich muß an dieser Stelle gestehen, was mir vielleicht hernach keiner glauben wird: Ich bin zwar Antiprotestant, nehme mir aber vor, es mir an Respekt für den Gegner nicht fehlen zu lassen. Auch ist Dr. Martin Luther OSA ohne jede Frage eine bedeutende Persönlichkeit, und der Reformationstag war zweifellos ein bedeutendes Ereignis der Geschichte, wenn auch ein verhängnisvolles; schließlich kann der religiöse Ernst zumindest Luthers, um den es am Reformationstag ja primär geht, nicht bestritten werden. Ein besonderes Faible für Halloween habe ich hingegen nie gehabt und habe es immer noch nicht (nein, tatsächlich nicht), schon allein deswegen nicht, weil ich ganz banalerweise beim Ausgehen lieber schöne Gesichter von Frauen als häßlich-geschminkte Gesichter von Frauen sehe. Ich argumentiere also im folgenden nicht für meine persönlichen Vorlieben; aber der große G. K. Chesterton hat einmal den Zölibat, als eine Einrichtung der Kirche, verteidigt und dabei offen eingestanden, daß er selbst diesen nicht verstehe (aber jeden Tag vielleicht noch begreifen könnte). In diesem Geiste bin ich zu der überraschenden Einsicht gekommen, daß bei diesen zwei „Rivalen“ Gut und Böse vielleicht doch anders verteilt sind, als es der von seinem Milieu geprägte gläubige Christ es sich im ersten Augenblicke so vorstellt.

 

II. Die Kritik gewisser frommer Kreise an Halloween

Ein Indiz sind gerade die Attacken, die von seiten der Frommen sehr gerne gegen Halloween gefahren werden. „Fromm“ ist als Lob gemeint, aber „vollständig beraten“ heißt es nun einmal tatsächlich nicht immer; wenn ein Trend aufkommt, sagen wir in den Freikirchen Amerikas – da diese nun einmal, was man neidlos, aber nicht resigniert, anerkennen muß, zur Zeit die „fromme Szene“ weitgehend beherrschen – dann kann man darauf wetten, daß er ersteinmal übernommen wird, zumindest wenn seine Unrichtigkeit nicht offenkundig ist. „Je religiöser, desto besser“ – das stimmt ja sogar; aber kann man es dem gläubigen Volke verdenken, wenn es daraus „je religiöser scheinend, desto besser“ macht?

In besseren Zeiten der Kirche waren die Pfarrer und Prediger streng genug, daß die Laien – clericis laicos semper inimicos esse constat – ein wenig dagegenhielten und vielleicht auch dagegenhalten durften; „im Grunde hat der Herr Pfarrer mit seiner Vorsicht ja schon einen Punkt, aber ganz so muß man das auch nicht alles machen“. (Wenn es wirklich krawotisch werden sollte, dann kann die Kirche ja immer noch mit Ausschluß von der Kommunion, Kirchenstrafen usw. daherkommen. – Es sei hier sicherheitshalber angemerkt: Wenn ich sage „vielleicht auch dagegenhalten durften“, so ist damit nichts gemeint, was tatsächliche Todsünden betrifft. Klar ist ja auch, daß die Gläubigen, sofern sie wenigstens ein bißchen gläubig waren, vor der tatsächlichen konkreten Todsünde immer einen heilsamen Schrecken hatten, und wenn nicht vor ihr, so doch wenigstens davor, nach ihr die Heilige Kommunion zu empfangen – Graham Greenes „Das Herz aller Dinge“ ist ein hervorragendes literarisches Zeugnis für letzteres).
Heute ist es – man hat manchmal fast den Eindruck – umgekehrt; wo ist denn die Strenge noch? Umso weniger kann man es dem Volk verdenken, wenn es „je religiöser scheinend, desto besser“ sagt. Machen wir uns nichts vor: Es gibt durchaus die Kreise, in denen der als der religiösere Mensch gilt, der mehr oder weniger gedankenlos die Argumente des Vulgärkreationismus nachbetet. (Ich beabsichtige damit übrigens nicht, jede Kritik oder jede explizit religiös oder biblisch begründete Kritik am Standardmodell der Physik etc. für unzulässig zu erklären – nur müßte das wenndann auf vernünftige Weise gemacht werden und übrigens erstmal jedenfalls auf der theologischen Seite frei von Irrtümern sein: der heutige Kreationismus fußt wesentlich auf der Behauptung, daß es vor dem Sündenfall keinen Tod gegeben haben könne, und dies ist, auch völlig unabhängig von physikalischen Tatsachen, zunächst einmal schlichtweg schriftwidrig. Bei Bedarf kann ich das gern auch noch begründen.) Es gibt ja obendrein auch die Kreise, in der auf Grund einer allgemeinen Unzufriedenheit damit, wie die heutige Politik zu Gottes Gesetz und der heiligen Religion steht (was nur allzu berechtigt ist!) jemand als umso religiöser gilt, je radikaler er politisch ist. Es gibt, auf deutsch, jede Menge Mist.

Der Punkt ist nun: Die feine katholische Nase riecht bei der herkömmlichen Anti-Halloween-Propaganda genau diese Art Mist heraus. Handeln wir diese Punkte kurz ab; sie sind nicht das eigentliche Thema dieses Textes hier.

1. „Halloween ist satanisch, weil sich Leute als Teufel und Hexen verkleiden.“

Hierzu braucht man eigentlich nichts zu sagen. Mit dem gleichen Recht ist Faust satanisch und zwar nicht wegen problematischer Einstellungen Goethes, die es transportiert (worüber man sicherlich bei Goethe generell reden kann, allerdings scheint mir zumindest der Tragödie erster Teil tatsächlich ganz unproblematisch zu sein), sondern allein schon deswegen, weil dort der Teufel auf der Rollenliste aufscheint. Mit dem gleichen Recht hätte Der Untergang nie produziert werden dürfen, weil es bedauerlicherweise nicht denkbar ist, ohne daß ein Schauspieler in die Rolle Adolf Hitlers schlüpft. Also lassen wir das.

2. „Halloween ist eines der Feste im ‚Festkalender der Satanisten’“.

Ich glaube nicht, daß man das bestreiten kann, zumindest nicht, was den Pseudo-Satanismus betrifft; aber ebensowenig kann man bestreiten, daß die fromme Kritik zuerst, die Einvernahme durch einzelne Satanisten, eine im übrigen marginale Bewegung, die eben präzise das tut, was die Frommen besonders verabscheuen, danach kam. Was übrigens den echten Satanismus betrifft, die wirklich gefährliche Bewegung, über die man am besten wenig sagt und über die ich im übrigen auch gar nichts sagen kann, – aber allem Vernehmen eine Bewegung, die das Licht des Tages scheut, und wirklich gefährlich ist – so sei da einmal dahingestellt, ob die Leute sich wirklich Ende Oktober mit Fratzen bemalen und fleißig Suppe vom zuvor ausgehöhlten Kürbis essen. Ich würde eher vermuten, sie wären dazu viel zu hoffärtig.

3. „Halloween ist ein heidnisches Fest“.

Näherhin ein keltisches; das stimmt von alledem noch am ehesten. Zumindest gab es meinen Informationen nach an diesem Datum tatsächlich ein heidnisches Fest (das bekannte Samhain), das vielleicht tatsächlich etwas mit einer heidnischen Version von „Letzten Dingen“ zu tun hatte. Wir hören ja immer, das Weihnachtsfest gehe auf ein germanisches Fest zurück: was bei Weihnachten Unsinn ist – Weihnachten ist ein rein christliches Fest und allenfalls im Datum von einem römischen beeinflußt – könnte in bezug auf Allerheiligen tatsächlich gewissermaßen „stimmen“. Das Fest Allerheiligen wurde – recht offen – zunächst auf den Termin des römisch-heidnischen Lemurenfestes (das durchaus etwas mit dem Thema „Geister von Verstorbenen“ zu tun hat) am 13. Mai gelegt, indem an diesem Tag der alte allen heidnischen Göttern gewidmete Tempel, das berühmte Pantheon oder die Rotonda, gereinigt und dann zur Ehre aller Heiligen geweiht wurde. Und wenn im 8. Jahrhundert Papst Gregor III. eine allen Heiligen geweihte Kapelle in Alt-St. Peter am 1. November einweihte und dies zum Anlaß nahm, das Festdatum zu verschieben, so liegt der Gedanke durchaus nahe, daß er das dem römischen Lemurenfest ähnliche keltische Fest bewußt zum Datum nahm, zumal die Kelten damals in der Sphäre des Christentums aufgetaucht waren und es auch jahreszeitlich schlicht besser paßte. Dafür, daß er die Weihe einer Nebenkapelle zum Anlaß nahm, ein Fest zu verschieben, das in der Weihe einer bedeutenden Basilika gründete, habe jedenfalls auch ich noch keine geeignetere Erklärung gefunden.

Und natürlich können hier außer dem Datum auch einzelne Bräuche übergegangen sein (auch bei Weihnachten wird sich wohl kaum jemand auf den Standpunkt stellen, der christliche Festgehalt sei mit überhaupt keinem mit ihm vereinbaren Brauch germanischer Herkunft angereichert worden).

Hier kommt aber schon einmal der erste von den Punkten ins Spiel um die es mir hier geht, wenn auch noch nicht das Kernthema: Wir Katholiken haben eben nicht vergessen, was Paulus in Apg 17,23 gesagt und gemacht hat; und wenn uns nun jemand sagt: „aber gerade damit war er in Athen ja nicht erfolgreich“, dann antworten wir stolz: „Das ist nachrangig; jedenfalls hatte er damit Recht.“ Das Taufen oder, mit einem vielleicht etwas zu modisch gewordenen Wort, die „Inkulturation“ von Bräuchen heidnischen Ursprungs, sofern sie nicht selbst götzendienerisch sind, ist keine anrüchige, sondern eine hervorragende Sache; nicht nur, um durch solche „Zugeständnisse“ noch mehr Seelen für Christus zu gewinnen – was aber doch bitte, um alles in der Welt, schon ausreichen sollte! –, sondern auch um der Wahrheit willen.

Ich gehe davon aus, daß an dieser Stelle die Protestanten lautstark das tun, was ihr Name besagt: „bei uns aber nicht!“. Schön und gut. Ich war seit meiner Zweitbeichte nie ein besonderer Freund des ökumenischen Gedankens, wie man ihn landläufig versteht (aber der Autor der Enzyklika Mortalium animos, von der einige disziplinarische, aber kein einziger doktrinärer Punkt aufgehoben ist, war das auch nicht); und hier wird man wohl den überstrapazierten Satz, daß die Toleranz logischerweise vor den Intoleranten wenigstens notwendig halt machen müsse, einmal richtig anwenden müssen. Wenn es recht ist zu inkulturieren, dann ist es nicht recht, auf Grund eines Kompromisses mit den Inkulturationsgegnern darauf zu verzichten.

Daher: Die Johannisfeuer müssen weiter brennen, auch wenn der protestantische Nachbar das nicht mag.

Mein Verweis auf die Johannisfeuer mag überraschend gekommen sein; damit komme ich schön langsam zu meinem eigentlichen Thema, weil zwischen den Johannisfeuern und Halloween eben doch ein Unterschied besteht. Das Johannisfeuer wurde auf den Festtag eines großen Heiligen gelegt und auch mit einer Deutung, die sich auf ihn bezieht, versehen und mit einem eigenen Abschnitt im Rituale Romanum geehrt. (Das ist, um die Anspielung nicht auszulassen, natürlich auch das gleiche Buch, in dem die Exorzismen enthalten sind.) Das Johannisfeuer ist damit heute eine christlich-gottesdienstliche Handlung, und Schluß.

Ist Halloween nicht doch etwas anderes? Ist Halloween nicht so etwas wie der „Harry Potter des Festkalenders“ (in der Buchreihe kommt es ja übrigens tatsächlich auch relativ prominent vor), also ein offenkundig mit viel Unfug als un- und widerchristlich verschmähtes Ding, das die Leute lesen bzw. feiern, weil es halt Spaß macht, das aber trotzdem ebenso offenkundig nicht besonders religiös und christlich ist? Die Bemühungen, etwa „Harry Potter“ auch als letzteres zu deuten, sind ja nicht viel weniger peinlich als die, die auf das Gegenteil aus sind.

Nun; die Feststellung wäre naheliegend; aber ich glaube nicht. Und damit komme ich auf den Reformationstag zu sprechen.

 

III. Reformation und Reformationstag

Es kommt hier übrigens nicht darauf an, ob „der Reformationstag so passiert ist“. „If the legend becomes fact, print the legend“; daß Martin Luther um diese Zeit herum die 95 Thesen zur Diskussion stellte und damit zwar in diesen Thesen selbst nur in den wenigsten Fällen der katholischen Lehre widersprach, aber doch für den heutigen Leser einen zweifellos unkatholischen Geist durchblicken ließ und dafür, daß er durch seine Unbelehrbarkeit den Protestantismus auslöste, den Anstoß gab, das ist ja unstrittig. Wir wollen ihm also durchaus den Dramatismus gönnen, daß er selbst diese Thesen an die Tür der Universitätskirche anschlug – zumal das, wie man hört, eine gängige Methode der wissenschaftlichen Auseinandersetzung war. Vielleicht tat es auch der Universitätshausmeister, aber lassen wir es ruhig einmal Luther selbst getan haben. Es ist gleichgültig.

Was war denn der Auslöser der Reformation? Ich rede jetzt nicht von den Dingen, die sie, leider Gottes, begünstigten; ohne die sie in der religionspolitischen Praxis ziemlich schnell ihr Ende gefunden hätte. Natürlich hätte es die Reformation mit diesem Erfolg nicht gegeben, wenn der insbesondere hohe Klerus weniger Gelegenheit zum Anstoßnehmen gegeben hätte – aber was diese von Katholiken, die aus ökumenischer Höflichkeit ums Verrecken irgendetwas Freundliches dazu sagen wollen, viel zu sehr betonte Tatsache betrifft, hat Luther immer darauf bestanden, daß nicht das der eigentliche Hintergrund der Reformation war; „wir müssen unterscheiden Lehre und Praxis; in der Praxis sind die unsrigen nicht besser als die Katholiken“, soweit Luther selbst. Natürlich wäre die Reformation ohne den Eifer von Fürsten, sich Kirchengüter unter den Nagel zu reißen (und in einem Fall sogar um der lieben PR willen eine Bigamie genehmigt zu bekommen), im Sande verlaufen und bloß zu einem allerdings wohl nicht ganz unbedeutenden Kapitelchen der Häresiegeschichte geworden. Und natürlich – was viel zu wenig beachtet wird: Hätte man dem deutschen Volk glaubwürdig erklärt, was tatsächlich den Tatsachen entsprach, nämlich daß der Abriß von Alt-St. Peter, der Baufälligkeit dieser Kirche wegen, nicht nur und nicht vor allem ein Prestigeprojekt eines etwas ruhmsüchtigen (vielleicht zu ruhmsüchtigen?) Papstes, Julius‘ II., sondern tatsächlich dringend erforderlich war und der Neubau in all seinem Prunk (der bei einer Kirche dieser Bedeutung natürlich unverzichtbar ist) vermutlich ja auch immer noch billiger kam als eine kostspielige Sanierung – wir kennen so etwas bei Bauten ja auch in unseren Tagen –, dann hätte Luther gegen die vor allem auf den Bau von Neu-St. Peter gerichteten Ablässe gewiß nie so eine Stimmung mobilisieren können.
Das alles ist richtig; aber es hat nichts mit dem theoretischen Fundament des Protestantismus zu tun.

Dieses Fundament ist die Angst.

Damit sage ich nichts, was ein ernstzunehmender Protestant wird bestreiten wollen; er wird nur sagen, gemäß seinem damaligen katholischen Glauben habe Luther eben Angst haben müssen und durch seinen Protestantismus den dann notwendigen Ausweg gefunden. Daß aber Luther an der Frage „wie bekomme ich einen gnädigen Gott“ fast verrückt geworden ist, bis er seine spezielle „Lösung“ der Frage gefunden hatte, die bis heute in allen Spielarten des Protestantismus maßgeblich ist, ist eine offenkundige Tatsache. (Unter anderem deswegen ist wohl das Pfingstkirchlertum wie auch sicher der Mormonismus nicht zum Protestantismus zu rechnen.)

Und damit komme ich zu der im Liturgiejahr eher seltsamen Einleitung des Artikels. Ist es nicht natürlich, vor dem Jüngsten Gericht Angst zu haben?

„Tagt der Rache Tag den Sünden, wird das Weltall sich entzünden, wie Sibyll und David künden. / Welch ein Graus wird sein und Zagen, wenn der Richter kommt, mit Fragen streng zu prüfen alle Klagen! / Laut wird die Posaune klingen, durch der Erde Gräber dringen, alle hin zum Throne zwingen. / Schaudernd sehen Tod und Leben sich die Kreatur erheben, Rechenschaft dem Herrn zu geben. / Und ein Buch wird aufgeschlagen: treu darin ist eingetragen jede Schuld aus Erdentagen. / Sitzt der Richter dann zu richten, wird sich das Verborgne lichten; nichts kann vor der Strafe flüchten. / Weh! Was werd ich Armer sagen? Welchen Anwalt mir erfragen, wenn Gerechte selbst verzagen?“
Soweit die ersten sieben Strophen der achtzehneinhalb des Dies irae.

Dann wird’s zappenduster; dann ist Matthäi am letzten.

Die scheinbare Lösung Martin Luthers für dieses echte Problem kennen wir: wir tun einfach so als ob. (Sicher würde das nun ein Protestant nicht so formulieren.) Etwas salbungsvoller ausgedrückt: Aus dem mißverstandenen Bibelvers „der Gerechte lebt aus dem Glauben“ bastelt er sich, dem offenkundigen Sinn zuwiderlaufend, seine Lehre, die in all ihrer Zugespitztheit letztlich so lautet „wie du glaubst, so hast du“: also sinngemäß „wer sich die Sünden vergeben glaubt, dem sind sie vergeben; wer sich die Sünden behalten glaubt, dem sind sie behalten“. (Wir lesen natürlich in Joh 20,23, an das ich mich mit der Formulierung zugegeben angelehnt habe, etwas ganz anderes.)

In einer Formulierung, die meines Wissens auf Paul Hacker zurückgeht: Erlösung durch Selbstsuggestion.

Es ist übrigens nicht meine Absicht, diese neue Theorie lächerlich zu machen. Wer von echter, ernsthafter Verzweiflung umnachtet ist und dann mit dem vielberedeten „Mut der Verzweiflung“ den, um es einmal unangemessen modern auszudrücken, „Sprung ins Ungewisse wagt“, das „Wagnis des Glaubens eingeht“, dem kann man eine gewisse Größe nicht bestreiten – nur Recht hat er eben nicht. Lächerlich ist höchstens Luthers Behauptung, daß diese Lehre von Anfang an die christliche gewesen sei oder gar – zumindest vom Tonfall her klingen seine ersten, noch halbkatholischen Aussagen so – von der Kirche erst allerkürzlichst aufgegeben worden sei.

Da er diese Doktrin aber einmal so aufgestellt hat, folgt mit einer gewissen Logik, daß er die Lehre vom Verdienst verwirft. Wenn andere diesen sogenannten „Fiduzialglauben“ (wie mindestens die katholische Theologie ihn später nennen würde) auch als Wesensbestandteil des „Evangeliums“, d. h. der christlichen Lehre annehmen sollen (es ist übrigens etwas komisch, eine Theorie „Evangelium“ zu nennen, selbst nach den Behauptungen ihres Begründers aus einer Auslegung der Paulusbriefe hervorgeht und im Evangelium gar keinen Anhaltspunkt hat), dann müssen sie vorher auch in Verzweiflung geführt werden oder doch wenigstens vom Katecheten vordemonstriert bekommen, daß sie, wenn sie nicht fromme Protestanten wären, in ebendiese Verzweiflung geraten müßten. Dann aber muß mit aller Gewalt die falsche Lehre gepredigt werden, die im englischen Sprachraum später auf den Begriff utter depravity gebracht werden würde (der Begriff ist calvinistisch, die Wurzel liegt aber tatsächlich bei Luther); der Mensch sei von Natur aus verdorben (wir Katholiken bestehen darauf, daß das erstens nicht die Natur ist und daß zweitens von einer bedauerlichen Hinneigung zur Sünde, aber, zumindest mit Notwendigkeit, nicht von mehr die Rede ist und vor allem daß drittens der Mensch, solange er lebt und bei Bewußtsein ist, immer eine gewisse Empfänglichkeit für das Gute beibehält). Ist er aber verdorben, dann kann er auch nichts Gutes tun; und hat man einmal die Erbsünde, aus der ja die Sünden folgen, so erklärt, dann folgt aus der unbestreitbaren Erfahrungstatsache, daß auch Getaufte sündigen, daß sich daran durch die Taufe nichts Grundlegendes ändert. (Luther erklärt dann die Erlösung gewissermaßen als „Augenzudrücken“ Gottes in dieser Beziehung.) Und wenn das so ist, dann ist der Fall, daß jemand etwas Gutes tut – vor allem, wenn es etwas Gutes ohne innerweltlichen Sinn ist – ein Anlaß für den dringenden Verdacht, daß er diese wesentliche Lehre des Protestantismus nicht akzeptiert und damit auch den nach protestantischer Ansicht wahren Glauben nicht haben kann.

Solche Handlungen faßt der Protestantismus unter den Begriff „Werkgerechtigkeit“. Es gibt natürlich – worauf wir Katholiken mit unserem Harmoniebedürfnis gern bestehen – etwas, das man auch „Werkgerechtigkeit“ nennen könnte und das tatsächlich falsch ist: sich durch Werke den Himmel (oder die Gnade) verdienen wollen, so daß man hernach ein Anrecht darauf hätte, und zwar allein des natürlichen Wertes der Werke wegen, nicht deswegen, weil diese selbst bereits unter dem Anhauch der Gnade geschehen sind, von der die erste immer unverdient ist. Die Frage muß aber ehrlich gestellt werden, ob das seit dem Sieg über die Häresie des Pelagius (also im 5. Jahrhundert) überhaupt nennenswerte Gruppen in der katholischen Kirche geglaubt haben; daß das bis Luther die gängige katholische Lehre gewesen sei, ist jedenfalls ein protestantisches oder versöhnlerisches Märchen.

Von dieser Ablehnung der verdienstlichen Werke – für die Luther sich mit aller Geschicktheit eines von der Verzweiflung wohl entschuldigten, aber an und für sich betrügerischen Kaufmanns etliche Stellen bei Paulus zunutze macht, die „Werke“ für jetzt ungültig erklären: womit aber textlich eindeutig die Zeremonien des mosaischen Gesetzes gemeint sind, mithin ein Thema, das mit dem Luthers gar nichts zu tun hat – kommt er dann zur Verwerflichkeit des Ablaßgewinnens. (Diese steht nicht in den 95 Thesen, die ausdrücklich das Gegenteil proklamieren, etwa in These 67; ich meine aber, daß man sie zwischen den Zeilen lesen kann.) Er sucht sich dabei einen systematisch denkbar ungeeigneten, propagandistisch denkbar geeigneten Gegner aus. Systematisch einen ungeeigneten: Denn gerade der Ablaß ist das genaue Gegenteil von Werkgerechtigkeit. Wenn ich eine Wallfahrt mache, dann ist das ein verdienstliches Werk, gewissermaßen; bitteschön. Die Wallfahrt für sich! Wenn es aber auf die Wallfahrt einen Ablaß gibt, dann ist das ausdrücklich eine Dreingabe der Kirche; der entscheidende Punkt beim Ablaß ist gerade eben, daß das, was daran Ablaß ist, nicht das Werk des Ablaßnehmers, sondern eben ein bei gewissen Anlässen unter gewissen Bedingungen von der Kirche gespendetes Geschenk ist. Aber natürlich gaben damals auf Grund der publizistischen Tagesmeinung die Ablässe in Deutschland ein geeignetes Ziel ab.

Vielleicht hat ja auch Luther tatsächlich vor allem gestört, daß erstens die Ablässe, selbst wenn sie empfangen werden, in der Regel von „Ungläubigen“ im Sinne des Protestantismus empfangen werden und damit gar nichts nützen (so ausdrücklich These 31), und vielleicht auch, daß diese wohl damals schon gern, wie auch heute, ganz selbstlos den Verstorbenen zugewendet wurden. Dies ist auf Seiten des Ablaßnehmers ein gutes Werk (!); und was könne es dem Verstorbenen nach protestantischer Auffassung schon nützen: auf das, worauf es nach diesem Glauben eigentlich ankommt, den Fiduzialglauben zu Lebzeiten, haben sie doch keinen Einfluß.

– Anders als beim Ablaß nehme ich Luther ab, daß er an das Fegfeuer, als er die 95 Thesen schrieb, tatsächlich noch glaubte, wie er dort ausdrücklich sagt (etwa: These 16). Letztlich konnte der Protestantismus aber nicht aus seiner Haut heraus, und da er an seiner Gründungslegende „gegen den Ablaß!“ festhalten mußte, mußte er letztlich auch das Fegfeuer trotz eindeutigem biblischen Beweis (1 Kor 3,15) verleugnen, zumal es, wenn die Sünden ohnehin nur zugedeckt würden, in der Tat nicht recht einzusehen ist, warum, und wenn ja wie, Gott nach Bemäntelung der Sünden noch zeitliche Strafen übrig ließe. Richtig zu erklären ist das, auch wenn es einen Augenblick paradox klingt, nur vom katholischen Standpunkt: Gott vergibt die Sünden ganz, es kommt hinten ein neuer, heiliger Mensch heraus; und eben deshalb hat es Sinn, daß die Rückstände und Verflechtungen, die nach Vergebung der Schuld noch verbleiben, durch Läuterung erst noch beseitigt werden müssen (wo dann „einer des anderen Last tragen“ kann).

Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum Luther für seine Thesen gegen den Ablaß ausgerechnet den Vorabend von Allerheiligen, der damals – und noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts – als Vigil (mit Fasten! Werkgerechtigkeit!) ausgestattet war, wählte.

Nach diesem Versuch einer Erklärung der Reformation kehre ich etwas zum Thema zurück:

Durch das Sicheinreden des Erlöstseins kann man natürlich die Angst nicht eigentlich loswerden. Man kann sie nur verdrängen; und man will dann unter keinen Umständen etwas damit zu tun haben, sonst kommt sie wieder hoch. (Wenn sie verdrängt bleibt und nicht hochkommt, reicht das für den Protestanten.)

 

IV. Das Gruseln als Freizeitgenuß der Katholiken

Völlig anders sehen die Dinge in der heiligen Mutter Kirche aus.

An dieser Stelle möchte ich eine Geschichte von G. K. Chesterton zitieren (Alarums and Discursions: On Gargoyles). Es geht um ein Volk, das auf heidnische, aber nicht bös-heidnische, nur noch unerleuchtet-heidnische, Weise den Sonnengott verehrt; und ihr Priester baut dem Sonnengott einen Tempel in wunderschöner klassischer Architektur. Doch dann werden sie von Piraten überfallen, wären fast vernichtet worden, und nach einem langen Krieg erst werden sie wieder frei.

Und aus irgendeinem Grunde begannen die Leute nach diesen Geschehnissen, vom Tempel und der Sonne anders zu reden. Manche gewiß sagten: „Man darf den Tempel nicht anrühren; er ist klassisch; er ist vollkommen; denn er läßt keine Unvollkommenheiten zu.“ Aber die anderen antworteten: „Und darin unterscheidet er sich von der Sonne, die über Böse und Gute scheint, und über den Schlamm und über die Ungeheuer überall. Der Tempel ist ein Mittagstempel; er ist aus weißen Marmorwolken und einem Edelsteinhimmel gemacht. Aber die Sonne ist nicht immer Mittagssonne. Die Sonne stirbt Tag für Tag; jede Nacht wird sie in Feuer und Blut gekreuzigt.“
Und der Priester hatte den ganzen Krieg hindurch gelehrt und gewehrt, und sein Haar war weiß, seine Augen jedoch jung geworden. Und er sagte: „Ich war im Unrecht, sie sind im Recht. Die Sonne, das Symbol unseres Vaters, gibt Leben all jenen irdischen Dingen, die voller Häßlichkeit und Energie sind. Alle Übertreibungen sind recht, wenn sie das Rechte übertreiben. Lasset uns zum Himmel weisen mit Stoßzähnen, mit Hörnern, mit Finnen, mit Rüsseln, mit Schwänzen – solange sie nur alle zum Himmel zeigen. Die häßlichen Tiere preisen Gott ebenso, wie die schönen es tun. Dem Frosch stehen die Augen aus dem Kopf heraus, weil er den Himmel anstarrt. Der Hals der Giraffe ist so lang, weil sie sich zum Himmel ausstreckt. Der Esel hat Ohren zum Hören; er höre.“

Und das Ende vom Lied ist, daß eine Kathedrale im gotischen Stil gebaut wird – ein Baustil, den wir heute nicht ganz von ungefähr im Namen einer bestimmten Musikrichtung nebst zugehöriger Szene wiederfinden.

Weil der Katholik – zumindest im Idealfall – keine Angst hat, ist er frei, auch all die häßlichen Dinge zu gebrauchen. Weil der Katholik weiß, daß er keine Angst haben sollte, wird ihn das offene Ansprechen der Düsternis eher dazu bringen, keine zu haben. Und übrigens: Weil der Katholik auch ans Fegfeuer glaubt, braucht er sich nicht so sehr vor der Hölle fürchten – und wenn wir es einmal genau nehmen, kann dazu nur je mehr beitragen, je schrecklicher man sich ihre Schrecken vorstellt. Das ist auch paradox; und doch klar, wenn man es sich einmal überlegt.

Es ist die Lehre der Kirche, daß wenigstens Leute, die – wie es technisch heißt – „den Vernunftgebrauch“ (d. h. im großen und ganzen: den 7. Geburtstag) erreichen, letztlich nur drei Möglichkeiten haben: Himmel ohne Fegfeuer; Fegfeuer und dann Himmel; und Hölle. (Die getauft verstorbenen Kleinkinder sind sicher im Himmel; für die ungetauft verstorbenen gilt „nichts Genaues weiß man nicht“, aber wenn sie nicht im Himmel sind, d. h. Gott nicht schauen können, so sind sie jedenfalls doch zumindest in natürlicher Glückseligkeit, d. h. es geht ihnen uneingeschränkt gut.)
Je schrecklicher also die Hölle ist, umso naheliegender der Gedanke: „Na so schlimm, daß ein gütiger und barmherziger Gott mit dahin schicken wird, werde ich ja doch wohl nicht gewesen sein werden. Natürlich muß ich bestraft werden; aber dafür gibt es ja das Fegfeuer, aber das ist ja einmal vorbei, und obendrein“ – denn das ist ebenfalls Lehre der Kirche – „werde ich auch im Fegfeuer schon sicher wissen, daß ich der Hölle ein für alle mal ausgekommen bin“.

(Das entbindet natürlich nicht von der Pflicht, die Todsünden zu meiden und, wenn man das Unglück gehabt haben sollte, in eine zu fallen, zu bereuen und bis zur nächsten Beichte, die spätestens um nächste Ostern herum sein soll, nicht zu kommunizieren.)

Deshalb ist überall dort, wo der Katholizismus lebendig ist und die apologetische Auseinandersetzung mit dem Protestantismus (die ein wenig die Betonung auf die Vermeidung vermessener Heilsgewißheit setzen mußte) relativ fern war, die stillschweigende Unterstellung lebendig geblieben, daß die ewige Höllenstrafe (zumindest unter Katholiken – wobei diese Frage vor Augen gar nicht steht) eine seltene Sache ist. (Eine nicht ganz orthodoxe, aber mentalitätsmäßig umso aufschlußreichere Darstellung der Sache ist in dem Theaterstück Himmelwärts von Ödön von Horvath zu finden.) „’Ja, kommt denn der Flori hierher?‘ ‚Marei, du bist im ewigen Frieden; und wie lange es auch dauern mag, bis dein Flori dir folgt, es wird für dich nur eine kurze Weile sein.’“
Und im Mittelalter galt, habe ich wenigstens gehört, der Teufel (etwa im damaligen Äquivalent unseres Kasperltheaters) als zwar abgrundtief böse, aber auch jämmerliche und irgendwo fast zu bemitleidende Figur. Ein wenig davon wirkt noch nach in Goethes Faust, wenn Mephisto, wie es offensichtlich vorgesehen ist, von dem Mitglied des Ensembles gespielt wird, das vorher im Vorspiel als „Lustige Person“, d. h. als Ausfüller des komödiantischen Parts, vorgestellt wurde.

Übrigens fällt in diesem Zusammenhang eine Figur auf, die die Imagination des christlichen Volkes anscheinend beschäftigt zu haben scheint: jemand, der weder in den Himmel noch in die Hölle hineinpaßt. Zur orthodoxen Antwort darauf komme ich gleich, aber das Konzept ist interessant. Der Protagonist in Himmelwärts muß, weil er weder hierhin noch dorthin paßt, zunächst nochmal auf die Erde. Der Schneider im Himmel kann nicht in den Himmel und in die Hölle auch nicht, also zieht er, heißt es im Märchen, nach „Warteinweil“, wo die frommen Soldaten sind – also die, die einerseits fromm waren, andererseits immerhin das Kriegshandwerk betrieben haben. – Die orthodoxe Antwort darauf ist natürlich „Fegfeuer, und dann in den Himmel; und im übrigen ist das Soldatenhandwerk, bei aller nicht abzustreitenden Problematik, ebensowenig Sünde wie jeder andere notwendige Beruf auch“ (sollte übrigens das Fegfeuer im Ausdruck „Warteinweil“ schon anklingen?), aber interessant ist es schon, welche Blüten die authentische Phantasie des Volkes da so getrieben hat.
Und in diese Kategorie gehört auch Jack O’Lantern, der sich aus dem gleichen Grund an dem Licht einer brennenden Rübe wärmen darf, oder außerhalb Irlands einem Kürbis. Apropos Irland: Seit etwa vierhundert Jahren ist in Irland die pro-keltische und die katholische, die anti-keltische und die protestantische Sache jeweils ungefähr (ich sagte ungefähr) die gleiche.

Wir haben gesehen: Wer keine Angst hat, weil er weiß, daß er einen gnädigen Gott jetzt schon hat – denn Gott ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Gnade – der kann sich daran erfreuen, sich zu gruseln; der kann auch Horrorfilme anschauen, und der kann auch vor der Feier des Himmels und der Fürbitte fürs Fegfeuer dafür zu haben sein, die Hölle gewissermaßen repräsentiert zu bekommen. Wir, so hoffen wir, kommen ja nicht hinein! (Dazu helfe uns Gott in seiner großen Güte durch Christus unseren Herrn. Amen.)

Der hl. Papst Johannes Paul II. hat gesagt, der Paradiesmensch hätte nicht zu arbeiten brauchen, sich aber nach der Arbeit wie nach einem Genusse gesehnt. In der Lage sind wir bei der Arbeit nicht – oft genug nicht bei den reichen Arbeitenden, wohl kaum bei denen, die nicht wissen, ob sie ihr tägliches Brot zusammenbekommen; beim Grusel aber anscheinend schon. Es macht ja auch Freude, wenn man die Geschichte von Beren und Luthien in der Eisenhölle hört, vorausgesetzt, man sitzt gemütlich am Kaminfeuer von Imladris.

Denn das oben anzitierte Dies irae geht noch weiter; man darf eben Lieder nicht immer nach ein paar Strophen abbrechen. „König schrecklicher Gewalten, frei ist Deiner Gnade Schalten: Gnadenquell, laß Gnade walten! / Milder Jesus, wollst erwägen, daß Du kamest meinetwegen, schleudre mir nicht Fluch entgegen. / Bist mich suchend müd gegangen, mir zum Heil am Kreuz gehangen: mög dies Mühn zum Ziel gelangen. / Richter Du gerechter Rache, Nachsicht üb in meiner Sache, eh ich zum Gericht erwache. / Seufzend steh ich schuldbefangen, schamrot glühen meine Wangen: Laß mein Bitten Gnad erlangen. / Hast vergeben einst Marien, hast dem Schächer dann verziehen, hast auch Hoffnung mir verliehen. / Wenig gilt vor Dir mein Flehen; doch aus Gnade laß geschehen, daß ich mög der Höll entgehen. / Bei den Schafen gib mir Weide, von der Böcke Schar mich scheide, stell mich auf die rechte Seite. / Wird die Hölle ohne Schonung den Verdammten zur Belohnung, ruf mich zu der Sel’gen Wohnung. / Schuldgebeugt zu Dir ich schreie,
Tief zerknirscht in Herzensreue: sel’ges Ende mir verleihe. /Tag der Zähren, Tag der Wehen, da vom Grabe wird erstehen zum Gericht der Mensch voll Sünden. / Laß ihn, Gott, Erbarmen finden. / Milder Jesus, Herrscher Du, schenk den Toten ew’ge Ruh. Amen.“

Ist einer unter euch, der seinem Sohn einen Stein gibt, wenn er ihn um Brot bittet? Um wieviel mehr wird der Vater im Himmel, usw.

Daher: beichten; die Allerseelenablässe gewinnen; und Halloween zumindest wohlwollend zur Kenntnis nehmen – dies erscheint auf Grund des Gesagten als hervorragende katholische Reaktion auf das Elend der Reformation, die an einem 31. Oktober begonnen hat und leider viel Grusel, irdischen (wenn man an die Kriege denkt), aber vor allem theologischen, in die Welt gebracht hat, der leider nicht am warmen Kaminfeuer genossen werden kann.

Zumindest noch nicht. Wer weiß, wie wir einmal im Himmel darüber denken werden.

Filmkritik: „Voll verschleiert“

Was, er soll sich schwul stellen? Dann müsste er nicht mehr nur Angst vor den Taliban haben, sondern auch vor seinen Brüdern, seiner Mutter, seinem Vater… Nein, nein, beruhigt Armand den jungen afghanischen Flüchtling rasch. Er müsste doch nicht überall den Schwulen spielen. Nur vor dem Amt. Und niemand würde seine Akte zu sehen bekommen. Der Flüchtling ist immer noch nicht überzeugt von dem Plan, den ihm der Verein der Flüchtlingshelfer vorgeschlagen hat, um seine Chancen auf Asyl zu erhöhen: Sollte man nicht, na ja, die Wahrheit sagen?

Das ist eine der ersten Szenen in der französischen Komödie „Voll verschleiert“. Armand und seine Freundin Leila, die beide in Paris Politikwissenschaft studieren, engagieren sich in diesem Verein für Flüchtlinge, der es mit dem Recht und der Wahrheit nicht immer so genau nimmt; außerdem planen sie, in einigen Wochen zusammen für ein Praktikum bei den Vereinten Nationen in die USA zu gehen. Leilas Eltern sind schon verstorben und sie lebt mit ihrem jüngeren Bruder Sinna (ca. 18 oder 19 Jahre  alt) und ihrem älteren Bruder Mahmoud in einem Pariser Vorort mit hohem Migrantenanteil; Armands Eltern sind Iraner, die nach der islamischen Revolution ins Exil gegangen sind (er ein Kommunist, sie eine Feministin), und jetzt ein ausgesprochen säkulares Leben in einem gehobenen Pariser Viertel führen und sich weiterhin mit anderen Exiliranern gegen das Mullahregime engagieren.

Soweit ist alles gut, aber plötzlich stellt sich ein Problem für das junge Pärchen: Mahmoud, der ein Jahr lang in einem Hotel im Jemen gearbeitet hat, kehrt nach Frankreich zurück, und gleich am Flughafen stellt seine Schwester fest: Er hat sich verändert. Er trägt jetzt islamische Kleidung und Vollbart, und nimmt zuhause in der Wohnung angekommen sofort die Familienfotos ab, auf denen seine Eltern seiner Meinung nach nicht anständig angezogen sind, und hängt ein Poster des Gründers der Muslimbruderschaft auf. Sinna wird in Aussicht gestellt, er solle auch in den Jemen geschickt und über den wahren Islam unterrichtet werden. Außerdem will Mahmoud nicht dulden, dass Leila nach New York geht, und als er mitbekommt, wie sie Armand küsst, zerstört er ihr Handy und sperrt sie von da an in der Wohnung ein.

Doch hier können die afghanischen Flüchtlinge helfen, denen Leilas und Armands Verein beisteht. Einer von ihnen schlägt Armand vor, sich einfach mit dem Niqab (einem schwarzen Schleier, der nur die Augen freilässt) zu verkleiden, und Leila in diesem Aufzug zu besuchen. Armand tut das und rüstet sich außerdem vorher vorsichtshalber mit Wissen über den Islam aus. Er stellt sich bei Mahmoud als „Scheherazade“ vor: Leilas Verein habe sie geschickt, Leila solle ihr bei der Vorbereitung auf eine Prüfung helfen. Mahmoud ist bezaubert von der scheuen, frommen Scheherazade, die gleich bei ihrem ersten Besuch darüber redet, wie wichtig ihr der Glaube ist usw. Natürlich besucht „Scheherazade“ Leila von da an ständig, und schon nach ein paar kurzen Begegnungen mit ihr ist Mahmoud überzeugt: Allah hat sie ihm geschickt. Sie muss seine Frau werden.

ACHTUNG: SPOILER. Wer das Ende nicht wissen will, lieber nicht weiterlesen.

Leider ist Scheherazade davon nicht überzeugt: Nein – nein – sie sei nicht die Richtige für ihn – und überhaupt habe ihr Vater sie ihrem Cousin versprochen… Aber Mahmoud ist hartnäckig, und ist überzeugt, dass sie ihn auch will. Zwischendurch gerät Armand arg in Bedrängnis, z. B. als Mahmoud seine Freunde (alle überzeugte Islamisten, darunter ein frischer Konvertit, den die anderen ständig vergessen, bei seinem neuen islamischen Namen „Farid“ statt „Fabrice“ zu rufen) beauftragt, Scheherazade zu folgen, um herauszufinden, wo sie wohnt. Armand kann den Schleier nicht abnehmen, während sie ihm noch auf den Fersen sind, und als seine Eltern dann eine vollverschleierte Frau bei ihrem Haus entdecken, geraten sie in Panik: Könnte etwa das Mullah-Regime die geschickt haben, um ihnen nachzuspionieren? Immerhin hat seine Mutter gerade ein Oben-Ohne-Video veröffentlicht, in dem sie die iranische Politik angegriffen hat. Einen weiteren Anlass zur Panik gibt es für sie, als sie schließlich die Bücher zum Islam unter Armands Bett entdecken. Ist ihr Sohn dabei, sich zu radikalisieren? Aber als sie ihm beim Abendessen Schweinefleisch servieren und er es anstandslos isst, können sie sich wieder beruhigen.

„Scheherazade“ beeindruckt Mahmoud weiterhin, auch mit ihren Gedanken dazu, was wahre Frömmigkeit sei, und mit ein paar Zitaten aus persischer Poesie. Er will, dass sie jetzt seinen jüngeren Bruder über den Islam unterrichtet, und hört einmal mit, wie „Scheherazade“ gegenüber dem über die Religion verunsicherten Sinna ein paar Platitüden darüber, dass Gott die Menschen vielfältig erschaffen habe und nicht so engstirnig sei, wie ihn sich manche vorstellen, zum Besten gibt. Allmählich kommt er durch Scheherazades Einfluss von seinen allzu radikalen Ideen ab. Als Sinna ihn einmal darauf anspricht, wie er denn jetzt zum Heiligen Krieg steht, gesteht er ein, nicht mehr davon überzeugt zu sein. Überhaupt, wenn man die Ungläubigen töten sollte, müsste er als erstes seine Schwester töten. Sinna ist einen Moment lang beunruhigt, aber als ihm klar wird, dass Mahmoud das nicht so meint, dass man Leila töten sollte, ist alles klar und die beiden Brüder bauen wieder ein besseres Verhältnis zueinander auf.

Der Termin, an dem Leila und Armand in die USA reisen müssten, rückt näher, und sie hecken einen Plan aus, damit Leila zum Flughafen kommen kann. Mahmoud wird benachrichtigt, dass Scheherazades Vater mit ihm über eine Heirat mit ihr sprechen wolle. Auch hier springen wieder die Flüchtlinge ein: Mahmoud soll mit seiner Familie zu den Räumlichkeiten des Vereins kommen, und einige der Flüchtlinge spielen Scheherazades Vater, Brüder, und andere männliche Angehörige. Während Mahmoud und seine Freunde, die auch mitgekommen sind, mit ihnen sprechen, soll Leila, die sich für den Anlass verschleiern musste, in einem anderen Raum voller verschleierter Frauen warten. Unter den Schleiern stecken u. a. Armands Mutter und andere Exiliranerinnen, die mit seinen Eltern befreundet sind; nachdem sie von der Geschichte mit Leila erfahren haben, die ihr Sohn zunächst vor ihnen geheim gehalten hatte, wollten Armands Eltern Leila helfen, sich zu befreien. Die Mutter und eine ihrer Freundinnen schaffen Leila aus dem Haus und fahren sie zum Flughafen.

In der Zwischenzeit versucht „Scheherazades Vater“ angestrengt, Mahmoud Bedingungen zu stellen, die dieser nicht bereit wäre, anzunehmen. Zunächst: Mahmoud müsste vom sunnitischen zum schiitischen Islam konvertieren. Als er darauf dringt, sagt Mahmoud entschieden, dass er nicht wisse, wer damals bei der Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten im Recht gewesen sei, und dass er für Scheherazade auch konvertieren wolle, und sagt schließlich das Glaubensbekenntnis in der schiitischen Version auf, zum Entsetzen seiner Freunde. „Scheherazades Vater“ versucht es weiter: Er wolle einen traditionellen Brautpreis. 40 Kamele. Auch dazu erklärt Mahmoud sich bereit. Für Scheherazade will er alles tun.

Aber da bemerken seine Freunde, dass einige verschleierte Frauen das Haus verlassen. Mahmoud glaubt, eine von ihnen sei Scheherazade, und man wolle ihn betrügen und sie doch noch zu ihrem Cousin nach Afghanistan schaffen. Dieser Verdacht erhärtet sich für ihn, als sie dem Auto zum Flughafen folgen. Auf dem Flughafen entsteht dann noch eine verwirrte Verfolgungsjagd zwischen Mahmoud und seinen Freunden und mehreren verschleierten Gestalten. Leila hat ihr schwarzes Gewand abgelegt und schon eingecheckt, aber Armand will doch noch mit Mahmoud reden und als er – bzw. „Scheherazade“ – schließlich von ihm und seinen Freunden gestellt wird, gibt er sich zu erkennen und versucht alles zu erklären. Auch Leila kommt dann noch hinzu und erklärt ihrem Bruder ihre Lage.

Und Mahmoud? Ist erschrocken, aber am Ende verständnisvoll und verzeihend. Na, geh schon, sagt er am Ende mit einem leichten Lächeln zu seiner Schwester. Geh, bevor ich’s mir noch anders überlege! Er hat seine Lektion gelernt, seinem radikalen Glauben abgeschworen, und lässt Leila ihre Freiheit. Aber ganz gibt er den Glauben deswegen nicht auf: „Ich bin nicht wie du“, sagt er während ihres Gesprächs in beinahe entschuldigendem Tonfall zu Leila. „Ich brauche die Religion.“ (Diese Zeile habe ich noch wörtlich so im Kopf; die anderen Gespräche habe ich paraphrasiert; es ist schon knapp zwei Wochen her, dass ich den Film gesehen habe.)

Leila und Armand steigen ins Flugzeug, Happy End.

Tja, was soll man jetzt dazu sagen? Einige Teile des Films sind witzig und gelungen und gleichzeitig auch realistisch. Das Problem ist vor allem das Ende. Es ist schlichtweg unglaubwürdig.

Ob es nicht besser ist, die Wahrheit zu sagen? Diese Frage wirft der junge Afghane am Anfang auf. Aber der Film findet trotz der fast bis zum Ende durchgezogenen Lügengeschichte zu einem ganz simplen guten Ende. Wäre es nicht wahrscheinlicher, dass Mahmoud in Wut ausbricht, als er entdeckt, dass er nicht nur von seiner Schwester und ihrem Liebhaber hintergangen wurde, sondern sich auch, na ja, mehr oder weniger lächerlich gemacht hat, indem er sich in „Scheherazade“ verguckt hat? Man würde erwarten, dass er seine ursprüngliche Ansicht darüber, wie verkommen die moderne Welt sei, bestätigt fühlt, als er auf dem Flughafen entdeckt, wer unter dem Schleier gesteckt und seine Schwester in ihrem Zimmer besucht hat.

Aber auch schon seine vorige Deradikalisierung, und dann sein Eingeständnis, die Religion zu „brauchen“, wirkt einfach zu simpel. Kein überzeugter Muslim würde behaupten, religiös zu sein, weil er die Religion braucht – er ist religiös, weil man Allahs Offenbarung gehorchen muss. Radikal religiöse Menschen behandeln die Religion nicht wie eine Medizin zum Bestehen des Alltags – jedenfalls ganz sicher nicht eingestandenermaßen –, sondern sind der Ansicht, einfach der Wahrheit zu folgen, der man folgen muss. Mahmoud lässt sich mit ein paar liberalreligiösen Platitüden und schönen Gedichtzeilen von seinem Radikalismus abbringen. Aber von jemandem, der sich intensiv mit dem radikalen Islam beschäftigt hat, würde man erwarten, dass er liberal-religiöse Argumente à la „Gott kann doch nicht so-und-so sein“ kennt, Gegenargumente dafür parat hat – und vermutlich sowieso seit langen von ihnen genervt ist. Als nächstes drehen sie noch einen Film, in dem ein katholischer Priesteramtskandidat mit nichts als dem Argument „Du willst dein Leben lang keine Beziehung haben? Was kann Gott denn gegen Liebe haben?“ von seiner Berufung abgebracht wird. (Okay, das würde ich unseren Sendeanstalten wirklich zutrauen.)

Man könnte jetzt natürlich einwenden, dass Mahmoud vielleicht nur eine Kurzzeit-Bekehrung erlebt hat, eine religiöse Phase, die sich dann wieder gegeben hat. Dass er vielleicht nur gegen Ende seines Jemen-Aufenthalts kurz in streng religiöse Kreise geraten ist, sich überhaupt leicht beeinflussen lässt, und von seinem Radikalismus abgekommen ist, sobald ihm klar geworden ist, dass das doch eine ziemlich brutale, problematische Weltanschauung ist. Okay. Das wäre eine Erklärung für diese Figur. Aber dann ist diese Figur leider kein besonders beeindruckendes oder repräsentatives Exemplar eines Islamisten.

Der Film stellt Religion – bzw. den Islam, denn eine andere Religion kommt nicht vor – als etwas dar, das in geringen Dosen ja ganz gut sein kann, aber auch nicht unbedingt notwendig ist, und von dem man nicht zu viel abbekommen sollte. Wie so oft, wenn es um den radikalen Islam und den liberalen Islam geht, kommt eine Frage nicht vor: Ist der Islam die Wahrheit? Ist der radikale Islam die Wahrheit? Ist der liberale Islam die Wahrheit? Was ist die Wahrheit? Hier wird die Religion nur nach ihren praktischen Folgen bewertet – die einem sicher auch irgendwo Aufschluss darüber geben können, ob eine Religion die Wahrheit ist, aber nicht allein die Wahrheit einer Religion beweisen – und nur als eine Art Trostpflaster oder Placebo gesehen, die manche Leute – wie Mahmoud – halt „brauchen“ und andere – wie die emanzipierte, selbstbewusste Leila – nicht.

Besser gelungen ist die satirische Darstellung, wie fromme Muslime an das Thema Liebe und Ehe herangehen dürfen und können. Man darf sich nicht alleine treffen und sich nicht zu genau kennenlernen… also verliebt sich halt schon mal ein Mahmoud in eine „Scheherazade“ und will 40 Kamele besorgen, um sie sofort zu heiraten. Hier ist der Film natürlich übertrieben, aber auch nicht mehr, als es eine Komödie eben für gewöhnlich ist.

Ich habe ja nichts gegen Evangelikale… also, nichts Wirksames.

Kleiner Scherz. Natürlich ist die Wahrheit des katholischen Glaubens wirksam gegen evangelikale Häresien, wenn sie sich vermitteln lässt.

Wie auch immer, ich fand, es wäre mal an der Zeit für ein bisschen Evangelikalen-Bashing. Die evangelikalen Freikirchen sind in den letzten Jahren ja so ein bisschen zu den „Lieblingshäretikern“ von vielen Katholiken geworden. Sie sind wertkonservativ, glaubensstark, beten viel und lesen viel in der Bibel, wagen es, Wörter wie „Mission“ in den Mund zu nehmen und haben mit ihrer Mission oft auch Erfolg, wie man an ihren i. d. R. jungen, wachsenden Gemeinden sehen kann – sie machen vieles richtig, kurz gesagt. Und während sich die „amtskirchliche“ Ökumene in Deutschland noch vor allem auf die traditionell starken Lutheraner konzentriert, bauen erfolgreiche ökumenische „Grass-Roots“-Initiativen wie das Gebetshaus Augsburg und die MEHR-Konferenz eher auf eine Zusammenarbeit zwischen allen Jesus-begeisterten, „konservativen“, „bibeltreuen“ Christen, also hauptsächlich diversen Freikirchen und der Katholischen Kirche.

Ich will hier nicht die Glaubensstärke vieler Evangelikaler kleinreden. Und sie bekommen die Grundsätze des christlichen Glaubens tatsächlich oft gar nicht schlecht hin. Ihr Glaube ist oft mehr defizitär als irrig – aber defizitär ist er definitiv. Ihnen fehlen sieben Bücher in der Bibel, die meisten Sakramente, das Bewusstsein der Gemeinschaft mit den Heiligen im Himmel, eine geeinte Weltkirche, die von Christus die Autorität bekommen hat, in umstrittenen Glaubensfragen zu entscheiden, und noch ein paar andere Dinge. Und das, was ihnen fehlt, ist leider nicht unbedeutend, und es gibt immer noch Dinge, zu denen sie verdrehte Vorstellungen haben, und da sollten wir in der Ökumene drauf aufpassen. Ein Beispiel: Die Alphakurs-Videos vermitteln viel Richtiges und man kann sie schon in katholischen Pfarreien verwenden. Das Video darüber, ob die Auferstehung Jesu historische Wirklichkeit ist, ist zum Beispiel wirklich gut gemacht (auch wenn die deutsche Synchronisation schlecht ist). Das Video über die Bedeutung der Kirche dagegen sagt bloß ein paar nette Sachen darüber, dass wir Christen alle eine Gemeinschaft sind, und bringt dann auch an einer Stelle die Aussage, dass Protestanten, Katholiken usw. alle zusammen die Kirche bilden würden. Das ist aber falsch; Jesus Christus hat eine Kirche gegründet, die auch institutionell eins sein sollte, und die Protestanten und andere haben sich dann später von ihr abgespalten; sie gehören zwar durch die Taufe zur Christenheit, aber eben nicht wirklich zu der einen Kirche. Diese Trennung ist schade, sollte aber nicht geleugnet werden. Ein katholisches Video hätte außerdem noch zusätzliche Informationen über die Bedeutung des Lehramts, der Konzilien, der Päpste, der Bischöfe usw. enthalten und wäre vielleicht auch darauf eingegangen, dass auch die Christen im Himmel und im Fegefeuer ebenso zur Kirche gehören wie die auf der Erde.

Folgende Hauptkritikpunkte am Evangelikalismus fallen mir ansonsten noch ein (ich verallgemeinere natürlich ein bisschen; jede Freikirche ist irgendwo anders als die andere, und es gibt vermutlich wenige, auf die jeder meiner Punkte zutrifft) :

  • Eine unklare und falsche Rechtfertigungslehre. Viele Evangelikale fühlen sich heute zwar unwohl mit der klassischen Lehre der Reformatoren über die Erwählung und den freien Willen, und neigen zu der katholischen Auffassung, dass Gott allen Menschen seine Gnade anbietet und der einzelne Mensch sie dann in einer freien Entscheidung annimmt oder ablehnt, aber manche glauben auch noch ganz klassisch an eine Prädestination im Sinne Calvins. Außerdem ist die Annahme von Gottes Gnade für die meisten Evangelikalen eine einmalige Entscheidung und besteht allein im Glauben, gute Werke gehören nicht dazu (sola fide).
  • Man wird also direkt durch die eigene Entscheidung Christ, also, indem man an irgendeinem Punkt seines Lebens betet: „Jesus, ich glaube, dass du für meine Sünden gestorben bist und übergebe dir von jetzt an mein Leben“ oder so ähnlich. Die Taufe ist dann höchstens noch eine symbolische Handlung, die man vornimmt, um Gott zu zeigen, dass man sich für ihn entschieden hat, weil das anscheinend in der Schrift so vorgesehen ist. Das ist falsch: Tatsächlich sagt die Schrift sehr klar, dass die Taufe uns rettet (1 Petr 3,21; Mk 16,16; Joh 3,5; Tit 3,5…), dass in ihr Gottes Gnade an uns wirkt.* In der evangelikalen Sichtweise ist somit auch nicht vorgesehen, dass Gott auch die noch nicht des Vernunftgebrauchs mächtigen Kinder schon in seinen Bund aufnimmt. Dementsprechend lehnen viele Freikirchen die Kindertaufe ab und meinen, dass jemand, der einfach als Christ aufgewachsen ist und immer selbstverständlich geglaubt hat, nicht unbedingt ein wirklicher Christ ist, weil er ja keine bewusste Entscheidung zu einem klar bestimmbaren Zeitpunkt getroffen hat.
  • Manche Evangelikale leugnen auch, dass jemand, der keine bewusste Entscheidung für Jesus getroffen hat, auf irgendeine Weise erlöst werden kann, auch dann, wenn er nie von Jesus gehört hat. Das lässt offensichtlich Gott ungerecht erscheinen und ist einfach unsinnig (dazu habe ich mich hier auch schon mal geäußert).
  • Wenn man einmal erlöst ist, kann man nach dieser Theologie durch keine Sünde wieder verloren gehen („once saved, always saved“). Die Folge daraus: Wenn jemand, der mal ein entschiedener, gläubiger Christ war, dann ein schlimmer Sünder wird oder wieder vom Glauben abfällt, dann kann derjenige nie wirklich erlöst gewesen sein. Auch, wenn er vorher selber geglaubt hat, wirklich erlöst zu sein. Das führt natürlicht leicht dazu, dass man sich fragt: Bin ich denn wirklich erlöst? War meine Bekehrung denn echt? Wie kann ich mir da sicher sein? Das kann man in diesem theologischen System nicht, obwohl gerade diese Sicherheit, dass man, wenn man sich bekehrt hat, auf jeden Fall in den Himmel kommen würde, der ursprüngliche Hintergedanke bei der Lehre von der „Beharrlichkeit der Heiligen“ war.
  • Die meisten Evangelikalen glauben, dass das Kreuzesopfer Christi so funktioniert, dass uns nur äußerlich Christi Schuldlosigkeit zugerechnet wird, wir werden nicht wirklich innerlich geheiligt. Rechtfertigung und Heiligung hängen gemäß der katholischen Sicht enger zusammen; wir werden durch Gottes Gnade nicht nur für gerecht erklärt, wobei wir ebenso Sünder bleiben wie vorher, sondern werden auch nach und nach wirklich geheiligt; Heiligung und Erlösung sind eins, daher muss sich ja auch die Annahme von Gottes Gnade in Werken zeigen.
  • Weil die Sakramente nicht viel zählen und das sog. Abendmahl nur selten gefeiert wird und dann nur symbolische Bedeutung hat, verkommt der Sonntagsgottesdienst in vielen Freikirchen zu einer Mischung aus Vortrag und Lobpreiskonzert. Da wird nicht Gottes Handeln an uns erfahrbar, sondern Christen treffen sich, um über ihren Glauben informiert oder ermutigt zu werden und zu Gott zu beten. Das ist gut, aber eben defizitär, wie oben gesagt.
  • Weil sie keine geeinte Kirche haben, haben die Freikirchen auch keine geeinte Lehre. Sie können zwangsläufig keine geeinte Position zu kontroversen Fragen haben. Und ihre einzelnen Positionen sind oft inkonsequent und schlecht begründet. Ein Beispiel: Frauen im Klerus. Liberalere Gemeinden haben kein Problem mit Pastorinnen, was aber viele Christen, die sich als bibeltreu verstehen und Wert auf historische Kontinuität legen, stört. Konservativere Gemeinden dagegen sehen, dass es gegen die Zulassung von Frauen zu Autoritätspositionen in der Kirche gewisse neutestamentliche Einwände gibt, also lassen sie keine Pastorinnen zu; aber sie können das schlecht begründen, weil ihre Pastoren nur Gemeindeleiter und Prediger sind, keine Priester, die Christus repräsentieren – und wieso sollten Frauen nicht, zumindest als Ausnahme oder Vertretung mal, Gottesdienste organisieren, Gemeindemitglieder beraten, Vorträge über den Glauben halten dürfen etc.? Die konservativsten Gemeinden erklären dann, um konsequent zu sein, dass Frauen grundsätzlich keine Männer etwas in Glaubensdingen lehren dürften, also z. B. auch keine Bibelgruppe, zu der Männer gehören, leiten dürften; was in dieser extremen Weise unsinnig und auch biblisch wieder kaum begründbar ist (vgl. z. B. Apg 18,26).
  • Viele Freikirchen sind stolz darauf, das  zu lehren, was der historische Glaube der Christenheit sei, auch wenn sie auch Dinge lehren, die tatsächlich eher durch die moderne Kultur geprägt sind. Beispiel: Scheidung und Wiederheirat hinterher. Erlaubt, nicht erlaubt, unter bestimmten Umständen erlaubt? Fast alle Freikirchen erlauben nicht nur die Scheidung, sondern auch die Wiederheirat danach zumindest unter gewissen Umständen, auch wenn sie sie nicht für ideal halten; entgegen den Worten von Jesus und Paulus (Mk 10,2-12; Mt 19,3-12; 1 Kor 7,10f.„Den Verheirateten gebiete nicht ich, sondern der Herr: Die Frau soll sich vom Mann nicht trennen – wenn sie sich aber trennt, so bleibe sie unverheiratet oder versöhne sich wieder mit dem Mann – und der Mann darf die Frau nicht verstoßen.“). Anderes Beispiel: Künstliche Methoden der Empfängnisverhütung wurden bis 1930 von allen Kirchen abgelehnt und sind heutzutage für die meisten Protestanten völlig unproblematisch.
  • Manchmal stößt man unter Evangelikalen auch auf bizarre theologische Ideen, die erst in den letzten zweihundert oder hundert oder fünfzig Jahren entstanden sind. Paradebeispiel: Die Entrückung (englisch „rapture“). Der Antichrist kommt bald, aber vorher werden alle Christen plötzlich von Jesus in den Himmel entrückt, damit sie nicht wie der Rest der Menschheit die Plagen der siebenjährigen Endzeit durchmachen müssen. Ein anderes Beispiel wäre der sog. „prosperity gospel“.
  • Solche Freikirchen neigen manchmal auch zu dem, was man allgemein als „Biblizismus“ oder „Fundamentalismus“ bezeichnet, nämlich zu der Position, dass die wörtlichste Bibelauslegung immer die stimmigste Bibelauslegung wäre und die, die den größten Respekt vor Gottes Wort zeigt (na ja, außer Christus redet davon, dass Brot und Wein sein Leib und Blut sind, das ist natürlich symbolisch gemeint). Deshalb vertreten sie teilweise kreationistische Positionen, also die Ansicht, dass Gott die Welt vor ca. 6000 Jahren in genau sieben Tagen erschaffen habe. Das ist zwar auch für Katholiken eine erlaubte Interpretation von Genesis 1, aber nicht die einzig erlaubte, und man sollte Leute nicht vom Christentum wegtreiben, indem man sie als die einzig erlaubte hinstellt.
  • Viele Evangelikale vertreten die Ansicht, dass die Schrift nicht nur keine Irrtümer enthalte, sondern für alles genüge, was der Christ so wissen muss, und dabei auch ganz klar und eindeutig sei. Das ist einfach objektiv nicht der Fall; es ist nicht immer leicht, rein aus der Bibel ganz klare Imperative zu, sagen wir mal, künstlicher Befruchtung, Abschreckung durch Atomwaffen oder die Verpflichtung zu Kopfbedeckungen für Frauen im Gottesdienst abzuleiten. Deshalb haben ja auch so viele Evangelikale so viele unterschiedliche Ansichten zu allen möglichen Themen.
  • Noch eine jetzt wirklich mehr geschmackliche Sache: Ich habe den Eindruck, dass viele Freikirchler ihre Botschaft zu gefühlsbetont herüberbringen (auch wenn andere Freikirchler sich dann wieder gegen solche Gefühlsbetontheit wenden). Als Beispiel ein Auszug aus der Internetseite der International Christian Fellowship (ICF) München (aus der Rubrik „Unsere Vision“) : „Wir träumen von einer Kirche, in der Jesus Christus im Zentrum steht. Er entfacht in ihr eine unvergleichliche Leidenschaft, die sich in lebensverändernden Predigten, kraftvollem Worship und überfließender Kreativität entfaltet. In dieser Kirche feiern und genießen wir die Beziehung zu unserem himmlischen Vater voller Enthusiasmus und lernen ihn in all seinen Facetten immer tiefer kennen.“ Enthusiasmus und Leidenschaftlichkeit sind sicher nicht schlecht; aber Gefühle sind eben nicht das Entscheidende im christlichen Leben (entscheidender sind Vernunftüberlegungen, Entscheidungen, Taten), und manche Leute sind von ihrem Temperament her nicht besonders leidenschaftlich. Manche Leute mögen es nicht mal, bei Worship-Konzerten die Hände in die Luft zu strecken…

Ich sag’s am besten nochmal: Viele Evangelikale machen vieles richtig, und natürlich ist ökumenische Zusammenarbeit da, wo wir übereinstimmen (z. B. beim Lebensschutz oder der Hilfe für verfolgte Christen), sinnvoll. Aber wir sollten einfach nicht meinen, dass wir bis ein paar unwichtige Details denselben „historischen“, „biblischen“ Glauben teilen würden, während es mit der modernistischen EKD gar keine Gemeinsamkeiten mehr gäbe. Beim Gebetshaus Augsburg zum Beispiel, das ich an sich sehr sympathisch finde, wird oft die Botschaft vermittelt: „Wenn wir Europa wieder zum Christentum zurückführen wollen, geht das nur gemeinsam, da brauchen wir die katholische Kirche und die Freikirchen.“ Nein, nicht zwangsläufig. Um wieder christlich zu werden, müsste Europa nicht zwangsläufig zur Hälfte häretisch werden. Ich bin zwar eigentlich der Ansicht, dass fehlerhaftes Christentum immer noch besser ist als totaler Unglaube, aber idealer wäre es doch, die Anhänger eines fehlerhaften Christentums würden die Fülle der Wahrheit in der katholischen Kirche finden.

* Natürlich kann Gott auch Leute erlösen, denen die Taufe fehlt, s. das Konzept der Begierdetaufe. Aber Er hat die Taufe als den normalen Standardweg der Erlösung für uns eingerichtet. Wenn ein Verletzter sich an einem unzugänglichen Ort befindet, kann auch ein Hubschrauber kommen, um ihn zu bergen, aber das normalerweise vorgesehene Fahrzeug dafür ist und bleibt trotzdem der Krankenwagen.

Vaterunser auf Feministisch

Ich schätze, ich muss nicht viel dazu sagen, was ich davon halte, wenn die Worte unseres Herrn willkürlich abgeändert werden, weil irgendwer meint, es besser zu wissen als der Gottmensch Jesus Christus. Wer eine Idee zu  einem Gebet hat, die er ganz toll findet, soll ein neues Gebet schreiben, nicht am Vaterunser herumdoktern. Aber wenn solche Texte umgedichtet werden, ist es schon ganz interessant, welche Stellen dabei umformuliert oder ausgelassen werden.

Eine anglikanische („episcopalian“: der amerikanische Zweig der Anglikaner) Kirche in San Francisco hat am 25. April eine „Beyoncé-Messe“ abgehalten, d. h. eine Messe begleitet von Liedern von Beyoncé, da man die dort offenbar sehr inspirierend fand. Der verlinkte Artikel zeigt auch ein Foto von den Zetteln, die dabei an die ca. 900 Besucher ausgeteilt wurden, und auf diesen Zetteln ist das Vaterunser in zwei Versionen abgedruckt, wobei darüber noch der Hinweis steht, dass man es „in den unten stehenden Worten, oder in den Worten Ihres Herzens“ mitbeten könnte. Die Version auf der rechten Seite ist die traditionelle englische Übersetzung des Bibeltextes („Traditional English Lord’s Prayer“), die linke eine, na ja, etwas freiere Umdichtung unter dem Titel „Womanist Lord’s Prayer“:

„Our Mother,

who is in heavan and within us,

We call upon your names.

Your wisdom come.

Your will be done,

In all the spaces in which You dwell.

Give us each day

sustenance and perseverance.

Remind us of our limits as

we give grace to the limits of others.

Seperate us from the temptation of empire,

But deliver us into community.

For you are the dwelling place within us

the empowerment around us

and the celebretation among us

now and for ever.

Amen.“

(Unsere Muter,

die im Himmel und in uns ist,

wir rufen deine Namen an.

Deine Weisheit komme.

Dein Wille geschehe,

An all den Orten, an denen du wohnst.

Gib uns jeden Tag

Lebensunterhalt und Ausdauer.

Erinnere uns an unsere Grenzen so wie

wir Rücksicht auf die Grenzen anderer nehmen.

Scheide uns von der Versuchung der Herrschaft,

Und führe uns stattdessen in die Erlösung zur Gemeinschaft.

Denn du bist die Wohnung in uns

die Emanzipation um uns herum

und die Feier unter uns

jetzt und in alle Ewigkeit.

Amen.)

Die feministische Umdichtung eines nun mal leider so eindeutig ein männliches Gottesbild vermittelnden Gebets wie des Vaterunsers zu einem Mutterunser ist ja nun leider nichts Neues. Aber die restlichen Umdichtungen sind schon interessant.

Vor allem fällt auf: Das Böse darf nicht wirklich vorkommen. Es wird keine Schuld vergeben, sondern es wird nur anerkannt, dass Menschen „Grenzen“ haben: Eine völlig blödsinnige Formulierung. Rücksicht auf die Grenzen anderer nehmen heißt z. B., dass ich es nachsehe, wenn meine vergessliche Großmutter ständig Schlüssel und Geldbeutel vergisst, und mich im Voraus darauf einstelle, damit ich darauf achten kann. Schuld vergeben bedeutet dagegen, dass ich es vergebe, dass meine leicht beleidigte Großmutter nach einer geringfügigen Meinungsverschiedenheit wochenlang nicht mit mir geredet hat. Schwächen und Sünden sind nicht einfach ein- und dasselbe. Als nächstes wird die Versuchung, in die man nicht geraten will, eingeschränkt auf eine ganz bestimmte Art der Versuchung, nämlich die zur Herrschsucht; als wäre das die einzige Form des Bösen, die es gäbe. (Auch Gleichgültigkeit, Vernachlässigung, unterlassene Hilfeleistung o. Ä. können Sünden sein, um nur ein paar offensichtliche Beispiele zu nennen, die mit Herrschen nichts zu tun haben.) Aber das passt eben zum feministischen Konzept: Die einzige bewusst wahrgenommene Form des Bösen ist die Unterdrückung, also ist die „Emanzipation“ („empowerment“) und die gleichberechtigte „Gemeinschaft“ die einzige bewusst wahrgenommene Form des Guten. (Sicher ist Gemeinschaft eine wichtige Form des Guten, aber eben nicht die einzige.)

Dazu kommt noch die grässlich formulierte Bitte um „Lebensunterhalt und Ausdauer“, die das wunderbar konkrete „unser täglich Brot gib uns heute“ ersetzt, und dann so völlig blödsinnige Sätze wie „du bist die Wohnung in uns“ (wenn schon, dann bitte „du wohnst in uns“, aber – du „bist“ die Wohnung in uns?).

An letzterer Stelle und auch weiter oben fällt auch auf: Das „Reich“ (in der traditionellen englischen Übersetzung „kingdom“) Gottes darf nicht vorkommen; auch nicht „Macht“ („power“) und „Herrlichkeit“ („glory“). Wäre ja alles zu, äh, herrschaftlich. Auch ein guter Herrscher wie Gott bzw. die hier angebetete Muttergöttin darf nicht herrschen, sondern bloß seine/ihre „Weisheit“ spenden und in den Leuten Wohnung nehmen (oder so ähnlich). Aber ich glaube, es ist nicht nur diese Abneigung gegenüber allem, was an Macht oder Herrschaft erinnert: Nein, solche Leute glauben auch nicht, dass Jesus jemals wirklich am Ende der Zeiten zurückkehren wird und wirklich endgültig Gottes Reich aufgerichtet werden wird; also können sie auch schlecht um die Ankunft dieses Reiches beten. Es muss reichen, wenn ein bisschen göttliche Weisheit aus den höheren Sphären zu uns in den Alltag hinabsickert.

Auch die Diversität muss natürlich kurz vorkommen: Die Göttin hat nicht nur einen Namen, sondern viele („wir rufen deine Namen an“). Sie ist vielseitig, da ist für alle was dabei.

Insgesamt ist das Gebet vor allem eins: langweilig. Das langweilige Thesenpapier engagierter Pfarrer*innen und Lai*innen, die beim Kirchenkaffee und beim Vortragsabend im Pfarrheim von Machtstrukturen und ihrer Bekämpfung durch Gendersternchen reden, und keine Ahnung haben von wirklicher Schuld, wirklichem Bösen, oder der wirklichen Herrlichkeit des Reiches des wirklichen Gottes, und die es verachten, um das täglich Brot zu bitten, wenn man stattdessen „Lebensunterhalt“ sagen kann.

Glaube, Aberglaube und Unglaube

Mehr als reine Atheisten, die in der Tradition des 19. Jahrhunderts auf Empirie, Rationalismus, Materialismus bestehen, nerven manchmal halbgläubige Christen oder auch Nichtchristen, die überzeugt sind, dass es beim Glauben nicht so sehr auf irgendwelche Lehren (iiiiihhh!) oder philosphische Herleitungen oder geschichtliche Tatsachen ankomme, sondern vielmehr auf das Gefühl, das einem sage, dass „irgendetwas“ – eine schützende Kraft, eine höhere Macht – da oben sei; die finden, dass es mehr gebe zwischen Himmel und Erde, als wir meinen, und sich deshalb sowohl Schutzengelfiguren als auch Heilkristalle ins Wohnzimmer stellen; die an „Karma“ glauben, ohne mehr als dieses eine Wort aus den östlichen Religionen zu kennen; die an Weihnachten in die Christmette – Familientradition – und unterm Jahr zum Homöopathen und zum Warzenabbeten gehen. Könnte ja was dran sein. Weiß man ja nicht. Und komm mir nicht mit der Wissenschaft! Was weiß diese Wissenschaft schon!

Bah! Der Katholizismus ist im Gegensatz dazu eine sehr klare Religion, die bestimmte Lehren verkündet und bestimmte andere Lehren dann logischerweise ablehnt und dafür vernünftige Gründe hat; ihr geht es um Wahrheit, nicht um Gefühle. Der Begriff „Glaube“ meint eher das – vernunftbasierte – Vertrauen in Gott, dem man, weil es klar ist, dass man mit Ihm zu tun hat und Er vertrauenswürdig ist (weder täuschen noch lügen kann), alles glaubt, was Er uns offenbart, worauf man sich auch in der Praxis verlässt. Zuerst muss man aber durch philosophische und historische Beweise zum Ergebnis kommen, dass es Gott gibt und Jesus von Ihm gesandt ist und die katholische Kirche gegründet hat; dann kann man auf alle Einzellehren vertrauen (wobei man auch im einzelnen Gründe für sie finden kann). Es gibt Lehren in Gottes Offenbarung, die teilweise über unser Begriffsvermögen hinausgehen (besonders etwa an die Lehre über die Dreifaltigkeit),  die aber in keinem Fall der Vernunft widersprechen können, sondern eher über die Vernunft hinausgehen. (Man kann sich übrigens auch der Dreifaltigkeitslehre mit dem Verstand annähern: In Gott ist eine Art von Gemeinschaft, weil Er die Liebe ist, und dazu passt es, dass es in Ihm ein Gegenüber gibt; aber Er muss auch vollkommen eins und ungeteilt sein.)

Die Rationalisten haben wenigstens etwas verstanden: Wir müssen unseren Verstand gebrauchen. Sie gebrauchen ihn dann falsch, klar, und öfter mal in arroganter Weise, aber wenigstens so weit sind sie. Aberglaube und unbestimmter Halb-Glaube dagegen haben sehr viel von Agnostizismus und schlichtem Widerwillen, logisch zu denken und es zu genau wissen zu wollen. Da sehnt man sich doch nach „früher“ zurück, dieser magischen Zeit, als das Bayernland noch erzkatholisch war und der Pfarrer von der Kanzel gegen Talismane und Handlesen wetterte.

Chesterton hat bekanntlich (in etwa, ich bin zu faul, das Zitat nachzuschlagen) einmal geschrieben, dass die Leute, wenn sie nicht mehr an Gott glauben, nicht an nichts glauben, sondern an alles Mögliche. Und genau das zeigt sich ja: Auf den Wissenschaftsenthusiasmus und die Abneigung gegen alles Übernatürliche, die die Christentumsgegner des 18. und 19. Jahrhunderts charakterisierte, folgte dann schnell auch wieder das Gegenteil: Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert kamen die Spiritisten, Theosophen und Anthroposophen in Mode, und ab den 60ern gab es eine neue Welle von Buddhismus-Nachahmern, Neuheiden, und so weiter und so fort. Der Katholizismus glaubt, anders als solche Leute, an eine rationale, durch einen rationalen Gott eingerichtete Welt, deren Gesetze vom Menschen erforscht werden können; deswegen ist es für uns auch zum Beispiel nicht nötig, mühsam nach einem Weg zu suchen, um „Glaube und Wissenschaft zu versöhnen“. Wir haben kein Problem mit der Wissenschaft. (Dass viele Leute es so wahrnehmen, als hätte der christliche Glaube ein Problem mit der Wissenschaft, liegt eher an fundamentalistischen Protestanten, die die Evolutionstheorie ablehnen, was der Katholizismus nicht tut.*)

Aber dass der Glaube an das Übernatürliche sich nicht durch den Materialismus ausschalten lässt, das zeigt eben gerade auch den Fehler des Materialismus. Die Leute lassen nicht vom Übernatürlichen. Bloß wenden sie sich, wenn es allgemein anerkannte Tatsache ist, dass der Vatikan mit seinen Dogmen doch keinesfalls Recht haben kann, eben den unsinnigsten anderen Vorstellungen vom Übernatürlichen zu, zum Beispiel der, dass der Verstand nicht verlässlich wäre und alle Ergebnisse der Wissenschaft zum Fenster hinausgeworfen werden könnten, wenn es darum geht, ob Geistheilen funktioniert. Es ist ja auch bequem: Wir müssen es nicht so genau wissen. Nein: Wir brauchen das Wissen, wir brauchen die Vernunft. Solche Leute sind die schlimmsten Gegner wirklicher Religion: Sie verschaffen ihr nämlich den Ruf des Widervernünftigen, besser, als das die Atheisten vermocht hätten. Wenn man alles, was entfernt nach Religion aussieht, als irrationale Gefühlssache darstellt, muss man sich nicht wundern, wenn die Leute die Religion als irrationale Gefühlssache ablehnen.

* Dazu zwei Zitate:

1) Aus einem Schreiben der Päpstlichen Bibelkommission bzgl. der ersten Kapitel des Buches Genesis (die die Schöpfungsgeschichte enthalten) von 1909:

 „Frage 5: Ist alles und jedes, nämlich die Worte und Redewendungen, die in den eben genannten Kapiteln vorkommen, immer und notwendig im eigentlichen  Sinne aufzufassen, so daß man niemals von ihm abweichen darf, auch wenn sich deutlich zeigt, daß Redeweisen uneigentlich, metaphorisch oder anthropomorph verwendet wurden und den eigentlichen Sinn entweder die Vernunft beizubehalten verbietet oder die Notwendigkeit aufzugeben zwingt?

 Antwort: Nein.

 […]

 Frage 7: Ist, obwohl es bei der Abfassung des ersten Kapitels der Genesis nicht die Absicht des heiligen Autors war, die innerste Beschaffenheit dersichtbaren Dinge und die vollständige Reihenfolge der Schöpfung auf wissenschaftliche Weise zu lehren, sondern vielmehr seinem Volk eine volkstümliche Kunde – wie es die allgemeine Sprache zu jenen Zeiten zuließ – zu überliefern, die den Sinnen und dem Fassungsvermögen der Menschen angepaßt war, bei der Auslegung dieser Dinge genau und stets nach der Eigentümlichkeit wissenschaftlicher Rede zu forschen?

 Antwort: Nein.

 Frage 8: Kann bei jener Bezeichnung und Unterscheidung der sechs Tage, um die [es] im ersten Kapitel der Genesis [geht], das Wort Yôm (Tag) sowohl im eigentlichen Sinne als natürlicher Tag als auch im uneigentlichen Sinne als bestimmter Zeitraum aufgefasst werden, und ist es erlaubt, über diese Frage unter den Exegeten zu diskutieren?

 Antwort: Ja.“

1909 saß übrigens der Hl. Pius X. auf dem Stuhl Petri (der mit dem Anti-Modernisten-Eid).

2) Aus der Enzyklika Humani Generis von Pius XII. (1950):

 „36. Aus diesem Grund verbietet das Lehramt der Kirche nicht, dass in Übereinstimmung mit dem augenblicklichen Stand der menschlichen Wissenschaften und der Theologie die Entwicklungslehre Gegenstand der Untersuchungen und Besprechungen der Fachleute beider Gebiete sei, insoweit sie Forschungen anstellt über den Ursprung des menschlichen Körpers aus einer bereits bestehenden, lebenden Materie, während der katholische Glaube uns verpflichtet, daran festzuhalten, dass die Seelen unmittelbar von Gott geschaffen sind.“

Die Pfeiler des Glaubens, Teil 3: Falcones wird (vorübergehend) zum Gesinnungsethiker und die Inquisition verfolgt Ketzer

Teil 2 meiner Rezension findet sich hier.

Teil II des Romans „Die Pfeiler des Glaubens“ – „Im Namen der Liebe“ – handelt von Hernandos weiterem Schicksal in Córdoba zwischen 1570 und 1581. (Am Ende ist er also ca. 27 Jahre alt.) Seine Familie darf in der Stadt bleiben, nachdem Hernando und sein Stiefvater Ibrahim Arbeit gefunden haben – als Handlanger in einer Gerberei respektive Feldarbeiter. Sie und die übrigen Morisken dort sind jedoch weiterhin einer strengen Kontrolle durch Behörden und Kirche unterworfen. Schon bei ihrer Ankunft gibt die Stadt ihnen Essen aus, das Schweineinnereien enthält, und es wird überwacht, dass es gegessen wird. Der sonntägliche Kirchgang ist selbstverständlich obligatorisch, Arabisch zu sprechen ist verboten, und ein Richter kann auch mal unangemeldet in der Wohnung vorbeischauen. Und auch die Rolle der Nachbarn sollte man nicht unterschätzen: Trinken die etwa nie Wein? Führen die vielleicht rituelle Waschungen durch? Kurz gesagt: Ihre wirkliche Religion müssen die Morisken weiterhin sorgfältig verstecken.

Schon nach kurzer Zeit in Córdoba trifft Hernando Hamid wieder, der weiterhin die Rolle des weisen Mentors des jungen Helden einnimmt. Der Gelehrte ist als Sklave in der Bordellgasse gelandet. Fatima unterdessen ist traumatisiert durch den Tod ihres kleinen Sohnes – und auch durch die erzwungene Ehe mit Ibrahim, der sie noch immer als seine Frau behandelt, obwohl den Christen nach außen hin etwas anderes vorgespielt wird. Sie ist bei ihrer Ankunft in der Stadt nach den langen Strapazen dem Tod nahe und gewinnt ihre Gesundheit nur langsam wieder. Ihren Trost sucht sie fortan im Glauben. Zwei Dinge gewinnen eine große Bedeutung für sie: Eine Art Amulett, das sie besitzt, das traditionell von Muslimen getragen wird und vor Dschinn und dem Bösen Blick schützen soll, eine sog. Fatimahand (benannt nach einer Tochter Mohammeds); und der Satz „Der Tod verheißt ewige Hoffnung“, eine alte muslimische Weisheit, die schon auf Seite 126 zum ersten Mal erwähnt worden ist und die Fatima offenbar stark beeindruckt hat. Die Fatimahand hat übrigens den Originaltitel des Buches inspiriert: „La Mano de Fátima.“

Was Hernandos Halbbrüder Musa und Aquil angeht, meine Vermutung, dass sie keine große Rolle mehr spielen werden, bestätigt sich: Sie werden schon bald aus der Handlung getilgt, indem sie, wie viele andere moriskische Kinder, ihren Eltern weggenommen werden, um in christlichen Familien erzogen zu werden. Als Hernando Jahre später nach ihnen sucht, da er inzwischen als guter Christ gilt und hofft, sie zurückholen zu können, muss er feststellen, dass sie verschwunden sind und die Pflegeeltern sie vermutlich als Sklaven verkauft haben.

Aber zurück zum Anfang. Die Situation der Familie stellt sich zunächst recht düster dar. Hernando hasst seine Arbeit in der Gerberei, wo er minderwertige Häute mit Mist bearbeiten muss, und natürlich hasst er die Situation mit Fatima, die nach außen hin als seine Frau gilt, in seinem Volk aber als die seines brutalen Stiefvaters. Er beginnt bald, einem Kleinkriminellen bei diversen nächtlichen Geschäften zu helfen – hauptsächlich schmuggeln sie Wein in die Stadt, um den Zoll am Tor zu umgehen – und das verdiente Geld zu sparen, um es irgendwann Ibrahim anzubieten, damit der ihm Fatima überlässt. Allmählich wird er waghalsiger und auch rücksichtsloser; an einer Stelle stachelt er sogar einen Adligen mit erfundenen Geschichten darüber, dass jemand dessen Stammbaum in Frage gestellt habe, dazu an, einen anderen Adligen in einem Wirtshaus zum Duell zu fordern, nur um vorher noch ein paar Münzen für die Information zu kassieren.

Und nun wird es interessant. Fatima ist nicht von Hernandos Plan für ihre gemeinsame Zukunft überzeugt, und als er ihr das gesparte Geld aushändigt, gibt sie es an die muslimische Gemeinde weiter, damit die einen anderen Morisken aus der Sklaverei freikaufen kann. Als Hernando davon erfährt, erklärt Hamid, der einer der Gemeindevorsteher geworden ist, ihm ihre Handlung: „’Weil du dich von deinem Volk entfernt hast, Ibn Hamid.’ Jeder Muskel in Hernandos Körper spannte sich an. ’Wir alle versuchen, uns heimlich zu versammeln, zu beten, unseren Glauben am Leben zu halten oder unseren Glaubensbrüdern in Not zu helfen, nur du ziehst als kleiner Gauner durch die Straßen von Córdoba.’ […] ’Musste Fatima deshalb auf ihre Freiheit verzichten?’ ’Sie vertraut auf Gottes Barmherzigkeit. Und du solltest das Gleiche tun. Komm zu uns, komm zu deinem Volk. Eure heutigen Fesseln sind unsere ewigen Gesetze, und nur Gott ist dazu berufen, sie uns aufzuerlegen und uns davon zu befreien. Als mir Fatima das Geld gab und mir alles erklärte, bat ich sie, auf Gott zu vertrauen und die Hoffnung nicht aufzugeben.’“ (S. 299)

Von da an lässt Hernando seine kriminellen Geschäfte bleiben und hilft in seinen freien Stunden stattdessen der muslimischen Gemeinde – Aufenthaltsgenehmigungen für Morisken besorgen, die sich in Córdoba niederlassen wollen, versklavte Morisken freikaufen, usw. (Hamid lehnt für sich übrigens einen Freikauf ab; man solle das Geld für Jüngere verwenden.) Und Falcones stellt all das als richtige Entscheidungen dar, die Hernando und Fatima Gewissensfrieden geben: „Noch vor Kurzem, als er ihr das Geld für das Maultier gegeben hatte, gegen das er sie tauschen wollte, hatte sie das Geld zwar angenommen und versteckt, aber sie war dabei immer unzufrieden und voller Zweifel gewesen – fast so, als würde er sie dazu zwingen. Nun strahlte sie, wenn Hernando ihr von seinen neuesten Plänen für einen Glaubensbruder berichtete.“ (S. 301) Und damit nicht genug: Von da an läuft alles wie auf magische Weise besser. Fatima kann sich durch den Rückhalt der Gemeinde besser gegen Ibrahim durchsetzen und wehrt seine sexuellen Avancen ab. (Die irgendwo emotional von Ibrahim abhängige Aischa ist unterdessen froh, ihren Platz als seine eigentliche Ehefrau wieder einzunehmen. Sie bekommt in dieser Zeit einen weiteren Sohn namens Shamir.) Als Hernando dann während einer öffentlichen Stierhatz in Córdoba das wild gewordene Pferd eines Adligen beruhigen kann, wird der Oberstallmeister des königlichen Marstalls in Córdoba auf ihn aufmerksam und stellt ihn kurz darauf ein; Hernando bekommt zwei Zimmer über dem Marstall und einen ordentlichen Lohn und lernt mehr über die Pflege, Aufzucht und das Bereiten der Zuchtpferde des Königs. Zur selben Zeit unterhält sich Fatima mit Jalil, einem weiteren Gemeindevorsteher, und erfährt, dass sie sich nach islamischem Recht von Ibrahim scheiden lassen kann, wenn der sie nicht angemessen versorgen kann. Da er noch immer nur einen Hungerlohn bezieht und nun einen neuen Sohn hat, ist dieser Plan sogar aussichtsreicher als Hernandos ursprüngliches Vorhaben. Wenn Ibrahim nicht innerhalb von zwei Monaten, nachdem sie vor dem Ältestenrat die Scheidung verlangt hat, beweisen kann dass er für Fatimas Unterhalt sorgen kann, soll er also von ihr geschieden werden. Er tobt, als ihm von Hamid, Jalil und einem weiteren Gemeindevorsteher namens Karim dieses Ultimatum gestellt wird, muss es aber akzeptieren.

Ich finde diese Entwicklung der Dinge faszinierend, da ich sie bei Falcones nicht erwartet hätte. „Tu nur das Richtige, dann wirst du zumindest ein gutes Gewissen haben, und am Ende wird wahrscheinlich sowieso alles noch besser ausgehen, als du es dir wünschen konntest“ – das ist eine Botschaft, die ich eher in, sagen wir mal, einem Christian Romance Novel erwartet hätte. Bisher hat Falcones mehr eine „Der (gute) Zweck heiligt die (schlechten) Mittel“-Einstellung gezeigt, die er hier abzulehnen scheint. Was besonders seltsam ist: Die früheren Lügen über Ubaid zum Beispiel wurden ebenso von Hamid abgesegnet wie später Fatimas Spende. Aber offenbar ist der Autor schon, sagen wir mal, irgendwie beeindruckt von manchen Aspekten der Religion, die hier zum Vorschein kommen: Hingabe, Demut, Loyalität, Unterwerfung unter alte Traditionen und Gesetze, Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen.

Fatima wird übergangsweise bei Karim untergebracht – Hernando, als dessen Frau sie ja gilt, erzählt herum, sie würde eine kranke Bekannte pflegen und deshalb noch nicht bei ihm über dem Marstall wohnen. Ibrahim erwägt in seiner Verzweiflung diverse Möglichkeiten, rechtzeitig an Geld zu kommen, und entscheidet sich schließlich, die Monfíes – moriskische Räuberbanden, von denen auch der Aufstand ausgegangen ist – im nahen Gebirge, der Sierra Morena, aufzusuchen und sich ihnen als Spitzel oder Kundschafter anzubieten. Er nimmt Aischa und Shamir mit, als er sich auf den Weg macht, und wartet dann die Nacht über in den Bergen ab, bis eine Bande der Monfíes sich zeigt und zu wissen verlangt, was er dort will. Als sie ihn fragen, wie sie sichergehen sollten, dass er kein Verräter wäre, wenn er sich ihnen anschließen würde, bietet er ihnen Frau und Kind zum Pfand an. Der Anführer erklärt schließlich, Spitzel in Córdoba hätten sie genug; wenn er wollte, könnte er sich ihnen im Gebirge anschließen, aber ohne Aischa und Shamir. Plötzlich taucht jedoch Ubaid auf, der der Stellvertreter des Anführers ist und wegen seiner abgehackten rechten Hand noch immer Rachegelüste gegenüber Hernando und Ibrahim hegt. Ubaid befiehlt, Ibrahim so wie ihm damals die rechte Hand abhacken zu lassen, und schickt Aischa mit Shamir zurück nach Córdoba. Der verstümmelte Ibrahim bleibt in den Bergen zurück, setzt sich jedoch bald von den Monfíes ab und gelangt auf ein Schiff nach Algier. (Seltsamerweise ist es den Morisken übrigens verboten, außer Landes zu fliehen. Da ihre Geschichte mit ihrer endgültigen Ausweisung aus Spanien endet, wundert mich das sehr. Aber Politik war eben auch in den 1570ern nicht logisch.) Von dort aus zieht Ibrahim weiter, kann einem reichen Kaufmann in einer Karawane ein kleines Vermögen rauben, ohne erwischt zu werden, und kauft sich damit ein Haus in Tetuan und ein eigenes kleines Schiff, mit dem er wie all die anderen Korsaren der Stadt Raubzüge an der spanischen Küste unternimmt und Gefangene macht, die er entweder gegen Lösegeld freilässt oder aber auf den Sklavenmärkten in den Barbareskenstaaten verkauft. Obwohl er ein reicher und einflussreicher Mann wird und irgendwann noch einmal heiratet, schwört er sich, einmal nach Córdoba zurückzukehren, um Fatima wiederzubekommen und an Hernando Rache zu nehmen.

Nachdem die zwei Monate vergangen sind und Ibrahim verschwunden bleibt, kann Fatima Hernando heiraten und zieht zu ihm. Hernando erlangt in den nächsten Jahren eine immer wichtigere Stellung in der Gemeinde von Córdoba, die sich mit den anderen Morisken-Gemeinden im Land vernetzt und wie diese versucht, islamische Schriften zu bewahren bzw. neue Abschriften davon anzufertigen, Glaubenswissen an die jungen Mitglieder weiterzugeben, und den Kontakt mit den ausländischen muslimischen Fürsten zu halten, damit al-Andalus irgendwann zurückerobert werden kann. (Der Sultan macht ihnen zurzeit jedoch nur leere Versprechungen.) Hernando lernt einen Schmied namens Abbas kennen, der ebenfalls im Marstall arbeitet und eine wichtige Rolle unter den Morisken spielt, und dann einen Priester an der Kathedrale von Córdoba namens Don Julián, der ebenfalls in Wahrheit Muslim ist. Da Hernando bereits als Kind von Hamid lesen und schreiben gelernt hat, bringt Don Julián ihm auch Hocharabisch (die Sprache des Koran) bei, damit er dabei helfen kann, neue Koranabschriften anzufertigen. Nach außen hin geschieht dies unter dem Deckmantel der Hilfe für die Inquisition; angeblich soll Hernando dem Priester als Übersetzer für abgefangene arabische Schriften behilflich sein, die dieser natürlich sehr gut selbst versteht. Hernando erfährt von Don Julián, dass es „[s]eit König Ferdinand Córdoba erobert hat und die Moschee den Christen in die Hände fiel […] immer einen Muslim im Priestergewand“ (S. 396) in dieser zur Kathedrale umgewidmeten Hauptmoschee Córdobas gegeben hat, dass es jedoch mittlerweile fast unmöglich sei, Muslime in den Klerus einzuschleusen, da es genau kontrolliert werde, ob man muslimische Vorfahren habe. Und ich sage mir: Ihr fragt euch wirklich, wieso die Christen euch gegenüber misstrauisch sind?

Übrigens ist, Taqiyya an sich hin, Taqiyya an sich her, Don Julián für mich eine der bisher unsympathischsten Figuren des Buches: Nicht so sehr deshalb, weil er seine Feinde ausspioniert oder vorgibt, etwas zu glauben, woran er nicht glaubt – das tun auch Hernando oder Hamid – sondern weil er für Menschen, die an etwas glauben, woran er nicht glaubt, den Seelsorger spielt. Ein Priester spendet die Kommunion und hört Beichten. Wie kann jemand so etwas nur mit seinem Gewissen vereinbaren? Aber weiter im Text.

Hernando und Fatima bekommen in diesen Jahren zwei Kinder, Francisco und Inés (die beiden erhalten noch keine muslimischen Namen, da ihre Eltern Vorsicht walten lassen, damit die Kinder sich nicht aus Versehen gegenüber Christen verraten), und können sich schließlich ein eigenes Haus in Córdoba kaufen. Aischa und Shamir leben bei ihnen, und schließlich auch Hamid, nachdem Hernando gegen dessen ursprünglichen Willen den Freikauf des alten Mannes arrangiert hat. Fatima unterrichtet andere Frauen über die Lehren des Islam, damit diese das Wissen an die Kinder weitergeben können, und die Familie hält einen Koran im Haus versteckt. Hernando versteht sich gut mit dem Pfarrer, der gelegentlich vorbeischaut, und gilt bei den Christen als Paradebeispiel für die gelungene Bekehrung eines Morisken. Alles läuft wunderbar. Doch natürlich kann es nicht so bleiben.

Und hier treten endlich die auf, die alle schon erwartet haben: Die Spanische Inquisition.

Ich weiß, ich weiß, das kennt jeder schon.

Bereits im Jahr 1573 haben Hernando und Fatima erstmals ein öffentliches Autodafé miterlebt, zu dem Abbas sie mitgenommen hat; einige der Angeklagten waren Morisken und wurden wegen Vergehen wie Bigamie (200 Peitschenhiebe und drei Jahre Galeere) oder Gotteslästerung (geringe Geldstrafe und Büßerhemd) verurteilt; einer, ein Sklave, der mehrmals versucht hat, in die Barbareskenstaaten zu fliehen, und daran festhält, den muslimischen Glauben zu bekennen, wird am Ende sogar der weltlichen Gewalt übergeben und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. (Die ganze Darstellung wirkt hier historisch korrekt.) Abbas, der seit langem den vorbildlichen Christen mimt, hat nicht nur darauf bestanden, dass er, Hernando und Fatima bei den Verurteilungen anwesend sind, damit sie ihre christliche Frömmigkeit zeigen können, sondern auch, um einen Bericht nach Algier schicken zu können. „Für jede Verurteilung rächen sich die Türken in Algier an einem Christen in ihren Gefängnissen“, hat er Hernando mitgeteilt. „Die Christen wissen das. Das hält die Inquisition zwar nicht davon ab, Ketzereien zu ahnden, aber es beeinflusst die Härte der Strafen.“ (S. 366) Und wir sollen Abbas sympathisch finden?

Die Urteile wurden damals in der Kathedrale von Córdoba gefällt, die eine große symbolische Rolle im Roman spielt, und die Hernando und Fatima zu diesem Anlass zum ersten Mal betreten haben. Sie wurde nach der christlichen Rückeroberung Córdobas im Jahr 1236 mitten in die riesige Moschee (Mezquita) hinein gebaut und ragt über diese hinaus:

Mezquita de Córdoba desde el aire (Córdoba, España).jpg

(Bildquelle hier.)

Falcones beschreibt die Kathedrale folgendermaßen: „Hernando blickte zur Decke der Kathedrale. Die Christen suchten in ihren Bauten die Annäherung an Gott und errichteten sie, so hoch es ihre Technik zuließ. Die Basis war breit und gedrungen, die Höhen waren schmal. Aber die Moschee von Córdoba war ein Wunder der islamischen Architektur, das Ergebnis einer gewagten Konstruktion, in der die Macht Gottes zu den Gläubigen herabstieg. Im Gegensatz zu den christlichen Bauten lag in der Moschee das Gewicht, der Schwerpunkt, auf den vielen schlanken Säulen – eine aufsehenerregende öffentliche Herausforderung der Logik.“ (S. 371) Das hier sind diese Säulen, die auch vorne auf dem Buchumschlag abgebildet sind und den Titel der deutschen Übersetzung inspiriert haben:

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Ehrlich gesagt finde ich diesen Titel übrigens sinnvoller als „Die Hand der Fatima“; die Kathedrale/Moschee hat mehr mit der Handlung zu tun als das Amulett. Sie ist ein Symbol für die Morisken: Ursprünglich auf einer kleinen christlichen Kirche erbaut, deren Existenz nie erwähnt wird, dann groß und mächtig und beeindruckend als Stätte des Islam, dann von den Christen zurückerobert und mit ihrem Gotteshaus überbaut – aber nicht ganz zerstört, sondern unter der Kathedrale noch immer still und ungenutzt existent. „Warum hatten die Christen dieses architektonische Meisterwerk der verhassten Mauren nicht wie all die anderen Moscheen der Stadt einfach dem Erdboden gleich gemacht?“, fragt sich Hernando. „[…] Stattdessen ließen sie zu, dass der muslimische Glaube in Form dieser Säulen, der niedrigen Decken und der Raumaufteilung überlebte… die Seele der Mezquita.“ (S. 372) Ich vermute mal, sie taten es, weil sie Säulen und niedrige Decken nicht für unverbesserlich islamisch hielten… Die Mezquita jedenfalls ist unter Muslimen sogar heute noch ein Symbol für das verloren gegangene al-Andalus, das einst zum „Haus des Islam“ gehörte. In den letzten Jahren haben Muslime in Spanien übrigens immer wieder verlangt, in der Mezquita muslimische Gebete zuzulassen und das Gebäude in ein interreligiöses Gotteshaus umzuwandeln, was von der Kirche stets abgelehnt wurde.

Fatima jedenfalls war besonders erschüttert durch die Moschee/Kathedrale. Als sie wie gebannt begann, mitten unter den Christen leise das islamische Glaubensbekenntnis zu sprechen, bat Hernando sie, doch still zu sein, und schwor ihr, dass sie in der Zukunft einmal in der Mezquita zu Allah beten würden.

Aber jetzt zurück zur Inquisition. 1579 hat Hernando dann selbst mit ihr zu tun: Seine Dienste als Übersetzer werden verlangt, da der Gemeindevorsteher Karim, bei dem islamische Schriften gefunden wurden, vor ihr angeklagt ist. Karim leugnet nicht, Muslim zu sein, aber natürlich will man von ihm hauptsächlich die Namen anderer Muslime erfahren, vor allem solcher, die ihm dabei geholfen haben, die Bücher herzustellen und zu verbreiten, und diese gibt er nicht preis.

Der Inquisitor, der Hernando zunächst anspricht, wird als ein „hagerer, hochgewachsener Mann“ (S. 439) mit „schlaffen, dürren Finger[n]“ (S. 440) und „schneidend kalter Stimme“ (ebd.) beschrieben – wie ein religiöser Fanatiker eben auszusehen und zu sprechen hat. Vom Gefängnis der Inquisition, in das Karim gebracht wurde, „hieß es bei den Bewohnern Córdobas bald, dass jeder, der in die Festung kam, sofort krank würde und innerhalb kürzester Zeit starb“ (S. 441). Am Verhandlungstag in dem Gebäude angekommen, in das er bestellt wurde, geht Hernando einen „klammen düsteren Gang zum Gerichtssaal entlang“ (S. 442), wo eine „bedrückende Stille“ (ebd.) herrscht. Als er Karim sieht, wirkt dieser „schwach, und seine Kleider waren nur mehr Lumpen“ (S. 442). Die Inquisitoren schreien den Angeklagten mit Ausdrücken wie „Vermaledeiter Ketzer!“ (S. 444) an, als er sich weigert, seine Hintermänner zu verraten. Am zweiten Tag der Verhandlung wird Hernando in ein Gewölbe geführt: „Sie [die Inquisitoren] flüsterten miteinander und standen zu Hernandos Entsetzen um eine massive Folterbank herum, daneben die grausamen Werkzeuge aus Eisen, mit denen man die Angeklagten fesseln, ihre Haut abziehen und verstümmeln konnte.“ (S. 445) Karim wird an den Daumen an der Decke aufgehängt. An diesem Tag dauert die Folter nicht sehr lang, aber in den nächsten Tagen geht es weiter: „Nach zwei Tagen unaufhörlicher Qualen hatten sie Karim auf der Folterbank schließlich auch die Arme ausgerenkt“ (S. 449). Und am Tag danach wird er noch einmal „unaufhörlich“ (S. 452) gequält. Hernando kann es kaum verkraften, die Qualen des alten Mannes mit anzusehen, ist aber gleichzeitig stolz auf dessen Widerstandskraft, und macht sich auch Sorgen, dass Karim am Ende doch noch nachgeben könnte: „Und niemand, wirklich niemand konnte dem alten Mann einen Vorwurf machen, wenn er diesen andauernden Qualen nicht mehr trotzen könnte und das preisgäbe, was sie von ihm forderten.“ (S. 452) Es wird mir nicht ganz klar, ob Karim danach noch weitere Male gefoltert wird, bevor im nächsten Abschnitt das abschließende Urteil beschrieben wird. Zu diesem Zeitpunkt ist er jedenfalls bereits dem Tod nahe, weshalb die Inquisitoren auch entscheiden, ihn beim nächsten Autodafé in effigie zu verbrennen, d. h. eine Strohpuppe an seiner statt zu nehmen.

Für meine Analyse interessiert mich natürlich vor allem, wie historisch glaubwürdig diese Darstellung des Prozesses ist.

Zu Mythen über die Spanische Inquisition, die hauptsächlich durch englische Propaganda der frühen Neuzeit entstanden sind, gibt es diese spannende Doku vom BBC:

Die Folter wird ab 14:40 thematisiert, ab 16:37 kommt diese Erklärung eines Historikers:

„Tatsächlich benutzt die Inquisition die Folter sehr selten. In Valencia beispielsweise habe ich unter über 7000 Fällen nur 2 Prozent gefunden, die überhaupt Folter erlebt haben, und normalerweise für nicht mehr als 15 Minuten, und weniger als 1 Prozent, die wiederholte Folter erlitten haben, mit anderen Worten, mehr als einmal. Ich habe niemanden gefunden, der mehr als zwei Mal Folter erlitten hat.“

Ab 17:48 zu Folter und Gefängnissen:

„Sie hatten ein Buch mit Regeln, die Instructiones, die klarstellten, was getan und nicht getan werden konnte. Diejenigen, die die Regeln brachen, wurden gefeuert. Also, die Inquisition röstete nicht, wie behauptet, die Füße ihrer Opfer, oder mauerte sie ein, um für alle Ewigkeit zu schmachten, oder zerschlug ihre Gelenke mit Hämmern, oder räderte sie. Sie benutzten nie die Eiserne Jungfrau. Diese Eiserne Jungfrau hier, eins von nur wenigen Exemplaren, die man betrachten kann, wurde in Deutschland gebaut. Die Inquisitoren vergewaltigten nicht ihre weiblichen Gefangenen, obwohl eine reiche und unbestreitbar beliebte Tradition behauptet, dass sie es taten. Tatsächlich existierte die Folterkammer der Inquisition aus dem populären Mythos nie, auch wenn dieses Bild hier hunderte Male neu gedruckt wurde. Und es war nicht nur der Gebrauch der Folter, der verfälscht wurde. Geschichten wurden auch gesponnen über die entsetzlichen Bedingungen, unter denen Gefangene gehalten wurden. [1. Historiker:] Ironischerweise hatte die Inquisition wahrscheinlich die besten Gefängnisse in Spanien. Das klingt sehr nach Schönfärberei, aber leider ist es wahr. Lassen Sie mich ein Zitat von den Inquisitoren in Barcelona in der Mitte des 16. Jahrhunderts hernehmen, als sie gebeten wurden, über den Zustand ihrer Gefängnisse zu berichten, und sie sagten: ’Unsere Gefängnisse sind voll.’ Aber dann beschweren sie sich bei ihren Bossen in Madrid: ’Wir wissen nicht, wohin wir die übrigen Gefangenen, die wir haben, hinschicken sollen. Wir können sie nicht in die Stadtgefängnisse schicken, weil die Stadtgefängnisse überfüllt sind und da zwanzig pro Woche sterben.’ [2. Historiker:] Ich habe Fälle gefunden von Gefangenen vor weltlichen Strafgerichten, die Gott lästerten, um in das Gefängnis der Inquisition zu kommen, um ihrem… der schlechten Behandlung, die sie im weltlichen Gefängnis erhalten haben, zu entkommen.“

Ab 20:11:

„Die Inquisitoren waren sicherlich Vernehmungsbeamte [mir ist hier keine bessere Übersetzung eingefallen], aber sie waren zurückhaltende Vernehmungsbeamte, skeptisch in Bezug auf die Effektivität von Härten und Folter dabei, Häresie ans Licht zu bringen. Im Vergleich zu vielen anderen Gerichten in Europa erscheinen sie als beinahe aufgeklärt.“

Ach ja, wen es noch interessiert, die Gesamtzahl aller Todesopfer der Inquisition kommt ab 37:00: zwischen 3000 und 5000.

Ist Falcones’ Darstellung also historisch korrekt? Na ja. Es wäre theoretisch möglich, dass das Gefängnis von Córdoba ein Ausnahmefall war und dort viel schlechtere Zustände herrschten als in anderen Gefängnissen der Inquisition in Spanien. Das Urteil, die Verbrennung in effigie des sterbenden Verurteilten, ist glaubwürdig. Es erscheint durchaus als wahrscheinlich, dass Karim zu den 2 Prozent gehört, die während des Prozesses gefoltert wurden, da sein Fall wohl einer der ernsteren Fälle war, die vor die Inquisition kamen; weniger wahrscheinlich erscheint es schon, dass gerade er, ein alter, schwacher Mann, mehr als ein Mal gefoltert wird. Extrem unglaubwürdig wirkt es, dass er an vier oder mehr Tagen gefoltert wird; das Gleiche gilt für die Dauer der Folter. Diese Fehler hier liegen sicher nicht an mangelnder Recherche des Autors; Falcones kennt offensichtlich den Ablauf eines Autodafés und auch viele andere historische Details; er hat sich an dieser Stelle einfach für einen Kompromiss zwischen einer historisch korrekten Darstellung und der „Schwarzen Legende“ entschieden. Vermutlich ist das schon besser als nichts, aber Anlass zu wirklicher Zufriedenheit ist es nicht. Allerdings ist es ein gutes Beispiel für die Tatsache, dass Menschen im Allgemeinen widerlegte liebgewordene Vorurteile eher nur so halb aufgeben.

Übrigens findet Hernando durch seine Tätigkeit als Übersetzer heraus, wer Karim verraten hat: Ein Moriske namens Cristóbal Escandalet, der neu in der Stadt ist, und der für seinen Verrat offenbar reich entlohnt worden ist. Hernando erzählt Hamid davon und daraufhin macht Hamid sich heimlich auf, um dem Verräter seine gerechte Strafe zu erteilen: Er tötet Cristóbal Escandalet auf offener Straße, und nachdem er dann selbst von einem Büttel, der ihn festnehmen will, schwer verletzt wird, gelingt es ihm noch, sich in den Fluss, der durch die Stadt fließt, zu stürzen. Es wird nicht entdeckt, wer er war und wer seine Angehörigen sind, was mich nun wirklich wundert. Eine Leiche aus einem Fluss kann man schließlich bergen, und dann müssten sich in der Stadt doch Leute finden, die sagen können, wer Hamid war, womit auch ein Verdacht auf Hernando fallen würde… aber das geschieht offenbar nicht, weil es nicht in den Verlauf der Handlung passen würde. Die Situation für die Morisken von Córdoba beruhigt sich wieder.

Es geht weiter im Jahr 1581. Während Hernando einen Transport von Zuchtpferden in eine andere Gegend Spaniens begleitet, erkennt Ibrahim endlich eine Gelegenheit, seine lang gehegten Pläne in die Tat umzusetzen. Er hat bei einem seiner Raubzüge Frau und Kind eines spanischen Adligen in seine Gewalt gebracht und verlangt bei den Verhandlungen mit dessen Abgesandten, dass der Adlige ihm hilft, Hernando und dessen Familie aus Córdoba zu entführen und Ubaid, der nach dem Tod des Monfíes-Anführers jetzt selbst zu deren Anführer aufgestiegen ist, zu töten; ansonsten würde er die Gefangenen töten lassen. Also lässt der Adlige Ibrahim heimlich ins Land schleusen, schickt Männer aus, die Fatima, Aischa, Shamir, Francisco und Inés nachts aus ihrem Haus in Córdoba entführen (es wird als Tat von Monfíes dargestellt und die christlichen Nachbarn kommen den Morisken natürlich nicht zu Hilfe) und in ein einsames Landgasthaus bringen, in dem Ibrahim wartet. Auch Ubaid, den andere Männer des Adligen und einige angeheuerte Banditen in den Bergen gefangen genommen haben, wird dorthin gebracht und Ibrahim tötet ihn brutal und lässt seine Leiche in der Nähe verstecken. Dann nimmt er Fatima, ihre Kinder und seinen Sohn Shamir mit nach Tetuan und lässt Aischa, die ihm nicht besonders wichtig ist, zurück, damit sie Hernando berichtet, was mit den anderen geschehen ist. Er ist extrem wütend darüber, Hernando nicht erwischt zu haben.

Als Aischa jedoch nach Córdoba zurückgekehrt ist, berichtet sie Abbas stattdessen, dass Ubaid und seine Räuber die Familie entführt und Fatima und die Kinder in den Bergen getötet hätten, und als Abbas Hernando von dem Pferdetransport zurückgeholt hat, wiederholt sie vor ihrem Sohn dieselbe Geschichte, um zu verhindern, dass der sich auf den Weg nach Tetuan macht und von Ibrahim getötet wird. Da Hernando nun der Verzweiflung nahe ist und Tag für Tag vergeblich in die Sierra Morena reitet, um die Leichen seiner Familie und Ubaids Bande zu finden und an den Räubern Rache zu nehmen, sucht Aischa schließlich selbst wieder nach Ubaids Leiche, und sorgt dafür, dass sie auf einer Landstraße gefunden wird. Als man in Córdoba von dessen Tod erfährt, findet Hernando allmählich wieder zu etwas Frieden. Gegen Abbas jedoch hegt er einen Groll, weil der, entgegen einem Versprechen, Hernandos Familie nicht beschützen konnte, während Hernando fort war.

Wenig später bekommt Hernando Probleme mit einem Grafen, da ein Zuchtpferd aus dem Marstall, das für diesen bestimmt war, zu Tode gekommen ist, und muss kurzzeitig Kirchenasyl in der Kathedrale suchen. Dort betet er nachts heimlich die islamischen Gebete, wie er es Fatima einst versprochen hat. Schließlich begegnet er in der Kathedrale überraschend einem Herzog namens Don Alfonso de Córdoba, und es stellt sich heraus, dass dieser der Gefangene war, dem er im Krieg einst zur Flucht vor dem Korsaren Barrax verholfen hat. Der Herzog stellt ihn unter seinen Schutz und lässt ihm seine besondere Gunst zukommen, und damit endet Teil II.

Jetzt noch kurz zu einer interessanten Stelle in diesem Teil des Romans. Die Reformation wird in Teil II ein paar Mal kurz erwähnt; man erfährt, dass die Inquisition Protestanten verfolgt und dass z. B. eine Schrift Calvins in spanischer Übersetzung kursiert. Einmal, kurz vor dem Inquisitionsprozess im Jahr 1579, unterhält Hernando sich mit Don Julián über die Gemeinsamkeiten zwischen Protestantismus und Islam, und an dieser Stelle schreibt Falcones: „Die Kritik am Papst und am Ablasshandel, die Behauptung, dass jeder Gläubige die Heilige Schrift unabhängig von seiner Stellung innerhalb der Kirche auslegen dürfe, und die kritische Haltung zur Vorherbestimmung waren Gemeinsamkeiten der beiden Religionen, die gegen die Angriffe der katholischen Kirche zu kämpfen hatten.“ (S. 427) Na ja, ich weiß ja nicht genau, wie das mit der Auslegung der Heiligen Schrift im Islam so aussieht, ob man da eher der Ansicht ist, dass man gebildet sein müsste, um den Koran verstehen zu können, oder eher meint, dass der Koran zu jedem spreche, aber… „kritische Haltung zur Vorherbestimmung“?

„KRITISCHE HALTUNG ZUR VORHERBESTIMMUNG“??? Will der mich hier verarschen?

Man muss zugeben, der Protestantismus und der Islam ähneln sich in ihrer Sicht auf das Thema Vorherbestimmung (wobei ich die islamische Sicht nicht so gut kenne wie die protestantische und mich daher mit definitiven Aussagen über sie mal lieber zurückhalte), und sehen beide die katholische Sicht auf dieses Thema kritisch. So könnte man Falcones’ Satz auslegen, wenn man sich sehr, sehr viel Mühe geben würde, eine Auslegung zu finden, die der Wahrheit entspricht. Aber wie versteht man den Satz, wenn man ihn ganz normal liest?

Der Katholizismus würde eine Prädestination lehren und der Protestantismus und der Islam sie ablehnen. So wird der Satz von den Lesern verstanden werden, und eine solche Behauptung ist einfach eine Lüge. Das Ganze wirkt besonders ironisch, wenn man bedenkt, dass einen Absatz weiter oben Calvins Institutio Christianae religionis erwähnt wird.

Für alle, die es noch nicht wissen: Der Calvinismus lehrt mit aller Klarheit eine Prädestination der Menschen zu Himmel oder Hölle, die in Gottes unergründlichem Ratschluss begründet liegt und nicht von den guten oder schlechten Taten eines Menschen abhängig ist. Wenn Gott entschieden hat, dich in die Hölle zu werfen, hat er das eben entschieden, und du kannst nichts dagegen tun. Wenn er entschieden hat, dich in den Himmel aufzunehmen, kannst du auch nichts tun, wodurch du das Heil wieder verlieren würdest. Luther lehrte Ähnliches wie Calvin, wenn auch weniger klar, und freundlicher formuliert; auch er sah den freien Willen als illusorisch an, wie man in seiner Schrift „Vom unfreien Willen“ nachlesen kann. Der Islam scheint nach meinem Eindruck auch eher zu lehren, dass Allah den Willen des Menschen lenke und sein Schicksal vorherbestimme; wobei ich mich da, wie gesagt, nicht so genau auskenne. Der Katholizismus jedenfalls lehrt, dass der Mensch einen freien Willen hat, der vor Gott etwas zählt. Katholische Lehrdokumente, z. B. die des Trienter Konzils (1545-1563), verwenden das Wort „Prädestination“ (Vorherbestimmung) gelegentlich auch, aber in einem anderen Sinn: Gottes Vorauswissen und Vorherbestimmung schließen immer die freien Entscheidungen der Menschen mit ein. Niemand ist unabhängig von seinen Taten für Himmel oder Hölle vorherbestimmt. Wenn man mir nicht glaubt, hier zwei Kanones aus dem „Dekret über die Rechtfertigung“ des Trienter Konzils von 1547: „Kan. 6. Wer sagt, es stehe nicht in der Macht des Menschen, seine Wege schlecht zu machen, sondern Gott wirke die schlechten Werke so wie die guten, nicht nur, indem er sie zuläßt, sondern auch im eigentlichen Sinne und durch sich, so daß der Verrat des Judas nicht weniger sein eigenes Werk ist als die Berufung des Paulus: der sei mit dem Anathema belegt.“ „Kan. 17. Wer sagt, die Gnade der Rechtfertigung werde nur den zum Leben Vorherbestimmten zuteil, alle übrigen aber, die gerufen werden, würden zwar gerufen, aber nicht die Gnade empfangen, da sie ja durch die göttliche Macht zum Bösen vorherbestimmt seien: der sei mit dem Anathema belegt.“. Zitiert nach: Denzinger, Heinrich u. Hünermann, Peter (Hrsg.): Enchiridion symbolorum definitionum et declarartionum de rebus fidei et morum – Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, 46. Aufl., Freiburg im Breisgau 2009.

Bravo, Ildefonso Falcones. Die Aussage, Islam und Protestantismus wären sich einig in einer „kritische[n] Haltung zur Vorherbestimmung“ wäre mit ihrer Verdrehungskunst wirklich einem Jesuiten aus einem Schauerroman des 19. Jahrhunderts würdig.

Eine weitere Stelle will ich noch kurz erwähnen, weil ich sie einfach lustig fand: „’Aber warum sollen wir dabei zusehen, wie unsere Glaubensbrüder und -schwestern verurteilt werden?’ fragte Hernando verständnislos.“ (S. 365; hier will Abbas ihn bewegen, zum Autodafé mitzukommen) Gendersprache Anno 1573! Okay, vielleicht klingt die Formulierung im spanischen Original ja nicht ganz so nach offiziellem Formular oder vom Blatt abgelesenem Predigttext.

Und das war’s auch schon wieder. Im nächsten Teil wird es dann noch mal deutlich „Da-Vinci-Code“-mäßiger, da wird nämlich ein verstecktes altes Manuskript entdeckt…

Update: Weiter geht’s hier.