Die Päpstin, Teil 1: Der böse Patriarch, die schöne Heidin, die weise Kräuterfrau und der tolerante Philosoph

Ich hatte hier ja angekündigt, mal wieder einen (pseudo-)historischen Roman mit Kirchenbezug anzuschauen und eine gewisse Auswahl zur Verfügung gestellt; entschieden habe ich mich jetzt sowohl für „Die Päpstin“ (bitteschön, Ulrich) als auch für die „Die Ikone des Kaisers“ (bitteschön, Nepomuk); heute erst mal zur Päpstin.

Donna Woolfolk Cross‘ Roman mit dem Originaltitel „Pope Joan“ wurde 1996 veröffentlicht und 2009 verfilmt. Er beruht auf der Legende von einer „Päpstin Johanna“, die aus dem 13. Jahrhundert stammt; diese Päpstin sollte im 9. Jahrhundert gelebt haben und wurde i. d. R. mit Johannes VIII. identifiziert. (Dass sich hinter der Legende keine historische Wahrheit verbirgt, sollte bekannt sein. Vielleicht schreibe ich am Ende meiner Rezension noch etwas über die ursprüngliche mittelalterliche Legende, die ja eigentlich nicht so feministisch gemeint war wie der Roman.)

(Darstellung der Päpstin Johanna, hier als „Johannes der sibend“, d. h. „der siebente“ bezeichnet, in der Schedelschen Weltchronik von 1493; Quelle: Wikimedia Commons.)

Das Buch beginnt bei Johannas Geburt in einem kleinen Ort namens Ingelheim im Frankenreich im Jahr 814. Der Prolog wird aus der Sicht der Hebamme Hrotrud geschildert, die an einem kalten Wintertag zum Haus des Dorfpriesters gerufen wird, dessen Frau einen Monat zu früh mit ihrem dritten Kind in den Wehen liegt. (Im Frühmittelalter gab es tatsächlich häufiger verheiratete Priester und sogar Bischöfe, obwohl es schon in der Antike Beschlüsse zum Klerikerzölibat gegeben hatte; erst im Zuge der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts setzte  man den Zölibat wieder strenger durch. Das Thema wird auch im Prolog kurz erörtert: „Zuerst hatte es für ziemlichen Wirbel gesorgt, daß ein Priester sich eine Frau genommen hatte. Einige Leute sagten, es würde gegen das Gesetz verstoßen; denn der Kaiser habe eine Verordnung erlassen, die es Männern der Kirche untersagte, sich Frauen zu nehmen. Andere jedoch erklärten, so könne es nicht sein; denn es liege ja auf der Hand, daß ein Mann ohne Frau allen Arten sündhafter Verlockungen und verderbten Lastern ausgesetzt wäre.“ (S. 8.)) Der Priester wird als „ein dunkelhaariger Mann mit dichten, buschigen Augenbrauen, die ihm einen ständigen Ausdruck von Strenge verliehen“ beschrieben – und es wird gleich klar, dass er der Böse ist. Als Hrotrud seiner Frau Gudrun ein Schmerzmittel geben will, damit sie sich entspannen kann, wirft er es ins Feuer:

„Der Dorfpriester machte ein düsteres Gesicht. Er nahm Hrotrud das Bilsenkraut aus der Hand, umrundete die Trennwand und warf das  Kraut ins Herdfeuer, wo es zischend verbrannte. ‚Du versündigst dich gegen Gott, Weib.‘

Hrotrud konnte  es nicht fassen. Da hatte es sie Wochen anstrengender Suche gekostet, um diese kleine Menge der kostbaren Medizin zu sammeln, und nun so etwas! Sie wandte sich dem Dorfpriester zu und wollte ihrem Zorn Luft machen, hielt dann aber inne, als sie den harten, kalten Blick in seinen Augen sah.

‚Zur Frau sprach der Herr: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären‘, sagte er und klopfte zur Bekräftigung seiner Worte mit der Hand auf den Einband des Buches [seiner Bibel]. ‚So steht es geschrieben. Eine solche Medizin ist gottlos!'“ (S. 10)

Ich warte schon gespannt auf die Szene, in der der Dorfpriester den Ingelheimer Bauern unter Berufung auf den anderen Teil des Fluches aus dem Buch Genesis den Gebrauch von Pflügen und anderem den Ackerbau erleichternden Gerät verbietet. (Zum Menschen sprach er: Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem ich dir geboten hatte, davon nicht zu essen, ist der Erdboden deinetwegen verflucht. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens Dornen und Disteln lässt er dir wachsen und die Pflanzen des Feldes wirst du essen. Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zum Erdboden zurückkehrst; denn von ihm bist du genommen, Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.“ (Genesis 3,17-19)) Vermutlich warte ich vergeblich. Ernsthaft, wie kommt die Autorin auf solche Ideen?

Im Prolog erfährt man auch schon etwas über Johannas familiären Hintergrund. Ihr Vater ist ein ursprünglich aus England stammender Missionar, und auch ihre Mutter kommt von weit her:

„Wie lange war es jetzt her, dass der Dorfpriester diese sächsische Frau mit nach Ingelheim gebracht hatte? Zehn Winter? Elf? Nach fränkischen Maßstäben war Gudrun schon damals nicht mehr jung gewesen – sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig vielleicht – ; aber wunderschön mit ihrem langen, weißgoldenen Haar und den blauen Augen der alienigenae [lateinisch für „Ausländer“, „Fremde“]. Gudrun hatte ihre ganze Familie bei dem Massaker in Verden an der Aller verloren. Tausende von Sachsen waren an jenem Tag lieber gestorben, als die Wahrheit Unseres Herrn Jesus Christus als ihren Glauben anzunehmen. Verrückte Barbaren, dachte Hrotrud. Das wäre mir nicht passiert. Sie hätte auf alles geschworen, auf das zu schwören man von ihr verlangt hätte – und so würde sie auch heute noch halten, sollten die Barbaren jemals wieder über das Frankenreich hinwegfegen. Sie würde auf sämtliche fremden und schrecklichen Götter schwören, die von diesen Schlächtern angebetet wurden. Was machte das schon aus? Wer wusste denn, was im Innern eines Menschen wirklich vor sich ging? Eine Hebamme und Kräuterfrau behielt nicht nur ihre Geheimnisse, sondern auch ihre Meinung für sich.“ (S. 11f.)

Okay, Hrotrud ist mir schon mal genauso unsympathisch wie Hernando aus „Die Pfeiler des Glaubens“. Sie bezieht sich übrigens auf die Sachsenkriege unter Karl dem Großen.

Wie auch immer, das Kind wird trotz einiger Komplikationen schließlich geboren, und zur großen Enttäuschung des Vaters ist es ein Mädchen. Er geht sogar so weit, es „eine Strafe Gottes. Eine Strafe für meine Sünden – und die ihren [Gudruns]“ (S. 15) zu nennen. Am Ende des Prologs kann die Autorin es nicht lassen, ihn auch noch „Durch eine Frau entstand die Sünde“ (S. 16; nach Sirach 25,24) zitieren zu lassen. So, nachdem wir Genesis und Sirach hatten, fehlen jetzt nur noch 1 Timotheus 2,11-15, 1 Korinther 14,33-35, und vielleicht Epheser 5,22-33, 1 Korinther 11,3-16 und 1 Petrus 3,1-7. Das sollte doch bald abzuhandeln sein.

Es geht dann weiter, als Johanna fünf Jahre alt ist; die nächsten paar Kapitel folgen ihr über die nächsten Jahre ihrer Kindheit. Gleich das erste Kapitel zeigt erneut die Brutalität ihres Vaters: Als er mitbekommt, wie ihre Mutter Johanna heimlich Geschichten über die sächsischen Götter – Wotan usw. – erzählt, schlägt er Gudrun, beschimpft sie und bedroht sie, zwingt sie, auf Sächsisch zu sagen, dass sie dem Teufel und den sächsischen Göttern widersagt, und schneidet ihr langes blondes Haar ab, weil sie es gerade offen getragen hat, was er sonst nicht erlaubt. („Das Haar einer Frau, sagte der Dorfpriester, ist das Netz, in dem der Teufel die Seele eines Mannes fängt.“, S. 19.)

Johanna hat bereits zwei ältere Brüder, Matthias und Johannes, und der ältere, Matthias, erklärt ihr nach diesem Vorfall, dass ihre Mutter früher eine Heidin gewesen sei und man nicht an fremde Götter glauben und auch nicht von ihnen sprechen dürfe, weil es sie gar nicht gebe.

„‚Ja‘, unterbrach Matthias die kleine Schwester. ‚Mama mußte zum Wohl ihrer Seele bestraft werden. Und sie hat ihrem Ehemann nicht gehorcht, und auch das ist ein Verstoß gegen Gottes Gesetz.‘

‚Warum?‘

‚Weil es so in der Heiligen Schrift steht‘, erwiderte Matthias und zitierte: ‚Denn der Gatte ist der Beherrscher des Weibes; deshalb sollen die Weiber sich in allen Dingen dem Manne unterwerfen.‘

‚Warum?‘

‚Wa-warum?‘ Matthias war perplex. Diese Frage hatte ihm noch niemand gestellt. ‚Na ja, ich nehme an, weil… weil Frauen von Natur aus den Männern unterlegen sind. Männer sind größer, stärker und klüger.'“ (S. 24)

Okay, Epheser 5,23f. hätten wir damit. Um ein bisschen pingelig zu sein: In der Vulgata steht „caput“, was besser mit „Haupt“ als mit „Beherrscher“ übersetzt wird, und der Mittelteil dieser Verse wird von Matthias ausgelassen, („denn der Mann ist das Haupt der Frau wie auch Christus das Haupt der Kirche ist. Er selbst ist der Retter des Leibes. Wie aber die Kirche sich Christus unterordnet, so sollen sich auch die Frauen in allem den Männern unterordnen.“) (ganz abgesehen von den Versen drumherum).

Matthias ist allgemein sehr freundlich zu seiner Schwester und die wissbegierige Johanna kann ihn etwas später dazu überreden (obwohl er zuerst auch der Meinung ist, dass das für Mädchen nichts sei), ihr im Geheimen Lesen, Schreiben und Latein beizubringen, was er von seinem Vater lernt. Sie überzeugt ihn mithilfe der Legende von der heiligen Katharina von Alexandria, die sehr gelehrt gewesen und 50 heidnische Philosophen in einem Disput besiegt haben soll, bevor sie das Martyrium erlitt, dass daran nichts Schlimmes sein könne, wenn ein Mädchen etwas lernt. Als Johanna rasche Fortschritte bei ihren geheimen Studien macht, schenkt Matthias ihr einen selbstgeschnitzten Anhänger an einer Halskette, der die heilige Katharina darstellt.

Doch dann erkrankt Matthias an einem Fieber und stirbt nach kurzer Zeit. Die hochfliegenden Pläne des Priesters für seinen älteren Sohn (er wollte ihn an die Palastschule in Aachen schicken, damit er dort ausgebildet und später auch Kleriker werden könnte) werden nun auf den nächsten Sohn, Johannes übertragen, der sich mit dem Lesen und dem Latein allerdings deutlich schwerer tut und Angst davor hat, dorthin geschickt zu werden. Als Johanna auf die Idee kommt, ihrem Vater vorzuschlagen, dass sie in Matthias‘ Fußstapfen treten könnte und ihm zeigt, dass sie in der Bibel lesen kann,  rastet er aus, schlägt sie und wirft ihr vor, an Matthias‘ Tod schuld zu sein; Gott hat seiner Meinung nach ihren Bruder für ihre für ein Mädchen widernatürliche Wissbegier bestraft.

Eine Stelle hier ist vielleicht noch interessant: Kurz nach Matthias‘ Tod zwingt der Vater die beiden Kinder, stundenlang auf der Gebetbank zu knien, um Buße zu tun, und Johanna betrachtet dabei das Kruzifix, das ihr Vater aus England mitgebracht hat:

„Doch trotz aller Ausdruckskraft war die Gestalt grotesk. Johanna wußte, dass sie angesichts des Opfers Christi von Liebe und Ehrfurcht erfüllt sein sollte; statt dessen fühlte sie sich von dem Anblick abgestoßen. Verglichen mit den schönen und starken Göttern ihrer Mutter sah diese Gestalt häßlich, zerbrochen und besiegt aus.“

Und das ist der Punkt, liebe Johanna. Ein Opfer sieht nicht schön aus.

(Vielleicht interessiert es auch jemanden, dass ihre Mutter ihr unter anderem davon erzählt hat, wie Wotan eins seiner Augen opferte, um aus der Quelle der Weisheit trinken zu dürfen, das nur am Rande.)

Einige Zeit später kommt ein Gelehrter, der auf dem Weg zur Domschule von Mainz ist, in Ingelheim vorbei und kehrt als Gast im Haus des Priesters ein. Aeskulapius ist Grieche und musste wegen der Auseinandersetzungen um den Ikonoklasmus aus Konstantinopel fliehen. Als Johanna ihn bei einem Gespräch mit ihrem Vater sagen hört, dass das logische Nachdenken von Gott gewollt sei und nicht von ihm fortführen könne („Ein fester Glaube braucht keine Furcht; denn falls es Gott gibt, kann die Vernunft uns nur zu ihm führen. Cogito, ergo Deus est, sagte der heilige Augustin. Ich denke, also gibt es Gott.„, S. 46) ist sie sehr erleichtert, weil sie das als Beweis dafür nimmt, dass sie nicht an Matthias‘ Tod schuld gewesen sein könne. „Heute Abend, als sie Aeskulapius zuhörte, hatte Johanna entdeckt, daß ihre Liebe zum Wissen weder sündhaft noch wider die Natur war, sondern eine unmittelbare Folge der dem Menschen von Gott geschenkten Fähigkeit, logisch und vernunftbestimmt zu denken. Ich denke, also gibt es Gott. Im Herzen spürte Johanna die Wahrheit, die in diesem Zitat lag.“ (S. 47) Gut; ihr Vater wollte ihr ja nur einreden, dass es für Frauen widernatürlich sei, zu viel zu lernen, was sie schon lange durch die Geschichte von der heiligen Katharina widerlegt hätte – aber egal. Aeskulapius wirkt jedenfalls recht sympathisch. Im Gespräch wendet er offenbar gern die sokratische Methode der Maieutik („Hebammenkunst“) an, um den Gesprächspartner durch gezieltes Nachfragen dazu zu bringen, selbst die Wahrheit zu erkennen.

Bevor der Gast wieder geht, will der Priester ihm noch seinen Sohn präsentieren, in der Hoffnung, dass Johannes an der Domschule in Mainz aufgenommen werden könnte. Aber Johannes versagt kläglich, als er über die lateinische Grammatik des Donatus ausgefragt wird und verhaspelt sich, als er aus dem Rätselkatechismus des Alkuin aufsagen soll. Als Johannes bei einer Frage einfach nicht mehr weiterweiß, platzt Johanna schließlich mit der Antwort heraus. Ihr Vater ist wütend, aber Aeskulapius befragt sie weiter, lässt sie aus der Bibel vorlesen und sie erklären, was das Gleichnis vom Senfkorn bedeuten könnte. Er ist beeindruckt von ihrer Intelligenz. Er erklärt ihrem Vater, dass Johannes es vielleicht zu einem Geistlichen niederen Ranges bringen könnte, aber nicht weiter, dass Johanna aber außergewöhnlich begabt sei und er ihr Tutor werden möchte.

„‚Natürlich nicht an der scola‘, fuhr Aeskulapius fort, ‚denn das würde man ihr nicht gestatten. Aber ich werde es so einrichten, daß ich alle zwei Wochen hierherkommen kann. Und ich werde ihr Bücher besorgen, damit sie in der Zwischenzeit ihren Studien nachgehen kann.'“ (S. 53)

Das ist natürlich völliger Unsinn. Im 9. Jahrhundert pendelte man nicht einfach mal so regelmäßig allein von Mainz nach Ingelheim, wenn man nicht musste. Laut Google Maps sind das zwar bloß 15km, was man damals in ein paar Stunden schaffte, aber hatte Aeskulapius auf seinen langen Reisen denn nie Probleme mit Wegelagerern und dergleichen? Und wie kommt er auf die Idee, dass er einfach Bücher aus der Dombibliothek in irgendein Dorf mitnehmen und an ein Kind verleihen dürfte? Noch Jahrhunderte später waren Bücher so teuer, dass sie in Bibliotheken angekettet wurden, damit sie nicht gestohlen werden konnten; erst recht während der Karolingischen Renaissance, wo sich die Kultur (im Westen) gerade erst von den Wirren der Völkerwanderungszeit erholte. Realistisch wäre es gewesen, wenn Aeskulapius Johannas Vater vorgeschlagen hätte, sie zur Erziehung in ein Nonnenkloster zu geben, vielleicht in eins der Benediktinerinnen. Nun waren die meisten Nonnen im Frankenreich vielleicht nicht so gelehrt wie ein Philosoph aus Konstantinopel; aber sie hätten Johanna durchaus einiges beibringen können, die Bildungsreform Karls des Großen hatte auch Einfluss auf die Frauenklöster. Das Buch hätte so weitergehen können, dass Johanna Nonne wird, später mal Novizenmeisterin oder Äbtissin, seltene Handschriften sammelt, Mädchen in Latein und den sieben freien Künsten unterrichtet, Heilkräuter züchtet, medizinische, theologische und philosophische Werke verfasst, und zur Ratgeberin eines Fürsten wird. Oder so. Solche Frauen gab es im Mittelalter tatsächlich (im Gegensatz zu Päpstinnen).

(Die hl. Hildegard von Bingen diktiert ihrem Schreiber Vollmar eine göttliche Eingebung; Miniatur aus dem Rupertsberger Codex; Quelle: Wikimedia Commons)

Wie auch immer. Ihr Vater will nur zulassen, dass Aeskulapius sie unterrichtet, wenn er auch Johannes unterrichtet, und Aeskulapius gibt schließlich nach.

An dieser Stelle wird ein kurzes Kapitel eingeschoben, das in Rom am päpstlichen Hof spielt und wohl die Intrigen und die Korruption dort illustrieren soll. Ein adeliger römischer Junge namens Anastasius bekommt mit, wie sein Onkel Theodorus, einer der Würdenträger des Papstes, von der päpstlichen Miliz ermordet wird. (Erwähnenswert ist hier auch folgende Stelle, die vermutlich die Rückständigkeit des Mittelalters zeigen soll, aber eher das oberflächliche Geschichtswissen der Autorin zeigt: „Vor Anastasius, an einer Wand der Großen Halle, hing eine riesige mappa mundi, eine mit Anmerkungen versehene Wandkarte, auf der die ganze Welt abgebildet war, und zwar in ihrer tatsächlichen Form: als flache Scheibe, die von den Meeren umgeben war.“ (S. 56f.) Tatsächlich wusste man das ganze Mittelalter über, dass die Erde eine Kugel war; die Existenz flacher Weltkarten widerlegt das ebensowenig, wie flache Karten in unseren Atlanten zeigen, dass wir an eine flache Erde glauben. Inwiefern einem zehnjährigen Jungen die Gestalt der Erde damals bewusst war, weiß ich natürlich nicht; aber dennoch ist diese Stelle irreführend.)

(Schematische Darstellung des Weltalls, mit der Erdkugel in der Mitte und den Himmelssphären um sie herum, im Hildegardis-Codex)

Nach diesem kurzen Einschub geht es bei Johanna weiter. Aeskulapius kommt wie versprochen alle zwei Wochen, um die Kinder zu unterrichten. Aber hier zeichnet sich schon ein neuer Konflikt ab: Johannas Mutter ist ganz und gar nicht begeistert davon, was da geschieht.

„Offensichtlich entging Gudruns Haltung auch Aeskulapius nicht; doch führte er ihre Ablehnung darauf zurück, daß der Unterricht Johanna davon abhielt, ihren häuslichen Arbeiten nachzukommen. Johanna aber kannte den wirklichen Grund für Gudruns Unmut: Ihre Studien waren ein Verrat an jener Welt, die sie allein mit der Mutter teilte – die Welt der Sachsengötter und der uralten Geheimnisse dieses Volkes. Indem Johanna die lateinische Sprache lernte und christliche Texte studierte, entfremdete sie sich der einen Hälfte ihres Selbst, ihrer Herkunft, und verbündete sich mit jenen Dingen, die ihre Mutter haßte wie sonst nichts auf der Welt: dem christlichen Gott, der ihre Heimat und ihre Familie zerstört hatte. Und – was noch wichtiger war -, Johanna verbündete sich mit dem Dorfpriester, der für dies alles stand.

In Wahrheit aber beschäftigte Johanna sich vor allem mit vorchristlichen, klassischen Texten. Aeskulapius bewunderte und schätzte die ‚heidnischen‘ Schriften des Cicero, Seneca, Lucanus und Ovid, die von den meisten Gelehrten seiner Zeit als Irrlehren und Ketzerei betrachtet wurden. Er lehrte Johanna, Griechisch zu lesen und sich mit den uralten Texten des Menander und Homer zu beschäftigen, deren Dichtkunst der Dorfpriester schlichtweg als ‚heidnische Blasphemie‘ betrachtete. Johanna dagegen hatte sich noch nie die Frage gestellt, ob Homers Texte  mit den Grundsätzen der christlichen Lehre vereinbar waren oder nicht. Aeskulapius hatte sie gelehrt, die gedankliche Klarheit und den Stil zu schätzen – und eben darin zeigte sich Gott; denn Homers Werke waren von göttlicher Schönheit.“ (S. 64)

Das halte ich für unglaubwürdig, mit Verlaub. Ein Kind – gerade ein kluges Kind – würde einem Lehrer sehr wohl die Frage stellen: Ist das denn jetzt wirklich passiert? Oder sind das bloß Märchen? Dürfen wir die lesen? Oder dienen wir damit den heidnischen  Göttern, um die es da geht? Aeskulapius würde ihr wohl mit Nein, ja, ja, nein antworten (bzw. sie zu diesen Antworten hinführen), und die Sache wäre erledigt, aber es ist unglaubwürdig, dass sie die Fragen nicht stellt.

Ein weiterer Kritikpunkt: Es wird nie so ganz klar, was genau Johanna an ihrem Unterricht fasziniert. Sicher, viele verschiedene Fächer und Werke können faszinieren, aber man wüsste doch gern Genaueres darüber, was sie am liebsten lernt. Die meisten Leute interessieren sich weniger für Wissen und Bücher im Allgemeinen, sondern mehr für dieses Thema oder dieses Buch. Ich war auch immer wissbegierig und besserwisserisch und konnte mit der Schule mehr anfangen als andere Kinder, und als ich ein Kind war, habe ich mich mal für Dinosaurier begeistert, dann für Vulkane, dann für die Kinderbibel, aber eben immer eher für konkretes Wissen als für Wissen an sich. Und  als in der sechsten Klasse die griechischen Sagen durchgenommen wurden, habe ich sie daheim auch mal in einer relativ ausführlichen Version gelesen, und fand sie ganz in Ordnung, wenn auch nicht so spannend wie andere Bücher, und mochte dabei Hektor und Kassandra besonders, und Penelope und Telemachos eigentlich auch, und konnte Paris und Helena nicht leiden. Was fasziniert Johanna denn an der Ilias oder der Odyssee?, frage ich mich. Mit welcher Seite im Trojanischen Krieg fiebert sie mit? Ist sie auch gespannt, ob es Penelope gelingen wird, die Freier hinzuhalten, bis ihr verschollener Mann zurückkehrt? Was hält sie von all den Göttern, die sich in den Krieg einmischen? Ist sie manchmal gelangweilt, wenn sie zur griechischen Grammatik mit ihren hunderttausend Zeitformen zurückkehren soll, statt zu erfahren, wie es mit Odysseus‘ Irrfahrten weitergeht? Hat sie um ihn gebangt, als die Zyklopen vorkamen? Gibt es Stellen bei Cicero oder Lucanus, die ihr weniger gefallen als andere? Mag sie Ovids Metamorphosen? Wenn sie mit Matthias die Bibel gelesen hat, was hat ihr daran gefallen? Wollte sie den Herrn Jesus kennenlernen? Seine Gleichnisse und Reden ergründen? Wollte sie wissen, wie die Apostel lebten und den Glauben verbreiteten? War sie vielleicht fasziniert von Martha und Maria aus Betanien, da Jesus Maria in Schutz nahm, als sie lieber Ihm zuhörte, statt mit ihrer Schwester die Hausarbeit zu tun? Oder fühlte sie mit Jairus mit, als dessen kleine Tochter im Sterben lag und dann tatsächlich starb, als er noch dabei war, Jesus zu holen, der sie dann aber sogar von den Toten auferweckte? Grauste es sie, als sie von den Leiden Jesu las? Was fasziniert Johanna? Will sie mehr über Gott erfahren? Über den Aufbau der Welt? Über die Heiligen? Mag sie Geschichten lieber, oder eher Rätsel, oder logische Disputationen? An diesem Punkt der Handlung erfährt man darüber gar nichts.

Dann noch ein Wort zum Thema Ketzerei, Heidentum und Blasphemie. Zunächst mal nehme ich nicht an, dass die meisten Gelehrten dieser Zeit tatsächlich die heidnischen Schriftsteller verachteten. Laut Wikipedia (ja, ja, ich weiß, es ist Wikipedia) waren während der Karolingischen Bildungsreform besonders nachgefragt „Ovid und Vergil, daneben wurden unter anderem Sallust, Quintus Curtius Rufus, Sueton und Horaz wieder zunehmend gelesen“; und in Aeskulapius‘ Heimat, dem Byzantinischen Reich, gehörten die Werke Homers ganz selbstverständlich zu einer anständigen Bildung. Man schätzte antike Autoren, auch wenn diese Christus noch nicht gekannt hatten. Natürlich gab es auch Christen, die alles Heidnische ablehnten; aber nicht so viele, wie es hier dargestellt wird.

Im Übrigen sind Ketzerei, Heidentum und Blasphemie ganz unterschiedliche Dinge, auch wenn manche Leute, wie Donna Woolfolk Cross, diese Begriffe nie auseinanderhalten können:

Ketzerei / Irrlehre / Häresie: Ein Ketzer / Irrlehrer / Häretiker ist ein Christ, der einzelne christliche Lehren verdreht. Wenn ein getaufter Christ leugnet, dass Gott dreifaltig ist, wird er zum Ketzer; die Leugnung der Dreifaltigkeit ist Ketzerei. Die meisten Ketzer in der Geschichte waren Theologen, so etwa Luther. Homer konnte noch gar kein Ketzer sein, weil er kein Christ war, ebenso Cicero.

Heidentum: Sammelbegriff für alle vorchristlichen Religionen außer dem Judentum. Heidnisch sind etwa die römische, griechische, sächsische, hinduistische, aztekische, oder keltische Mythologie.

Blasphemie: Gotteslästerung. Eine Sünde, aber keine, die unbedingt eine falsche Lehre über Gott beinhaltet.

Und noch eine Sache: Könnten wir bitte endlich den Namen von Johannas Vater erfahren? Es nervt, ihn immer bloß „der Dorfpriester“ nennen zu müssen.

Jetzt aber weiter im Text. An einem der Tage, an denen Aeskulapius kommt, findet im Dorf eine Hexenprobe statt: Hrotrud, die Hebamme, die inzwischen alt und steif geworden ist und sich ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit dem Verkauf von Heilkräutern verdient, wird verdächtigt, dem Müller Arno eine Krankheit angehext zu haben. Sie wird daher von den Dorfleuten, die der Priester anführt, in den Dorfteich geworfen:

„Falls die gefesselte Hrotrud zur Oberfläche des Teiches aufstieg und auf ihm trieb, hatte das vom Dorfpriester gesegnete Wasser sie zurückgewiesen, womit Hrotrud als Zauberin und Hexe entlarvt und auf der Stelle verbrannt wurde. Ging sie jedoch unter, war ihre Unschuld bewiesen, und sie war gerettet.“ (S. 69)

Hrotrud geht natürlich unter; aber als man sie wieder herauszieht, ist sie schon tot und hat nichts mehr davon. Johanna hat den Eindruck, dass ihr Vater direkt enttäuscht ist, dass Hrotruds Unschuld bewiesen wurde. Später bei ihrem Unterricht spricht sie mit Aeskulapius über die Hexenprobe, und er bringt sie darauf, dass man mit einem Prozess mit Beweisen, Zeugenbefragungen und einer nach logischen Prinzipien durchgeführten Untersuchung ohne eine solche Probe Hrotruds Unschuld hätte beweisen können.

Nun stimmt es, dass Hexenprozesse nicht erst zur Zeit des Hexenwahns in der Frühen Neuzeit neu erfunden wurden; es ist auch nicht unglaubwürdig, dass es sie in der karolingischen Zeit gelegentlich gab, angesichts der Tatsache, dass sich die Bischöfe auf der Synode von Paderborn im Jahr 785 dazu gedrängt sahen, zu beschließen, dass, wer vom Teufel verleitet nach Art der Heiden behaupte, dass es Hexen gäbe, und diese verbrenne, selbst mit dem Tod bestraft werden sollte. (Auch den Sachsen wurde übrigens von Karl dem Großen die Hexenverfolgung untersagt.) Was somit allerdings unglaubwürdig ist, ist, dass ausgerechnet Johannas Vater diese Hexenprobe anführt. Er ist kein ungebildeter fränkischer Bauernsohn, der ein paar Worte Latein gelernt hat und schnell mal geweiht wurde; er ist extra als Missionar von England gekommen und war auf weiten Missionsreisen unterwegs; er war auch schon in dem berühmten Kloster Lindisfarne und besitzt selbst mindestens drei Bücher (Bibel, Rätselkatechismus des Alkuin, lateinische Grammatik des Donatus); sprich, er hat offenbar eine gewisse theologische Bildung, und hat Kontakte zu Bischöfen; er müsste also schon einmal von der Synode von Paderborn gehört haben, und er ist schließlich entschieden gegen alles Heidnische; wieso also nicht gegen den Hexenglauben?

Und was tut eigentlich der Bischof von Ingelheim, während das Ganze sich abspielt? Es gibt ein paar merkwürdige Andeutungen im Buch, die auf die Existenz eines Bischofs von Ingelheim hinweisen. Johanna hat ihr Wissen über die heilige Katharina aus einer Predigt des Bischofs; und schon im Prolog heißt es: „Vom Bischof abgesehen, dessen Haus aus Stein errichtet war, besaß niemand in Ingelheim ein schöneres Zuhause.“ (S. 9) Und an einer einzigen Stelle wird Johannas Vater nicht als „der Dorfpriester“, sondern „der Domherr“ (S. 48) bezeichnet.

Was kann nun dahinter stecken? Laut Wikipedia war Ingelheim zwar Königspfalz und Karl der Große kam drei- oder viermal dorthin; davon, dass es auch Bischofssitz gewesen wäre, steht in der Internetenzyklopädie allerdings nichts, und die Handlung macht insgesamt mehr Sinn, wenn man davon ausgeht, dass der nächste Bischof erst in Mainz sitzt. Der Bischof taucht weiter nirgends auf, obwohl man diese Figur gut hätte verwenden können, um entweder einen Kontrast zu Johannas Vater aufzubauen (was sich dank der Katharina-Geschichte angeboten hätte) oder den Eindruck vom Klerus als dem bösen Patriarchat zu verstärken. Ich vermute, dass die Autorin zunächst einen Bischof in Ingelheim haben wollte, bevor ihr dann aufgefallen ist, dass es da keinen gab (oder dass er doch nicht in ihr Schema passte), und dass sie vergessen hat, ihn an allen Stellen aus dem Manuskript zu tilgen. Gerade die Bezeichnung des Priesters als „Domherr“ macht eben gar keinen Sinn – wo ein Domherr ist, da sind mehrere, und dieser Priester wird offensichtlich als der einzige Dorfpfarrer, nicht als einer von mehreren Priestern an einer Bischofskirche gezeigt. Angesichts der Formulierungen im Buch macht auch die mögliche Deutung, dass er Pfarrer in einem Dorf nahe bei dem Bischofssitz Ingelheim sein könnte, keinen Sinn. Alles in allem sehen wir hier also wohl einfach schlampige Arbeit der Autorin. (Jeder Bibelexeget, der was auf sich hält, würde diese Widersprüche freilich so deuten, dass dem Buch zwei verschiedene Texte von verschiedenen Autoren zugrundeliegen müssen, die in einem jahrhundertelangen komplizierten Redaktionsprozess zusammengefügt und mehr oder weniger harmonisiert wurden.)

Aeskulapius wird schließlich vom Bischof von Mainz entlassen und beschließt, nach Athen zu gehen, wo er eine Stelle als Hauslehrer bei einem befreundeten Händler annehmen soll. Beim Abschied schenkt er Johanna eine von ihm selbst geschriebene Abschrift von Homers Werken auf Griechisch und in lateinischer Übersetzung. Als ihr Vater das Buch, in dem sie nachts liest, einige Zeit später entdeckt, hält er die für ihn unlesbaren griechischen Buchstaben zunächst für Hexenwerk, und obwohl Johanna ihm klarmachen kann, dass die zweite Hälfte auf Latein ist und er somit sehen kann, dass es nur Dichtkunst ist, verlangt er, dass sie – weil der Text heidnisch sei – das Pergament freischabt. Als sie sich weigert, gerät er in Rage und schlägt sie fast tot.

„Tagelang war die Geschichte von Johannas Prügelstrafe im Dorf in aller Munde. Der Dorfpriester hatte die eigene Tochter mit der Gerte so schrecklich zugerichtet, daß es sie um ein Haar das Leben gekostet hätte, erzählte man sich; der Dorfpriester hätte das Mädchen tatsächlich totgeschlagen, hätten die Schreie seiner Frau nicht die Aufmerksamkeit einiger Dorfbewohner erregt. Es hatte dreier kräftiger Männer bedurft, um den Dorfpriester von dem Kind fortzuzerren.

Doch es lag nicht an der Grausamkeit der Schläge, daß die Leute über diese Sache redeten. Solche Dinge waren an der Tagesordnung. Hatte der Hufschmied nicht seine Frau zu Boden geschlagen und ihr so lange ins Gesicht getreten, bis sämtliche Knochen gebrochen waren, weil er ihre Nörgeleien satt hatte? Das arme Wesen war für den Rest seines Lebens entstellt; aber dagegen konnte man nun mal nichts machen. Ein Mann war Herr im eigenen Hause, und niemand stellte diese Tatsache in Frage. […]

Nein, was die Bürger Ingelheims viel mehr interessierte, war die Tatsache, dass der Dorfpriester die Beherrschung verloren hatte. Ein derart gewalttätiger Ausbruch war bei einem Mann Gottes etwas Unerwartetes, ja, Unziemliches, und deshalb – was Wunder – zerrissen die Leute sich die Mäuler darüber. […] Es war schon eine seltsame, lustige Sache.“ (S. 85)

Klar, weil es ja von vornherein klar ist, dass die Leute „früher“ so etwas wie normale menschliche Gefühle nicht kannten.

Johanna ist einige Zeit ohne Bewusstsein, ihre Wunden entzünden sich und sie leidet an einem Fieber; aber schließlich wacht sie wieder auf und wird gesund. Ihre Mutter, die irgendwo stolz auf sie ist, pflegt sie gesund und will sie wieder für sich gewinnen: „Überlasse Dinge wie Bücher der Dummheit der Priester. Wir haben unsere eigenen Geheimnisse, nicht wahr, meine kleine Wachtel? Wir werden sie wieder miteinander teilen, so, wie es früher gewesen ist.“ (S. 87f.) Ihr Vater hat inzwischen selbst die Pergamentseiten leergeschabt.

Johanna baut nun tatsächlich wieder ein engeres Verhältnis zu ihrer Mutter auf, und bringt sie schließlich dazu, ihr zu erzählen, wie es gekommen ist, dass sie ihren Vater geheiratet hat. Gudrun erzählt von der Hungersnot nach den Sachsenkriegen, und davon, wie dann die Missionare kamen:

„‚Sie waren anders als die anderen; sie trugen keine Schwerter oder sonstige Waffen, und sie behandelten uns wie Menschen, nicht wie Vieh. Sie gaben uns Nahrungsmittel als Gegenleistung für unser Versprechen, ihnen zuzuhören, wenn sie das Wort des christlichen Gottes predigten.‘

‚Sie haben Nahrung gegen den Glauben eingetauscht?‘ sagte Johanna. ‚Das ist aber eine jämmerliche Art und Weise, die Seelen der Menschen zu gewinnen.‘

‚Ich war jung und für Eindrücke empfänglich. Vor allem aber war ich halb tot vor Hunger, Elend und Angst. Ihr christlicher Gott muß größer und stärker sein als alle unsere Götter zusammen, dachte ich. Wie sonst hätten die Franken uns besiegen können? Dein Vater hat sich meiner ganz besonders angenommen. Er habe große Hoffnungen, was mich angeht, sagte er; denn obwohl ich als Heidin geboren sei, besäße ich die Fähigkeit, den wahren Glauben zu begreifen. Aber so, wie er mich anschaute, wußte ich, daß er mich begehrte. Als er mich dann fragte, ob ich mit ihm fortgehen wollte, habe ich ja gesagt. Für mich war es die einzige Hoffnung auf ein Weiterleben in einer Welt, die gestorben war.‘ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. ‚Es dauerte nicht lange, bis mir klar wurde, was für einen schrecklichen Fehler ich begangen hatte.'“ (S. 89)

Gudrun warnt Johanna davor, dieselben Fehler zu machen wie sie: „Falls du jemals glücklich sein möchtest, dann merk dir meine Worte, Tochter: Gib dich niemals einem Mann hin.“ (S. 90) Und Johanna verspricht es: „‚Das werde ich nicht tun, Mama‘, versprach sie feierlich, ‚das werde ich niemals tun.'“ (Ebd.)

Wer schon mal von der Legende der Päpstin gehört hat, weiß vielleicht, dass es anders kommen wird; aber hier mache ich jetzt erst einmal einen Punkt. Im nächsten Teil dann dazu, wie es kommt, dass Johanna Ingelheim verlässt!

Vom Himmel träumen

Lasst uns doch mal vom Himmel träumen.

Da sind keine Angst, keine Sorgen, keine Schmerzen, keine Traurigkeit, keine Schuld mehr.

Da ist Frieden, Ruhe, Sicherheit.

Man hat seinen Platz, an den man gehört, und den einem mehr keiner nehmen wird.

Da sind Millionen über Millionen andere, und sie alle wollen einander wohl und können einander wirklich kennen und verstehen. Man gehört dazu.

Alles ist licht und hell. Da ist Freude und Jubel.

Da ist die Musik der Engel, da ist der Lobgesang der Heiligen.

Da ist Gott, auch wenn ich Ihn mir nicht wirklich vorstellen kann, aber wir werden Ihm  ins Angesicht schauen können, ohne Angst zu haben, und Er wird uns liebevoll anschauen.

Das ist jetzt ein eher untypischer Blogpost von mir. Aber manchmal braucht es das – vom Himmel träumen (statt sich vor der Hölle zu fürchten oder lieber gar nicht an das Thema „Was kommt nach meinem Tod“ zu denken). Wieso sollten wir nicht davon träumen, worauf wir hoffen? Gott ist barmherzig, und wir können einmal dort sein. Vielleicht ja nach einer Zeit im Fegefeuer. Aber hoffentlich sehen wir uns alle irgendwann einmal im Himmel.

Ja, ja, ich weiß, Marx und so weiter wollten uns das Träumen und Hoffen nicht gönnen. Aber die haben ihre Himmelsersatzversprechen auch nicht eingelöst, also träumen und hoffen wir doch, so viel wir wollen!

Die halten sich wohl für besonders fromm!

(Eine vielleicht notwendige Ergänzung zu Posts wie diesem, diesem und diesem.)

Ein heutzutage beliebter Vorwurf gegenüber gläubigen Menschen ist der der Überheblichkeit: Sie würden sich für besonders großartige Menschen und Gottes Lieblinge halten, ihre Frömmigkeit zur Schau stellen und so weiter und so fort. Oft trifft dieser Vorwurf Gläubige, die eigentlich nur das Minimum dessen tun, was von ihrer Religion gefordert wird (also bei Christen z. B.: sonntags in die Kirche gehen, keinen Sex vor der Ehe haben; oder bei Muslimen: im Ramadan fasten, Kopftuch tragen), und das nicht mal an die große Glocke hängen. Aber das wird eben trotzdem gelegentlich als Überheblichkeit und als Vorwurf an andere empfunden: Weil der Christ tatsächlich glaubt, dass alle sonntags in die Kirche gehen sollten, macht er uns Kirchenfernen einen Vorwurf, beleidigt uns, stellt uns als Sünder hin. Weil die Muslima tatsächlich glaubt, dass alle Frauen Kopftuch tragen sollten, erklärt sie uns westliche Frauen alle zu Schlampen. Nun könnte  man sich denken, wer sich seiner Sache sicher ist, dass der Kirchgang nicht notwendig oder das Kopftuch kein verpflichtendes Kleidungsstück für eine anständige Frau sei, könnte da drüber stehen und es aushalten. Aber anscheinend wird schon die bloße Religionsausübung (nicht erst wirkliche Überheblichkeit, die es natürlich auch gibt) von vielen trotzdem als  Vorwurf an Religionslose/Andersreligiöse empfunden.

(Dass „Frömmigkeit“ auch nicht mehr unbedingt als etwas an sich Positives gesehen wird, kommt natürlich noch hinzu: Wieso bildet die sich überhaupt was drauf ein, in der Kirche zu sitzen? Das ist doch sinnlos, sie sollte lieber was Vernünftiges tun. (Dass sie, wenn sie nicht in der Kirche sitzen würde, vermutlich stattdessen in dieser Zeit eher ausschlafen würde, als, sagen wir, den Hunger in der Welt zu bekämpfen, wird gerne übersehen.))

Manchmal wird der Vorwurf, besonders fromm sein zu wollen, aber auch nur an die tatsächlich besonders eifrigen Gläubigen gerichtet: Was muss die jeden Tag in die Werktagsmesse springen und jeden Samstag zum Rosenkranz? Bildet die sich ein, sie wäre eine bessere Christin als wir, die wir bloß am Sonntag auftauchen?

Das ist sozusagen das Gegenstück zur „Aber ich könnte ja noch mehr tun“-Falle, die ich hier beklagt habe: Der, der mehr tun will als die anderen, wird als der Feind gesehen, der sich über die anderen Christen erheben will, auch wenn er selbst nie angedeutet hat, dass er sich als den tollsten Christen ever sieht oder dass alle das tun müssen, was er tut.

Mein Bekannter und Stammleser Nepomuk hat vor längerer Zeit einmal einen Artikel über die Heiligen geschrieben, aus dem ich, weil genau dieses Problem darin so schön ausgedrückt wird, einen längeren Abschnitt zitieren möchte:

Ist daraus nun zu folgern, wie z. B. Joseph Roth es übrigens tutiv, daß die Kirche dadurch, daß sie die paar Perfekten kanonisiere, implizit die Sündhaftigkeit der Restmenschen gestatte? Oder sollen wir sagen, ja die anderen seien halt im verborgenen heilig gewesen, hätten aber deshalb nicht weniger gelitten, sich nicht weniger aufgeopfert etc.? Zumal es diese Art Heilige ja auch tatsächlich geben wird: aber auch das sind doch, mal ehrlich, nur ein paar. Das Leben hat seine schönen Seiten, und wir, die wir keine Ordensgelübde abgelegt haben, die wir ‚wenn wir ehrlich sein wollen, gern einen Fuß in beiden Welten haben wollen; deren Ehrgeiz ist, zu bestehen, nicht zu glänzen‘v, wollten uns ehrlich gesagt nicht vom Glanz, der Gelassenheit, der Ruhe und der Anstrengung eines Ordenslebens gerade die Anstrengung herauszusuchen.

Die erfreuliche Nachricht: das fordert die Kirche tatsächlich nicht.

Die Moral, wie sie uns die Kirche lehrt, fordert ’nichts weiter‘ als nicht zu sündigen. ‚Du kennst doch die Gebote.‘ (Mk 10,19) Die Kirche hilft dabeivi – der Patron ihrer Moraltheologen war bezeichnenderweise nicht Staatsanwalt, sondern Strafverteidiger gewesen, eben der erwähnte hl. Alfons – immer bemüht, genau darzulegen, was zu tun ist und was nicht.vii (Auf einige typische Einwände hierzu soll im nächsten Artikel eingegangen werden.)

Und das Vorbild der Heiligen? Der modernen Welt, die nicht gelassen, aber dafür perfektionistisch ist (deshalb schimpft sie auch alleweil auf den Perfektionismus) mag der Gedanke fremd sein; aber in den Katholiken hat sich der gesunde menschliche Instinkt bewahrt. Wer gut ist, der verehre als Helden einen, der besser ist. Bezeichnenderweise können wir das auch heute noch überall da nachvollziehen, wo wir nicht auf den Gedanken kommen, uns Vorwürfe zu machen. So bei den dilettierenden Freizeitmusikern: Gerade die hören doch mit besonderer Freude und Gewinn die Titel der herausragenden Interpreten. So bei den Fußballspielern der Dorfvereine in der A-Klasse. Gerade die schauen doch mit noch mehr Begeisterung als der Rest der Bevölkerung das Finale der Champions-Leauge im Fernsehen an.viii

So ist es auch bei den Heiligen (also den Christen). Gerade die können von den Heiligen (im landläufigen Sinn) gar nicht genug bekommen. Die Büßer von einem, der ganz übermenschliche Bußwerke geleistet hat wie der hl. Pedro von Alcantara. Die Gastwirte, die mit ihrer Gastfreundschaft Geld verdienen, von einem hl. Julianus, der beim Bewirten auf den Verdienst verzichtet hat. Die Mönche, die den Psalter jede Woche beten, von einem hl. Patrick, der ihn jeden Tag betete. Und so weiter – nur drei Beispiele von vielen, die man aufzählen könnte.“

(Es lohnt sich, den Artikel im Ganzen zu lesen; und hier wird er noch fortgesetzt.)

Der Punkt ist: Wenn uns bewusst ist, dass das Gute gut ist, und das Bessere besser, und das Bessere kein Feind des Guten, dann löst sich das ganze Problem auf. Wenn einer mehr tun will als andere und besonders eifrig ist, ist das gut; es ist lobenswert; solche Leute braucht es. Auch im weltlichen Leben braucht es die anstrengenden Berufe wie Chirurgen und Soldaten. Aber dass manche Leute Chirurgen und Soldaten werden, ist eben kein Vorwurf an diejenigen, die sich den leichten Job des Steuerbeamten oder der Bürokauffrau suchen. Wenn einer, der gesund ist und arbeiten könnte, gar nicht arbeiten wollte, dann könnte man ihm daraus einen Vorwurf machen. Das Gleiche gilt auch für die Gemeinschaften innerhalb der Kirche, wie etwa die neuen geistlichen Bewegungen: Wenn einer sich darin engagieren will und viel Zeit und Einsatz dafür aufwendet, ist das gut – solange er nicht glaubt, allein so könne man ein richtiger Christ sein und die anderen Christen, die nicht so engagiert sind, seien gar keine richtigen Christen wie er. Und man sollte jemandem eben auch nicht vorwerfen, allein deshalb, weil er mehr tut als andere, verachte oder verurteile er sie und halte sie für keine richtigen Christen. Vielleicht ist er wirklich ein besserer Christ als sie; vielleicht auch nicht; jedenfalls können sie trotzdem gute Christen sein.

Auch im Himmel wird es übrigens noch die besonders großartigen Heiligen geben, die besondere Ehre erhalten (wie die allerseligste Gottesmutter, oder etwas darunter vielleicht solche wie den heiligen Franziskus), und die, die, na, eben ein bisschen drunter stehen. Dante beschreibt in der Göttlichen Komödie den Himmel als einen Ort aus mehreren konzentrischen Sphären, in denen die verschiedenen Heiligen leben (so wie auch seine Hölle aus verschiedenen Kreisen für verschieden schwere Sünden aufgebaut ist). Aber es braucht weder Neid auf die einen noch Verachtung der anderen, weil sie alle in übergroßer Seligkeit leben und Gottes Herrlichkeit schauen.

Wie ein religiöses Umfeld Skrupulosität fördern kann: Eine Anleitung, wie man es nicht machen sollte

Eins vorweg: Skrupulosität kann viele Ursachen haben. Sie ist wohl eher eine Sache der Persönlichkeit des Einzelnen und nicht nur von außen verursacht. Bei mir zum Beispiel ist es so, dass ich mit Zwängen und Ängsten in ganz verschiedenen Bereichen, nicht nur im religiösen, zu kämpfen habe; und keine dieser Ängste ist mir im eigentlichen Sinne von außen eingetrichtert worden. Aber das Umfeld kann solche Ängste bei denen, die dazu neigen, natürlich entweder fördern oder abmildern.

Skrupulosität ist, ganz allgemein gesprochen, eine unbegründete und übertriebene Angst davor, etwas falsch zu machen, auf Katholisch, Sünden zu begehen (oder begangen zu haben). Da kommen einem dann ununterbrochen Gedanken wie:

  • Habe ich genau genug gebeichtet? Habe ich meine Sünden genug bereut? Was, wenn nicht, und wenn die Beichte dann ungültig war?
  • Hätte ich heute Morgen nicht zur Kommunion gehen dürfen, weil das und das, was ich gestern gemacht habe, vielleicht eine schwere Sünde gewesen sein könnte, was mir zwar erst eingefallen ist, nachdem ich bei der Kommunion war, woran ich aber vielleicht vorher hätte denken müssen?
  • War ich vielleicht unhöflich in dieser Diskussion, so dass der und der jetzt einen schlechten Eindruck von Christen haben muss und für immer von Gott weggetrieben ist? Oder war ich vielleicht im Gegenteil zu nett und schwammig und habe nicht klar genug gesagt, was katholische Lehre ist, und habe mich also nicht ausreichend zur Wahrheit und zu Gott bekannt – vielleicht, weil ich mich meines Glaubens geschämt habe?
  • Bin ich krank genug, um von der Sonntagsmesse daheim zu bleiben, oder sollte ich mich einfach nicht so anstellen?

Es wird dann meistens ziemlich kompliziert, weil einem immer neue Umstände einfallen, die die Sache verkomplizieren. Hatte ich das falsche Motiv dafür? Oder hätte ich an das und das vorher denken müssen? Und man grübelt stundenlang herum, findet trotzdem zu keinem sicheren Ergebnis, und sieht überall mögliche schwere Sünde und fürchtet sich vor der Hölle. Und dann geht man zur Beichte und ist eine halbe Stunde lang beruhigt und dann kommen wieder die neuen Gedanken – hätte ich dem Beichtvater das und das genauer erklären müssen, oder habe ich jetzt gerade schon wieder was Falsches getan, oder oder oder… So sieht Skrupulosität aus.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/87/Frau_im_Gebet.jpg

(Frau im Gebet, Zeichnung von Franz Thöne; Quelle: Wikimedia Commons)

Jetzt also dazu, was im religiösen Umfeld speziell unter uns Katholiken diese Art von Ängsten fördern könnte.

1) Hohe und gleichzeitig unklare Erwartungen:

Wir haben es doch alle schon oft gehört:

  • „Wir sind alle dazu berufen, Heilige zu werden.“
  • „Wenn wir Jesus wirklich lieben, und wirklich glauben, dass Er in der Hostie zu uns kommt, sollten wir uns lieber fragen, wieso wir nicht so oft zur Messe gehen, wie wir überhaupt können, als wieso wir jeden Sonntag gehen sollten.“
  • „Wieso fragt man ‚Wie weit darf ich erlaubtermaßen gehen?‘ anstatt zu fragen ‚Was ist das Beste, was ich tun kann?‘ Wir sollten nicht die Grenzen des Erlaubten austesten, sondern unser Bestes geben!“
  • „Gott will keine Halbherzigkeiten von uns, sondern unseren ganzen Einsatz.“
  • „Laue Christen sind das Schlimmste.“
  • „Das Christentum ist halt keine Wohlfühlreligion.“

Okay, und was heißt das dann konkret? „Wir sollen alle Heilige werden“ stimmt selbstverständlich, aber was heißt es genau? Was genau muss ich nun alles an den kanonisierten Heiligen nachahmen? Will man sagen, wenn ich die Gelegenheit hätte, in die Werktagsmesse zu gehen, aber nicht gehe, bin ich eigentlich gar kein richtiger Christ? (An diesem Punkt verweise ich einfach mal noch auf einen meiner älteren Artikel.)

Ich sage nicht, dass es total niedrige Erwartungen geben sollte. Aber die Erwartungen sollten in jedem Fall klar sein. Es sollte klar sein, was wirklich falsch ist – und was man ohne Bedenken tun kann. Die Leute sollten sich nicht mit einem schlechten Gewissen plagen müssen, weil sie sich unsicher sind, ob diese oder jene harmlose Handlung eine Sünde war. (Und genau deshalb brauchen wir übrigens die alte und zu Unrecht verleumdete Kunst der Kasuistik.)

2) Bequemlichkeit wird automatisch mit Sünde gleichgesetzt

Dabei ist es keine Sünde, es sich im Leben nicht schwerer als nötig machen zu wollen. Sünde ist es dann, wenn man, um es sich bequem zu machen, bereit ist, Sünden zu begehen, also z. B. die berechtigten Ansprüche anderer zu übergehen. Simpel.

3) Auf Wörter wie „Achtsamkeitsübungen“ oder „Selbstakzeptanz“ reagiert man automatisch mit einem genervten Schnauben und nennt sie „esoterischen Wohlfühl-Kram“ (oder so ähnlich).

Das macht es nicht unbedingt einfach für jemanden, der sich selbst hasst (das kann oft die Folge sein, wenn man ständig nur an all das Schlechte denkt, dessen man sich seiner Meinung nach schuldig gemacht hat), sich vielleicht sogar selbst Verletzungen zufügt, um sich zu bestrafen, und dergleichen, davon loszukommen. Ja, doch, es ist etwas Gutes, sich selbst anzunehmen. Nicht unbedingt in dem Sinne, dass man alles gut finden muss, was man jemals getan hat, sondern dass man sich selbst genauso wie jedem anderen mit Wohlwollen begegnet und sich als gutes, gewolltes Geschöpf Gottes annimmt, das auch seine guten Eigenschaften und seine Talente hat, und das vor allem geliebt ist. Eine gesunde Selbstliebe gehört sehr wohl zum Christentum.

4) Endloses Nörgeln über „moralisch-therapeutischen Deismus“

Ich werde noch mal eigens was drüber schreiben, wieso das Hauptproblem im heutigen Christentum ganz sicher nicht der sog. „moralisch-therapeutische Deismus“ ist. Jedenfalls wird MTD von seinen Kritikern als ein Glaube definiert, der auf den folgenden fünf Prämissen beruhe:

  • Ein Gott existiert, der die Welt erschaffen hat und in Ordnung hält und über das Leben der Menschen auf der Erde wacht.
  • Gott will, dass die Menschen gut, freundlich und fair miteinander umgehen, wie es die Bibel und die meisten Weltreligionen lehren.
  • Das wesentliche Ziel des Lebens ist es, glücklich und mit sich selbst im Reinen zu sein.
  • Es ist nicht nötig, Gott einen besonders bedeutenden Platz im eigenen Leben einzuräumen, außer man braucht Ihn, um ein Problem zu lösen.
  • Gute Menschen kommen in den Himmel, wenn sie sterben.

(Kurz gesagt handelt es sich also um das alte Problem der mangelhaften Glaubenspraxis, nicht eine klar bestimmte Irrlehre.)

Nun kann man es natürlich kritisieren, wenn Leute sich nur dann an Gott wenden, wenn sie Probleme haben und Hilfe von Ihm wollen, und Ihm nicht auch mal danken, wenn es ihnen gerade gut geht, oder Ihm gehorchen, wenn das vielleicht nicht so leicht ist. Es geht mir hier aber um das Problem, das entsteht, wenn MTD zu sehr als die absolut größte furchtbarste Häresie angegriffen wird, der man verfallen kann. Dann kann es nämlich aus dem Blickfeld geraten, dass Gott tatsächlich für uns da sein will, dass Er uns helfen will, unsere Probleme zu lösen, dass Er will, dass wir glücklich und mit uns selbst im Reinen sind, usw.

5) Man spricht zu wenig von Gottes großer, zärtlicher Liebe zu uns

Wenn man nicht so oft daran erinnert wird, dass Gott uns ja liebt, dass Er uns wirklich inniglich liebt und uns unbedingt bei sich haben will, dann kann man leichter in Panik darüber verfallen, ob man es eigentlich jemals in den Himmel schaffen wird.

6) Man spekuliert darüber, wie wenig Menschen doch in den Himmel kommen würden

Wir wissen es nicht. Punkt, aus, Ende. Wir kennen weder die Zahl der Erlösten noch die der Verdammten.

Ja, es heißt im Evangelium: „Geht durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der ins Verderben führt, und es sind viele, die auf ihm gehen. Wie eng ist das Tor und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und es sind wenige, die ihn finden.“ (Matthäus 7,13f.) Aber Spekulationen über genaue Zahlenverhältnisse lassen sich daraus nicht ableiten. Gott ist ein liebender Vater. Sagen wir nun, da ist eine Familie, die hat acht Kinder, und drei davon sterben bei einem Unfall. Nun würde man sicher sagen: „Diese armen Eltern haben viele ihrer Kinder verloren.“ „Viele“ heißt hier aber nicht „die meisten“, noch nicht einmal „die Mehrheit“. Wenn man sagt „Viele Menschen in Deutschland leiden an Krebs“ meint man damit auch nicht, dass die Mehrheit der Deutschen krebskrank ist.

Alle Spekulationen darüber, wie groß oder wie gering die Zahl der Erlösten ist, führen entweder dazu, dass man sich sagt: „Ach, es werden ja eh die meisten in den Himmel kommen, muss ich mich ja nicht anstrengen.“ (was sowieso Unsinn wäre: es schaffen auch die meisten Schüler ihren Schulabschluss, und trotzdem muss man sich anstrengen, um ihn zu schaffen), oder dazu, dass man sich sagt: „Es werden so wenige in den Himmel kommen, wie soll ich das nur schaffen?“ Sowohl die anmaßende als auch die mutlose Haltung helfen uns nicht weiter. Also lassen wir die Spekulationen bleiben.

7) Konkrete falsche Vorstellungen in Einzelfragen, die für unnötige Gewissensnöte sorgen

Als Beispiele ein paar in „Tradistan“ unter Umständen anzutreffende Ideen:

„Frauen sollten sich anständig anziehen, um Männer nicht extra zu sündigen Gedanken zu bringen. Wenn ihr also eure Ellbogen nicht immer bedeckt haltet, verführt ihr andere zur schweren Sünde und begeht damit selbst automatisch eine schwere Sünde. Ach ja, und tragt bitte Röcke, keine Hosen – Hosen sind Männerkleidung, und Kleidung zu tragen, die zum anderen Geschlecht gehört, ist Sünde.“

„Ehefrauen müssen ihren Männern immer gehorchen – Ausnahmen kann man höchstens mal machen, wenn die eine wirkliche Sünde befehlen würden.“

„NFP darf man höchstens aus einem wirklich ganz gravierenden Grund anwenden, um eine Schwangerschaft zu vermeiden.“

„Harry Potter ist okkult/satanisch.“

„Rockmusik ist satanisch.“

Oder dann wären da so einfache Denkfehler wie:

„Eine aufrichtige Reue zeigt sich in starken Gefühlen.“ (Tatsächlich ist sie eine Sache des Willens; niemand hat totale Kontrolle über seine Gefühle.)

„Ungewollte Gedanken können Sünden sein.“

Ich kann hier jetzt natürlich nicht alle Einzelfragen von Glaube & Moral durchgehen. [Nur als kurze Anmerkung: Diese Ideen gehen nicht von falschen Grundsätzen aus – anständige Kleidung ist was Gutes, sowohl um anderen zu helfen, als auch einfach, weil man nicht alles von sich herzeigt, aber Ellbogen zu zeigen ist nicht unanständig, es reicht, wenn man z. B. zu Enges, zu tiefe Ausschnitte und kurze Röcke vermeidet; Verstöße dagegen können je nach Situation auch nur lässlich sein. Ja, man sollte kein Crossdressing betreiben, aber heute gibt es auch Frauenhosen. Ja, es gibt Gehorsam in der Ehe, aber Ungehorsam kann auch dann gerechtfertigt sein, wenn der Mann z. B. etwas sehr Dummes, aber nicht Sündhaftes will. Ja, für NFP sollte es einen Grund geben, aber der muss nicht extrem schwerwiegend sein. Ja, manchmal kann Popkultur zu Okkultismus führen, aber das heißt nicht, dass jede Art davon es tut.] Daher nur ein allgemeiner Aufruf: Bevor man – z. B. in einem Blogartikel oder einem Facebookpost oder einer Predigt oder einem normalen Gespräch in der Gemeinde – etwas als moralische Pflicht darstellt, sollte man sich einigermaßen darüber informiert haben, ob die Kirche es wirklich als moralische Pflicht ansieht. Und immer dran denken: einzelne Katholiken können sich da irren – auch wenn sie der Pfarrer oder die Mesnerin sind.

Es gibt sicher noch andere Weisen, auf die Skrupulosität unabsichtlich gefördert werden kann; aber das sind die, die mir spontan eingefallen sind. Wenn man diese Fehler meiden könnte, wäre schon einiges gewonnen.

Die historisch-kritische Methode bei der Datierung von Texten: An einem einfachen Beispiel erklärt

Es kann manchmal verwirrend sein, wenn man zum Beispiel als Theologiestudent im 1. Semester in der Vorlesung übers Alte Testament sitzt und der Professor sämtliche Theorien darüber, wann die einzelnen Texte aus den fünf Büchern Mose oder dem Buch Amos laut prominenten Exegeten entstanden sein könnten, erläutert. Wieso nochmal soll das jetzt aus dem 9. Jahrhundert stammen und das erst nachexilisch sein und wieso behauptet der, das wäre noch viel jünger, und der, das wäre ein bisschen älter, aber ganz sicher auf jeden Fall nicht so alt, wie traditionell angenommen?

Aber keine Angst. Ich habe inzwischen schon ein paar Semester Theologiestudiumserfahrung und kann ganz einfach erklären, wie die Datierung biblischer Texte funktioniert. Am besten funktioniert es immer mit Beispielen. Nehmen wir also einmal folgendes Szenario an:

Durch eine treue Gruppe von Wise Guys-Fans wurde der Text des folgenden Liedes über Jahrtausende immer wieder abgeschrieben und ist im Jahr 4583 noch erhalten:

„In unsrem Land passieren schreckliche Geschichten:
Die jungen Leute kriegen mit den Fremden Streit.
Die Fremden stören sie beim Denken und beim Dichten,
so kann’s nicht weitergehn bei uns, das geht zu weit.
Unsre Computer programmieren jetzt die Inder,
die sich bei uns die schnelle Mark verdienen solln.
Und keiner denkt an unsre armen kleinen Kinder,
die selber auch ein bisschen programmieren wolln!
Ein klares Wort zur Lage der Nation:
Hier kommt der Plan – naja, Sie wissen schon:

Wir baun die Mauer wieder auf, denn langsam wird uns das zu dumm,
aber nicht mehr mitten durch, diesmal baun wir außen rum.
Dann feiern wir zwölf Monate im Jahr Oktoberfest
und hoffen, dass die Welt da draußen uns in Ruhe lässt.
Mit Eisbein, Bier und Sauerkraut und viel Kartoffelbrei
und Volksmusik. Wir klatschen auf die Eins und auf die Drei.

Die ganzen Fußballspiele mit den andren Ländern
ham wir verlorn, weil so viel Gegentore fieln.
Das war frustrierend, doch das wird sich sicher ändern,
sobald wir nicht mehr gegen andre Länder spieln.
Bleibt nur noch ein Problem: Die Sache mit Mallorca.
Es geht nicht ohne den Exzess am Ballermann.
Doch weil die Insel ja schon lang ein deutscher Ort war,
holn wir sie heim, die kommt bei Sylt gleich nebendran!
Ein klares Wort zur Lage der Nation:
Hier kommt der Plan – naja, Sie wissen schon:

Wir baun die Mauer wieder auf,

Dann gibt’s kein Sushi mehr, nur noch Blumenkohl.
Dann bleibt der Anton in Tirol.
Dann meckert keiner, ‚was erlauben Struuunz?!‘
Und wir sind endlich unter uns!

Wir baun die Mauer wieder auf,
…“

So! Und weil sich die treuen Fans nur um die Erhaltung der Texte, nicht aber besonders um die Erforschung ihrer Entstehung gekümmert haben, möchte jetzt endlich eine Professorin für Musikgeschichte herausfinden, wann und in welchem Kontext das denn geschrieben wurde. Ihre Schlussfolgerungen könnten folgendermaßen aussehen:

„Das früheste, nur teilweise erhaltene Manuskript mit dem Text von ‚Zur Lage der Nation‘, das wir noch haben, stammt leider erst aus dem 34. Jahrhundert. Wir müssen also intratextuelle Indizien betrachten, um uns dem Jahr der Abfassung annähern zu können.

Mit ‚der Mauer‘ ist in deutschen Texten aus dem späten 20. und dem 21. Jahrhndert für gewöhnlich jene Mauer oder jener Grenzzaun gemeint, die während der Teilung Deutschlands im 20. Jahrhundert von der ostdeutschen Regierung errichtet wurde und die Ostdeutschen an der Ausreise nach Westdeutschland hinderte. Während das Datum des Mauerbaus unsicher ist (einige Historiker haben das Jahr der Gründung der beiden deutschen Staaten, 1949, vorgeschlagen, andere ein etwas späteres, etwa in der Mitte der 1950er liegendes), wissen wir aus einer nur teilweise erhaltenen Zeitung, die bei einer Ausgrabung in der antiken Niederlassung Darmstadt gefunden wurde, dass die Mauer 1989 ‚fiel‘, d. h. wohl, von der ostdeutschen Regierung abgebaut wurde. Die friedliche Vereinigung der beiden Staaten muss bald gefolgt sein. Folglich ist der Text auf jeden Fall nach 1989 zu datieren.

Klassischerweise wird er von den Wise Guys-Fans in die Zeit ihrer ersten großen Erfolgsphase datiert, die etwa in den späten 1990ern oder frühen 2000ern stattgefunden haben soll. Diese Datierung taucht aber erstmals in einer Liedsammlung aus dem Jahr 3551 auf. Ich möchte eine etwas spätere Abfassungszeit vorschlagen.

Wir wissen von den Historikern des 23. Jahrhunderts, dass Deutschland in den Jahren von 2014-2019 eine starke Einwanderungsbewegung aus afrikanischen und asiatischen Ländern erlebte, deren Höhepunkt ins Jahr 2015 fällt. Auch andere Länder Europas waren von der damals so bezeichneten ‚Flüchtlingskrise‘ betroffen, die von Historikern des Fachs als die ‚Asiatisch-afrikanische Flucht- und Migrationsbewegung der 2010er Jahre‘ bezeichnet wird, Deutschland, das als stabiles und reiches Zielland galt, jedoch in besonderem Maß. Berichte, laut denen im Jahr 2015 an manchen Tagen zehntausend Menschen am Münchner Bahnhof angekommen sein sollen, können wir als übertrieben zurückweisen, jedoch wanderte bei der Flucht- und Migrationsbewegung offenbar tatsächlich eine für jene Zeit ungewöhnlich große Zahl an Menschen zu. Ab 2016 wurden von immer mehr europäischen Ländern Maßnahmen getroffen, um diese als zu groß empfundene Zahl zu verringern. Gleichzeitig wurden Stimmen laut, die diese ‚Abschottung‘ kritisierten. In welchem Maß in dieser Zeit auch ‚Inder‘, d. h. Menschen aus dem heutigen Trachanien und Gabien zuwanderten, wissen wir leider nicht.

Für uns interessant sind hier besonders zwei Funde der jüngeren Zeit: Ein Leserbrief aus einer Ausgabe der ‚Süddeutschen Zeitung‘  aus dem Herbst 2016, die erst 4572 bei einer Ausgrabung in Bielefeld gefunden wurde, und ein Leitartikel in einer teilweise erhaltenen Ausgabe des ‚Unterammerdinger Landboten‘ (4550 in Süddeutschland ausgegraben, aber erst 4569 in einer Quellensammlung veröffentlicht). Das Datum der Ausgabe ist beim ‚Landboten‘ nicht mehr vollständig lesbar; die Jahreszahl lautet jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit ‚2018‘. Der Leserbrief befasst sich mit der Präsidentschaftswahl der Vereinigten Staaten von Amerika von 2016 und stellt fest, dass, während ein Präsidentschaftskandidat eine ‚Mauer‘ an der Südgrenze seines Landes bauen wolle, um Einwanderer fernzuhalten, ‚wissen wir Deutschen, dass Mauern nichts Positives sind – wir hatten auch jahrzehntelang eine Mauer in unserem Land‘. Des weiteren werden ‚Abschottungspolitik‘ und ‚Fremdenangst sogenannter besorgter Bürger, die manchmal von Fremdenhass kaum zu unterscheiden ist‘ beklagt. In dem Leitartikel heißt es an einer Stelle: ‚Fast dreißig Jahre, nachdem in Berlin die Mauer gefallen ist, werden wieder Mauern hochgezogen. Das hohe Gut der Reisefreiheit – es scheint plötzlich unwichtig.‘ In beiden Fällen stellen wir also fest: Die Abschottungsbemühungen der 2010er gegenüber Einwanderern werden mit der ostdeutschen ‚Mauer‘ verglichen, auch wenn diese freilich den Zweck hatte, Aus- statt Einwanderung zu verhindern. Solche Vergleiche scheinen gang und gäbe gewesen zu sein und auch ‚Zur Lage der Nation‘ würde sich in dieses Bild einfügen.

Entscheidend sind auch folgende Zeilen: ‚Die ganzen Fußballspiele mit den andren Ländern / ham wir verlorn, weil so viel Gegentore fieln.‘  Dieser Satz würde klar ins Jahr 2018 passen. Während die deutsche Nationalmannschaft in der alle vier Jahre ausgetragenen Weltmeisterschaft im Fußball, einer gesellschaftlich bedeutenden Ballsportart, 2014 noch den ersten Platz errungen hatte, schied sie 2018 als eine der ersten Mannschaften aus und enttäuschte sämtliche Erwartungen, die in sie gesetzt worden waren. Diese Niederlage scheint in einer Tonaufnahme aus dem Jahr 2018 als bedeutende, bisher nie vorgekommene nationale Schande gewertet zu werden.

Ein Text, der sich in ironischer Weise gegen Fremdenfeindlichkeit und gegen geschlossene Grenzen wendet, das historische Beispiel von ‚der Mauer‘ in gewissermaßen verfremdeter Weise aufgreift, und die schlechte Leistung der deutschen Fußballmannschaft erwähnt, würde insofern eindeutig ins Jahr 2018 oder 2019 passen, auch wenn es nicht ganz auszuschließen ist, dass er noch etwas später entstanden ist. Später wurde er dann offensichtlich, da er vor allem im 4. Jahrtausend große Beliebtheit in der Fan-Gemeinschaft erlangte, in die Zeit der ersten Erfolge der Band rückdatiert, statt in ihre erfolglose Spätphase (die Band muss irgendwann vor 2028 aufgelöst worden sein).“

Okay – vielleicht ist mein Beispiel nicht besonders gut. Die Forscherin berücksichtigt viel zu viele archäologische Funde, hat überhaupt viel zu viele archäologische Funde, und versucht gar nicht, das Lied irgendwelchen Wise Guys-Fans im 26. Jahrhundert zuzuschreiben, die es dann der Band zugeschrieben hätten. Okay.

Was ich sagen will: Die ganzen unterschiedlichen und widersprüchlichen Datierungsversuche für die Sintflut- oder die Exodusgeschichte sind oft nichts als Spekulation. Die kann man für die Prüfung auswendig lernen und hinterher wieder vergessen. Ich will hier gar nicht behaupten, dass sie irgendwie häretisch wären; nur, dass sie meistens rein auf Spekulationen aufbauen und auch nicht besonders nützlich sind. „XYZ kann erst in der Situation unter dem und dem israelitischen König gesagt worden sein“ – nö, nicht unbedingt. Das ist Spekulation, wenn auch manchmal überzeugend klingende Spekulation. Aber mein Beispiel klingt ja auch überzeugend für Leute aus dem Jahr 4583, die sich nicht mit der Mark oder den Indern oder den Wise Guys auskennen, oder?

 

(Das Lied stammt von 2001.)

Schwere Sünde, lässliche Sünde?

[Update: Dieser Artikel ist ja schon etwas älter, aber wird laut meinen Blogstatistiken immer mal wieder angeklickt; wenn also Google jemanden hierher geführt hat, der konkrete Infos darüber sucht, ob eine bestimmte Sache lässliche Sünde, schwere Sünde oder überhaupt keine Sünde ist, empfehle ich meine (leider noch nicht vollendete) „Moraltheologie und Kasuistik“-Reihe, die ich seitdem begonnen habe, nachdem ich selber mehr über dieses Thema gelernt habe, oder als einen Überblicksartikel mit Beispielen von Sünden und Nichtsünden gegen alle 10 Gebote und die Kirchengebote den hier: Schwere – lässliche – keine Sünde: Beispiele. Ein gutes altes Buch zur Kasuistik gibt es hier herunterzuladen.]

 (Nur ein paar Überlegungen, die vielleicht ein wenig ziellos und unstrukturiert sind. Ich denke in diesem Artikel eher laut nach und würde mich über Ergänzungen und Korrekturen freuen.)

Die katholische Lehre von den schweren und den lässlichen Sünden ist einerseits recht klar. Klar ist das Prinzip: Schwere Sünden, auch Todsünden genannt, zerstören die Beziehung zu Gott, lässliche belasten sie nur – wie man es auch aus menschlichen Beziehungen kennt. Die schwere Sünde ist wie eine tödliche Krankheit, die lässliche wie eine nicht tödliche, die der Körper (oder in diesem Fall die Seele) selbst bekämpfen kann. Für eine schwere Sünde müssen drei Kriterien erfüllt sein: schwerwiegende Materie (die Tat oder Unterlassung ist an sich schlecht genug, um die Gottesbeziehung zu zerstören), klares Wissen um die Schwere der Sünde (schuldhaftes Nicht-Wissen-Wollen mindert die Schuldfähigkeit allerdings nicht; nicht schuldhafter oder nur gering schuldhafter Irrtum schon) und freier Wille (der Wille kann z. B. durch eine Sucht, eine psychische Krankheit, Druck, Nötigung oder Zwang von außen beeinträchtigt sein). Wenn eins dieser Kriterien nicht erfüllt ist, ist die Sünde nur lässlich. Gebeichtet werden müssen von Katholiken nur schwere Sünden; wenn man sich nicht sicher ist, ob eine Sünde schwer war, muss man sie nicht als schwere zählen. Die Beichte der lässlichen Sünden ist freiwillig, wird aber empfohlen; das bedeutet auch, man muss vor der Beichte nicht versuchen, sich krampfhaft an ausnahmslos alle seit der letzten Beichte begangenen lässlichen Sünden zu erinnern.

Andererseits aber ist es nicht immer so klar, was „schwerwiegende Materie“ genau ausmacht; wie man schwerwiegende und lässliche Materie abgrenzt. Das ist es, was auch Skrupulanten wie mich oft mal belastet: Wenn man nicht unterscheiden kann, ob eine Sünde schwer oder lässlich war. (Muss ich beichten? Darf ich zur Kommunion gehen?)

Meistens bekommt man, wenn das Thema erklärt wird, statt allgemeinen Definitionen konkrete Beispiele für schwerwiegende Materie vorgelegt: Tötung eines unschuldigen Menschen (inklusive Abtreibung, Euthanasie, Selbstmord), Ehebruch, Vergewaltigung, Folter, Glaubensverleugnung, Meineid, Raub, Verleumdung, Vorenthalten des gerechten Lohns, Betrug, was so alles unter den Oberbegriff „Unzucht“ fällt, Blasphemie, grundloses Verpassen der Messe an Sonntagen und gebotenen Feiertagen, grundloses Nicht-Einhalten der kirchlichen Fastengebote, künstliche Empfängnisverhütung. (Freilich wiegen auch schwere Sünden nicht alle gleich schwer, wie unschwer einzusehen ist; Mord zum Beispiel ist schlimmer als Raub.) Beispiele für lässliche Sünden: Verlegenheitslügen oder alltägliche Unfreundlichkeiten und Streitereien, Unvorsicht, Ungeduld, Unhöflichkeit, eine gewisse Vernachlässigung des Gebets, eine Verspätung von einigen Minuten bei der Sonntagsmesse… Diese Unterscheidung entspricht auch dem gesunden Menschenverstand (Unfreundlichkeit und Mord sind offensichtlich nicht dasselbe), und sie zeigt sich bereits in der Bibel (1 Johannes 5,16f.).

[Die schweren Sünden oder Todsünden sind übrigens zu unterscheiden von den sieben Wurzelsünden (Hochmut, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, Trägheit), die auch manchmal fälschlich als die „sieben Todsünden“ bezeichnet werden, aber grundlegende Haltungen bezeichnen, die zu Sünden führen, keine konkreten Sünden selbst. Eine Sünde ist immer eine konkrete Handlung oder Unterlassung (in Gedanken, Worten oder Werken).]

Eine manchmal gehörte allgemeine Begründung für den Unterschied zwischen den beiden Arten von Sünde wäre: Schwere Sünden verstoßen gegen vorrangige Werte (das Leben, die Ehe, die Gottesverehrung), und lässliche gegen untergeordnete (etwa Wahrheit, Ehre, Eigentum). Diese Begründung funktioniert jedoch offensichtlich nicht: Eine schwere Verleumdung (z. B. die Bezichtigung eines Unschuldigen wegen eines Verbrechens) ist offensichtlich eine schwere Sünde; genauso ein bedeutenderer Diebstahl, ein gewaltsamer Raub oder die Ausbeutung von Arbeitern durch Hungerlöhne. Zudem gibt es minderschwere Verstöße etwa gegen den Wert des Lebens, z. B. eine geringfügige Gefährdung des eigenen Lebens und des Lebens anderer durch noch nicht allzu große Unvorsicht im Straßenverkehr. Diese Begründung funktioniert also nicht.

Eine weitere, beliebtere Begründung wäre: Was gegen die Zehn Gebote (und für Katholiken: die ihnen von der von Christus eingesetzten Kirche auferlegten fünf Kirchengebote) verstößt, ist schwerwiegende Materie. Das funktioniert schon eher; andererseits sind manche der Zehn Gebote aber auch recht allgemein formuliert und geben nicht gleich zu erkennen, welche Verstöße gegen sie wirklich schwerwiegend sind. Ist es eine schwere Sünde gegen das dritte Gebot, wenn man am Sonntag im Garten arbeitet oder Staub saugt? Oder ab wann wird der Neid auf das neue Auto des Nachbarn zu einer schweren Sünde gegen das zehnte? War der Streit mit meinen Eltern ein schwerer Verstoß gegen das vierte? Irgendwo kann man ja auch alle Sünden unter den zehn Geboten subsumieren, wie es in Beichtspiegeln gerne getan wird – Körperverletzung, Unvorsicht im Straßenverkehr oder die Schädigung der eigenen Gesundheit durch Drogen fallen dann unter „Du sollst nicht töten“, Masturbation oder die Vernachlässigung der Beziehung zum Ehepartner unter „Du sollst nicht ehebrechen“, Notlügen und Übertreibungen unter „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten“, und das Missachten der Pflichten gegenüber dem Staat oder der Pflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern unter „Ehre Vater und Mutter“. Einerseits fällt, wie man daran sieht, nicht alles von dem, was irgendwie mit den Zehn Geboten in Zusammenhang gebracht werden kann (z. B. kleine Übertreibungen), unter die Kategorie „schwere Sünde“; andererseits gibt es auch offensichtlich schwere Sünden, die nicht ganz direkt in den Zehn Geboten angesprochen werden (z. B. schwere Körperverletzung, schweres Mobbing, nicht-ehebrecherische Unzucht).

Vielleicht kann man auch sagen: Schwere Sünden verstoßen entweder direkt gegen einen zentralen Wert (z. B. verstößt die Verleugnung des Glaubens klar gegen die Treue zu Gott und gegen die Pflicht zum Bekenntnis der Wahrheit) oder sie schaden anderen Menschen oder einem selber direkt und gewollt (oder zumindest wissentlich in kauf genommen) in schwerwiegendem Maß (z. B. Mord, Selbstmord, Ehebruch, Raub, Verleumdung); oft auch beides. [Der Unterschied zwischen einer christlichen und einer utilitaristischen Moral wäre, dass die christliche nicht nur das, was direkten, quantifizierbaren Schaden anrichtet, als falsch ansieht – Glaubensverleugnung, Gotteslästerung, wohlmeinende Lügen oder konsensuale Unzucht beispielsweise richten nicht immer direkt beobachtbaren Schaden an. Freilich schaden sie oft indirekt und auf lange Sicht (ein Beispiel: Wenn man jemanden anlügt, um ihn nicht mit der Wahrheit zu beunruhigen, könnte man sich sein Vertrauen verscherzen, wenn er es merkt) und machen einen selbst zu einem von der Sünde beherrschten Menschen, aber der Verstoß gegen die Gottesliebe, die Wahrhaftigkeit oder die Keuschheit ist an sich schon schlimm. Wieso Gottesliebe, Wahrhaftigkeit und Keuschheit so wichtig sind, wäre dann mal noch eigens ausführlicher zu erläutern.] Wenn sie die Gottesbeziehung zerstören, müssen sie ein, wenn auch implizites, Nein zur Liebe, eine bewusste Gleichgültigkeit und Abwendung vom Guten, beinhalten.

Eine allgemeine Definition von Sünde an sich wäre auch: Sünde verstößt gegen den natürlichen Zweck, den Gott in die Dinge hineingelegt hat. Z. B. ist der Zweck der Sprache der Ausdruck und die Weitergabe von Wahrheit; der Zweck des Eigentums ist die Sicherung des Lebensunterhalts für einen selber und die, für die man verantwortlich ist; der Zweck der Sexualität ist die Fortpflanzung und der Ausdruck ehelicher Liebe zwischen Mann und Frau. Sünde verstößt gegen diese Ordnung der Dinge und bringt sie aus dem Gleichgewicht. Papst Benedikt XVI. hat in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag von einer „Ökologie des Menschen“ gesprochen, die beachtet werden muss. Bei einer Sünde wird ein Gut einem anderen in ungeordneter Weise vorgezogen. (Niemand tut Böses, nur um Böses zu tun; wenn man z. B. Böses tut, um Geld, Lust oder Macht zu erreichen, zieht man wirkliche Güter anderen, höheren Gütern vor.) Letztlich wird bei einer Sünde immer etwas Geschaffenes Gott (dem letzten Ziel des Menschen) vorgezogen. Sünde kann man also als auch Ungeordnetheit betrachten. Der hl. Thomas von Aquin schreibt dann in diesem Sinne (von mir aus dem lateinischen Text übersetzt – hier findet sich auch eine englische Übersetzung, die besser ist als meine) :

„Der Unterschied aber zwischen einer lässlichen Sünde und einer Todsünde folgt aus dem Unterschied in der Unordnung, die die Art der Sünde ausmacht. Denn diese Unordnung gibt es in zweifacher Weise: eine besteht im Abweichen vom ordnenden Prinzip; die andere, bei der das ordnende Prinzip erhalten bleibt, bewirkt eine Unordnung in den Dingen, die den Prinzipien folgen. So tritt im Körper eines Tieres manchmal eine umfassende Unordnung auf, die bis zur Zerstörung des lebenswichtigen Prinzips führt, und diese führt zum Tod; manchmal aber, wobei das Lebensprinzip gewahrt bleibt, tritt eine gewisse Unordnung in den Körpersäften auf, und dann kommt eine Krankheit. Das Prinzip aber der ganzen Ordnung der moralischen Dinge ist das letzte Ziel, das zu den Handlungen im selben Verhältnis steht wie das unmittelbar gewisse (?) Ziel in spekulativen Dingen, wie in VII Ethic. gesagt wird. Somit ist, wenn die Seele durch die Sünde in Unordnung fällt bis hin zur Abwendung von ihrem letzten Ziel, nämlich Gott, mit dem sie durch die Liebe geeint ist, da Todsünde; wenn sie jedoch in Unordnung fällt ohne Abwendung von Gott, dann ist da lässliche Sünde. So wie nämlich im Körper die tödliche Unordnung, die durch die Beseitigung des Lebensprinzips entsteht, naturgemäß irreparabel ist, die Unordnung einer Krankheit aber repariert werden kann, weil das Lebensprinzip gewahrt bleibt, so steht es mit den Dingen, die die Seele angehen. Denn auch in spekulativen Dingen kann derjenige, der bei den Prinzipien irrt, nicht überzeugt werden, wer aber irrt und dabei die Prinzipien bewahrt, kann durch diese Prinzipien [zur Wahrheit] zurückgebracht werden.“ (Summa Theologiae II/I 72,5)

An einer anderen Stelle schreibt er: „Die Objekte von Akten aber sind deren Ziele, wie aus dem oben Gesagten klar ist. Und deshalb richtet sich der Unterschied der Schwere von Sünden nach dem Unterschied ihrer Objekte. So ist es klar, dass äußerliche Gegenstände auf den Menschen als ihr Ziel ausgerichtet sind; der Mensch aber ist darüber hinaus auf Gott als sein Ziel ausgerichtet. Somit ist eine Sünde, bei der es um die Substanz des Menschen selbst geht, wie Mord, eine schwerere Sünde als eine, bei der es um äußerliche Dinge geht, wie Diebstahl; und fernerhin ist eine noch schwerere Sünde die, die direkt gegen Gott begangen wird, wie Unglaube, Blasphemie und dergleichen.“ (Summa Theologiae II/I 73,3)

An einer wieder anderen Stelle schreibt er über den Unterschied zwischen Todsünde und lässlicher Sünde, die Todsünde verstoße direkt gegen ein Gebot, die lässliche Sünde „non est contra praeceptum, sed praeter praeceptum“, d. h. sie stehe nicht gegen das Gebot, sondern gehe eher an ihm vorbei – man handelt nicht nach dem Prinzip der Gottes- und Nächstenliebe, verstößt aber auch nicht ganz direkt gegen es. (Summa Theologiae II/II 105,1)

Das ist natürlich immer noch etwas schwammig in den Einzelheiten; und fraglich bleibt bei solchen Definitionen auch oft, wo man die „mittelschweren“ Sünden einordnen soll. Sagen wir mal:

  • Leichte Körperverletzung bei einer Prügelei unter Bekannten, die sich dann wieder versöhnen
  • Einnahme der harmloseren Drogen (z. B. Marihuana), in einem Staat, wo das legal ist
  • Längerfristig aufrecht erhaltene Feindseligkeiten und Streitereien innerhalb der Familie
  • Gelegentliche Flirts mit der Sekretärin, weil die Ehe gerade in einer Krise ist, ohne die Absicht, weiterzugehen
  • Gewohnheitsmäßiges Lügen, z. B. weil man unangenehme Tatsachen über sich selbst nicht zugeben will, aber ohne dass damit Schaden für andere angerichtet wird
  • Ladendiebstahl (Waren von geringem Wert)

Wo genau liegt die Grenze, z. B. im Bereich des Diebstahls, zwischen lässlicher und schwerwiegender Materie? Sicher kommt es auf den angerichteten Schaden beim Bestohlenen an (objektiv: Wie teuer war das Gestohlene? subjektiv: Wie sehr leidet der Bestohlene unter dem Verlust?), auf das Motiv des Diebs (Druck von anderen, Mutprobe, keine Lust, sein Geld auszugeben?), ob er so etwas gewohnheitsmäßig, vielleicht sogar gewerbsmäßig, tut oder nicht, etc. Und sicher kann man da nicht immer eine eindeutige Linie ziehen. Dazu spielen zu viele Faktoren hinein; es gibt Fälle, in denen eine Sünde nicht eindeutig schwer oder lässlich, sondern zweifelhaft schwer ist. Hier könnte man vielleicht wieder den Vergleich mit Krankheiten heranziehen: Manche Krankheiten sind gefährlich, aber nicht in jedem Fall tödlich. Ab wann im einzelnen Fall das wirkliche Nein zum Guten da ist, ist nicht immer ganz eindeutig – aber irgendwann ist es da, so wie bei Krankheiten irgendwann der Tod eintritt, auch wenn man nicht immer voraussehen kann, ob eine bestimmte schwere, nicht immer tödliche Krankheit unter diesen Umständen bei diesem Menschen tödlich enden wird.

Dann wären da auch noch zwei bestimmte Kategorien da, bei denen die Bestimmung oft schwierig ist: Die Unterlassungssünden und die Gedankensünden.

In der Rede vom Weltgericht fokussiert Jesus sich auf die Unterlassungssünden: „Dann wird er zu denen auf der Linken sagen: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und diese werden weggehen zur ewigen Strafe, die Gerechten aber zum ewigen Leben.“ (Matthäus 25,41-46) Ab wann wird eine Unterlassung, eine Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit, also zur schweren Sünde?

Anders ausgedrückt könnte diese Frage lauten: Welche Pflichten hat der Einzelne – je nach seinen Möglichkeiten –, die unter schwerer Sünde verpflichten? Hier kann man wieder auf die Zehn Gebote und andere Texte schauen, die Pflichten gegenüber Gott einerseits und dem Nächsten andererseits festschreiben. Der „Nächste“ kann im Grunde genommen jeder werden, mit dem man zufällig zu tun hat, auch ein Fremder (s. das Gleichnis vom barmherzigen Samariter), aber je enger die Beziehung, desto größer in der Regel die Verpflichtungen; deshalb wird auch im vierten Gebot die familiäre Beziehung besonders hervorgehoben. Seine Kinder oder alten Eltern muss man persönlich versorgen; wenn es um Obdachlose in der Innenstadt oder um hungernde Menschen in der Dritten Welt geht, denen man mit Geldspenden helfen könnte, kann man sich im Grunde aussuchen, wem von vielen Bedürftigen man hilft, und ab einem gewissen Grad auch, in welchem Maße (schließlich könnte man sich immer irgendwann sagen „wenn ich mir jetzt nicht noch eine Tasse Kaffee kaufen würde, könnte ich noch ein paar Euro mehr für verfolgte Christen spenden“). Hier gibt es wieder Graubereiche. Es kommt also einerseits darauf an, wie nahe einem jemand steht; und auf der anderen Seite natürlich auch darauf, wie dringend dessen Bedürfnis nach Hilfe ist (z. B. braucht jemand, der in der Straßenbahn zusammenbricht, sofort dringend Hilfe).

[Bei Unterlassungssünden muss man übrigens auch beachten, dass das physisch oder moralisch Unmögliche grundsätzlich nicht verpflichtet. Physisch unmöglich: Ich liege schwer krank im Bett und kann deshalb nicht in die Kirche gehen. Moralisch unmöglich: Ich bin zwar nicht so krank, dass ich es nicht schaffen würde, mich in die Kirche zu schleppen, aber mit meinem Fieber etc. wäre es besser für mich, mich auszuruhen, und außerdem will ich niemanden anstecken, gerade, wenn die vielleicht ein geschwächtes Immunsystem haben. Ein positives Gebot (du sollst etwas tun, z. B. sonntags in die Kirche gehen) unterscheidet sich in dieser Hinsicht von einem negativen (du sollst etwas nicht tun, z. B. unschuldige Menschen nicht direkt töten); letzteres kann immer eingehalten werden, ersteres nur, wenn man dazu die Fähigkeit, die Gelegenheit, die Mittel hat.]

Und dann wären da eben noch die Gedankensünden. In der Bergpredigt sagt Jesus: „Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ (Matthäus 5,28)  Ab wann werden Gedankensünden schwerwiegend?

Generell kann man sagen: Sünde ist es, sich zu wünschen, eine Sünde begehen zu können (so dass man sie begehen würde, wenn man könnte), sich an der Phantasie einer Sünde, ohne konkrete Absichten, sie auch zu begehen, zu freuen, oder sich am Gedanken an begangene Sünden zu freuen. [Natürlich sind hier bewusste Gedanken gemeint, keine unbewussten, die man gar nicht da haben wollte.] Daraus wird freilich noch nicht klar, wann genau das bewusste Phantasieren oder das Planen schwer sündhaft ist – beides kann es sein, und dabei kommt wohl hauptsächlich darauf an, ob diese Sünde selber schwer wäre, und dann darauf, ob der Gedanke flüchtig oder ernsthaft ist, oder ob man ihn schnell wieder verwirft oder ihn länger im Kopf behält. Wenn man sich ausführlich ausmalt, sich z. B. an jemandem zu rächen, kann das sehr wohl eine schwere Sünde sein; wenn man sich bei dem freudigen, aber noch eher halbherzigen Gedanken an so etwas ertappt und sich nach ein paar Sekunden zusammenreißt und seine Gedanken woanders hin lenkt, ist es eher eine lässliche. (Wenn einem der Gedanke in den Kopf kommen würde, ohne dass man ihn hervorgerufen hätte, und man nichts tun würde, um ihn dazubehalten, wäre es gar keine Sünde.) Bei Gedankensünden im Bereich des 6. Gebots (Unkeuschheit) wird schnell – eigentlich grundsätzlich, wenn man den Gedanken willentlich zustimmt – von schwerer Sünde ausgegangen, weil es hier eben doch um etwas Wichtiges geht, man sich leicht tiefer verstricken lässt und die Tatsünden auch schwer wären.

Ich habe schon mal geschrieben, dass ich wegen solcher praktischer Fragen mit der heute allgegenwärtigen Abneigung gegen die sog. „Kasuistik“ (moralische Fallanalyse) nichts anfangen kann; an älteren, vor dem 2. Vatikanum herausgegebenen Moraltheologiebüchern (von denen ich nur eins besitze, eines aus den 50ern) ist das Praktische, dass die Autoren bei jedem Punkt ihre Meinung dazu sagen, welche schwerwiegenden Verpflichtungen oder möglichen Sünden es hier gebe. Die muss vielleicht nicht immer in jeder Einzelheit richtig sein; aber jedenfalls gehen sie die Frage an.

 Letztlich ist wohl für die Praxis entscheidend: Wenn etwas schwere Sünde ist, muss die Kirche, und i. d. R. auch schon die Bibel, irgendwann schon mal etwas dazu gesagt haben. Wenn die Zehn Gebote da noch nicht ganz klar sind, dann wohl die Propheten, Jesus, Paulus oder der Katechismus. Was nirgendwo als schwer genug erachtet wurde, um ausdrücklich so genannt zu werden, kann nicht so schwer sein. Ja, es wird dann auch nicht immer ganz eindeutig – gerade bei so allgemeinen Geboten wie „Ehre Vater und Mutter“. Aber es gibt immerhin gewisse Richtlinien.