Menschenwürde: Christentum vs. Säkularismus

Das Wort „Menschenwürde“ ist wahrscheinlich einer der am meisten verwendeten und am meisten höhnisch missbrauchten und inhaltsleersten Begriffe in der Politik. Eigentlich schade; denn es hatte einmal eine sinnvolle Bedeutung, als es noch von Christen verwendet wurde.

Das christliche Konzept der menschlichen Würde beruht zunächst darauf, dass der Mensch nach dem Abbild Gottes geschaffen ist. Und was bedeutet das konkret? Dass er mit Vernunft und Willen begabt ist, das Wahre, Gute und Schöne erkennen und sich dafür entscheiden kann. (Das trifft auch auf die Menschen zu, die aktuell nicht den Vernunftgebrauch haben, z. B. kleine Kinder, Behinderte, Demente, Schlafende; denn er ist in ihrer Seele angelegt und wird sich spätestens dann zeigen, wenn ihre Seele im Jenseits nicht mehr von einem kaputten/ruhenden/unentwickelten Körper gehemmt ist.) Aber da ist nicht nur die Gottesebenbildlichkeit, sondern erst recht die Tatsache, dass Gott die Menschen so sehr liebt, dass Er selbst eine menschliche Natur mit Seiner göttlichen Natur vereinigt hat, um für uns zu sterben und aufzuerstehen. In der alten Messe wird bei der Vermischung des Weines mit ein wenig Wasser – ein Zeichen dafür, dass die Menschen in Christus eingehen wie das Wasser in den Wein – vom Priester gebetet: „Gott, du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert; lass uns durch das Geheimnis dieses Wassers und Weines teilnehmen an der Gottheit dessen, der Sich herabgelassen hat, unsere Menschennatur anzunehmen, Jesus Christus“ usw. Unsere Würde kommt uns also dadurch zu, wie Gott uns gemacht hat, aber auch dadurch, wie Er uns erlöst hat und wozu Er uns noch erheben will.

Das christliche Konzept enthält daher auch einen Anspruch an die Menschen: Sie sollen sich ihrer Würde entsprechend verhalten und nicht auf das Niveau vernunftloser Tiere herabsinken. (Die Tiere haben ihren Platz; aber wir sind nicht sie.) Es ist eine Rechenschaftspflicht gegenüber Gott da; sie sollen mit Seinen Gaben sorgsam umgehen, sich ihrer Aufgabe in der Welt bewusst sein und sich auf ihren Endzweck (eben Gott selbst) ausrichten. Daher sind nach der christlichen Ansicht z. B. auch Selbstmord, Masturbation oder Trunksucht gegen die menschliche Würde.

Freilich ist diese Würde auch ein Schutz gegen Verzweckung durch andere Menschen. Ein im Mittelalter verwendetes Argument gegen die Sklaverei/Leibeigenschaft bzw. für die Rechte von Sklaven/Leibeigenen lautete z. B., dass der Mensch vorrangig Gott gehöre, da er Gottes Abbild trage, wie die Münze mit dem Abbild des Kaisers vorrangig dem Kaiser gehöre. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“, hatte Jesus bekanntlich den Pharisäern geantwortet, die ihn gefragt hatten, ob man dem Kaiser Steuern zahlen dürfe.

Das säkulare Konzept ist nicht ganz klar; es beinhaltet anscheinend u. a. das vage Gefühl, dass Strafen nicht zu hart sein dürften und jeder ein Mindestmaß an Sozialleistungen bekommen sollte.

Sozialleistungen sind natürlich erst einmal gut, aber sind tatsächlich keine unbedingte Folgerung aus der Menschenwürde: Wenn ein Volk insgesamt sehr arm oder unterentwickelt ist, kann es auch keine staatlich verteilten Sozialleistungen finanzieren; ebenso ist es in Ordnung, diese an vernünftige Bedingungen zu knüpfen. Armut ist der Ausgangszustand, und aller Wohlstand muss erst durch Arbeit von einzelnen Menschen erschaffen werden. Aber gut: Es entspricht tatsächlich der Menschenwürde, dass nach Möglichkeit keiner hungrig auf der Straße sitzen sollte – vor allem unschuldig hungrig auf der Straße sitzen sollte -, wenn man es vermeiden kann.

Beim Thema Strafen ist die Diskussion interessanter, denn eine Bibelstelle zum Thema Menschenwürde behandelt gerade dieses Thema, nämlich Gen 9,6. Gott sagt nach der Sintflut zu Noah u. a.: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden. Denn nach Gottes Bild hat Gott den Menschen geschaffen.“ Hier wird die Todesstrafe für Mörder gerade mit der Menschenwürde ihrer Opfer begründet: Sie sind wertvoll, und deswegen verdienen sie auch volle Sühne; ihnen soll Gerechtigkeit widerfahren. (Man könnte solche Strafen sogar mit der Würde der Täter begründen: Denn sie sind vernunftbegabte Menschen, hätten es besser wissen müssen, und müssen nun voll und ganz die Verantwortung übernehmen und für ihr Verbrechen geradestehen. Die Todesstrafe ist aus Sicht keines Theologen verpflichtend für Mörder, es kann Gründe für Begnadigungen oder andere Strafen geben, aber sie ist eine mögliche angemessene Strafe.) Harte Strafen sind jedenfalls im Allgemeinen nicht gegen die Menschenwürde von Mördern, Vergewaltigern, Brandstiftern oder Entführern; man könnte z. B. gegen früher verwendete grausame Arten von Hinrichtungen eher argumentieren, dass sie eine schlechte Wirkung auf die Henker haben, sie an Grausamkeit gewöhnen, aber gegen humane Formen der Todesstrafe kann man auch das nicht einwenden.

[Die Todesstrafe ist ein sehr kontrovers diskutiertes Thema, wobei natürlich die Frage hineinspielt, welche Art der Strafe dem Täter eher zur Reue verhilft, und ob man auf härtere Strafen verzichten sollte, wenn man den Schutz der Gesellschaft durch geringere Strafen sicherstellen kann. Ich will das hier in diesem Artikel nicht im einzelnen diskutieren, sondern mich darauf beschränken, festzustellen: Die Todesstrafe ist nicht per se gegen die Menschenwürde und zu allen Zeiten und unter allen Umständen abzulehnen, auch wenn ein Volk z. B. in seiner Verfassung entscheiden kann, sie in der Praxis nicht mehr anzuwenden und man als Christ gegen ihre heutige Anwendung sein kann. Wer mehr zu dem Thema aus katholischer Sicht lesen will, dem sei das Buch „By man shall his blood be shed“ von Edward Feser und Joseph M. Bessette empfohlen.]

Außerdem taucht im säkularen Konzept oft die Ansicht auf, wegen der Menschenwürde brauche es unbegrenzte Freiheit, jeder müsse sich selbst definieren können (auch z. B. sein eigenes Geschlecht aussuchen dürfen). Aber das ist noch viel weniger Würde, sondern Irrsinn. Wir haben gerade keine unbegrenzte Herrschaft über die Welt, sondern müssen erst einmal nehmen, was auf uns einprasselt, ob es angenehm ist oder nicht. Und wenn man sich selbst völlig selbst definieren könnte, was wäre man dann noch? Dann hätte man kein Wesen, sondern wäre nur ein instabiles formloses Etwas – nein, nicht mal das, man wäre überhaupt nicht. Man kann Würde nur als das haben, was man ist.

Richtige Menschenwürde gibt es nur als Würde durch und unter Gott; nicht, wenn man sich selbst zu Gott macht.

Denn was bleibt von der säkularen Menschenwürde letztlich übrig? Sie ist auf Sand gebaut, genauer, auf den noch verbliebenen vagen christlichen Hinterlassenschaften einer Gesellschaft, die Christus ablehnt. Was würde der typische Säkularist sagen, wenn jemand ihn auffordern würde, seine Anschauung zur Menschenwürde von Grund auf zu erklären? Er würde vielleicht mit Art. 1 Grundgesetz kommen; aber das ist natürlich Blödsinn. Die Verfasser des Grundgesetzes waren selbstverständlich der Ansicht, mit Art. 1 GG etwas anzuerkennen, das in der Realität bereits existiert, nicht, eine neue Realität zu schaffen, an die man sich eben halten müsste, nur weil sie es sagen. Wie würde ein Säkularist also begründen, dass Menschenwürde unabhängig vom Grundgesetz existiert und schon vor ihm oder außerhalb seines Geltungsbereiches existierte?

Viele Säkularisten versuchen es mit dem Schlagwort „Empathie“: Schmerzen und unangenehme Gefühle sind etwas offensichtlich Schlechtes; keiner mag sie, und man sollte auch anderen nicht das zumuten, was man selbst nicht will. So weit, so gut; aber ohne weitere Prinzipien gerät man schnell an Grenzen. Soll jeder das bekommen, was er selbst will, auch wenn es ihm schadet (z. B. Drogen)? Oder soll jeder das bekommen, was ihm am wenigsten unangenehme Gefühle bereitet, auch wenn er es nicht will? Damit könnte man z. B. auch begründen, einen leidenden kranken Menschen gegen seinen Willen schmerzlos zu töten. Sollen Tiere und Menschen gleich behandelt werden, weil sie alle Schmerzen spüren können? Aber dann müsste man entweder allgemein den Mord erlauben, oder Katzen auch daran hindern, Mäuse zu töten. Reine Empathie ist auch nicht das gleiche wie Würde; sie gibt einem nichts Wertvolles, Erfüllendes, auf das man sein Leben ausrichten soll – Schmerzvermeidung ist nicht Lebenssinn.

Die säkulare Menschenwürde ist am Ende nicht haltbar. Wieso sollte ein begabter, erfolgreicher säkularer Mensch nicht in einer verdrehten Denkweise sagen „ha, ich leiste doch mehr als so mancher mit Behinderung, also halte ich mich auch für mehr wert“? Oder wieso sollte ein deprimierter säkularer Mensch nicht sagen „wir sind offensichtlich nur winzige Wesen, die bald wieder zu Staub zerfallen und von Maden gefressen werden; wieso sollten wir irgendetwas wert sein? Also dröhne ich mich mit Drogen zu und hoffe, bald tot zu sein“? Die menschliche Würde muss auch einen Sinn und Zweck haben, und den hat sie in Gott.

Ecce homo – Seht, da ist der Mensch.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..