Die Bibel und „Stille Post“

Manchmal denke ich mir, dass das Spiel „Stille Post“ mehr dazu beigetragen hat, falsche Vorstellungen über Jesus und die Bibel zu säen als alle sonstigen Scheinargumente von Atheisten und Kirchenfeinden.

Die Vorstellung ist quasi: „Eigentlich können wir ja gar nichts über Jesus wissen. Diese Texte über ihn wurden immer und immer wieder abgeschrieben, dabei geht was verloren, dann lässt einer was weg, das ihm nicht passt, oder dichtet was hinzu – am Ende hat das Ergebnis wie beim Spiel Stille Post nichts mehr mit den ursprünglichen Aussagen gemein.“

Der Vergleich ist freilich etwa so stichhaltig wie die Aussage „Schokoladeneis schaut aus wie Schlamm, also schmeckt es auch so“. Wenn man sich Stille Post und die Arbeit antiker und mittelalterlicher Schreiber anschaut, fallen einem doch zuallererst die Unterschiede auf:

  • Bei Stille Post wird extra geflüstert, damit derjenige vielleicht etwas falsch versteht; man will, dass irgendein lustiges falsches Ergebnis herauskommt. Beim Abschreiben der Bibel hatte der Schreiber die Schrift klar vor sich.
  • Bei Stille Post darf niemand nachfragen, wenn er etwas beim ersten Mal nicht verstanden hat. Der Schreiber konnte jederzeit auf das Manuskript vor ihm schauen und kontrollieren, ob er auch kein Wort vergessen hatte.
  • Bei Stille Post geht es genau in einer Linie vom Anfang bis zum Ende. Wenn dabei einer einen Fehler macht, wird dieser Fehler zwangsläufig bis zum Ende weitergegeben; die nachfolgenden Spieler können sich nicht noch einmal an den ersten Spieler wenden, oder an fünf verschiedene Spieler, die das Wort alle direkt vom ersten Spieler gehört haben. Beim Abschreiben der Bibel war es ganz anders. Die ersten Schriften wurden etliche Male abgeschrieben und dann verteilt, dann wurden diese Manuskripte wiederum von verschiedenen Schreibern abgeschrieben. Es bildete sich ein riesiger Stammbaum an Manuskripten heraus. Ein Schreiber konnte entweder ältere Schriften noch einmal kontrollieren, oder parallele Schriften der Seitenstränge. Wenn die jüngeren Schriften irgendwie nicht zusammenpassten, konnte man schauen, was sie gemeinsam hatten (was also wohl authentisch sein musste) und worin sie voneinander abwichen (was zweifelhafter war). Bei Stille Post sind Fehler einkalkuliert; beim Abschreiben von Manuskripten kann ein späterer Schreiber offensichtliche Fehler (wie ein falsch geschriebenes oder ausgelassenes Wort) wieder korrigieren. Es gibt ja diese berühmte englische Bibelausgabe, in der im 6. Gebot („Du sollst nicht ehebrechen“) das Wort „nicht“ vergessen wurde. Falls jemals jemand die Bibel von diesem Manuskript abgeschrieben hat, wird er wohl fähig gewesen sein, diesen Fehler zu korrigieren. Durch bloße Leichtsinnsfehler schleicht sich in solchen langen Büchern kein falscher Sinn ein, dann müssten es schon bewusste Fälschungen sein. Aber auch bewusste Fälschungen wären hier nicht einfach.
  • Bei Stille Post ist es keinem besonders wichtig, etwas haargenau so weiterzugeben, wie es gesagt wurde; im Gegenteil, man will ja über irgendein lustiges Ergebnis lachen. Bei der Bibel wachte dagegen die ganze Kirchengemeinschaft über die unveränderte Weitergabe dieser heiligen Schriften. Wenn ein Kleriker es gewagt hätte, sie nach seinem Belieben umzuschreiben, wären ihm sofort hundert andere Kleriker an die Gurgel gesprungen. Wir sehen das ja auch heute noch: Es gibt kleine Abweichungen z. B. zwischen protestantischen und katholischen Übersetzungen, auch wo diese dieselben Urtexte übersetzen, und die Theologen debattieren diese Abweichungen leidenschaftlich. Diese Abweichungen sind auch bekannt, sie können nicht versteckt werden; einer, der eine neue tendenziöse Übersetzung erstellt, kann nicht alle bisherigen Manuskripte zerstören. Er kann vielleicht seine Leser täuschen, aber nicht alle seiner Gelehrtenkollegen. Es geht aber nicht nur darum, dass man erwischt werden könnte; auch die eigene Scheu vor den heiligen Texten hätte Schreiber daran gehindert, etwas zu verfälschen. Sie sahen ihre Tätigkeit als Dienst an Gott. Das ist etwa so wie heute bei Gesetzestexten; wenn ein Anwalt etwas durchsetzen will, das nicht im Gesetz steht, interpretiert er vielleicht daran herum bis zum Gehtnichtmehr, aber er lässt sich nicht einfach eine verfälschte Ausgabe von BGB oder GG drucken.

Aber gab es früher nicht öfter Fälschungen?, könnte man einwenden. Die Konstantinische Schenkung, die monita secreta… Freilich gab es die; es gibt sie auch heute noch. Aber eher in dem Sinn, dass man eine neue Schrift herbeizauberte, von der dann behauptet wurde, sie sei schon viel älter und wäre in einem alten Klosterarchiv gefunden worden oder in der geheimen Korrespondenz der politischen Gegner. Das Umschreiben bereits weit verbreiteter Schriften wäre viel schwieriger gewesen. So hielten es auch die Sekten, die im 2., 3., 4. Jahrhundert ihre eigenen Evangelien schrieben; sie fügten neue hinzu, und schrieben nicht die alten um. Natürlich hatte nicht jeder Dorfpriester fünfzig verschiedene Bibeln vor sich auf dem Schreibtisch liegen, die er vergleichen konnte, aber Priester, Klöster und Bischöfe hatten bekanntlich Kontakt miteinander. Es konnte gut vorkommen, dass es einem Kleriker nicht auffiel, wenn eine Zeile in einer Ahnenliste im Alten Testament fehlte, weil der Schreiber geschlampt hatte, aber wenn jemand eine wichtige neue Lehre in einem Evangelium eingefügt hätte, wären doch ein paar Leute stutzig geworden.

Tatsache ist, wir haben ja auch eine ziemlich große Zahl von Bibelmanuskripten aus der Antike. Die sind nicht alle lückenlos, aber sie stimmen alle überein. Allein die Liste der antiken Papyri (also Pergamentabschriften nicht mitgezählt) mit Texten des Neuen Testaments ist ziemlich ansehnlich. Und auf einem Fetzen aus dem Jahr 125 n. Chr. stehen dieselben Verse des Johannesevangelium, die ich auch in meinem griechischen Neuen Testament in der Nestle-Aland-Ausgabe sehen kann. Es gibt natürlich ein paar Abweichungen (die in solchen modernen Ausgaben auch alle klitzeklein aufgeführt sind). Da sind so außerordentliche Sachen dabei wie etwa, dass im einen Manuskript „Jesus Christus“ und im anderen „Christus Jesus“ steht.

Es gibt ein paar sehr wenige größere Abweichungen; die mit Abstand größten sind, dass in manchen Manuskripten der Schluss des Markusevangeliums fehlt und in manchen die Geschichte mit der Ehebrecherin in Joh 8. Vielleicht ließ der hl. Markus sein Evangelium zunächst am leeren Grab enden, wo der Engel den Frauen die Auferstehung verkündet, und dachte sich später, in einer neueren „Ausgabe“ könnte er es doch so machen wie die anderen Evangelisten, die mittlerweile ihre Evangelien veröffentlicht hatten, und auch noch eine kurze Zusammenfassung der Erscheinungen des auferstandenen Jesus anfügen. Aber die Auferstehung steht so oder so drin.

Und, das kann man nicht oft genug betonen: Es gibt keine einzige katholische Lehre über Jesus, die allein an irgendeiner zweifelhaften Stelle in den Evangelien hängt, die in manchen Manuskripten fehlt. Es gibt schlicht keine.

Es gibt ein paar Texte in der Bibel, die in unterschiedlichen Überlieferungssträngen ein paar mehr Unterschiede aufweisen; die Psalmen zum Beispiel. Es gibt auch ein paar Bücher, deren Zugehörigkeit zur Bibel zeitweise umstritten war; der 2. Petrusbrief zum Beispiel. Aber auch hier steht keine christliche Lehre auf dem Spiel, und auf die Evangelien trifft schon mal beides nicht zu.

Es ist eine Tatsache, dass die Evangelien, als sie nicht lange nach Jesu Tod um 30 n. Chr., nämlich irgendwann um 40, 50, 60 n. Chr. (Johannes evtl. später)*, geschrieben wurden, so aussahen, wie sie uns auch jetzt vorliegen. Da kann man sie sich jetzt ansehen und sein Urteil darüber fällen, was man von dem Jesus hält, den sie präsentieren, aber man kann nicht behaupten, dieser Jesus wäre eine durch Fehler und Fälschungen im Lauf der Jahrhunderte aufgebaute Karikatur.

Papyrus Bodmer II mit dem Johannesevangelium, um 200 n. Chr.

* Bei der Datierung hilft die Apostelgeschichte, die Lukas als Fortsetzung seines Evangeliums schrieb. Sie endet Anfang der 60er, als Paulus als Gefangener in Rom ist, und erwähnt seinen Märtyrertod nicht mehr, ein immerhin ziemlich wichtiges Ereignis; der logische Schluss ist, dass sie eben Anfang der 60er geschrieben wurde, als er noch nicht tot war. Das Lukasevangelium würde dann auf ungefähr 60 datieren, Matthäus und Markus dürften älter sein. Heute werden alle diese Schriften gerne auf 70-80 n. Chr. datiert, da Jesus die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. voraussagt, und die heutigen Textkritiker davon ausgehen, Er hätte kein zukünftiges Ereignis voraussagen können, und man hätte Ihm diese Aussage im Nachhinein in den Mund gelegt. Dass Jesus nicht der Sohn Gottes sei und die Zukunft nicht habe wissen können, ist aber eine weltanschauliche Behauptung, die man nicht als neutraler Historiker zum Maßstab machen kann, um einen Text zu datieren; wenn, dann muss man nach anderen Hinweisen suchen. (Tatsächlich wäre es sogar, wenn man Jesus nicht für den Sohn Gottes hält, gut möglich, anzunehmen, Er hätte einfach vorausgeahnt, dass auch Jerusalem irgendwann, wahrscheinlich in nicht allzu ferner Zukunft, Krieg und Zerstörung erleben würde; das war keine allzu fernliegende Vorhersagung.) Jesus war ca. 30 n. Chr. hingerichtet worden; die Frühdatierung würde also bedeuten, dass die Evangelien mit höchstens solchem zeitlichen Abstand dazu geschrieben wurden, wie wir ihn zum Mauerfall haben, die Spätdatierung würde einen ähnlichen Abstand wie den von uns zur 68er-Bewegung.

Was Frauen und Kinder dem deutschen Staat wert sind

Ich weiß nicht genau, wie oft ich in den letzten Jahren die Überschrift gelesen habe: „Vergewaltiger bekommt Bewährung“. Gerade eben ist wieder ein (mutmaßlich 16jähriger) Afghane wegen der Vergewaltigung einer 11jährigen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Besonders beliebt scheinen diese Strafen bei Tätern mit – wie sagt man – anderem kulturellen Hintergrund zu sein.

Man muss es einfach sagen: Für den deutschen Staat sind seine Leute nichts mehr wert. Wenn auch nur ein Täter bei Vergewaltigung mit bloßer Bewährung davonkommt, ist eine Grenze überschritten. Der Staat sorgt dafür, dass brutale Triebtäter über ihn lachen, und sich weitere Opfer suchen. (Das führt auch den „Erziehungsgedanken“ im Jugendstrafrecht ad absurdum – was erzieht so jemanden eher, ein paar Jahre Gefängnis oder ein paar Gespräche mit dem Bewährungshelfer?) So etwas wie Sicherheit geht diesem Staat am Arsch vorbei; Politiker haben ja ihre Personenschützer und ihre abgeschotteten Wohnsitze. Die Verletzung und Traumatisierung eines kleinen Mädchens verdient für ihn keine Strafe. Auch im Kleinen sieht man es jeden Tag; keiner interessiert sich dafür, wie es z. B. deutschen Kindern an „Brennpunktschulen“ geht, und ob sie gemobbt oder sexuell bedrängt oder bedroht werden.

Die deutsche Gesellschaft ist da noch humaner eingestellt, aber hilft auch nicht viel. Muss irgendein Albaner oder Afghane oder Nigerianer auch nur befürchten, dass Passanten eingreifen, wenn er eine Frau belästigt, oder dass die Familie eines 14jährigen Mädchens, das er anmacht und dem er falsche Versprechungen macht, sie von ihm fernhält? Nein. Er registriert sehr gut, wie viel deutsche Mädchen ihren eigenen Leuten wert sind, und verhält sich dementsprechend. Natürlich; hier gibt es mildernde Umstände: Notwehr oder Nothilfe wird vom deutschen Staat gerne mal bestraft, und man findet oft nicht genug Leute, die helfen, wenn auf der anderen Seite die 50 Cousins auftauchen, und man traut sich nicht, Teenagern etwas zu verbieten, weil das ja böse wäre. Aber mittlerweile sollten einige Leute da klüger geworden sein und sich wenigstens teilweise anders verhalten.

Es darf so nicht weitergehen. Und wer sich nicht traut, einzugreifen, wenn „junge Männer“ ein Mädchen auf der Straße bedrängen, sollte sich wenigstens trauen, heimlich sein Kreuzchen bei der AfD zu machen, damit etwas mehr Druck für eine andere Politik gemacht wird. So viel wird man als Frau wohl gerade noch verlangen dürfen.

Die frühen Christen (bis 200 n. Chr.), Teil 12: Engel

Wer wissen will, was es mit dieser Reihe auf sich hat, möge bitte diese kurze Einführung hier lesen; knapp gesagt: ich habe Zitate aus christlichen Schriften vom Jahr 95 bis ca. 200 n. Chr. gesammelt, um einen Eindruck von der frühen Kirche zu vermitteln. (In der Einführung findet sich eine Liste mit allen herangezogenen Werken mitsamt ihrer Datierung.)

Alle bisher veröffentlichten Teile gibt es hier.

Bibelstellen zum Vergleich (Auswahl): Lk 1-2; Mt 1-2; Mt 4,11; Mt 18,10-11; Mt 13,49; Jud 1,9; Tob 12; Gen 16,7-12; Gen 19; Gen 21,17f.; Gen 28,12; 1 Kön 19,5-7; 2 Kön 19,35; Ps 34,8; Dan 3,49f.; Dan 14,34-39; Apg 10; Apg 12; Offb.

In den letzten Teilen ging es schon um Endzeit, Auferstehung, Himmel, Hölle usw; und zu den Bewohnern des Himmels zählen ja nicht nur die erlösten Menschen, sondern auch die Engel, reine Geistwesen, die schon vor den Menschen erschaffen wurden. Das Wort „Engel“ bedeutet „Gesandter, Bote“ und zeigt an, was die Engel in Bezug auf uns manchmal sind, nämlich Gesandte Gottes. In der Bibel tauchen sie immer wieder in dieser Rolle auf, und auch bei den frühen Christen ist der Engelglaube eine Selbstverständlichkeit. Es gibt auch von Gott abgefallene Engel, die Dämonen, zu denen auch der Teufel gehört (er ist kein ebenbürtiger Gegner Gottes, sondern nur ein abtrünniges Geschöpf); aber zu ihnen im nächsten Teil. Hier erst einmal ein paar Beispiele für den Glauben an die gut gebliebenen Engel.

Angel with a lamp, 1885 - 1896 - Viktor Vasnetsov - WikiArt.org
(Viktor Vasnetsov, Engel mit einer Lampe.)

Athenagoras von Athen schreibt um 176/177 n. Chr., dass die Engel über die Schöpfung wachen:

„Doch bleibt der theologische Teil unserer Lehre nicht dabei stehen, sondern wir lehren auch eine Menge von Engeln und Dienern, welche Gott, der Schöpfer und Bildner der Welt, durch sein Wort verteilt und aufgestellt hat, damit sie über die Elemente und die Himmel, über die Welt, die Dinge in der Welt und deren Ordnung wachen.“ (Athenagoras, Bittschrift für die Christen 10)

Im „Hirten des Hermas“ (spätestens Mitte des 2. Jh.s) spielen Engel eine zentrale Rolle. Der römische Christ Hermas erhält Offenbarungen von einem Engel der Buße, außerdem wird einmal ein Engel der Strafe erwähnt, und in mehreren Visionen helfen Engel dabei, die Kirche aufzubauen. Dann kommt auch eine Stelle, an der Hermas gesagt wird, dass ein guter und ein böser Engel den Menschen gute bzw. schlechte Eingebungen bringen:

„‚So höre mich denn‘, fuhr er weiter, ‚an über den Glauben. Zwei Engel sind bei dem Menschen, einer der Gerechtigkeit und einer der Schlechtigkeit.‘ ‚Wie nun‘, unterbrach ich, ‚wie nun soll ich, o Herr, ihre Wirkungen erkennen, da doch beide Engel in mir wohnen?‘ ‚Höre‘, erwiderte er, ‚und lerne sie kennen. Der Engel der Gerechtigkeit ist zart, schamhaft, milde und ruhig; wenn nun dieser in deinem Herzen sich regt, spricht er sogleich mit dir über Gerechtigkeit, Keuschheit, Heiligkeit, Genügsamkeit, über jegliche gerechte Tat und über jede rühmliche Tugend. Wenn all dies in deinem Herzen sich regt, dann wisse, dass der Engel der Gerechtigkeit mit dir ist. Denn das sind die Werke des Engels der Gerechtigkeit, diesem also vertraue und seinen Werken. Betrachte nun auch die Werke des Engels der Schlechtigkeit. Er ist vor allem jähzornig, verbittert und unverständig, seine Werke sind böse und verführen die Diener Gottes; wenn also dieser sich in deinem Herzen regt, dann erkenne ihn an seinen Werken.‘ ‚Ich verstehe nicht, o Herr, wie ich ihn erkennen soll.‘ ‚So höre‘, sprach er. ‚Wenn ein Jähzorn an dich kommt oder eine Erbitterung, dann wisse, dass er in dir ist; ferner wenn Begierden kommen, allerlei zu treiben, und mannigfache Ausgaben für reichliche Tafelgenüsse, häufiges und übermäßiges Trinken, für allerlei Leckerbissen und unnötige Dinge, Begierden nach Frauen und Reichtümern; ein übermäßiger Stolz und Prahlerei, und alles, was diesen verwandt und ähnlich ist: wenn also derlei Gedanken in deinem Herzen aufsteigen, dann wisse, dass der Engel der Schlechtigkeit in dir ist. Wenn du dann seine Werke erkannt hast, dann sage dich los von ihm und vertraue ihm nicht, weil seine Werke schlecht und den Dienern Gottes schädlich sind. Nun hast du die Wirkungen beider Engel. Lerne sie kennen und vertraue dem Engel der Gerechtigkeit.“ (Hirte des Hermas 2,6,2,1-6)

Auch der Barnabasbrief (vor 130 n. Chr.) unterscheidet zwischen guten und bösen Engeln:

„Nun wollen wir aber übergehen zu der anderen Erkenntnis und Lehre. Es gibt zwei Wege der Lehre und der Macht, nämlich den des Lichtes und den der Finsternis Der Unterschied zwischen den beiden Wegen aber ist groß. Auf dem einen sind nämlich aufgestellt lichttragende Engel Gottes, auf dem anderen aber Engel des Teufels. Und jener ist Herr von Ewigkeit zu Ewigkeit, dieser aber ist der Fürst dieser gegenwärtigen, gottlosen Zeit.“ (Barnabasbrief 18)

Auch Irenäus von Lyon schreibt um 180 n. Chr. etwas über die Engel. Es gibt eine klare Abgrenzung zwischen den Engeln und ihrem Schöpfer:

„Daß nämlich Engel und Erzengel, Throne und Herrschaften von dem allerhöchsten Gott durch sein Wort geschaffen und gemacht sind, das hat Johannes deutlich kundgetan. Denn nachdem er von diesem Worte Gottes gesagt hat, daß es im Vater war, fügt er hinzu: ‚Alles ist durch dasselbe gemacht worden, und ohne dasselbe ist nichts gemacht worden.‘ […] Daß er aber alles aus freiem Willen und nach seinem Gutdünken gemacht hat, bezeugt wiederum derselbe David, indem er sagt: ‚Unser Gott hat oben im Himmel und auf Erden alles gemacht, wie er es wollte.‘ Schöpfer aber und Geschöpfe, Ursache und Wirkung sind verschiedene Dinge. Er nämlich ist unerschaffen, ohne Anfang und ohne Ende, gebraucht nichts und genügt sich selbst und verleiht allem übrigen das Dasein. Was aber von ihm erschaffen worden ist, hat einen Anfang genommen. Was aber einen Anfang genommen hat, kann auch wieder aufgelöst werden, ist untergeordnet und bedarf dessen, der es erschuf. Also muß auch bei denen, die sich wenn auch nur ein geringes Unterscheidungsvermögen bewahrt haben, ein verschiedener Ausdruck gebraucht werden, so daß der Gott, welcher alles gemacht hat, samt seinem Worte allein rechtmäßig Gott und Herr genannt wird, das Erschaffene aber an diesem Ausdruck keinen Anteil haben noch darauf Anspruch erheben darf, da er allein dem Schöpfer zukommt.“ (Irenäus, Gegen die Häresien III,8,3)

Die Engel dienen immerzu Gott, aber nicht, weil Er sie nötig hätte, und auch unter ihnen gibt es gewisse Hierarchien:

„Die Welt nun aber wird von sieben Himmeln umgeben, in denen die Mächte, die Engel und die Erzengel wohnen und die Pflicht des Dienstes gegen Gott den Allmächtigen, den Schöpfer aller Dinge, erfüllen; nicht als bedürfte er sie, sondern sie sollen nicht untätig, ohne Nutzen und Segen sein. Reichlich ist deswegen das Innewohnen des Geistes Gottes, und vom Propheten Isaias werden sieben Formen Seines Dienstes aufgezählt, welche ruhen auf dem Sohn Gottes, d. h. auf dem Wort bei seiner Ankunft als Mensch. Er sagt: ‚Es wird auf ihm ruhen der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke und der Frömmigkeit, es wird ihn erfüllen der Geist der Gottesfurcht.‘ Somit ist der erste Himmel von oben her, der die andern umschließt, die Weisheit, der zweite hernach der des Verstandes, der dritte der des Rates, der vierte, von oben gerechnet, der der Kraft, der fünfte der der Wissenschaft, der sechste jener der Frömmigkeit, der siebente ist die Feste über uns, die voll ist von der Furcht des Geistes, der die Himmel erleuchtet. Als ein Bild davon ließ Moses den siebenarmigen Leuchter immer im Heiligtum strahlen, gemäß dem, was das Wort geoffenbart hatte: ‚Du sollst ihn genau nach dem Urbild herstellen, welches du auf dem Berge gesehen hast.‘

Nun wird dieser Gott verherrlicht von seinem Worte, welches sein ewiger Sohn ist, und vom Heiligen Geist, welcher die Weisheit des Vaters von allem ist. Und ihre Mächte, die des Wortes und der Weisheit, die Cherubim und Seraphim genannt werden, preisen Gott mit unaufhörlichem Lobgesang, und jegliches Geschöpf, das nur im Himmel ist, bringt Gott, dem Vater von allem, Lobpreis dar. Er hat die ganze Welt durch das Wort gebildet — und auf der Welt sind auch die Engel — und der ganzen Welt schrieb er die Gesetze vor, bestimmte für jedes seinen festen Stand, dessen gottgesetzte Grenze es nicht überschreiten darf, und so vollführt ein jedes die ihm übertragene Aufgabe.

Den Menschen aber bildete er mit eigener Hand. Er verwandte dazu den feineren und zarteren Stoff der Erde und verband in [weisem] Maße miteinander die Erde und seine Macht. Denn er hat dem Geschöpfe seine Form gegeben, damit es in seiner Erscheinung Gottes Bild sei. Als Abbild Gottes setzte er den von ihm erschaffenen Menschen auf die Erde. Damit er Leben empfange, hauchte er in sein Angesicht den Lebensodem, auf daß der Mensch sowohl seiner ihm eingehauchten Seele nach und in seiner Leibesbildung Gott ähnlich sei. Er war folglich frei und Herr über sich selbst durch Gottes Macht, damit er über alles, was auf Erden ist, herrsche. Und dieses große Schöpfungswerk der Welt, das alles in sich barg, von Gott schon vor der Schöpfung des Menschen zubereitet, wurde dem Menschen zum Wohnsitz gegeben. Und es fanden sich an ihrer Stelle und mit ihren Arbeitsleistungen die Diener dieses Gottes, der alles schuf. Und ein Hauswalter hatte als Schützer dieses Gebiet inne, der über die Mitknechte gesetzt war. Die Knechte waren die Engel, der Walter und Schützer aber der Fürst der Engel [ein Erzengel]. (Irenäus, Erweis der Apostolischen Verkündigung 9-11)

Rose Briar // acheiropoietos: Archangel Victor Vasnetsov | Archangels,  Archangel michael, Christian art
(Viktor Vasnetsov, Erzengel.)

Werden Frauen für Fehlgeburten bestraft, wenn Abtreibung illegal ist?

Die einfache Antwort lautet: Nein. (Die umständliche Antwort auch.)

Dieses Szenario gehört zu den Schreckensszenarien, die Abtreibungsbefürworter gerne mal hervorziehen. Die Behauptung, ist, grob gesagt: „Wenn Abtreibungen erst einmal illegal sind, wird eine allgemeine Hexenjagd gegen Frauen losgehen. Wenn du eine Fehlgeburt hast, wirst du sofort unter Verdacht geraten, abgetrieben zu haben. Frauen werden unschuldig ins Gefängnis gehen.“ Das ist natürlich eine ziemlich perfide Taktik, die sogar Frauen, die pro life sind, unsicher werden lassen kann, ob ein Verbot nicht doch unerwünschte Nebeneffekte hätte. Es ist auch leichter, zu argumentieren „ich will nur Kollateralschäden durch das Verbot vermeiden“ als „ich will, dass Abtreibung aus jedem beliebigen Grund zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Schwangerschaft legal ist“.

Besonders hervorgetan hat sich etwa die taz im Februar mit einem Bericht über El Salvador, wobei die Autorin Sarah Ulrich sogar offen lügt und behauptet, eine Fehlgeburt würde nicht nur u. U. mit einer Abtreibung verwechselt, sondern stehe ausdrücklich unter Strafe (!!):

„Totgeburt, Fehlgeburt oder gynäkologischer Notfall – es ist egal, wie eine Schwangerschaft beendet wird, ob gewollt oder ungewollt, ob freiwillig oder unfreiwillig. Stirbt der Embryo oder Fötus, gilt es als Mord oder Totschlag.“

Gut; mit solchen offenen Lügen muss man sich nicht lange aufhalten, aber gehen wir mal nur von der Behauptung aus, dass Fehlgeburten mit Abtreibungen verwechselt werden könnten. Und sehen wir uns dafür die drei Fälle an, die Frau Ulrich heranzieht, um ihre Behauptungen zu untermauern, und die für einiges internationales Aufsehen gesorgt haben, teilweise sogar vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof gebracht wurden. Der erste Fall wird folgendermaßen beschrieben:

„Die Geschichte von Cinthia Marcela Rodríguez Ayala beginnt am 3. Juli 2008. Rodríguez, damals 19 Jahre alt, ist im achten Monat schwanger. Sie lebt in armen Verhältnissen am Rande von San Salvador, arbeitet als Reinigungskraft in einer Textilfabrik.

Die Schwangerschaft hatte sie nicht geplant, das Kind wollte sie trotzdem behalten. Sie sei allein zu Hause gewesen, als das Baby kam. Aber, so erzählt sie es, das Kind war tot. Vom Schock sei sie wie benebelt gewesen, blutend habe sie Hilfe bei einer Nachbarin gesucht. Die bringt sie in die Notaufnahme eines Krankenhauses. Dort wird sie betäubt. ‚Als ich wieder aufwachte, wollte ich mein Baby sehen‘, erinnert Rodríguez sich. ‚Aber ich war gefesselt.‘ Eine Krankenschwester hatte die Polizei gerufen: wegen illegaler Abtreibung.

Drei Tage verbringt sie im Krankenhaus, bevor sie in das Frauengefängnis von Ilopango gebracht wird. Dort beginnt ihre Befragung. Angezeigt ist sie nun nicht mehr nur wegen Abtreibung, sondern, so steht es in den Gerichtsakten, nach Artikel 129-1 in Verbindung mit Artikel 20 des Strafgesetzbuchs wegen ‚homicidio agravado‘. Schwere Tötung. […]

Die Prozessakten zeichnen das Bild einer Mörderin. Rodríguez habe das Neugeborene beim Durchschneiden der Nabelschnur mit einer Schere tödlich verletzt. Ein Beweis dafür sei, dass die Leiche des Babys später in einer Tasche gefunden wurde. Aber: Die Nabelschnur war bereits bei der Geburt um den Hals des Babys gewickelt. Rodríguez selbst sagt, das Neugeborene sei bereits bleich gewesen, sie habe die Schnur durchgeschnitten, um dem Kind zu helfen.

In den Akten wird sich auf die Obduktion der Leiche berufen. Demnach sei das Baby an Verletzungen am Hals durch die Schere, mit der die Nabelschnur durchtrennt wurde, verstorben.

Aber: Es gibt einen weiteren Bericht, den ein unabhängiger Gerichtsmediziner auf Anfrage von Rodríguez’ Unterstützer:innen, denn diese gibt es auch, verfasst hat. Auf Grundlage der Prozessakten und des vorliegenden Obduktionsberichts hat er den Fall erneut bewertet. Beide Berichte liegen der taz vor.

Der Verfasser, Professor und Direktor der Forensik an der Universität von Kentucky, kommt darin zum Schluss, dass die im Obduktionsbericht angeführten Gründe dafür, dass Rodríguez ihr Baby getötet haben soll, medizinisch nicht haltbar sind. Ein sogenannter Float-Test der Lunge, der klären sollte, ob das Baby bei der Geburt bereits tot war oder noch lebte, sei ‚unzuverlässig‘, so der Arzt. Der Obduktionsbericht aus El Salvador, der eine Grundlage für Rodríguez’ Verurteilung war, komme zu falschen Schlüssen.“

Rodriguez wurde dann zu 30 Jahren Haft verurteilt, später auf 10 Jahre reduziert, ist mittlerweile wieder auf freiem Fuß.

Fassen wir also die Fakten zusammen, wie sie der Polizei und dem Gericht vorlagen:

  • Eine Frau kommt ins Krankenhaus, die offenbar gerade ein Kind geboren oder abgetrieben hat; ihr Kind hat sie nicht bei sich.
  • Das Kind wird später tot in einer Tasche gefunden, mit schweren Verletzungen am Hals.
  • Laut Obduktion waren es diese Verletzungen, die seinen Tod herbeiführten, und es hat bei der Geburt noch gelebt.
  • Die Mutter behauptet, sie habe dem Kind die Verletzungen aus Versehen zugefügt, als sie die um seinen Hals gewickelte Nabelschnur durchgeschnitten habe; es sei bei der Geburt bereits tot gewesen.
  • Ein von Unterstützern der Mutter angeheuerter Gerichtsmediziner aus den USA behauptet (offenbar ohne die Leiche selbst angesehen zu haben, nur auf Grund der Aktenlage), die Obduktion stelle nicht mit hinreichender Sicherheit die Todesursache fest; er beruft sich darauf, dass der sog. Float Test, der dazu benutzt wird, zu sehen, ob ein Kind jemals geatmet hat, fehleranfällig sei. (Laut Wikipedia führt dieser Test in 2% der Fälle zu falschen Ergebnissen und in 98% zu korrekten. Das entspricht auch einer Studie von 2013, die feststellt, dass er bei 208 getesteten Neugeborenen in 204 Fällen zu einem korrekten Ergebnis geführt habe und in 4 Fällen zu einem falsch negativen. Falsch negativ heißt aber, dass der Test zum Ergebnis kam, das Kind sei tot geboren worden, obwohl es kurz noch gelebt hatte. Falsch positive Ergebnisse, also Fälle, in denen ein totgeborenes Kind als Lebengeburt diagnostiziert wurde, hat diese Studie nicht gefunden.)

Alle diese Indizien führen die Ermittler zu dem Schluss, dass die Mutter mit hinreichender Sicherheit ihr Kind lebend geboren, es mit der Schere getötet und in der Tasche versteckt hat. Also wird sie verurteilt. Klipp und klar gesagt: Ein solcher Fall hätte auch in Deutschland zu einer Anklage und wahrscheinlich zu einer Verurteilung geführt. Ist es möglich, dass der Float Test falsch positiv war UND Rodriguez das Kind aus Versehen noch schwer verletzt hat UND die Leiche dann versteckt hat, vielleicht aus Angst oder Verstörtheit? Vielleicht. Die Wahrscheinlichkeit wirkt aber sehr gering. In jedem Fall handelt es sich aber um keine Verurteilung wegen einer Fehlgeburt, auch nicht wegen einer Abtreibung, sondern wegen Tötung nach Lebendgeburt, die in buchstäblich jedem Land dieser Welt unter Strafe steht.

Sehen wir den zweiten Fall in dem taz-Artikel an:

„Manuela, der zum Schutz öffentlich ein anderer Name gegeben wurde, ist eine Frau, die aus einer armen, ländlichen Gegend kam. Sie war Analphabetin, lebte mit ihrer Familie in prekären Verhältnissen. Auch sie war zuvor wegen schwerer Tötung an ihrem Neugeborenen inhaftiert worden. Am 28. Februar 2008 hatte die Polizei die Leiche des Babys in einer Klärgrube nahe ihrem Haus gefunden. Umgebracht hatte sie es nicht, das Kind war bereits tot, als es auf die Welt kam. Dennoch wurde auch Manuela zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Noch zwei Jahre lebte sie in Gefangenschaft, bevor sie 2010, mit Handschellen an das Krankenhausbett gefesselt, an Lymphkrebs verstarb.“

Auch hier: Ein Kind wird tot aufgefunden, unter noch krasseren Umständen als im ersten Fall, nämlich in einer Klärgrube (!!). Die Mutter behauptet, es sei bei der Geburt schon tot gewesen, das Gericht urteilt, es habe noch gelebt und sei dann getötet worden. Mehr erwähnt Frau Ulrich nicht.

Dann lässt der Artikel die Frauen, die wegen Tötung nach Lebendgeburt verurteilt wurden, hinter sich, und konzentriert sich auf eine dritte Frau, die wegen medizinischer Probleme während der Schwangerschaft eine Abtreibung wollte:

„Beatriz selbst lebt nicht mehr [Anmerkung: Weiter unten wird erwähnt, dass sie später einen Verkehrsunfall hatte]. Doch der Arzt, der sie behandelte, spricht bereitwillig über den Fall. Doktor Guillermo Ortiz Opas hat inzwischen das Land verlassen. Zu massiv waren die Anfeindungen gegen ihn und seine Familie, zu sehr zweifelte er an dem medizinischen Ethos im Land. Als er ein Jobangebot in den USA bekam, überlegte er nicht lange und wanderte aus. Das Interview findet per Zoom statt. In einem roten Poloshirt, mit grauem Bart und schwarzer Hornbrille sitzt er in seinem neuen Zuhause in North Carolina vor dem Computer. […]

Ob er verbotene Abtreibungen vorgenommen hat? ‚Ich habe versucht, Frauen zu helfen, egal in welcher Situation‘, sagt Ortiz. ‚Sonst wären viele Frauen gestorben.‘ Mehr will er nicht sagen. […]

2013 kam Beatriz in das Krankenhaus. Ihr eigentlicher Name ist anders, zu ihrem Schutz wird auch sie öffentlich anders genannt. Der taz liegt der richtige Name vor, ihr Facebook-Profil ist noch immer online. Inzwischen ist Beatriz an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben.

Als sie zu Doktor Ortiz kommt, ist Beatriz 20 Jahre alt und in der 12. Woche schwanger. Der Fötus jedoch ist unterentwickelt, ohne Gehirn. Es ist klar, dass er außerhalb des Uterus nicht über­leben würde.

Und auch Beatriz war in Lebensgefahr. Mit 18 wurde bei ihr die Autoimmunerkrankung Lupus diagnostiziert. Ihr Körper war schwach, schon ihre erste Schwangerschaft löste bei ihr die lebensbedrohliche Erkrankung Präeklampsie mit Bluthochdruck aus. Damals überlebte ihr Sohn, doch diesmal war es anders. Ein medizinisches Komitee aus 13 Fach­ärz­t:in­nen unter der Leitung von Doktor Ortiz war sich sicher: Der Fötus würde eine Geburt nicht überleben. Und Beatriz würde während der Schwangerschaft sterben.

Aber sie wollte leben.

‚Eine geheime Abtreibung war nicht möglich, weil alle von dem Fall wussten‘, sagt Doktor Ortiz. Der juristische Weg war der einzig mögliche. Ortiz überredete den Klinikdirektor und andere Kolleg:innen, ihn zu unterstützen. Sie schrieben Briefe, an den Gesundheitsminister, an das Menschenrechtsbüro. Die einzige Antwort, so erzählt es Ortiz: ‚Wir können euch nicht helfen.‘

Deshalb riet er Beatriz, ihn auf unterlassene Hilfeleistung zu verklagen. Er und die Anwälte sahen darin den einzigen juristischen Weg, sie zu retten. Wenn das Gericht entschied, dass Dr. Ortiz ihr helfen müsse, dann müsste es auch anordnen, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. ‚Es war eine schlimme Zeit für mich‘, erzählt der Arzt heute. ‚Ich wurde angegriffen, im Krankenhaus wollte niemand mit mir sprechen, weil niemand mit dem Fall zu tun haben wollte.‘

Am 11. April 2013 reicht Beatriz die Klage ein. Sie fühlt sich immer schwächer. Die Zeit wird knapp, denn es ist klar, dass der Gesundheitszustand ab der 28. Schwangerschaftswoche noch schlechter würde. 81 Tage später die Entscheidung: Eine Abtreibung ist und bleibt illegal.

Er will ihr helfen – also entscheidet er sich für einen minimal invasiven Kaiserschnitt, um den Fötus zu entfernen. Der Eingriff gelingt. Beatriz überlebt, der Fötus stirbt fünf Stunden später. Verurteilt wird niemand. Ortiz hatte, in dem er das Baby durch Kaiserschnitt lebend zur Welt brachte, einen Weg gefunden, die Illegalität zu umgehen.“

Um das Ganze zusammenzufassen:

  • Eine Frau ist schwanger und krank; bei einer früheren Schwangerschaft war sie auch schon krank, hat aber zusammen mit ihrem Kind überlebt.
  • Ihr Arzt (der schon öfter illegale Abtreibungen vorgenommen hat) behauptet, sie würde eine Fortsetzung der Schwangerschaft nicht überleben.
  • Weil das Gericht die Abtreibung nicht erlaubt, besteht die Schwangerschaft noch einige Monate fort, bis das Kind so weit ist, dass (wäre es ansonsten gesund) es mit etwas Glück außerhalb des Mutterleibs überleben könnte; es wird legalerweise per Kaiserschnitt auf die Welt geholt und stirbt Stunden später – nicht wegen der frühen Geburt, sondern wegen seiner Fehlentwicklung.
  • Die Frau überlebt (und stirbt später an den Folgen eines Verkehrsunfalls – die taz erwähnt erst ihren Tod und versteckt ein paar Absätze weiter unten die Ursache).

Mit anderen Worten: Obwohl es der Frau wohl nicht gut ging, war eine Abtreibung nicht nötig gewesen, sondern ein völlig legaler früher Kaiserschnitt genügte, und sie überlebte. Der Arzt, der diesen Fall evtl. auch als Gelegenheit für seinen Pro-Abtreibungs-Aktivismus nutzen wollte, hatte sich verschätzt oder bewusst übertrieben, als er ihr Angst machte und behauptete, ohne Abtreibung laufe sie in den sicheren Tod. (Damit, dass das Kind an seiner Fehlbildung sterben würde, hatte er offenbar recht; aber auch hierbei kommt es ja immer wieder dazu, dass Ärzte fehlerhafte Diagnosen stellen und ein angeblich behindertes Kind sich bei der Geburt als kerngesund herausstellt.)

Und so ist es ja auch in anderen Fällen. Auch Frauen mit gesundheitlichen Problemen, mit Präeklampsie und dergleichen, sind nicht einfach dem sicheren Tod geweiht, sondern haben in vielen Fällen überlebt, wenn sie dem Drängen ihrer Ärzte auf Abtreibung nicht nachgaben. Es besteht (heutzutage freilich nur noch in seltenen Fällen) ein Todesrisiko, das Ärzte, die nicht wollen, dass man ihnen hinterher vorwirft, einer Patientin nicht genug geholfen zu haben, gern zum sicheren Tod aufbauschen. In solchen Fällen ist es (aus katholischer Sicht jedenfalls, also auch aus meiner Sicht) nicht in Ordnung, das Kind dem sicheren Tod zu überliefern; ein Risiko für A wiegt nicht den sicheren Tod für B auf. Es ist aber in Ordnung, es früher auf die Welt zu holen, wenn das Risiko für die Frau, bei der Fortsetzung der Schwangerschaft zu sterben (bzw. auch das Risiko, dass gleich beide sterben), größer ist als das Risiko für das Kind, nach einer Frühgeburt zu sterben – hier handelt es sich ja nicht um eine gewollte Tötung, sondern man nimmt nur ein Risiko, das man nicht will, aus einem verhältnismäßigen Grund in Kauf.

Ich sollte hier der Ehrlichkeit halber erwähnen, dass viele Länder mit sehr strengen Abtreibungsgesetzen – Polen oder Malta zum Beispiel – Abtreibungen bei Lebensgefahr für die Mutter noch erlauben bzw. die Einleitung einer Frühgeburt erlauben, auch wenn das Kind noch nicht lebensfähig ist, die Mutter also nicht einmal ein solches Risiko auf sich nehmen muss und die allermeisten Abtreibungen trotzdem verboten bleiben. (Und diese Länder haben eine extrem geringe Müttersterblichkeit im weltweiten Vergleich.) Ich halte es hier aber aus den genannten Gründen mit dem Totalverbot à la El Salvador. Das wird in manchen Fällen dazu führen, dass das Kind stirbt, in manchen Fällen dazu, dass die Mutter stirbt, beides wird nicht gewollt sein, und in den meisten Fällen werden beide überleben; insgesamt wird es bei dieser Regelung am wenigsten Tote geben.

Tatsächlich geht, wenn es in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft Komplikationen gibt, ein Notkaiserschnitt sogar viel schneller und ist damit gefahrloser als eine Abtreibung, bei der das Kind erst noch umständlich vergiftet oder sonstwie getötet wird, bevor man es aus dem Mutterleib herausholt.

In der 22. Woche geborenes Kind.

Wenn man sich anschaut, welche Fälle Abtreibungsbefürworter herausziehen, um ihre Sicht zu stützen, kann man also schon deutlich sehen, dass es mit ihren Behauptungen nicht weit her sein kann. Besseres finden sie offensichtlich nicht. (Um das noch einmal zu betonen: Ich habe hier nur die Informationen genutzt, die die Abtreibungsbefürworter selbst eingestehen mussten. In anderen Fällen muss man weiter recherchieren – z. B. gab es in den USA einen Fall, in dem eine Mutter vor Gericht gestellt wurde, weil sie ihr ungeborenes Kind durch Drogenkonsum geschädigt hatte. Aber hier ist es selbst aus den Behauptungen der Aktivisten klar.) Und das kann man auch sehen, wenn man das Ganze einmal vernünftig durchdenkt.

Extrem viele Frauen erleiden Fehlgeburten; auch bei einer traditionell eingestellten katholischen Mutter, die nacheinander 6 Kinder bekommt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie einmal eine Fehlgeburt hat. Das wissen Frauen, das wissen Ärzte, das weiß die Gesellschaft. Wenn man bei jeder Fehlgeburt anfangen würde, zu ermitteln, säße bald die Hälfte der weiblichen Bevölkerung zwischen 15 und 50 in Untersuchungshaft und man bräuchte hunderttausende Polizisten. (Das wissen auch die Frauen in El Salvador – Frau Rodriguez erzählt in dem taz-Artikel davon, dass sie selbst im Frauengefängnis als Kindermörderin gegolten habe und die anderen Frauen, die z. B. wegen Bandenkriminalität einsaßen, nichts mit ihr zu tun haben wollten.)

Der taz-Artikel selbst erwähnt, dass in El Salvador zwischen 2000 und 2019, also in 20 Jahren, 181 Frauen wegen Abtreibung angeklagt worden seien (also nur angeklagt, nicht einmal verurteilt, und selbst diese Zahlen stammen von der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung) – und das bei einer Bevölkerung von 6,5 Mio.

Könnte es trotzdem einmal vorkommen, dass ein Arzt wegen Verdachts auf Abtreibung Anzeige erstattet, wenn eine Frau tatsächlich eine Fehlgeburt hatte? Rein theoretisch wäre es möglich – ich könnte mir z. B. den Fall vorstellen, dass eine Frau ins Krankenhaus kommt, die sich auf irgendeine dumme Weise verletzt hat und daraufhin eine Fehlgeburt hatte, und bei der es so aussieht, als hätte sie sich die Verletzungen bewusst zugefügt, um die Fehlgeburt auszulösen (wobei Ärzte sicher wissen, welche Verletzungen typischerweise selbst zugefügt sein können und welche eher nicht). Aber auch in einem solchen Fall würde in jedem normalen Staat gelten: Im Zweifelsfall für die Angeklagte. Und bei Fällen, in denen Abtreibungen nicht von Fehlgeburten zu unterscheiden sind, würde man gar nicht erst anfangen zu ermitteln. Das Resultat ist natürlich, dass einige Frauen abtreiben und damit durchkommen werden; aber daran kann man, wie bei anderen Verbrechen, leider nichts ändern. Was nicht resultiert: Dass Frauen wegen einer Fehlgeburt als Mörderinnen verurteilt werden.

Zum Vergleich: Auch beim plötzlichen Kindstod kann man manchmal nicht ausschließen, dass die Eltern den Tod des Kindes irgendwie herbeigeführt haben. Aber im Normalfall wird es keine Ermittlungen geben; und kein Mensch würde sagen, dass Ermittlungen bei wirklichen Verdachtsfällen unterbleiben sollten, weil man hier auch gegen unschuldige Eltern ermitteln könnte. Dafür ist ja der Ermittlungsprozess da, dass Schuldige überführt und Unschuldige entlastet werden.

Abtreibungsbefürworter behaupten auch manchmal, wenn Abtreibung verboten wäre, würde damit auch die Entfernung des Kindes bei einer Eileiterschwangerschaft oder die Entfernung eines toten, aber noch nicht abgegangenen Kindes aus der Gebärmutter verboten. Auch hier handelt es sich um eine offene Lüge. Nehmen wir einmal das viel kritisierte, relativ neue Gesetz aus Texas, das Abtreibungen verbietet, sobald ein Herzschlag festzustellen ist (ca. 6. Woche). Da heißt es ausdrücklich:

„Eine Handlung ist kein Schwangerschaftsabbruch, wenn sie in der Absicht vorgenommen wird,
(A) das Leben eines ungeborenen Kindes zu retten oder seine Gesundheit zu erhalten;
(B) ein totes ungeborenes Kind zu entfernen, dessen Tod durch einen Spontanabort verursacht wurde; oder
(C) eine Eileiterschwangerschaft zu entfernen.“

(Bei einer Eileiterschwangerschaft könnte das Kind nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft normalerweise nicht überleben, weil der Eileiter schlicht zu klein ist und irgendwann reißen wird, was normalerweise zu starken inneren Blutungen, zum Tod des Kindes und evtl. dem der Mutter führt. Es gibt nur extrem, extrem seltene Berichte davon, dass das Reißen des Eileiters nicht zu weiteren Komplikationen geführt hat und das Kind dann im Bauchraum überlebt hat, aus der Eileiterschwangerschaft also eine Bauchhöhlenschwangerschaft wurde; Ronan Ingram ist ein Beispiel. Aus katholischer Sicht ist hier das Entfernen des Eileiters erlaubt, weil man dabei ein Organ entfernt, das krank ist und Probleme machen wird, und den Tod des Kindes nicht beabsichtigt. Die Abwägung ist recht klar: Man hätte auf der einen Seite den fast zu 100% sicheren Tod des Kindes und Lebensgefahr für die Mutter und auf der anderen Seite den zu 100% sicheren Tod des Kindes und Lebensrettung für die Mutter. Also ist zwar keine direkte Tötung, aber eine indirekte Tötung erlaubt. (Keine Einigkeit unter den Moraltheologen herrscht dazu, ob evtl. auch das Entfernen nur des Kindes, solange es dabei nicht zerstückelt wird o. Ä., erlaubt wäre, statt das Entfernen des ganzen Eileiters, oder ob das schon eine direkte Tötung wäre. Aber diese Frage ist hier nicht so wichtig; beides ist durch solche Gesetze erlaubt und beides rettet die Mutter.))

Man sollte auch erwähnen, dass viele Pro-Life-Gesetze nur den Arzt, der eine Abtreibung vornimmt, mit Strafe bedrohen, und die Mutter ausdrücklich davon ausnehmen. Ich finde das nicht ideal; eine Mutter, die ihr ungeborenes Kind getötet hat, sollte genauso behandelt werden wie eine Mutter, die ihr geborenes Kind getötet hat. Aber es ist so. Und wenn Abtreibungsbefürworter mit solchen Gesetzen, die nur dem Arzt Strafe androhen, zufrieden wären, um die Möglichkeit auszuschließen, dass Mütter wegen einer Fehlgeburt belangt werden, könnten wir uns gerne vorläufig auf diesen unvollkommenen Kompromiss einigen.

PS: Bei einer ungewollten Schwangerschaft helfen in Deutschland Organisationen wie Pro Femina mit Beratung und tatkräftiger Unterstützung. Es gibt auch Beratung und Hilfe, wenn man nach einer Abtreibung mit Trauer und Reue nicht klarkommt, z. B. bei der Aktion Leben, s. hier oder hier.