Ein Kreuzweg

Fotografiert in einer Klinikkapelle.

 

I. Jesus wird zum Tode verurteilt

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II. Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern

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III. Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz

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IV. Jesus begegnet seiner Mutter

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V. Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen

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VI. Veronika reicht Jesus das Schweißtuch

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VII. Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz

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VIII. Jesus begegnet den weinenden Frauen

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IX. Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz

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X. Jesus wird seiner Kleider beraubt

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XI. Jesus wird ans Kreuz genagelt

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XII. Jesus stirbt am Kreuz

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XIII. Jesus wird vom Kreuz abgenommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt

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XIV. Der heilige Leichnam Jesu wird in das Grab gelegt

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Helplessness and security

„But, stranger than all this, was the unmistakable atmosphere that seemed to enter with him – an atmosphere that from one side produced a sense of great fear and helplessness, and on the other of a kind of security. In an instant Monsignor felt as a wounded child might feel in the presence of a surgeon.“ (Robert Hugh Benson, The dawn of all, St. Louis 1911, S. 261.)

So könnte man sich manchmal vor Gott fühlen.

Aufhebung des Beichtgeheimnisses im Fall von sexuellem Missbrauch?

In Australien, wo in den letzten Jahren nicht wenige Missbrauchsfälle durch Kleriker publik geworden sind, steht der Vorschlag im Raum, ein Gesetz einzuführen, das Beichtväter verpflichten würde, Kindesmissbrauch, der ihnen gebeichtet wird, der Polizei zu melden. Ich verstehe die Argumente dafür: die Beichte sollte kein „rechtsfreier Raum“ sein, Kinder sollten vor einem Täter, der vielleicht weitere Taten begehen würde, geschützt werden, ein Priester kann es doch nicht einfach unter den Tisch kehren, wenn er von einem gefährlichen Straftäter weiß, usw. usf.

Trotzdem halte ich diesen Vorschlag für falsch.

Da gibt es natürlich einerseits die religiösen Begründungen für uns Katholiken: Das Beichtgeheimnis ist etwas absolut Heiliges. Eine staatliche Regierung hat nichts darüber zu sagen. Ein Priester darf das Beichtgeheimnis unter keinen Umständen brechen. Er ist nur das Sprachrohr zu Gott, er nimmt keine Informationen aus der Beichte mit, sondern wirkt bloß als Mittelsmann der göttlichen Vergebung. Das Beichtgeheimnis ist heilig.

Ich verstehe, dass Nichtkatholiken für diese Begründungen nicht viel übrig haben werden. Hier könnte man jetzt noch mit der Religionsfreiheit argumentieren – achtet, was anderen heilig ist, auch wenn ihr es nicht versteht. Aber wir wissen ja eigentlich alle, dass die Menschen im Allgemeinen nicht so freiheitlich eingestellt sind, dass sie etwas, das sie selbst für schrecklich halten, mit der Begründung „Uns ist das eben heilig“ automatisch dulden würden (und ich sage nicht, dass ich diese ihre Einstellung generell für ganz furchtbar falsch halte).

Aber dann sind da ja auch noch die praktischen Gründe: Wenn ein solches Gesetz eingeführt wäre, welcher Kinderschänder würde seine Taten denn dann noch beichten? Eben. Und nach dem status quo gibt es ja die Möglichkeit für einen Priester, die Absolution so lange zu verweigern, bis sich der Täter der Polizei gestellt hat. Er kann nach dem Kirchenrecht die Tat zwar nicht selbst anzeigen, aber er kann sehr wohl Druck ausüben. Nach der Einführung eines solchen Gesetzes dagegen würde er wahrscheinlich überhaupt nichts mehr von den Taten erfahren. Das Beichtgeheimnis kann also gerade dafür sorgen, dass Kinder besser geschützt werden.

Ich glaube, das hier könnte ein Beispiel für das Prinzip sein, dass „Der Zweck heiligt die Mittel“ oft nach hinten losgeht. Entscheidender für die Prävention von Missbrauch als ein eh schwer durchsetzbares symbolpolitisches Gesetz (wie will man es denn herausfinden, wenn ein Priester ihm gebeichteten Missbrauch nicht angezeigt hat?) ist, denke ich, das Vorgehen gegen das Wegschauen außerhalb der Beichte, und die Schulung für das Erkennen der Anzeichen von Missbrauch. Was den ganzen Schaden angerichtet bzw. verschlimmert hat, war ja nicht ein zu großer Respekt gegenüber der Heiligkeit des Bußsakramentes, sondern die Einstellung, den Opfern erst einmal nicht zu glauben oder sie gar nicht anhören zu wollen, keinen Skandal entstehen lassen zu wollen, das Wohl der Institution über das Wohl der Opfer zu stellen; die Naivität, Tätern gleich mal zu vertrauen, dass sie sich gebessert hätten und sie einfach zu versetzen statt zu belangen, das falsche Vertrauen darauf, dass mit ein bisschen Psychotherapie Kinderschänder schon gut werden; der fehlgeleitete Respekt gegenüber den Tätern, der Opfer und deren Familien daran hinderte, Anzeige zu erstatten.

Was genau ist eigentlich Hexerei/Magie?

Vor einiger Zeit hat mir jemand einmal von seiner westafrikanischen Heimat (einem mehrheitlich christlichen Land mit einer größeren muslimischen und einer kleineren heidnischen Minderheit) erzählt, und erwähnte dabei, dass es dort, obwohl, wie gesagt, die meisten Leute Christen seien wie er und ich, auch noch Menschen gäbe, die an „Magie“ glaubten. Diese Wortwahl kam mir damals sehr seltsam vor. Bei „Magie“ denke ich an Harry Potter oder Bibi Blocksberg, erfundene Figuren in harmlosen Büchern und Filmen, die von Geburt an besondere Fähigkeiten haben, mit denen sie besondere Dinge bewirken können; und nicht an irgendetwas Okkultes, was normale Menschen hier und heute tatsächlich zu praktizieren versuchen. Aber diese Verwendung des Begriffs „Magie“ ist ja eigentlich die ursprüngliche – und sie ist eindeutig nicht auf Afrika beschränkt.

Daran musste ich wieder denken, als ich diese Diskussion im Kommentarbereich von Huhn meets Ei über „Hexen“ und Neopaganismus/Schamanismus gelesen habe. Der Artikel an sich bemängelt vor allem die mangelnde Anstrengung der Kirche, ihr eigenes Angebot zu „bewerben“, und zieht dazu zum Vergleich ein Beispiel aus der Welt der Esoterik heran, nämlich eine sich selbst so nennende „Hexe Minerva“, die in Niedersachsen einen „Hexenhof“ betreibt und dort eine große Auswahl an Produkten und Dienstleistungen für nicht unbedingt niedrige Preise feilbietet, darunter Kräuterseifen, Talismane, Edelsteine, Orakel, persönliche Lebensberatung, Enttaufungen, „spirituelle Hochzeiten“, „Schamanische Reinigungen“ und „Auftragszauber“. Ich muss zugeben, was mich als erstes schockiert hat, als ich einen Blick auf ihre Webseite geworfen habe, war ihre Form der Zeichensetzung und Rechtschreibung (hier zum Beispiel ist von „Rieten“ und „Uhrvölkern“ die Rede – finde den Fehler); aber was sie dort so anbietet, ist natürlich auch nicht ganz unproblematisch aus christlicher Sicht.

In den Kommentaren unter dem besagten Artikel jedenfalls konzentrierte sich die Diskussion weniger auf die Frage nach der kirchlichen PR-Arbeit; katholische Kommentatoren bezeichneten insbesondere die „Enttaufungen“ als „etwas Dämonisches“ und „Teufelswerk“, woraufhin sich andere Kommentatoren zugunsten der „Hexe Minerva“ einschalteten, z. B. eine Kommentatorin mit längeren Beiträgen über das Thema Toleranz (also darüber, wie schlimm es ist, Begriffe wie „Teufelswerk“ zu verwenden) und ihre Meinung darüber, wie grässlich das Christentum doch ist. Und ich dachte mir, das wäre eine gute Gelegenheit, anzusehen, um welche spirituellen Praktiken genau es hier eigentlich geht, wieso jemand die als „etwas Dämonisches“ sehen kann, und wieso sie aus christlicher Sicht überhaupt problematisch sind. Bleiben wir bei diesem „Hexenhof“ als Beispiel.

Auf Hexe Minervas Webseite heißt es über Auftragszauber:

„Magie ist Energie und Energie fließt. Sie kann also überall eingesetzt werden, wo sie benötigt wird, je nach Wunsch. Ich biete so genannte „Auftragszauber “ an. Das heißt, Du erteilst mir einen Auftrag, für einen bestimmten Zauber und ich führe diesen aus.

Dies könnte sein:

Zauber für Liebe und Leidenschaft

Arbeit und Karriere

Gesundheit und Wohlergehen

Kraft und Heilungszauber

Glück und Schutz

Gegen Angriffe / Schwarze Magie

gegen Flüche / Familienschutz/Aufhebung

Loslassen und Trennungszauber

Erfolg“

Weiter unten stellt sie klar:

„Was ich aus meiner Ethik als Hexe heraus nicht tue: Ich absolviere grundsätzlich keine Zauber, die mit „Dritten“ zu tun haben und / oder jemand „Drittes“ beeinflussen sollen. Des Weiteren auch keinen Schadenszauber & so genannte Partnerrückführungen. Ich übernehme keinerlei Verantwortung für das Leben anderer Menschen, die für Ihr tun selbst Verantwortlich sind! Meine Magie ist eine Hilfestellung. Sie macht aus einem Tellerwäscher keinen Millionär. Ich verspreche nicht das „Blaue vom Himmel“, sehe meine Magie als eine Hilfestellung für Sie an, Dinge in Gang zu bringen, zu beschleunigen oder nachzuhelfen.“

Na dann. Auch in den Abschnitten dazwischen hat sie übrigens schon erklärt, wieso man sich nicht wundern soll, wenn ihre Magie nicht gleich wirkt, oder nicht so, wie man es sich eigentlich vorgestellt; nicht, dass sich Kunden noch beschweren. Die Annahme, dass es sich bei den Zaubern für je 125 Euro schlichtweg um Betrug handeln könnte, klingt damit, sagen wir, nicht völlig unplausibel – aber das muss auch nicht unbedingt der Fall sein. Jemand kann auch gutes Geld mit etwas verdienen, an das er ernsthaft glaubt. (Das gilt übrigens auch für, sagen wir mal, Renaissancepäpste.) Und sie kann ja ernsthaft glauben, dass Zauber auf ihre eigene Art und Weise wirken müssen und ihre Zeit brauchen.

Schauen wir hier weiter, was sie über schamanische Orakelsitzungen (30 min macht 60 €) schreibt:

„Eine Sitzung ist immer ein wenig unterschiedlich, findet im Geschützen Geister Raum statt. Sie ist sehr persönlich. Sie können direkt daran teilnehmen und Ihre Fragen stellen. Ihre Geister und Ahnen werden angehalten zu helfen und sich Ihnen durch das Orakel mitzuteilen. Diese Art von Schau, basiert auf verschiedenen Uralten Schamanischen Techniken.“

Nehmen wir also mal an, sie ist vollkommen ehrlich und glaubt an alles, was sie so auf ihrer Webseite über „Energie“ und „Energie Wesen“ (Das ist ein zusammengesetztes Substantiv! Ohne Leerstelle! Entschuldigung.), „Geister und Ahnen“, „uralte schamanische Techniken“ und „Kraftquellen“ schreibt, und das ist nicht nur Geldmacherei. Schön.

Bei dieser Art Magie geht es also, zusammengefasst, darum, diverse Geistwesen – seien es die eigenen Ahnen oder irgendwelche Erdgöttinnen oder Energiegeister – herbeizuzwingen, um von ihnen entweder Informationen zu bekommen oder sie dazu zu bringen, Dinge für einen zu bewirken, z. B. Erfolg im Beruf, oder auch, was Minerva hier allerdings eben nicht anbietet, Schaden für persönliche Feinde; oder es geht darum, bestimmte Gegenstände als Talismane zum eigenen Schutz oder Nutzen zu verwenden, was sowohl eher harmlos – Heilkristalle, Amulette – als auch unter manchen Umständen ziemlich schlimm aussehen kann (zum Beispiel in manchen afrikanischen Ländern, wo Albinos ermordet und ihre Körperteile als Glücksbringer verkauft werden) Auch die Anrufung von Geistern kann natürlich ganz unterschiedlich aussehen; ein Phönizier, der ein Kleinkind opfert, ist offensichtlich etwas anderes als ein Teenager mit einem Ouija-Brett oder Hexe Minerva mit was auch immer genau sie in ihren Sitzungen verwendet. Zu dieser Art von Magie gehören Gläserrücken, Wahrsagen, Voodoo-Puppen (oder das europäische Pendant: Atzmänner), Tarotkarten, Pendeln, und dergleichen – keine Zauberstäbe und Quidditch-Spiele. Schade.

Die christliche Kritik an alldem kann natürlich erstens lauten, dass es Blödsinn ist, der nicht funktioniert. Ein Stein, den du um deinen Hals trägst, wird dir kein Glück bringen. Da besteht kein logischer Zusammenhang. Für einen Menschenknochen gilt dasselbe. Solcher Aberglaube ist schlecht, weil man sein Vertrauen in unsinnige und unlautere (und manchmal entsetzliche) Praktiken statt in Gott setzt, er ist ein Verstoß gegen das erste Gebot, nur den einen wahren Gott zu verehren.

Die ganzen Lehren, die dahinter stehen, sind einfach falsch; es ist ein unethischer und letztlich fruchtloser Versuch, geheime Macht über das Schicksal, die Natur oder andere Menschen zu gewinnen; man will geheime Mächte nach seinem Willen lenken. Ich glaube, ein Großteil der Anziehungskraft des Okkultismus liegt darin, dass es sich hier um eine Art geheimes Wissen, um besondere Kräfte handelt, von denen andere Menschen nichts ahnen. Man kommt in einen inneren Kreis der Privilegierten, der Eingeweihten hinein. Man macht sich eine Welt zunutze, die andere gar nicht kennen. Im Katechismus der Katholischen Kirche heißt es dazu:

„Sämtliche Formen der Wahrsagerei sind zu verwerfen: Indienstnahme von Satan und Dämonen, Totenbeschwörung oder andere Handlungen, von denen man zu Unrecht annimmt, sie könnten die Zukunft „entschleiern“ [Vgl. Dtn 18,10; Jer 29,8.]. Hinter Horoskopen, Astrologie, Handlesen, Deuten von Vorzeichen und Orakeln, Hellseherei und dem Befragen eines Mediums verbirgt sich der Wille zur Macht über die Zeit, die Geschichte und letztlich über die Menschen, sowie der Wunsch, sich die geheimen Mächte geneigt zu machen. Dies widerspricht der mit liebender Ehrfurcht erfüllten Hochachtung, die wir allein Gott schulden.

Sämtliche Praktiken der Magie und Zauberei, mit denen man sich geheime Mächte untertan machen will, um sie in seinen Dienst zu stellen und eine übernatürliche Macht über andere zu gewinnen – sei es auch, um ihnen Gesundheit zu verschaffen -‚ verstoßen schwer gegen die Tugend der Gottesverehrung. Solche Handlungen sind erst recht zu verurteilen, wenn sie von der Absicht begleitet sind, anderen zu schaden, oder wenn sie versuchen, Dämonen in Anspruch zu nehmen. Auch das Tragen von Amuletten ist verwerflich. Spiritismus ist oft mit Wahrsagerei oder Magie verbunden. Darum warnt die Kirche die Gläubigen davor. Die Anwendung sogenannter natürlicher Heilkräfte rechtfertigt weder die Anrufung böser Mächte noch die Ausbeutung der Gutgläubigkeit anderer.“ (KKK, Nr. 2116-2117)

Problematischer als bloße Talismane sind natürlich alle Praktiken, bei denen Geister direkt angerufen werden – vor allem aus den Gründen, die der Katechismus nennt, aber nicht nur.

Wir Katholiken glauben auch, dass es tatsächlich Geistwesen gibt, nämlich die sog. Engel, die wie wir Menschen einen freien Willen haben, und sich für oder gegen Gott entscheiden mussten, weshalb es gute Engel und böse Engel (die gefallenen Engel oder Dämonen) gibt. Dämonen sind, ebenso wie die guten Engel, weder allwissend noch allmächtig. Sie können uns daher nicht einfach nach Belieben schaden. Aber… es gibt die theoretische Möglichkeit, dass Dämonen Zugang zu und Einfluss über Menschen gewinnen könnten, wenn die sich durch okkulte Praktiken selbst für „Geister“ öffnen, indem sie sich zum Beispiel als „Medium“ zur Verfügung stellen. Geister sind nicht immer gut, und manchmal kommen vielleicht tatsächlich Geister, die man lieber nicht hätte da haben wollen, wenn sie denn schon eingeladen werden. Natürlich können Geschöpfe immer nur so viel Schaden anrichten, wie Gott zulässt. Zwar lässt Gott auch uns Menschen mit unserem freien Willen so einigen Schaden anrichten, aber wir haben genauso wenig unbegrenzte Macht wie eben die Engel. Aber trotzdem, aus katholischer Sicht ist es wirklich nicht anzuraten, nur mal zum Spaß Gläserrücken auszuprobieren.

Nein, ich glaube nicht, dass der Teufel auf jeden Abergläubischen lauert. Mich hat man als Kind mal zum Warzenabbeten mitgenommen, und, guess what, keine dämonische Besessenheit, kein Bedarf, sich wegen eines Exorzisten ans Bistum zu wenden. (Die Warzen waren allerdings auch nicht weg.) Aber trotzdem würde ich ohne Ausnahme die Finger von so etwas lassen. Man hat keine Ahnung, was für ein Geist beim Gläserrücken antwortet, wenn denn da ein Geist antwortet und das Ganze nicht nur durch Autosuggestion und Betrug funktioniert.

Übrigens, das Argument, dass okkulte Praktiken fruchtlos sind, bleibt bestehen, wenn man annimmt, dass böse Geister gelegentlich antworten könnten. Wer glaubt denn, dass der „Vater der Lüge“ (als angeblicher Geist von Onkel Manfred) einem beim Gläserrücken tatsächlich die Wahrheit erzählen würde? Oder dass er die Macht hätte, einem selber Glück im Beruf zu verschaffen, oder dem bösen Nachbarn eine Krankheit, im Fall eines Schadenszaubers? Und gute Engel lassen sich nicht auf diese Weise herbeizitieren, und Tote auch nicht. Vielleicht erscheinen sie einem manchmal von selber mit Gottes Erlaubnis / auf Gottes Anweisung hin. Aber man kann sie nicht herbeizwingen.

Das also sind, grob gesagt, die Gründe, wieso Hexerei im Sinne von Okkultismus und Spiritismus – die immer existiert hat, zu manchen Zeiten und Orten bloß etwas auffälliger als zu anderen (zum Beispiel war der Spiritismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der feinen europäischen Gesellschaft sehr beliebt) – aus christlicher Sicht schlecht ist.

Die Schamanen glauben vielleicht an das, was sie tun, wenn nicht immer, dann doch oft genug, und haben vielleicht auch das Gefühl, mit ihren Diensten Gutes zu tun. Sie wollen keine bösen Geister herbeirufen, sondern gute – wie sie auch immer auf die Idee gekommen sind, dass das funktionieren wird. Die meisten ihrer Kunden wollen vielleicht einfach mal gucken, nehmen das selber gar nicht so richtig ernst, oder aber lassen sich von der Verbundenheit-mit-der-Natur-Rhetorik von Leuten wie Minerva von deren Theorien überzeugen. Diese Vorstellungen sind ja auch nicht – auch wenn Heilkristalle o. Ä. das sind – von vorne bis hinten vollkommen falsch. Nö, Irrlehren haben oft einen wahren Kern, den sie dann überdehnen. Zum Beispiel hier:

„Die Natur ist für uns beseelt , heilig und voller Magie. Alles ist mit dieser Essenz versehen und jeder Mensch, jedes Tier, ja sogar jeder Stein besitzt seine Heiligkeit und seine Kraft. […] ‚Anam cara‘ – alle Seelen sind miteinander verbunden.- So sagen die Kelten… Das Hauptanliegen ist es, Sie mit Techniken vertraut zu machen, welche es Ihnen  ermöglichen wieder Kontakt zu Ihren  Wurzeln und Ahnen aufzunehmen. Die Gesetzmäßigkeiten der Natur kennenzulernen, zu leben und so Kraft und innere Heilung zu erfahren. Die eigene Mitte zu finden Ein Treffpunkt, ein Versammlungspunkt, wie ein Kraftquelle-, soll der Hexen Hof sein, Kreativität und Spiritualität fördern, egal wo Sie herkommen und egal wo Sie hin wollen. Den Bezug zur Mutter Erde wollen wir herstellen und viel Raum für eigene Erfahrungen lassen. Der Heiligkeit der Natur und unsere Ahnen erfahren, sich somit selbst in unserem Innersten begegnen…. Ihr sollt bei uns einen Ort finden, der neugierig macht, nach innen zu forschen – die eignen Kraftquellen und Wurzeln kennenzulernen, ganz ohne die Ablenkung der Zivilisation. Wir sind kein Seminar Hof im herkömmlichen Sinne, vielmehr sind wir ein Ort der Begegnung und des Erfahrungsaustausches. Wo Einfachheit und ursprüngliche Natur ihre Wirkung entfalten sollen und Seelen sich in ihrem tiefsten inneren Begegnen…“

Mir wäre es ja lieber, wenn sie sich „in ihrem tiefsten Inneren begegnen“ würden.

Okay, zum eigentlichen Punkt. Nehmen wir das Gelaber mal auseinander:

  • „Die Natur ist beseelt und heilig“: Kommt darauf an, was man darunter versteht. Die Natur ist von Gott geschaffen und, ja, sie spiegelt etwas von Seinem Wesen wider. Die ganze Schöpfung ist wunderbar. Ich liebe es, Buchenblätter oder Buschwindröschen anzusehen. Tiere sind faszinierend, Geologie ist faszinierend, und Astrophysik ist faszinierend. Pflanzen oder Tiere sind nicht einfach nur verwendbares Material, sie sind mehr. Wir sollen sie behüten. ABER: Die Natur ist gefallen, sie ist nicht perfekt, wie sie sein sollte. In ihr gibt es schlechte Dinge – Tod, Schmerzen, „Fressen oder gefressen werden“. Und in einem Stein steckt nun einmal kein Geist, und die Natur ist auch nicht selbst göttlich.
  • „Bezug zur Mutter Erde“: Wie gesagt, die Natur ist etwas sehr Gutes. Bezug zur Natur ist etwas Gutes, das unter manchen Umständen tatsächlich der Psyche helfen könnte. Ein Waldspaziergang muntert auf, ja, doch, soweit okay. Verständnis für die Natur und Rücksicht auf sie ist auch gut. Man muss beim Waldspaziergang ja nicht seinen Müll zwischen die Bäume werfen. Aber das hier klingt wieder nach Vergöttlichung der Natur, also nach Pantheismus, und speziell nach einem Pantheismus mit einer weiblichen Erdgöttin. Hier wird vielleicht deutlich, wieso Gott im Christentum mit männlichen Pronomen versehen und als „Vater“ angeredet wird, obwohl es in der Bibel auch weibliche Metaphern für Gott gibt und Gott natürlich nicht unseren Geschlechterkategorien untergeordnet ist: Der Vatergott bringt die Vorstellung eines ferneren Schöpfers mit sich, während die Muttergöttin eher eine pantheistische Vorstellung der Erde / der Natur, die die einzelnen Geschöpfe dann „gebiert“, weckt. Es gibt aber eben keine „Mutter Erde“ als Person, zu der wir eine persönliche Beziehung haben können – falls das hier gemeint ist. Der Pantheismus ist in sich unlogisch, denn er nimmt einem letztlich die Möglichkeit, das Schlechte in der Natur – Tod etc. – als wirklich schlecht anzuerkennen – schließlich gehört es ja auch zur Natur. Ein außerhalb und oberhalb der gefallenen Welt stehender Schöpfergott, der das Gute liebt und gerecht über Gut und Böse richtet, lässt einem diese Möglichkeit.
  • „Alle Seelen sind miteinander verbunden“: Wir haben einen gemeinsamen Vater im Himmel, wir sind alle Geschwister, sind eine solidarische Gemeinschaft, jep, alles gut. Solange man diesen Satz nicht in dem Sinne interpretiert, dass es nur eine große Weltseele gibt, von der jede einzelne Seele nur ein kleiner Teil ist, kann man ihn irgendwie sinnvoll hinbiegen.
  • „ein Ort, der neugierig macht, nach innen zu forschen – die eignen Kraftquellen und Wurzeln kennenzulernen, ganz ohne die Ablenkung der Zivilisation“: Zivilisation ist nichts Schlechtes. Zivilisation bedeutet einfach gut organisiertes, solidarisches menschliches Zusammenleben. Ohne Zivilisation gäbe es auch den Hexenhof nicht. Okay, ja, manchmal will man sich von anderen Menschen zurückziehen. Aber das heißt eben nicht, dass Autobahnen, Abwasserleitungen, Supermärkte und Büros etwas Schlechtes sind. Nach innen forschen – klingt okay. Ab und zu braucht es den Blick auf die eigene Seele wohl. Bei Exerzitien wird wohl auch so was Ähnliches gemacht. Eigene Kraftquellen – was ist damit gemeint? Ominöse Energieströme? Oder soll man einfach die eigenen Stärken erkennen, damit man sie sich bei zukünftigen Problemen zunutze machen kann?
  • „Kontakt zu ihren Wurzeln und Ahnen“: Okay, und was ist z. B. mit der giftigen, mit der ganzen Verwandtschaft zerstrittenen Großtante, die vorletztes Jahr an Krebs gestorben ist und bei deren Beerdigung – seien wir ehrlich – man ihr zwar nichts Böses mehr gewünscht hat, aber auch nicht allzu viele Tränen um sie geflossen sind? Ernsthaft: Ja, meine Ahnen haben eine gewisse Bedeutung dafür, wer und was ich jetzt bin, aber sie waren auch nur Menschen. Es ist gut, den lieben verstorbenen Großvater in Ehren zu halten, es schadet nicht, die Geschichte der eigenen Familie zu verstehen, aber sollte ich nicht lieber mehr Kontakt zu meiner noch lebenden Familie haben? Und von den Toten heraufbeschwören möchte ich meine armen Großeltern oder Urgroßeltern, die jetzt endlich ihre Ruhe vor dieser Welt haben, ganz sicher nicht mehr, falls es hier darum gehen sollte.
  • „Die eigene Mitte finden“: Was genau will uns das sagen? Das eigene Ziel im Leben finden, um das man das Leben dann ausrichten kann? Ausgeglichenheit finden? Was heißt das hier genau?

Solche Texte enthalten viel Selbstverständliches gepaart mit einigem Blödsinn und viel, viel Gelaber, bei dem man nicht weiß, in welche Richtung es geht: Perfektes Rezept, um Leute anzulocken.

So viel zu der ganzen Naturmystik, die nicht zwangsläufig mit Hexerei zusammenhängt, allerdings im Fall solcher Anbieter von natürlicher / schamanischer Spiritualität oft mit ihr einhergeht und dabei hilft, Leute zu „magischen“ Praktiken hinzuführen.

Übrigens hat die Bezeichnung „Neopaganismus“ für dieses ganze Konglomerat auch ihre Schwächen; denn als pagane („heidnische“) Religionen bezeichnet man im Christentum ja eigentlich alle nicht-jüdischen, vorchristlichen Mythologien, Philosophien und spirituellen Praktiken – und der Konfuzianismus, die Stoa, der Zoroastrismus oder der Buddhismus haben nicht viel mit Gläserrücken oder Auftragszaubern zu tun. Auch den ursprünglichen afrikanischen oder indianischen Religionen wird man nicht gerecht, wenn man sie mit deutschem Schamanismus gleichsetzt. Viele dieser unterschiedlichen Religionen kennen zum Beispiel den Glauben an einen einzigen Gott, auch wenn der als sehr weit entfernt von der Welt der Menschen gedacht wird, und man sich für praktische Probleme eher an die Zwischenwelt der Geister wendet. Aber auch in anderen Dingen unterscheiden sie sich vom „Neopaganismus“. Wir sollten fairer gegenüber dem Heidentum sein.

Über schwierige Bibelstellen, Exkurs: Über das Ringen mit Gott (und der Bibel) – Weisheit 12 vs. Genesis 32 (u. a.)

[Dieser Teil würde nach der Veröffentlichung noch einmal überarbeitet.]

Ich habe in Teil 13 (über die Landnahme) eine Bibelstelle zitiert, in der sich folgende Zeilen finden:

„Denn wer darf sagen: Was hast du getan?/ Wer vermag sich deinem Urteilsspruch zu widersetzen? Wer könnte dich anklagen wegen des Untergangs von Völkern, die du selbst geschaffen hast? Wer wollte vor dich treten als Anwalt ungerechter Menschen? Denn es gibt keinen Gott außer dir, der für alles Sorge trägt; daher brauchst du nicht zu beweisen, dass du gerecht geurteilt hast. Kein König und kein Herrscher kann dich zur Rede stellen wegen der Menschen, die du gestraft hast.“ (Weisheit 12,12-14)

Ich bin hier schon einmal darauf eingegangen, dass ich es für sehr nötig halte, darzulegen, dass der Gott der Bibel ein gerechter Gott ist, und deshalb klarzumachen, wie Stellen wie die über die Landnahme verstanden werden sollten, und wie sie nicht verstanden werden sollten. Dagegen könnte man ja einwenden: Wieso fragt man überhaupt, wie sich Bibelstellen rechtfertigen lassen, ob Gott da und da nicht ungerecht handelt, usw.? Sollte man auf alle diese Fragen nicht einfach sagen: Gott hat es nicht nötig, sich zu verteidigen, akzeptier unhinterfragt, was Er sagt und tut. Und diese Bibelstelle selbst scheint genau diesen Einwand vorzubringen.

Ich antworte darauf, dass es zwei Arten gibt, Gott zu „hinterfragen“. Die eine Art stellt wirklich seine Gutheit infrage; die andere Art will einfach verstehen, was genau seine Gutheit bedeutet und wie sie mit diesen und jenen auf den ersten Blick unverständlichen Aussagen zusammenpasst. Es ist wirklich nötig, wenn man einmal erkannt hat, dass der Gott der Bibel

a) der wirkliche Gott ist,

und

b) vollkommen gut ist

auf Ihn zu vertrauen und nicht mehr an diesen Grundwahrheiten zu zweifeln. Aber wissen zu wollen, was genau das dann bedeutet, ist nicht falsch. Manchmal muss man solche Detailfragen zurückstellen und abwarten, bis man eine gute Antwort findet, im Vertrauen darauf, dass es eine geben muss; aber sie sind prinzipiell absolut gerechtfertigt.

Und wir brauchen zum einen dann auch ein vollständiges Bild dessen, was die Bibel zum Thema „Gott hinterfragen/mit Gott ringen“ sagt. (Zum anderen brauchen wir die obigen Verse im Zusammenhang – aber dazu unten.) Sie enthält nämlich u. a. auch folgende Stellen:

„In derselben Nacht stand er [Jakob] auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde sowie seine elf Kinder und durchschritt die Furt des Jabbok. Er nahm sie und ließ sie den Fluss überqueren. Dann schaffte er alles hinüber, was ihm sonst noch gehörte. Als er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg. Als der Mann sah, dass er ihn nicht besiegen konnte, berührte er sein Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang. Er sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Er entgegnete: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest. Er fragte ihn: Wie ist dein Name? Jakob, antwortete er. Er sagte: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel – Gottesstreiter – ; denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und gesiegt. Nun fragte Jakob: Nenne mir doch deinen Namen! Er entgegnete: Was fragst du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn dort. Jakob gab dem Ort den Namen Peniël – Gottes Angesicht – und sagte: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen. Die Sonne schien bereits auf ihn, als er durch Penuël zog; er hinkte an seiner Hüfte. Darum essen die Israeliten den Muskelstrang über dem Hüftgelenk nicht bis auf den heutigen Tag; denn er hat Jakobs Hüftgelenk, den Hüftmuskel berührt.“ (Genesis 32,23-33) (Eine erst mal sehr kryptische Geschichte, nicht wahr?)

Der HERR erschien Abraham bei den Eichen von Mamre, während er bei der Hitze des Tages am Eingang des Zeltes saß. Er erhob seine Augen und schaute auf, siehe, da standen drei Männer vor ihm. Als er sie sah, lief er ihnen vom Eingang des Zeltes aus entgegen, warf sich zur Erde nieder und sagte: Mein Herr, wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, geh doch nicht an deinem Knecht vorüber! […] Die Männer erhoben sich von dort und schauten auf Sodom hinab. Abraham ging mit ihnen, um sie zu geleiten. Da sagte der HERR: Soll ich Abraham verheimlichen, was ich tun will? Abraham soll doch zu einem großen, mächtigen Volk werden, durch ihn sollen alle Völker der Erde Segen erlangen. Denn ich habe ihn dazu ausersehen, dass er seinen Söhnen und seinem Haus nach ihm gebietet, den Weg des HERRN einzuhalten und Gerechtigkeit und Recht zu üben, damit der HERR seine Zusagen an Abraham erfüllen kann. Der HERR sprach: Das Klagegeschrei über Sodom und Gomorra, ja, das ist angeschwollen und ihre Sünde, ja, die ist schwer. Ich will hinabsteigen und sehen, ob ihr verderbliches Tun wirklich dem Klagegeschrei entspricht, das zu mir gedrungen ist, oder nicht. Ich will es wissen. Die Männer wandten sich ab von dort und gingen auf Sodom zu. Abraham aber stand noch immer vor dem HERRN. Abraham trat näher und sagte: Willst du auch den Gerechten mit den Ruchlosen wegraffen? Vielleicht gibt es fünfzig Gerechte in der Stadt: Willst du auch sie wegraffen und nicht doch dem Ort vergeben wegen der fünfzig Gerechten in ihrer Mitte? Fern sei es von dir, so etwas zu tun: den Gerechten zusammen mit dem Frevler töten. Dann ginge es ja dem Gerechten wie dem Frevler. Das sei fern von dir. Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben? Da sprach der HERR: Wenn ich in Sodom fünfzig Gerechte in der Stadt finde, werde ich ihretwegen dem ganzen Ort vergeben. Abraham antwortete und sprach: Siehe, ich habe es unternommen, mit meinem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin. Vielleicht fehlen an den fünfzig Gerechten fünf. Wirst du wegen der fünf die ganze Stadt vernichten? Nein, sagte er, ich werde sie nicht vernichten, wenn ich dort fünfundvierzig finde. Er fuhr fort, zu ihm zu reden: Vielleicht finden sich dort nur vierzig. Da sprach er: Ich werde es der vierzig wegen nicht tun. Da sagte er: Mein Herr zürne nicht, wenn ich weiterrede. Vielleicht finden sich dort nur dreißig. Er entgegnete: Ich werde es nicht tun, wenn ich dort dreißig finde. Darauf sagte er: Siehe, ich habe es unternommen, mit meinem Herrn zu reden. Vielleicht finden sich dort nur zwanzig. Er antwortete: Ich werde sie nicht vernichten um der zwanzig willen. Und nochmals sagte er: Mein Herr zürne nicht, wenn ich nur noch einmal das Wort ergreife. Vielleicht finden sich dort nur zehn. Er sprach: Ich werde sie nicht vernichten um der zehn willen. Der HERR ging fort, als er aufgehört hatte, zu Abraham zu reden, und Abraham kehrte an seinen Ort zurück.“ (Genesis 18,1-3.16-33)

„Es war am Ende der vierzig Tage und der vierzig Nächte, als mir der HERR die beiden Steintafeln, die Tafeln des Bundes, übergab und zu mir sagte: Steh auf, steig rasch hinunter, weg von hier; denn dein Volk, das du aus Ägypten geführt hast, läuft ins Verderben. Sie sind rasch von dem Weg abgewichen, auf den ich sie verpflichtet habe. Sie haben sich ein Bildnis gegossen. Weiter sagte der HERR zu mir: Ich habe mir dieses Volk angesehen. Ja, es ist ein hartnäckiges Volk. Lass mich, damit ich sie vernichte, ihren Namen unter dem Himmel auslösche und dich zu einem Volk mache, das mächtiger und zahlreicher als dieses ist! Ich wandte mich um und stieg den Berg hinunter. Der Berg stand in Feuer. Ich trug die beiden Tafeln des Bundes auf meinen Armen. Und ich sah, was geschehen war: Ja, ihr hattet euch an dem HERRN, eurem Gott, versündigt, ihr hattet euch ein Kalb gegossen, ihr wart rasch von dem Weg abgewichen, auf den der HERR euch verpflichtet hatte. Ich packte die beiden Tafeln, die ich auf meinen Armen trug, schleuderte sie fort und zerschmetterte sie vor euren Augen. Dann warf ich mich vor dem HERRN wie beim ersten Mal nieder. Vierzig Tage und vierzig Nächte aß ich kein Brot und trank kein Wasser, wegen all der Sünde, die ihr begangen hattet, indem ihr tatet, was in den Augen des HERRN böse ist, sodass ihr ihn erzürntet. Denn ich hatte Angst vor dem glühenden Zorn des HERRN. Er war voll Unwillen gegen euch und wollte euch vernichten. Doch der HERR erhörte mich auch diesmal. (Deuteronomium 9,11-19)

Mit Gott zu streiten, mit Gott zu ringen, mit Gott zu verhandeln, Gott zu hinterfragen, hartnäckig Bitten an Gott zu richten, damit Er etwas anders macht, als Er es ursprünglich geplant hatte… das alles wird in diesen Stellen als gut dargestellt.

Anderswo in der Bibel wird deutlich, wie diese Stellen zusammengebracht werden können.

Da wäre einerseits das Buch Ijob. Ijob, der schweres Leid ertragen muss, klagt über sein Schicksal, verzweifelt daran. „Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, die Nacht, die sprach: Ein Knabe ist empfangen. […] Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg, kam ich aus dem Mutterleib und verschied nicht gleich?“ (Ijob 3,3.11)

Und er klagt Gott an: Habe ich gefehlt? Was tat ich dir, du Menschenwächter? Warum hast du mich zu deiner Zielscheibe gemacht, sodass ich mir selbst zu einer Last geworden bin? „ (Ijob 7,20)

Dabei bekennt er mit bitteren Worten seine eigene Hilflosigkeit vor dem Herrn: Wie sollte denn ich ihm Antwort geben, wie meine Worte gegen ihn wählen? Und wäre ich im Recht, ich könnte nicht antworten, um Gnade müsste ich bei meinem Richter flehen. Wollte ich rufen, würde er mir Antwort geben? Ich glaube nicht, dass er auf meine Stimme hört. Er, der im Sturm mich niedertritt, ohne Grund meine Wunden mehrt, er lässt mich nicht zu Atem kommen, er sättigt mich mit Bitternis. Geht es um Kraft, er ist der Starke, geht es um Recht, wer lädt mich vor? (Ijob 9,14-19)

Ich sage zu Gott: Sprich mich nicht schuldig, lass mich wissen, warum du mich befehdest! Was hast du davon, dass du Gewalt verübst, dass du die Mühsal deiner Hände verwirfst, doch über dem Plan der Frevler aufstrahlst? Hast du die Augen eines Sterblichen, siehst du, wie Menschen sehen? Sind Menschentagen deine Tage gleich und deine Jahre wie des Mannes Tage, dass du Schuld an mir suchst, nach meiner Sünde fahndest, obwohl du weißt, dass ich nicht schuldig bin und dass keiner retten kann aus deiner Hand?“ (Ijob 10,2-7)

Seine Freunde, die ihn besuchen gekommen sind, sind empört angesichts solcher scheinbarer Blasphemie und machen sich sofort an die Aufgabe, Gott zu verteidigen: Gott ist gerecht, Ijob muss gesündigt und sich sein Leid verdient haben, da mag er noch so sehr seine Unschuld beteuern. „Wie lange noch willst du derlei reden? Nur heftiger Wind sind die Worte deines Mundes. Beugt etwa Gott das Recht oder beugt der Allmächtige die Gerechtigkeit?“ (Ijob 8,2f.) „O, dass Gott doch selber spräche, seine Lippen öffnete gegen dich. Er würde dich der Weisheit Tiefen lehren, dass sie wie Wunder sind für den klugen Verstand. Du würdest erkennen, dass Gott von deiner Schuld noch manches übersieht. Die Tiefen Gottes willst du finden, bis zur Vollkommenheit des Allmächtigen vordringen? Höher als der Himmel ist sie, was machst du da? Tiefer als die Unterwelt, was kannst du wissen?“ (Ijob 11,5-8)

Am Ende aber schaltet Gott sich selbst ein, als erstes mit zwei langen, an Ijob gerichteten Reden in den Kapiteln 38-41.

Zuerst scheint Er im Sinne der Freunde zu sprechen: „Da antwortete der HERR dem Ijob aus dem Wettersturm und sprach: Wer ist es, der den Ratschluss verdunkelt mit Gerede ohne Einsicht? Auf, gürte deine Lenden wie ein Mann: Ich will dich fragen, du belehre mich! Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn, wenn du Bescheid weißt! Wer setzte ihre Maße? Du weißt es ja. Wer hat die Messschnur über sie gespannt? […] Mit dem Allmächtigen will der Tadler rechten? Wer Gott anklagt, der antworte nun! (Ijob 38,1-5; 40,2)

„Da antwortete der HERR dem Ijob aus dem Wettersturm und sprach: Auf, gürte deine Lenden wie ein Mann! Ich will dich fragen, du belehre mich! Willst du wirklich mein Recht brechen, mich schuldig sprechen, damit du Recht behältst? Hast du denn einen Arm wie Gott, dröhnst du wie er mit Donnerstimme?“ (Ijob 40,6-9)

Allzu zornig wirkt das zwar nicht, aber sehr klar und deutlich.

Aber dann, in Kapitel 42, richtet Er Sein Wort noch an jemand anderen: „“Als der HERR diese Worte zu Ijob gesprochen hatte, sagte der HERR zu Elifas von Teman: Mein Zorn ist entbrannt gegen dich und deine beiden Freunde, denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Ijob.“ (Ijob 42,7)

Ijob erhält von Gott tatsächlich keine Antwort darauf, wieso er so leiden musste; die einzige Antwort, die er erhält, ist, dass die Antwort zu hoch für ihn wäre und Gott sie schon kennen wird.

(Und diese Antwort akzeptiert er; als Gott ihn auffordert, ihm zu antworten, sagt er: „Ich habe erkannt, dass du alles vermagst. Kein Vorhaben ist dir verwehrt. Wer ist es, der ohne Einsicht den Rat verdunkelt? – Fürwahr, ich habe geredet, ohne zu verstehen, über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind. Hör doch, ich will nun reden, ich will dich fragen, du belehre mich! Vom Hörensagen nur hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut. Darum widerrufe ich. Ich bereue in Staub und Asche. (Ijob 42,2-6) Letzten Endes genügt es ihm als Antwort, dass er Gott geschaut hat, und nun weiß, dass Er Gott vertrauen kann.)

Aber gleichzeitig wird vom Herrn selber bestätigt, dass Ijob „recht geredet“ hat von Gott, und seine Freunde nicht. Ijob hatte Recht damit, darauf zu bestehen, dass er nichts getan hatte, um sein Leid zu verdienen; und es war schlicht grausam und falsch von den Freunden, ihn überreden zu wollen, eine nicht existierende Schuld anzuerkennen. Ijob war im Recht damit, die Ungerechtigkeit in der Welt und in seinem Leben speziell zu sehen, und Gott direkt anzusprechen und nach Antworten zu suchen, anstatt über Gott apologetische Reden zu halten, um sicherzustellen, dass Er gegenüber einem leidgeprüften Menschen immer noch korrekt dasteht.

Dann gäbe es, in Bezug auf das Bittgebet, auch noch dieses in den Evangelien erzählte Ereignis:

„Darauf kam Jesus mit ihnen zu einem Grundstück, das man Getsemani nennt, und sagte zu den Jüngern: Setzt euch hier, während ich dorthin gehe und bete! Und er nahm Petrus und die beiden Söhne des Zebedäus mit sich. Da ergriff ihn Traurigkeit und Angst und er sagte zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht mit mir! Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf sein Gesicht und betete: Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ (Matthäus 26,36-39)

Weisheit 12 beleuchtet die eine Seite der Wahrheit, und andere oben zitierten Stellen die andere.

  • Es ist gut, unser Verständnis von Gott zu hinterfragen, darum zu ringen, Ihn kennen zu lernen.
  • Es ist gut, zu hinterfragen, was wir für den Willen Gottes in unserem Leben halten.
  • Es ist gut, Bittgebete vor Gott zu bringen.

Aber: Trotzdem wissen wir, dass Gott am Ende Recht behalten wird, dass Er immer vollkommen im Recht ist, und dass wir Gott nicht zu irgendetwas „überreden“ können, das Er eigentlich nicht wollte.

Es ist nicht so, dass Gott ein Gott wäre, der dazu neigt, sich im Zorn für etwas Schlechtes zu entscheiden, aber dann von einem Menschen überzeugt werden müsste/könnte, das doch noch zu lassen, wie es bei einem oberflächlichen Lesen der Abraham-Geschichte in Genesis 18 erscheint. Beim Bittgebet kann man bekanntlich das (scheinbare) logische Problem aufstellen, dass Gott, wenn er möchte, dass etwas geschieht, es mit oder ohne unser Gebet geschehen lassen würde. Dieses Dilemma verkennt einfach die Art, wie Gott Dinge bewirkt, und wie Er dem freien Willen Seiner Geschöpfe Raum lässt. Er verhält sich (unter manchen Umständen) wie Eltern, die manchmal auch warten, bis ihre Kinder von selbst eine Frage stellen oder „Bitte“ sagen (und den Wunsch der Kinder dann entweder erfüllen oder nicht).

Gott reagiert also sehr wohl auf unsere Bitten – und zwar unterschiedlich, je nachdem, was gut für uns ist; Jesu Gebet zeigt uns ja, dass man dann am Ende immer noch sagen muss: Aber dein Wille geschehe. Aber das heißt nicht, dass wir Ihn mit unseren Bitten von ungehörigem, ungerechtem Zorn abhalten müssten/könnten/sollten. Gott hätte auch so nichts Ungerechtes getan; aber manchmal können wir von Ihm erreichen, dass Er uns noch mehr gibt und mehr Nachsicht mit uns hat, als Er sonst gehabt hätte. (Da Gott in der Ewigkeit ist, hat Er übrigens schon im voraus gewusst, dass wir Ihn bitten würden.)

Es ist gut, Bitten an Gott zu richten, aber im Wissen, dass Er auch dann noch nach Seinem besseren Wissen entscheiden wird, was das Beste ist, und mit dem Willen, in jedem Fall Seinen Willen geschehen zu lassen.

Und Ähnliches gilt eben für Ijobs Vorwürfe. Gott ist gerecht. Gott hört auf Ijobs Stimme und sieht sein Leid. Es gibt einen Grund für dieses Leid. Gott ist nicht einfach ein allmächtiger Tyrann, gegen den es keine Berufungsinstanz mehr gibt. Er ist vollkommen gut, und Er hat für alles Seine Gründe.

Und hier kommt wieder Weisheit 12,12-14 ins Spiel: Diese Stelle erinnert uns, gegenüber anderen Texten, in denen Gott sehr vermenschlicht dargestellt wird, dass der Herr eben in entscheidenden Dingen nicht wie ein Mensch ist. Er muss sich nicht rechtfertigen, auch nicht dann, wenn Er Leid zulässt. (Nicht „verursacht“, denn das tut Er nicht. Wichtige Unterscheidung, die gerade im AT manchmal noch unklar ist.)

Ich denke, dass es schon wichtig ist, zu fragen, wie genau Gott sich denn zeigt und ob wir das und das denn so und so verstehen können: Zuerst einmal, um keine Widersprüche im Verständnis verschiedener Bibelstellen (die Bibel ist eine dicke Sammlung vieler Schriften, die unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit beleuchten) entstehen zu lassen, dann  aber vor allem, um Gottes Gutheit niemals aus dem Blick geraten zu lassen. Gott ist gut; das ist das Fundament aller Bibelauslegung. Wenn wir dieses Fundament vergessen, könnten wir unsere Religion eigentlich gleich ganz vergessen. Einem nicht absolut guten Gott will man gar nicht dienen. Und wenn ungerechtfertigte Vorwürfe gegen unseren Gott vorgebracht werden, will man schließlich die Wahrheit kennen und verteidigen, anstatt uns zu zwingen, ein verzerrtes Gottesbild zu akzeptieren.

Es macht einen Unterschied, ob man sich fragt, wie etwas funktioniert, oder leugnet, dass etwas funktioniert. Wenn ich wissen will, wie ein Automotor funktioniert, leugne ich sein Funktionieren auch nicht.

Ach ja, und man sollte noch hinzufügen, wie Weisheit 12 weitergeht: Gerecht, wie du bist, verwaltest du das All gerecht und hältst es für unvereinbar mit deiner Macht, den zu verurteilen, der keine Strafe verdient. Deine Stärke ist die Grundlage deiner Gerechtigkeit und deine Herrschaft über alles lässt dich alles schonen. Stärke beweist du, wenn man an deine unbeschränkte Macht nicht glaubt, und bei denen, die sie kennen, strafst du die anmaßende Auflehnung. Weil du über Stärke verfügst, richtest du in Milde und behandelst uns mit großer Schonung; denn die Macht steht dir zur Verfügung, wann immer du willst. Durch solches Handeln hast du dein Volk gelehrt, dass der Gerechte menschenfreundlich sein muss, und hast deinen Söhnen und Töchtern die Hoffnung geschenkt, dass du den Sündern die Umkehr gewährst.“ (Weisheit 12,15-19)

Wenn man das gesamte Kapitel wird deutlich, dass hier v. a. gesagt wird: Gott hätte die Kanaaniter auch gleich hart bestrafen können, ihn könnte ja niemand anklagen; aber Er hat ihnen noch Zeit zur Umkehr gelassen. Er hat sich mit der Bestrafung der Kanaaniter nicht deshalb Zeit gelassen, weil es irgendjemanden (z. B. andere Götter) gegeben hätte, der sich Ihm hätte entgegenstellen könnten, sondern weil Er selber nachsichtig sein wollte. Die Aussage ist hier mehr „Unser Gott ist sehr wohl allmächtig, Er könnte euch vernichten, wenn Er wollte, aber Er ist eben auch gnädig!“, und weniger „Unser Gott kann machen, was Er will, Er braucht sich vor niemandem zu rechtfertigen!“. Das schon auch, aber nicht nur.

Über schwierige Bibelstellen, Teil 14: Die Opferung Isaaks

[Dieser Teil wurde nach der Veröffentlichung noch einmal überarbeitet. Alle Teile hier.]

In diesem Teil wage ich mich an die Stelle, die für mich lange die schwierigste im AT war: Genesis 22. Hier der vollständige Text:

„Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe. Er sprach zu ihm: Abraham! Er sagte: Hier bin ich. Er sprach: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar! Frühmorgens stand Abraham auf, sattelte seinen Esel, nahm zwei seiner Jungknechte mit sich und seinen Sohn Isaak, spaltete Holz zum Brandopfer und machte sich auf den Weg zu dem Ort, den ihm Gott genannt hatte. Als Abraham am dritten Tag seine Augen erhob, sah er den Ort von Weitem. Da sagte Abraham zu seinen Jungknechten: Bleibt mit dem Esel hier! Ich aber und der Knabe, wir wollen dorthin gehen und uns niederwerfen; dann wollen wir zu euch zurückkehren. Abraham nahm das Holz für das Brandopfer und lud es seinem Sohn Isaak auf. Er selbst nahm das Feuer und das Messer in die Hand. So gingen beide miteinander. Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham. Er sagte: Mein Vater! Er antwortete: Hier bin ich, mein Sohn! Dann sagte Isaak: Hier ist Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das Brandopfer? Abraham sagte: Gott wird sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen, mein Sohn. Und beide gingen miteinander weiter. Als sie an den Ort kamen, den ihm Gott genannt hatte, baute Abraham dort den Altar, schichtete das Holz auf, band seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. Abraham streckte seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Da rief ihm der Engel des HERRN vom Himmel her zu und sagte: Abraham, Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest; du hast mir deinen Sohn, deinen einzigen, nicht vorenthalten. Abraham erhob seine Augen, sah hin und siehe, ein Widder hatte sich hinter ihm mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen. Abraham ging hin, nahm den Widder und brachte ihn statt seines Sohnes als Brandopfer dar. Abraham gab jenem Ort den Namen: Der HERR sieht, wie man noch heute sagt: Auf dem Berg lässt sich der HERR sehen. Der Engel des HERRN rief Abraham zum zweiten Mal vom Himmel her zu und sprach: Ich habe bei mir geschworen – Spruch des HERRN: Weil du das getan hast und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast, will ich dir Segen schenken in Fülle und deine Nachkommen überaus zahlreich machen wie die Sterne am Himmel und den Sand am Meeresstrand. Deine Nachkommen werden das Tor ihrer Feinde einnehmen. Segnen werden sich mit deinen Nachkommen alle Völker der Erde, weil du auf meine Stimme gehört hast. Darauf kehrte Abraham zu seinen Jungknechten zurück. Sie machten sich auf und gingen miteinander nach Beerscheba. Abraham blieb in Beerscheba wohnen.“ (Genesis 22,1-19)

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(Caravaggio, Die Opferung Isaaks. Gemeinfrei.)

Hier wird also Abraham dafür gepriesen, dass er dazu bereit gewesen wäre, auf Gottes Befehl hin seinen eigenen Sohn zu töten. Ja, Gott verhindert das Menschenopfer am Ende, aber das macht die Tatsache nicht ungeschehen, dass Abrahams grundsätzliche Bereitschaft dazu als vorbildlich hingestellt wird. Und Gott selbst erscheint hier als irgendwie grausam.

Diese Stelle erscheint auch im Kontext der Bibel zunächst seltsam. Die späteren Gesetze und die Geschichte der Israeliten ebenso wie Aussprüche der Propheten machen es ja mehr als deutlich, dass der Gott Israels eben keine Kinderopfer verlangt, dass ihm so etwas sogar ein Gräuel ist:

  • Wenn du dem HERRN, deinem Gott, dienst, sollst du nicht das Gleiche tun wie sie [die Kanaaniter]; denn sie haben, wenn sie ihren Göttern dienten, alle Gräuel begangen, die der HERR hasst. Sie haben sogar ihre Söhne und Töchter im Feuer verbrannt, wenn sie ihren Göttern dienten.“ (Deuteronomium 12,31)
  • Der HERR sprach zu Mose: Sag zu den Israeliten: Jeder Mann unter den Israeliten oder unter den Fremden in Israel, der eines seiner Kinder dem Moloch gibt, hat den Tod verdient. Die Bürger des Landes sollen ihn steinigen. Ich richte mein Angesicht gegen einen solchen und merze ihn aus seinem Volk aus, weil er eines seiner Kinder dem Moloch gegeben, dadurch mein Heiligtum verunreinigt und meinen heiligen Namen entweiht hat. Falls die Bürger des Landes ihre Augen diesem Mann gegenüber verschließen, wenn er eines seiner Kinder dem Moloch gibt, und ihn nicht töten, so richte ich mein Angesicht gegen ihn und seine Sippe und merze sie aus der Mitte ihres Volkes aus, ihn und alle, die mit ihm dem Moloch nachhuren.“ (Levitikus 20,1-5)
  • „Von deinen Nachkommen darfst du keinen hingeben, um ihn für Moloch hinübergehen zu lassen. Du darfst den Namen deines Gottes nicht entweihen. Ich bin der HERR.“ (Levitikus 18,21)
  • Wenn du in das Land hineinziehst, das der HERR, dein Gott, dir gibt, sollst du nicht lernen, die Gräuel dieser Völker nachzuahmen. Es soll bei dir keinen geben, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt, keinen, der Losorakel befragt, Wolken deutet, aus dem Becher weissagt, zaubert, Gebetsbeschwörungen hersagt oder Totengeister befragt, keinen Hellseher, keinen, der Verstorbene um Rat fragt.“ (Deuteronomium 18,9-11)
  • „Er [König Manasse von Juda] ließ seinen Sohn durch das Feuer gehen, trieb Zauberei und Wahrsagerei, bestellte Totenbeschwörer und Zeichendeuter. So tat er vieles, was böse war in den Augen des HERRN und ihn erzürnte.“ (2 Könige 21,6)
  • „Ebenso machte er [König Joschija von Juda] das Tofet [Kultstätte] im Tal der Söhne Hinnoms unrein, damit niemand mehr seinen Sohn oder seine Tochter für den Moloch durch das Feuer gehen ließ. “ (2 Könige 23,10)
  • Dann geh hinaus zum Tal Ben-Hinnom am Eingang des Scherbentors! Dort verkünde die Worte, die ich dir sage! Du sollst sagen: Hört das Wort des HERRN, ihr Könige Judas und ihr Einwohner Jerusalems! So spricht der HERR der Heerscharen, der Gott Israels: Siehe, ich bringe Unheil über diesen Ort, dass jedem, der davon hört, die Ohren gellen werden. Denn sie haben mich verlassen, diesen Ort entfremdet und an ihm anderen Göttern Rauchopfer dargebracht, die ihnen, ihren Vätern und den Königen von Juda früher unbekannt waren. Mit dem Blut Unschuldiger haben sie diesen Ort angefüllt. Sie haben dem Baal Kulthöhen gebaut, um ihre Kinder als Brandopfer für den Baal im Feuer zu verbrennen, was ich nie befohlen oder angeordnet habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist. (Jeremia 19,2-5)
  • „Auch haben sie die Kulthöhen des Tofet im Tal Ben-Hinnom gebaut, um ihre Söhne und ihre Töchter im Feuer zu verbrennen, was ich nie befohlen habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist. (Jeremia 7,31)
  • Womit soll ich vor den HERRN treten, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Kälbern? Hat der HERR Gefallen an Tausenden von Widdern, an zehntausend Bächen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für meine Vergehen, die Frucht meines Leibes für meine Sünde? Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott. (Micha 6,6-8)
  • Du [Gott] hast auch die früheren Bewohner deines heiligen Landes gehasst, weil sie abscheuliche Verbrechen verübten,/ Zauberkünste und unheilige Riten; sie waren erbarmungslose Kindermörder/ und verzehrten beim Kultmahl Menschenfleisch und Menschenblut; sie waren Teilnehmer an geheimen Kulten und sie waren Eltern, die mit eigener Hand hilflose Wesen töteten – sie alle wolltest du vernichten durch die Hände unserer Väter; denn das Land, das dir vor allen anderen teuer ist, sollte eine seiner würdige Bevölkerung von Gotteskindern erhalten. Doch selbst jene hast du geschont, weil sie Menschen waren; du sandtest deinem Heer Wespen voraus, um sie nach und nach zu vernichten. Obgleich du die Macht hattest, in einer Schlacht die Gottlosen den Gerechten in die Hand zu geben oder sie durch entsetzliche Tiere oder ein Wort mit einem Schlag auszurotten, vollzogst du doch erst nach und nach die Strafe und gabst Raum zur Umkehr.“ (Weisheit 12,3-10)

(Eine Darstellung des Moloch-Götzenbildes aus dem 18. Jahrhundert (aus: Johann Lund, Die Alten Jüdischen Heiligthümer). Gemeinfrei.)

Wenn aber Gott Kinderopfer als etwas bezeichnet, „was ich nie befohlen habe und was mir niemals in den Sinn gekommen ist“ (Jeremia 7,31; ähnlich 19,5), und ausdrücklich verneint, dass man seinen „Erstgeborenen hingeben [soll] für meine Vergehen“ (Micha 6,7), was ist denn dann mit der Anweisung in Genesis 22,2, „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar“? Eine Ausnahme? Oder was?

Es gibt auch hier verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Eine ist die Standardvariante „Das ist eben das Alte Testament“: Abraham hat zwar gemeint, er sollte seinen Sohn opfern, aber so war das gar nicht, und die Moral von der Geschichte ist vor allem, dass sich am Ende herausstellt, dass Abrahams Gott eben nicht so ist wie die anderen Götter: Von jetzt an also nix Menschenopfer mehr. Abraham wird zwar schon dafür gepriesen, dass er bereit war, alles zu tun, von dem er meinte, dass Gott es von ihm verlangt, aber tatsächlich können wir aus der späteren Offenbarungsgeschichte – s. o. – wissen, dass Gott dieses Opfer nicht wirklich von ihm verlangt haben muss. Es ist auch lobenswert, einem irrenden Gewissen zu gehorchen, das sagt diese Geschichte auch, aber Abrahams Gewissen irrte hier, und Gott machte ihm klar, dass er den Tod des Sohnes nicht will. Das ist eben das Alte Testament, und diese Geschichte zeigt noch ein unvollständig entwickeltes Gottesbild, das nicht 1:1 der späteren, deutlicheren Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus entspricht. Vielleicht hat das ja eh alles gar nicht so stattgefunden und ist bloß eine symbolische Geschichte.

Diese Interpretation ist aber letztlich nicht wirklich überzeugend. Das AT ist manchmal unvollständig, aber deswegen nicht falsch; und hier spricht auch am Anfang Gott selbst.

Eine andere, naheliegendere und früher weiter verbreitete Interpretation ist, dass Abraham von Anfang an darauf vertraute, dass Gott es am Ende nicht so weit kommen lassen würde, dass das Opfer wirklich durchgezogen würde. Bereits vorher hatte der Herr ihm Isaaks Geburt und eine große Zahl von Nachkommen durch ihn vorausgesagt; wenn Abraham also diesen Versprechen weiterhin vertrauen wollte, musste er praktisch davon ausgehen, dass Isaak am Leben bleiben (oder gegebenenfalls sogar von den Toten zurückkehren) würde. Man kann seine Worte an die Knechte – „dann wollen wir zu euch zurückkehren“ (Genesis 22,5) – und seine Worte an Isaak – „Gott wird sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen, mein Sohn“ (Genesis 22,8) – als Lüge und Ausweichen deuten, wenn man möchte, aber man könnte sie ebenso auch als Ausdruck seines Vertrauens interpretieren, dass Gott sich tatsächlich ein anderes Opferlamm aussuchen und er tatsächlich gemeinsam mit dem lebenden Isaak zurückkehren würde.

Ergibt sich hier  nichtwieder ein potentieller Konflikt mit Vers 16: „Weil du das getan hast und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast…“? Dieses Lob an Abraham scheint eine reale Bereitschaft, seinen Sohn zu töten, vorauszusetzen. Vielleicht setzt es aber auch nur die Bereitschaft voraus, einem scheinbar widersinnigen Befehl Gottes nachzukommen, also mit Isaak zur Opferstätte zu gehen und darauf zu vertrauen, dass sich am Ende doch alles zum Guten wenden würde, ohne dass irgendjemand getötet werden würde. Diese Deutung ist eine mögliche, und meiner Meinung nach sehr einleuchtende, Deutung. Ein paar Verse aus dem Hebräerbrief würden sie stützen: „Aufgrund des Glaubens hat Abraham den Isaak hingegeben, als er auf die Probe gestellt wurde; er gab den einzigen Sohn dahin, er, der die Verheißungen empfangen hatte und zu dem gesagt worden war: Durch Isaak wirst du Nachkommen haben. Er war überzeugt, dass Gott sogar die Macht hat, von den Toten zu erwecken; darum erhielt er Isaak auch zurück. Das ist ein Sinnbild.“ (Hebräer 11,17-19)

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(Rembrandt, Der Engel verhindert die Opferung Isaaks. Gemeinfrei.)

Es hilft vielleicht auch, diese Geschichte dahingehend anzusehen, was sie in Bezug auf Jesus vorausdeutet (da ja sehr viele alttestamentliche Texte offene oder verborgene Vorausdeutungen auf den Messias enthalten). Gott verlangte am Ende nicht von einem Menschen, seinen Sohn zu opfern; stattdessen stieg Gottes Sohn später selbst freiwillig auf die Erde herab, um sich für die Menschen zu opfern. Der Berg Morija wird übrigens in 2 Chronik 3,1 mit dem Tempelberg in Jerusalem identifiziert, der Stadt, in der Jesus gekreuzigt wurde.

Diese Perspektive auf Jesus passt auch mit den anderen Interpretationen zusammen: Im Alten Testament schien es zuerst, als ob Abraham seinen Sohn opfern sollte, aber im Neuen Testament opfert sich Gottes Sohn selbst, und zwar für die Sünden der Menschen – vergleichbar damit, wie Isaak durch den Widder ersetzt wurde, der an seiner Stelle starb.

File:Rembrandt - Raising of the Cross - 95.1946.jpg

(Rembrandt, Aufrichtung des Kreuzes. Gemeinfrei.)

Bei dieser ganzen Geschichte komme ich natürlich nicht umhin, an Isaaks Perspektive zu denken. Es ist frustrierend, wie wenig man darüber erfährt – eigentlich gar nichts; weder darüber, was er tat oder dachte, als er merkte, was genau sein Vater vorhatte, noch darüber, wie sein Verhältnis zu Abraham später aussah.

Spätere jüdische Traditionen sehen Isaak in dieser Episode schon als Erwachsenen (bei Flavius Josephus ist er fünfundzwanzig Jahre alt, im Talmud sogar siebenunddreißig). Wenn man sich dann Abraham als alten, nicht mehr besonders kräftigen Mann vorstellt, bietet sich die von manchen vertretene Interpretation an, dass Isaak sich, aus ebenso festem Glauben wie sein Vater, freiwillig der Opferung unterworfen hätte, anstatt sich zu wehren, was ihm wahrscheinlich hätte gelingen können. Clemens von Rom, einer der ersten Päpste, schreibt etwa: „Isaak ließ sich voll Vertrauen, da er die Zukunft kannte, freudig zum Opfer bringen.“ (1. Clemensbrief 31,3) Er geht davon aus, dass Isaak auf Gottes ursprüngliche Verheißung an seinen Vater vertraute und davon ausging, dass Gott das Opfer letztlich verhindern oder ihn sogar wieder von den Toten auferwecken würde.

Die Frage, ob Isaak sich wehrte oder ob er sich freiwillig dem, was er auch als den Willen Gottes sah, unterwarf, ist etwas spekulativ (auch wenn man sagen kann: Wenn er sich gewehrt hätte, müsste es da stehen), denn die Stelle – und das hat mich an ihr immer gestört – fokussiert sich einfach auf Abraham: Er hat einen starken Glauben, er ist bereit, sein Liebstes zu opfern. Hallo?! Hier geht es um seinen Sohn, nicht um sein neues Kamel! Ein Kind ist kein Besitzstück!

Vielleicht ist es aber einfach so, dass die Bibel sich darauf fokussiert, welches das schwerere Opfer war. Sich selbst zu opfern kann leichter sein, als zuzulassen, dass das geliebte Kind ein Leid tragen muss, das werden viele Eltern bestätigen, die den Tod eines Kindes erleben mussten oder zulassen mussten, dass ihr Kind sich in Gefahr begibt.

Freilich war es auch so, dass damals die Zusammengehörigkeit der Familie sehr betont wurde, Isaak sich sicher auch vor allem als Teil der Verheißungsgeschichte seines Vaters sah.

Diese Tatsache ist auch ganz interessant, wenn man die Geschichte auf Jesus hin deutet: Denn Gott Vater und Gott Sohn sind ja, anders als Abraham und Isaak, tatsächlich ein Wesen, nicht zwei verschiedene.

Natürlich gibt es auch die simple Interpretation, dass Gott ganz einfach von Abraham verlangte, Isaak zu töten, Abraham ganz einfach bereit war, das zu tun, und Gott die Sache noch rechtzeitig stoppte. Diese Interpretation beruht darauf, dass Gott das Recht hat, das Leben seiner Geschöpfe zu beenden (zu den Themen Gottes Wille, Schicksal, Gottes Strafen, und Tod verweise ich wieder einmal auf die Teile 8, 9, 10 und 13) und dieses Recht damit theoretisch auch an beauftragte Menschen delegieren könnte. Und anders als die angeblichen Götter der Heiden würde Er nicht ein Opfer zu Seinem Nutzen oder Seiner Befriedigung verlangen, sondern zum Besten der Menschen. Gott verlangt manchmal Hartes, sehr Hartes, und man muss vollkommen darauf vertrauen, dass es Sinn macht. Wenn Gott zum Beispiel ein Kind an Krebs sterben lässt – von Eltern verlangt, dass sie es gehen lassen – dann müssen sie auch auf Ihn vertrauen, wie Abraham es tat. Dafür wird Er uns später – spätestens im Himmel – mehr als entschädigen.

Alle Varianten sind sich darin einig, dass eine der Aussagen dieser Bibelstelle darin besteht, dass sich hier zeigt, dass Gott eben keine Menschenopfer will – und so etwas dann wohl auch in Zukunft nie mehr verlangen wird (eine Geschichte wie die mit Abraham kommt später nirgends mehr in der Bibel vor; ab da ist allen klar, was Gottes Wille dahingehend ist*).

Ich hoffe, eine dieser Interpretationen stellt jeden Leser zufrieden. Das hier ist vielleicht, einfach durch die Berühmtheit und Bedeutung, die sie im Lauf der Geschichte des Christentums erlangt hat, eine noch wichtigere Stelle als die Landnahme-Erzählungen. Sie gehört zu den Stellen, die man schon in der Grundschule lernt. Und sie provoziert dann für gewöhnlich viele Fragen bei den Grundschulkindern – auf die man Antworten geben muss.

* Die Geschichte mit Jiftach dem Gileaditer in Richter 11 ist etwas völlig anderes als die mit Abraham; hier wird eindeutig klar, dass Jiftach, der in einer Zeit lebt, als Israel schon von einigen heidnischen Bräuchen beeinflusst und moralisch nicht in bestem Zustand ist (vgl. z. B. auch das nicht allzu vorbildliche Leben Simsons in Richter 13-16), falsch handelt. Nirgendwo wird  dort gesagt, dass Gott ein Menschenopfer von Jiftach verlangt hätte. Hier kommt ganz einfach Regel Nummer 12 ins Spiel: Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was in der Bibel steht, und dem, was die Bibel lehrt. Man muss nicht alles gut finden, was die Patriarchen oder die Propheten oder die Könige der Bibel taten. Nicht alles, was die Personen in der Bibel tun, auch nicht alles, was die „guten“ Personen in der Bibel tun, nicht einmal alles, was die guten Personen in der Bibel aus guten Motiven tun, ist von Gott als Vorbild für uns gedacht. Im Grunde genommen besteht kein Unterschied zwischen Jiftach aus Richter 11 und Manasse aus 2 Könige 21,6 (s. o.).

Über schwierige Bibelstellen, Teil 13: Die Landnahme

[Alle Teile hier.]

 

Für die Frage, wie die Landnahme nach dem Auszug aus Ägypten und der vierzigjährigen Wüstenwanderung (für mich früher eins der größten Probleme im Alten Testament) zu verstehen ist, gäbe es mehrere Lösungen.

Hier geht es um Stellen wie die folgenden:

  • „Bewahre, was ich dir heute auftrage! Siehe, ich vertreibe die Amoriter, Kanaaniter, Hetiter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter vor dir. Du hüte dich aber, mit den Bewohnern des Landes, in das du kommst, einen Bund zu schließen; sie könnten dir sonst zu einer Falle in deiner Mitte werden. Ihre Altäre sollt ihr vielmehr niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen. Du darfst dich nicht vor einem andern Gott niederwerfen. Denn der HERR, der Eifersüchtige ist sein Name, ein eifersüchtiger Gott ist er.“ (Exodus 34,11-14)
  • Ihr sollt euch nicht durch all das verunreinigen; denn durch all das haben sich die Nationen verunreinigt, die ich vor euch vertreibe. Das Land wurde unrein, ich habe an ihm seine Schuld heimgesucht und das Land hat seine Bewohner ausgespien. (Levitikus 18,24f.)
  • „Der HERR, unser Gott, hat am Horeb zu uns gesagt: Ihr habt euch lange genug an diesem Berg aufgehalten. Nun wendet euch dem Bergland der Amoriter zu, brecht auf und zieht hinauf! Zieht aus gegen alle seine Bewohner in der Araba, auf dem Gebirge, in der Schefela, im Negeb und an der Meeresküste! Zieht in das Land der Kanaaniter und in das Gebiet des Libanon, bis an den großen Strom, den Eufrat! Siehe, hiermit liefere ich euch das Land aus. Zieht hinein und nehmt es in Besitz, das Land, von dem ihr wisst: Der HERR hat euren Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen, es ihnen und später ihren Nachkommen zu geben. (Deuteronomium 1,6-8)

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d8/Tissot_Moses_Sees_the_Promised_Land_from_Afar.jpg

(James Tissot, Moses sees the Promised Land from afar. Gemeinfrei.)

  • Da habe ich zu euch gesagt: Ihr dürft nicht vor ihnen zurückweichen und dürft euch nicht vor ihnen fürchten. Der HERR, euer Gott, der euch vorangeht, er wird für euch kämpfen, genauso, wie er vor euren Augen in Ägypten auf eurer Seite gekämpft hat.“ (Deuteronomium 1,29f.)
  • Weil er deine Väter lieb gewonnen hatte, hat er alle Nachkommen eines jeden von ihnen erwählt und dich dann in eigener Person durch seine große Kraft aus Ägypten geführt, um bei deinem Angriff Völker auszurotten, die größer und mächtiger sind als du, um dich in ihr Land zu führen und es dir als Erbbesitz zu geben, wie es jetzt geschieht.“ (Deuteronomium 4,37f.)
  • Wenn der HERR, dein Gott, dich in das Land geführt hat, in das du jetzt hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, wenn er dir viele Völker aus dem Weg räumt – Hetiter, Girgaschiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter, sieben Völker, die zahlreicher und mächtiger sind als du -, wenn der HERR, dein Gott, sie dir ausliefert und du sie schlägst, dann sollst du an ihnen den Bann vollziehen. Du sollst keinen Vertrag mit ihnen schließen, sie nicht verschonen und dich nicht mit ihnen verschwägern. Deine Tochter gib nicht seinem Sohn und nimm seine Tochter nicht für deinen Sohn! Wenn er dein Kind verleitet, mir nicht mehr nachzufolgen, und sie dann anderen Göttern dienen, wird der Zorn des HERRN gegen euch entbrennen und wird dich unverzüglich vernichten. So sollt ihr gegen sie vorgehen: Ihr sollt ihre Altäre niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen und ihre Götterbilder im Feuer verbrennen. […] Du wirst alle Völker verzehren, die der HERR, dein Gott, für dich bestimmt. Du sollst in dir kein Mitleid mit ihnen aufsteigen lassen. Und du sollst ihren Göttern nicht dienen; denn dann liefest du in eine Falle. Wenn du überlegst: Diese Völker sind größer als ich – wie sollte ich sie ausrotten können?, dann sollst du vor ihnen keine Furcht haben. Du sollst an das denken, was der HERR, dein Gott, mit dem Pharao und mit ganz Ägypten gemacht hat: an die schweren Prüfungen, die du mit eigenen Augen gesehen hast, an die Zeichen und Wunder, an die starke Hand und den hoch erhobenen Arm, mit denen der HERR, dein Gott, dich herausgeführt hat. So wird es der HERR, dein Gott, mit allen Völkern machen, vor denen du Furcht hast. Außerdem wird der HERR, dein Gott, Panik unter ihnen ausbrechen lassen, so lange, bis auch die ausgetilgt sind, die überleben konnten und sich vor dir versteckt haben. Du sollst nicht erschreckt zurückweichen, wenn sie angreifen; denn der HERR, dein Gott, ist als großer und Furcht erregender Gott in deiner Mitte. Doch der HERR, dein Gott, wird diese Völker dir nur nach und nach aus dem Weg räumen. Du kannst sie nicht rasch ausmerzen, weil sonst die wilden Tiere überhandnehmen und dir schaden. Doch wird der HERR, dein Gott, dir diese Völker ausliefern. Er wird sie in ausweglose Verwirrung stürzen, bis sie vernichtet sind. Er wird ihre Könige in deine Hand geben. Du wirst ihren Namen unter dem Himmel austilgen. Keiner wird deinem Angriff standhalten können, bis du sie schließlich vernichtet hast. Ihre Götterbilder sollt ihr im Feuer verbrennen. Du sollst nicht das Silber oder Gold haben wollen, mit dem sie überzogen sind. Du sollst es nicht an dich nehmen, damit du dabei nicht in eine Falle läufst. Denn es ist dem HERRN, deinem Gott, ein Gräuel. Du sollst aber keinen Gräuel in dein Haus bringen, damit du nicht selbst wie er dem Bann verfällst. Du sollst Grauen und Abscheu vor ihm haben, denn er ist dem Bann verfallen.“ (Deuteronomium 7,1-5.16-26)
  • Wenn ihr dieses ganze Gebot, auf das ich euch heute verpflichte, genau bewahrt und es haltet, wenn ihr den HERRN, euren Gott, liebt, auf allen seinen Wegen geht und euch an ihm festhaltet, dann wird der HERR alle diese Völker vor euch ausrotten und ihr werdet den Besitz von Völkern übernehmen, die größer und mächtiger sind als ihr. Jede Stelle, die euer Fuß berührt, soll euch gehören, von der Wüste an. Dazu soll der Libanon euer Gebiet sein, vom Strom, dem Eufrat, bis zum Meer im Westen. Keiner wird eurem Angriff standhalten können. Dem ganzen Land, das ihr betretet, wird der HERR, euer Gott, Schrecken und Furcht vor euch ins Gesicht zeichnen, wie er es euch zugesagt hat. (Deuteronomium 11,22-25)
  • Denk daran, was Amalek dir unterwegs angetan hat, als ihr aus Ägypten zogt: wie er unterwegs auf dich stieß und, als du müde und matt warst, ohne jede Gottesfurcht alle erschöpften Nachzügler von hinten niedermachte. Wenn der HERR, dein Gott, dir vor allen deinen Feinden ringsum Ruhe verschafft hat in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, damit du es in Besitz nimmst, dann lösche die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel aus! Du sollst nicht vergessen.“ (Deuteronomium 25,17-19)
  • Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben war, sagte der HERR zu Josua, dem Sohn Nuns, dem Diener des Mose: Mein Knecht Mose ist gestorben. Mach dich also auf den Weg und zieh über den Jordan hier mit diesem ganzen Volk in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, geben werde! Jeden Ort, den euer Fuß betreten wird, gebe ich euch, wie ich es Mose versprochen habe. Euer Gebiet soll von der Steppe und vom Libanon an bis zum großen Strom, zum Eufrat, reichen – das ist das ganze Land der Hetiter – und bis hin zum großen Meer, wo die Sonne untergeht. Niemand wird dir Widerstand leisten können, solange du lebst. Wie ich mit Mose war, will ich auch mit dir sein. Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Sei mutig und stark! Denn du sollst diesem Volk das Land zum Besitz geben, von dem du weißt: Ich habe ihren Vätern geschworen, es ihnen zu geben.“ (Josua 1,1-6)
  • Bei der Eroberung Jerichos, zu Beginn der Landnahme jenseits des Jordan durch Josua, heißt es: Als die Priester beim siebten Mal die Hörner bliesen, sagte Josua zum Volk: Erhebt das Kriegsgeschrei! Denn der HERR hat die Stadt in eure Gewalt gegeben. Die Stadt mit allem, was in ihr ist, soll Banngut für den HERRN werden. Nur die Dirne Rahab und alle, die bei ihr im Haus sind, sollen am Leben bleiben, weil sie die Boten versteckt hat, die wir ausgeschickt hatten. Aber seid auf der Hut vor dem Banngut, damit ihr es nicht als Banngut erklärt und dann doch davon wegnehmt! So würdet ihr das Lager Israels zum Banngut machen und es ins Unglück stürzen. Alles Silber und Gold und die Geräte aus Bronze und Eisen sollen dem HERRN geweiht sein und in den Schatz des HERRN kommen. Darauf erhob das Volk das Kriegsgeschrei und die Widderhörner wurden geblasen. Als das Volk den Hörnerschall hörte, brach es in laut schallendes Geschrei aus. Die Stadtmauer stürzte in sich zusammen und das Volk stieg in die Stadt hinein, jeder an der nächstbesten Stelle. So eroberten sie die Stadt. Alles, was in der Stadt war, machten sie zum Banngut, Männer und Frauen, Kinder und Alte, Rinder, Schafe und Esel, mit der Schärfe des Schwertes.“ (Josua 6,16-21)

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(James Tissot, The Taking of Jericho. Gemeinfrei.)

  • Gleich darauf kommt im Buch Josua die Eroberung der nächsten Stadt: Als Israel sämtliche Bewohner von Ai, die ihm nachgejagt waren, ohne Ausnahme auf freiem Feld und in der Steppe mit scharfem Schwert getötet hatte und alle gefallen waren bis auf den letzten Mann, kehrte ganz Israel nach Ai zurück und machte alles mit der Schärfe des Schwertes nieder. Es gab an jenem Tag insgesamt zwölftausend Gefallene, Männer und Frauen, die Gesamtheit der Männer von Ai. Josua aber ließ seine Hand, die er mit dem Sichelschwert ausgestreckt hatte, nicht sinken, bis er an allen Bewohnern von Ai den Bann vollzogen hatte.“ (Josua 8,24-26)
  • In den folgenden Kapiteln geht es folgendermaßen weiter: Die Gibeoniter bringen die Israeliten mit einer List dazu, einen Vertrag mit ihnen zu schließen, sodass sie nicht umgebracht werden (Kapitel 9), müssen dafür aber in Zukunft „Sklaven, Holzfäller und Wasserträger für das Haus meines Gottes sein“ (Josua 9,23). Dann besiegt Josua ein von fünf Kanaaniter-Königen aufgebotenes Heer, erobert sechs weitere Städte und „vollzieht an ihnen den Bann“ (Kapitel 10), dann besiegt er noch ein paar Könige und erobert noch ein paar Städte, und am Ende wird das Land auf die israelitischen Stämme aufgeteilt.
  • Aber auch nach Josuas Tod ist die Landnahme noch nicht zu Ende gebracht. Das Buch der Richter beginnt mit den folgenden Versen: Nach dem Tod Josuas befragten die Israeliten den HERRN: Wer soll für uns zuerst gegen die Kanaaniter in den Kampf ziehen? Der HERR antwortete: Juda soll hinaufziehen; siehe, ich gebe das Land in seine Hand. Da sagte Juda zu seinem Bruder Simeon: Zieh mit mir hinauf in das Gebiet, das mir durch das Los zugefallen ist; wir wollen gegen die Kanaaniter kämpfen. Dann werde auch ich mit dir in das Gebiet ziehen, das dir durch das Los zugefallen ist. Da ging Simeon mit ihm. Juda zog hinauf und der HERR gab die Kanaaniter und die Perisiter in ihre Hand. Sie schlugen sie bei Besek, zehntausend Mann.“ (Richter 1,1-4)
  • Und auch zur Zeit König Sauls sind die Amalekiter, die speziellen Feinde der Israeliten, die Israel nach dem Auszug aus Ägypten hinterrücks überfallen haben, noch immer nicht ausgerottet; also übernimmt der Prophet Samuel schließlich die Initiative: Samuel sagte zu Saul: Der HERR hatte mich gesandt, um dich zum König seines Volkes Israel zu salben. Darum gehorche jetzt den Worten des HERRN! So spricht der HERR der Heerscharen: Ich habe beobachtet, was Amalek Israel angetan hat: Es hat sich ihm in den Weg gestellt, als Israel aus Ägypten heraufzog. Darum zieh jetzt in den Kampf und schlag Amalek! Ihr werdet an allem, was ihm gehört, den Bann vollziehen! Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel! […] Saul aber schlug die Amalekiter zwischen Hawila und der Gegend von Schur, das Ägypten gegenüberliegt. Agag, den König von Amalek, brachte er lebend in seine Gewalt; aber am ganzen Volk vollzog er den Bann mit der Schärfe des Schwertes. Saul und das Volk schonten Agag, ebenso auch die besten von den Schafen und Rindern, nämlich das Mastvieh und die Lämmer, sowie alles, was sonst noch wertvoll war. Das wollten sie nicht zum Banngut machen. Nur alles Minderwertige und Wertlose machten sie zum Banngut. Deshalb erging das Wort des HERRN an Samuel: Es reut mich, dass ich Saul zum König gemacht habe. Denn er hat sich von mir abgewandt und hat meine Befehle nicht ausgeführt. Das verdross Samuel sehr und er schrie die ganze Nacht zum HERRN. Am nächsten Morgen machte sich Samuel auf den Weg und ging Saul entgegen. Man hatte Samuel mitgeteilt: Saul ist nach Karmel gekommen und hat sich ein Denkmal errichtet; dann ist er umgekehrt und nach Gilgal hinab weitergezogen. Als Samuel nun zu Saul kam, sagte Saul zu ihm: Gesegnet seist du vom HERRN. Ich habe den Befehl des HERRN ausgeführt. Samuel erwiderte: Und was bedeutet dieses Blöken von Schafen, das mir in die Ohren dringt, und das Gebrüll der Rinder, das ich da höre? Saul antwortete: Man hat sie aus Amalek mitgebracht, weil das Volk die besten von den Schafen und Rindern geschont hat, um sie dem HERRN, deinem Gott, zu opfern. Das Übrige haben wir zum Banngut gemacht. Da sagte Samuel zu Saul: Hör auf! Ich will dir verkünden, was der HERR mir heute Nacht gesagt hat. Saul antwortete: Sprich! Samuel sagte: Bist du nicht, obwohl du dir gering vorkommst, das Haupt der Stämme Israels? Der HERR hat dich zum König von Israel gesalbt. Dann hat dich der HERR auf den Weg geschickt und gesagt: Geh und vollziehe an den Übeltätern, an den Amalekitern, den Bann; kämpfe gegen sie, bis du sie vernichtet hast! Warum hast du nicht auf die Stimme des HERRN gehört, sondern hast dich auf die Beute gestürzt und getan, was dem HERRN missfällt? Saul erwiderte Samuel: Ich habe doch auf die Stimme des HERRN gehört; ich bin den Weg gegangen, auf den der HERR mich geschickt hat; ich habe Agag, den König von Amalek, hergebracht und an den Amalekitern den Bann vollzogen. Aber das Volk hat von der Beute einige Schafe und Rinder genommen, das Beste vom Banngut, um es dem HERRN, deinem Gott, in Gilgal zu opfern. Samuel aber sagte: Hat der HERR an Brandopfern und Schlachtopfern das gleiche Gefallen wie am Gehorsam gegenüber der Stimme des HERRN? Wahrhaftig, Gehorsam ist besser als Opfer, Hinhören besser als das Fett von Widdern. Denn wie Sünde der Wahrsagerei ist Widerspenstigkeit, wie Frevel mit Götzenbildern ist Auflehnung. Weil du das Wort des HERRN verworfen hast, verwirft er dich als König. […] Darauf sagte Samuel: Bringt Agag, den König von Amalek, zu mir! Agag wurde in Fesseln zu ihm gebracht und sagte: Wahrhaftig, die Bitterkeit des Todes ist gewichen. Samuel aber erwiderte: Wie dein Schwert die Frauen um ihre Kinder gebracht, so sei unter den Frauen deine Mutter kinderlos gemacht. Und Samuel hieb vor den Augen des HERRN in Gilgal Agag in Stücke.“ (1 Samuel 15,1-3.7-23.32f.)

(Gustave Doré, La mort d’Agag. Gemeinfrei.)

Heißt das also, der liebe Herrgott befiehlt Völkermorde und ist zornig, wenn sie nicht genau nach Plan ausgeführt werden?

Es gibt, wie gesagt, verschiedene Möglichkeiten, diese Stellen zu deuten, in einen Kontext zu setzen, zu rechtfertigen oder wegzuerklären.

Ein unter den der historisch-kritischen Exegese zugeneigten Theologen beliebter Einwand ist, dass die Landnahme so gar nicht passiert sei. Die Geschichte mit den einstürzenden Stadtmauern von Jericho sei zum Beispiel nach dem archäologischen Befund zumindest zweifelhaft; auch Ai (s. Josua 7-8) sei wohl zur Zeit der Landnahme gar nicht besiedelt, sondern bereits ein Trümmerhaufen gewesen (was der Name „Ai“ interessanterweise bedeutet). Hazor, gut, das könnten die Israeliten in dieser Zeit erobert und niedergebrannt haben, aber überhaupt, aus den späteren Büchern der Bibel sieht man, dass auch Jahrhunderte nach der Landnahme noch Kanaaniter in Kanaan lebten, manchmal unter den Israeliten, manchmal in anderen Regionen und im Konflikt mit ihnen, was heißt, dass die Israeliten sie offensichtlich nicht alle ausgerottet hatten.

Dieser Einwand ist allerdings alles andere als stichhaltig. Dass die Israeliten es nicht schafften oder sich nicht die Mühe machten, einem Ausrottungsbefehl vollständig nachzukommen, ändert nichts an diesem Befehl. Von daher kann man die bloße Existenz von Kanaanitern in späteren Jahrhunderten nicht als Argument gegen solche Stellen gelten lassen. Die Funde in Jericho oder Ai sind etwas interessanter; sie sind allerdings nicht so aussagekräftig, dass sie ausschließen würden, dass die biblischen Erzählungen ziemlich wörtlich so passiert sind. Sie machen es sicherlich möglich, dass sich im Buch Josua reale historische Begebenheiten (evtl. Hazor) mit Legenden über die Frühzeit des Volkes (evtl. Jericho) mischen. Aber dennoch taugt das als Argument irgendwie nicht viel. Auch wenn einige dieser Eroberungsgeschichten nicht historisch sein sollten, sind sie doch offensichtlich als Vorbild, als Inspiration gemeint. Vielleicht war man sich dabei im Klaren, dass sie nicht immer völlig historisch waren, so wie wir uns bei historischen Romanen darüber im Klaren sind, dass die Einzelheiten nicht stimmen. Für die Frage, wie man die handelnden Personen in diesen Texten bewertet, macht das aber keinen großen Unterschied. Gründungslegenden, in denen sich Fakt und Fiktion mischen – es ist nicht ausgeschlossen. Aber hier kann man nicht wirklich mit „das ist ja alles bloß symbolisch gemeint, das soll nur einen spirituellen Kampf symbolisieren“ oder ähnlichen Deutungen kommen. Das passt nicht zur Gattung der Texte.

(Ausgrabungsstätte in Jericho. Gemeinfrei.)

Bevor ich mit anderen Interpretationen weitermache, die ich für sinnvoller halte, am besten noch ein paar Informationen zum weiteren Kontext.

Die Archäologie hat nur relativ wenig darüber zu sagen, was genau damals zwischen etwa 1250 (oder etwa 1400, falls der Exodus in diese Zeit fällt) und 1000 v. Chr. passierte; wie die Israeliten nach Kanaan kamen und wie sie sich dort ansiedelten. Dazu haben wir einfach zu wenige Quellen. Wir wissen aus der Merenptah-Stele, dass sie 1208 v. Chr. schon dort waren, und es gibt Hinweise, dass sie auch schon längere Zeit vorher dort gewesen sein könnten, aber archäologische Funde sind auch nicht immer einfach zu deuten und natürlich ist die Quellensituation für diese Zeit extrem schlecht; sehr vieles ist nicht erhalten. Ich betrachte deshalb mal nur die Situation, wie sie in den biblischen Texten erscheint. Hier sehen wir, dass sie doch deutlich komplexer war als „Israeliten schlachten Kanaaniter ab, weil sie deren Land haben wollen“. Und man sollte eine Situation nicht brutaler darstellen, als sie war, um an seiner Religionskritik/AT-Kritik festhalten zu können.

  • Im Buch Exodus greift, wie oben schon erwähnt wurde, das Volk Amalek Israel auf dem Weg von Ägypten nach Kanaan an (Exodus 17,8-16); in diesem Fall geht also der Krieg nicht von Israel aus.
  • Zu Beginn des Buches Deuteronomium, als Mose auf die Wanderung des Volkes durch die Wüste zurückblickt, sagt er: Dann sagte der HERR zu mir: Ihr seid jetzt lange genug an diesem Gebirge entlanggezogen. Wendet euch jetzt nach Norden! Befiehl dem Volk: Ihr werdet jetzt durch das Gebiet von Stammverwandten ziehen, durch das Gebiet der Nachkommen Esaus, die in Seïr wohnen. Wenn sie Furcht vor euch zeigen, dann seid auf der Hut und beginnt keine Feindseligkeiten gegen sie! Von ihrem Land gebe ich euch keinen Fußbreit; denn das Gebirge Seïr habe ich für Esau zum Besitz bestimmt. Was ihr an Getreide zum Essen braucht, kauft von ihnen für Silber; selbst das Trinkwasser beschafft euch von ihnen gegen Silber! […] Wir zogen also weg aus dem Gebiet in der Nähe der Söhne Esaus, unserer Stammverwandten, die in Seïr wohnen, weg vom Weg durch die Araba, von Elat und Ezjon-Geber. Wir wendeten uns und zogen den Weg zur Wüste Moab entlang. Und der HERR sagte zu mir: Begegne Moab nicht feindlich, beginn keinen Kampf mit ihnen! Von ihrem Land bestimme ich dir kein Stück zum Besitz; denn Ar habe ich für die Nachkommen Lots zum Besitz bestimmt.“ (Deuteronomium 2,2-6.8f.)
  • Später im Kapitel heißt es: Als alle waffenfähigen Männer ausgestorben und tot waren, sodass keiner von ihnen mehr im Volk lebte, sagte der HERR zu mir: Wenn du heute durch das Gebiet von Moab, durch Ar, ziehst, kommst du nahe an den Ammonitern vorbei. Begegne ihnen nicht feindlich, beginne keine Feindseligkeiten gegen sie! Vom Land der Ammoniter bestimme ich dir kein Stück zum Besitz; denn ich habe es für die Nachkommen Lots zum Besitz bestimmt. Auch dieses gilt als Land der Rafaïter. Einst saßen die Rafaïter darin. Die Ammoniter nennen sie die Samsummiter, ein Volk, das groß, zahlreich und hochgewachsen war wie die Anakiter. Der HERR vernichtete die Rafaïter, als die Ammoniter eindrangen. Diese übernahmen ihren Besitz und setzten sich an ihre Stelle. Das war das Gleiche, was der Herr für die Nachkommen Esaus getan hat, die in Seïr sitzen. Als sie vordrangen, vernichtete er die Horiter. Die Nachkommen Esaus übernahmen ihren Besitz und setzten sich an ihre Stelle. So blieb es bis heute. Das Gleiche geschah mit den Awitern, die in einzelnen Dörfern bis nach Gaza hin saßen. Die Kaftoriter, die aus Kaftor ausgewandert waren, vernichteten sie und setzten sich an ihre Stelle. Steht auf, brecht auf und überquert das Tal des Arnon! Siehe, hiermit gebe ich Sihon, den König von Heschbon, den Amoriter, mit seinem Land in eure Hand. Fang an, in Besitz zu nehmen! Bei ihm sollst du den Kampf beginnen. […] Da sandte ich aus der Wüste Kedemot Boten zu Sihon, dem König von Heschbon, und ließ ihm folgendes Abkommen vorschlagen: Ich will durch dein Land ziehen. Ich werde mich genau an den Weg halten, ohne ihn rechts oder links zu verlassen. Was ich an Getreide zum Essen brauche, wirst du mir für Silber verkaufen, auch das Trinkwasser wirst du mir gegen Silber geben. Ich werde nur zu Fuß durchziehen, so wie die Nachkommen Esaus, die in Seïr wohnen, und die Moabiter, die in Ar wohnen, es mir erlaubt haben. Das soll gelten, bis ich über den Jordan in das Land gezogen bin, das der HERR, unser Gott, uns gibt. Doch Sihon, der König von Heschbon, weigerte sich, uns bei sich durchziehen zu lassen. […] Sihon rückte mit seinem ganzen Volk gegen uns aus, um bei Jahaz zu kämpfen. Der HERR, unser Gott, lieferte ihn uns aus. Wir schlugen ihn, seine Söhne und sein ganzes Volk. Damals eroberten wir alle seine Städte. Wir vollzogen an ihrer ganzen Bevölkerung den Bann, auch die Frauen samt Kindern und Alten; keinen ließen wir überleben. […] Nur dem Land der Ammoniter hast du dich nicht genähert, dem gesamten Randgebiet des Jabboktals und den Städten im Gebirge, also allem, was der HERR, unser Gott, uns verwehrt hatte.“ (Deuteronomium 2,16-24.26-30.32-34.37)
  • Das nächste Kapitel beginnt mit: „Dann wendeten wir uns dem Weg zum Baschan zu und zogen hinauf. Og, der König des Baschan, rückte mit seinem ganzen Volk gegen uns aus, um bei Edreï zu kämpfen.“ (Deuteronomium 3,1) Auch hier ist ein anderes Volk der Aggressor.
  • In der Geschichte mit den Amalekitern in 1 Samuel 15 macht Saul einen Unterschied zwischen den Amalekitern und den ebenfalls in der Gegend lebenden Kenitern. In den oben ausgelassenen Versen 5 und 6 heißt es: Saul rückte bis zur Stadt der Amalekiter vor und legte im Bachtal einen Hinterhalt. Den Kenitern aber ließ er sagen: Auf, zieht fort, verlasst das Gebiet der Amalekiter, damit ich euch nicht zusammen mit ihnen vernichte; denn ihr habt euch gegenüber allen Israeliten freundlich verhalten, als sie aus Ägypten heraufzogen. Da verließen die Keniter das Gebiet der Amalekiter.“ Und es lohnt sich auch, Samuels Worte am Ende näher anzusehen: „Wie dein Schwert die Frauen um ihre Kinder gebracht, so sei unter den Frauen deine Mutter kinderlos gemacht.“ Diese Worte an Agag implizieren, dass es bei diesem Feldzug nicht nur um Rache für lange vergangene Ereignisse ging, sondern dass es auch zu dieser Zeit einen andauernden Konflikt mit den Amalekitern gab, bei dem es nicht klar ist, wer der ursprüngliche Aggressor war.
  • In der Tora gibt es auch Stellen, die die Kriegsführung im Allgemeinen behandeln, hier etwa: Wenn du vor eine Stadt ziehst, um sie anzugreifen, dann sollst du ihr zunächst eine friedliche Einigung vorschlagen. Nimmt sie die friedliche Einigung an und öffnet dir die Tore, dann soll die gesamte Bevölkerung, die du dort vorfindest, zum Frondienst verpflichtet und dir untertan sein. Lehnt sie eine friedliche Einigung mit dir ab und will sich mit dir im Kampf messen, dann darfst du sie belagern. Wenn der HERR, dein Gott, sie in deine Hand gibt, sollst du alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen. Die Frauen aber, die Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich sonst in der Stadt befindet, alles, was sich darin plündern lässt, darfst du dir als Beute nehmen. Was du bei deinen Feinden geplündert hast, darfst du verzehren; denn der HERR, dein Gott, hat es dir geschenkt. So sollst du mit allen Städten verfahren, die sehr weit von dir entfernt liegen und nicht zu den Städten dieser Völker hier gehören. Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der HERR, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehr sollst an den Hetitern und Amoritern, Kanaanitern und Perisitern, Hiwitern und Jebusitern den Bann vollziehen, so wie es der HERR, dein Gott, dir zur Pflicht gemacht hat, damit sie euch nicht lehren, entsprechend all den Gräueln zu handeln, die sie zu Ehren ihrer Götter begangen haben, und so zu sündigen gegen den HERRN, euren Gott. Wenn du eine Stadt längere Zeit hindurch belagerst, um sie anzugreifen und zu erobern, dann sollst du ihrem Baumbestand keinen Schaden zufügen, indem du die Axt daran legst. Du darfst von den Bäumen essen, sie aber nicht fällen mit dem Gedanken, die Bäume auf dem Feld seien der Mensch selbst, sodass sie von dir belagert werden müssten. Nur den Bäumen, von denen du weißt, dass sie keine Fruchtbäume sind, darfst du Schaden zufügen. Du darfst sie fällen und daraus Belagerungswerk bauen gegen die Stadt, die gegen dich kämpfen will, bis sie schließlich fällt.“ (Deuteronomium 20,10-20)

Um es zusammenzufassen: 1) Als Israel aus Ägypten auszieht, wird es von den Amalekitern und von Og, dem König des Baschan, angegriffen, und auch König Sihon von Heschbon will das Volk nicht durch sein Land ziehen lassen. 2) Die Israeliten unterscheiden zwischen Völkern, die in dem Land wohnen, das Gott ihnen versprochen hat, und die sie ganz und gar vernichten sollen, und anderen Völkern, denen sie friedlich zu begegnen versuchen. Auch Stellen in der Tora, die die rechtliche Stellung von Fremden, die unter den Israeliten leben, behandeln („Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde gewesen.“ (Exodus 22,20), „Du sollst einen fremden Untertan, der vor seinem Herrn bei dir Schutz sucht, seinem Herrn nicht ausliefern. Bei dir soll er wohnen dürfen, in deiner Mitte, in einem Ort, den er sich in einem deiner Stadtbereiche auswählt, wo es ihm gefällt. Du sollst ihn nicht ausbeuten.“ (Deuteronomium 23,16f.), „Gleiches Recht soll bei euch für den Fremden wie für den Einheimischen gelten; denn ich bin der HERR, euer Gott.“ (Levitikus 24,22)), machen deutlich, dass der „Bann“ (herem) im Kontext der Landnahme eine spezielle, zeitlich und örtlich begrenzte Aktion war.

Punkt 1 lässt erkennen, dass sich Israel allgemein wahrscheinlich nicht in einer Situation befand, in der sich alle kriegerischen Auseinandersetzungen vermeiden ließen.  Israel war ein heimatloses Volk auf der Flucht, das gerade aus der Sklaverei entkommen war und ein Siedlungsgebiet brauchte. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass die alteingesessenen Völker der Gegend ihm von vornherein eher feindlich gegenüberstanden, selbst die, mit denen die Israeliten selbst den Frieden wahren wollten; wenn Flüchtlinge in großen Scharen kommen, ist man ihnen gegenüber nicht automatisch freundlich gesonnen. Von daher fragt sich, was passiert wäre, wenn die Israeliten versucht hätten, einfach ganz friedlich in Kanaan einzuwandern und sich irgendwo ein paar freie Stückchen Land zu suchen – wenn wir davon ausgehen, dass es überhaupt größere unbewohnte Flecken Land gegeben hätte, was zweifelhaft ist. In den fünf Büchern Mose und den folgenden Büchern (Josua, Richter) wird diese Möglichkeit scheinbar gar nicht in Betracht gezogen – vielleicht, weil die Israeliten sie nicht als reale Möglichkeit sahen, da sie mit guten Gründen davon ausgingen, dass die Völker dort sie selbstverständlich sofort zu vertreiben versucht hätten.

Gut. Aber andererseits, wie Punkt 2 deutlich macht, geht es hier offensichtlich nicht nur um „wir können leider nicht anders als Gewalt anwenden, um zu überleben, also wenden wir eben so viel Gewalt an, wie es sein muss“. Immer wieder wird angeordnet, an konkreten Völkern „den Bann zu vollziehen“, was bedeutete, sie alle zu töten, keine Frauen oder Kinder als Sklaven mitzunehmen, auch das Vieh zu töten, anstatt es in Besitz zu nehmen, überhaupt allen Besitz zu zerstören (z. B. durch Feuer), anstatt ihn zu plündern. Teilweise bedeutete er auch die Zerstörung ganzer Städte und das Verbot des Wiederaufbaus (z. B. bei Jericho). Hier glaubten die Israeliten eindeutig, einen göttlichen Befehl zu vollstrecken; und der Grund für den Bann war kein pragmatischer (Saul wird ja gerade für seine pragmatische Bereicherung am Besitz der besiegten Amalekiter bestraft), sondern ein religiöser und sozialer. Das Denken sah etwa so aus:

  • Gott hat uns dieses Land versprochen;
  • jetzt leben dort diese diversen anderen Völker, und sie praktizieren ihre falschen Götterkulte und in deren Rahmen Kinderopfer, Tempelprostitution und andere Gräueltaten;
  • daher straft Gott sie;
  • und zwar durch uns, die wir jetzt dieses Land von ihnen zu übernehmen und sie alle vollständig dem Untergang zu weihen haben;
  • der Grund dafür ist, dass ihre Schlechtigkeit vollständig ausgerottet werden muss;
  • u. a., damit unsere Leute nicht davon angesteckt werden und evtl. auch in ihr Verhalten verfallen;
  • wofür Gott uns ebenso strafen würde.

Eine modernere Lesart, die die Stellen eher wegerklären will, bringt diese Erklärung: Die (geplante / versuchte) Ausrottung der Kanaaniter habe nicht Gottes Willen entsprochen, und diese Stellen müsse man so interpretieren, dass die Führer der Israeliten, wie Mose, begriffen hatten, dass die Taten der Kanaaniter tatsächliche „Gräuel“ waren, die man am besten ausrotten sollte, und daraus schlossen, dass es Gottes Wille sein musste, die Kanaaniter auszurotten; dabei wird auf die Unterscheidung zwischen Gottes direktem und Seinem indirekten Willen zurückgegriffen, also dem, was Er bewirkt, und dem, was Er bloß zulässt (s. dazu Teil 8).

In einer der oben zitierten Stellen wird auch von anderen Völkern erzählt, und davon, wer dort früher einmal von wem vertrieben wurde: „Auch dieses gilt als Land der Rafaïter. Einst saßen die Rafaïter darin. Die Ammoniter nennen sie die Samsummiter, ein Volk, das groß, zahlreich und hochgewachsen war wie die Anakiter. Der HERR vernichtete die Rafaïter, als die Ammoniter eindrangen. Diese übernahmen ihren Besitz und setzten sich an ihre Stelle. Das war das Gleiche, was der Herr für die Nachkommen Esaus getan hat, die in Seïr sitzen. Als sie vordrangen, vernichtete er die Horiter. Die Nachkommen Esaus übernahmen ihren Besitz und setzten sich an ihre Stelle. So blieb es bis heute. (Deuteronomium 2,20-22)

Hier wird also Gott auch die Verantwortung dafür zugeschrieben, welche anderen Völker, die nicht von Ihm erwählt sind, einander besiegten – kurz gesagt, wenn jemand Erfolg im Krieg hat, oder überhaupt, wenn irgendetwas auf der Welt geschieht, schlussfolgert man, dass das dem Willen Gottes entsprechen muss. Der Herr spricht durch das Schicksal, und das muss man irgendwie interpretieren. Wenn wir siegen, hat der Herr uns den Sieg verliehen, also muss er auch wollen, dass wir diese Völker bekämpfen und besiegen. So hätten die Israeliten eventuell ihre Erfolge interpretiert. Umgekehrt, wenn wir verlieren, straft der Herr uns für unsere eigenen Sünden. Dieses Verständnis von Glück und Leid als Lohn oder Strafe durch Gott sieht man auch in späteren Büchern des AT sehr oft, z. B. bei den Propheten. Ein nuancierteres Verständnis des Schicksals und des göttlichen Willens braucht noch ein bisschen; z. B. haben noch Jesu Jünger Schwierigkeiten damit, zu sehen, dass die Blindheit eines Mannes nicht automatisch eine Strafe für seine Sünden oder die seiner Eltern ist (Johannes 9,1-3).

Laut dieser Lesart sah, was damals abgelaufen ist, etwa so aus: Die Israeliten wussten, dass Gott sie auserwählt hatte, und dass Er ihnen das Gelobte Land versprochen hatte. Aus ersterem schlossen sie, dass er logischerweise in ihren Kriegen an ihrer Seite stehen würde, und aus letzterem, dass sie dieses Land mit militärischer Gewalt erobern sollten. Wenn Gott ihnen dabei Erfolg verleihen würde, musste Er mit ihren Unternehmungen einverstanden sein, und Er verlieh ihnen den Sieg wohl, um ihre Feinde zu strafen. Sie wussten, dass einiges in deren Gesellschaften vor dem Herrn ein „Gräuel“ war, und daraus schlossen sie, dass das ausgelöscht werden musste – und zwar, womit sonst, mit Gewalt, mit radikaler Gewalt. Und hier durfte man keine Kompromisse machen, weil man vielleicht doch irgendwie das Gefühl hatte, dass ja an den Göttern der Kanaaniter doch etwas dran sein könnte, oder dass ihre Wahrsagemethoden doch ganz nützlich sein könnten.

(Interessanterweise war übrigens gerade König Saul, der in der oben zitierten Stelle vom Propheten Samuel so energisch zurechtgewiesen wird, weil er das Vieh der Amalekiter geplündert und ihren König als Trophäe mitgenommen hatte, anstatt das mit dem Bann voll und ganz durchzuziehen, auch anderweitig für solche „Halbherzigkeiten“ anfällig: Nachdem er selbst die Totenbeschwörer und Wahrsager aus dem Land vertreiben hatte lassen, ging er in 1 Samuel 28 zu einer Totenbeschwörerin nach En-Dor, um den inzwischen verstorbenen Samuel heraufzubeschwören und so über eine bevorstehende Schlacht Auskunft zu erhalten.) Die Frage war für die Israeliten damals nicht: Lassen wir Zivilisten am Leben? Sondern: Akzeptieren wir diese andere Religion und Kultur? Leben wir mit dieser Kultur in dem Land, in dem wir leben wollen? Einer Kultur, die Götter verehrt, die Kinderopfer verlangen?

Ich folge dieser Interpretation inzwischen nicht mehr; und ich weiß nicht, ob sie mit der Lehre von der Irrtumslosigkeit der Bibel vereinbar ist. Angesichts der ganzen Darstellung der Exodus-, Wüstenwanderungs- und Landnahmegeschichte liegt sie nicht gerade nahe; dort scheint Gott mit Mose recht direkt und deutlich zu kommunizieren, so dass für ihn kein Zweifel mehr möglich ist, dass er es mit Gott zu tun hat, und auch das Volk sieht genug Wunder; und bei allem, was Mose (auf welche Weise auch immer) von Gott erfährt und weiterverkündet, geht es doch um eine Offenbarung Gottes; die Anweisungen zur Landnahme sind recht zentral und werden öfter wiederholt.

Sind diese Anweisungen also wirklich so gemeint, was sagen sie dann über Gott? Nun hier muss man einfach folgendes sagen:

Gott hat den Menschen das Leben gegeben und hat das uneingeschränkte Recht, das Leben eines jeden Menschen zu beenden (siehe dazu auch Teil 9 und 10 dieser Reihe.); irgendwann beendet Er es sowieso, und zwar dann, wenn es für diesen Menschen gut ist. Menschen dürfen das normalerweise nicht; sie dürfen nicht einfach so Gott spielen, sondern haben nur im Fall von Notwehr (und ggf. Todesstrafe und einem gerechten Krieg) das Recht, andere Menschen zu töten. Sie dürfen also normalerweise nur in ernsten Notfällen schuldige Menschen töten, keine unschuldigen Menschen. Aber Gott hat ja wohl das Recht, sich selbst zu spielen.

Und es gibt keinen prinzipiellen Grund, aus dem Gott Seine Vollmacht, in anderen Fällen Leben zu beenden, theoretisch nicht auch an Menschen delegieren könnte, wenn er wollte.

Das klingt, wenn man es zum ersten Mal hört, grausam und erschreckend, auch wenn man die Logik des Gedankengangs nicht bestreitet. Aber man muss sich fragen, ob es an sich so erschreckend ist, oder deswegen, weil man seine Maßstäbe unterbewusst aus einer Kultur hat, für die es nichts Schrecklicheres gibt als den Tod und die nicht wirklich an etwas nach dem Tod glaubt.

Man muss es sich immer vor Augen halten: Die Kanaaniter können schließlich jetzt – seit über dreitausend Jahren – im Himmel sein, Gott schauen, der die Quelle allen Glücks ist. Wenn man z. B. an kleine Kinder denkt, die bei der Eroberung Kanaans getötet wurden, ist es eine Tatsache, dass sie jetzt in vollkommenem Glück leben. Alles, was man im Leben an Leid erlebt, ist begrenzt, auch die schlimmste Angst, die schlimmsten Schmerzen, der schlimmste Todeskampf, sind irgendwann vorbei; die Ewigkeit ist ewig, und Gott kann alles wiedergutmachen, was man an Leid erlebt hat. Mir selber wäre es lieber, in einem Krieg getötet zu werden, wenn ich dann in vollkommenem Glück wäre.

Man könnte nun einwenden: Aber befiehlt Gott denn tatsächlich manchmal einem Menschen, einen anderen unschuldigen Menschen zu töten? (Unter den Kanaanitern waren freilich genug schuldige Menschen; aber die ein oder anderen Unschuldigen muss es auch gegeben haben.) Gibt Er Sein „Vorrecht“, unschuldiges menschliches Leben zu beenden, so leicht aus der Hand? Die Landnahme ist ein vereinzelter Fall in der biblischen Geschichte; sonst sieht man Gott das nicht tun.

Wenn man auf den Höhepunkt der Offenbarung, zu Jesus Christus schaut, findet z. B. diese Stelle in den Evangelien: „Es geschah aber: Als sich die Tage erfüllten, dass er hinweggenommen werden sollte, fasste Jesus den festen Entschluss, nach Jerusalem zu gehen. Und er schickte Boten vor sich her. Diese gingen und kamen in ein Dorf der Samariter und wollten eine Unterkunft für ihn besorgen. Aber man nahm ihn nicht auf, weil er auf dem Weg nach Jerusalem war. Als die Jünger Jakobus und Johannes das sahen, sagten sie: Herr, sollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel fällt und sie verzehrt? Da wandte er sich um und wies sie zurecht. Und sie gingen in ein anderes Dorf.“ (Lukas 9,51-56) (Leider erfahren wir nicht, was genau Jesus zu Jakobus und Johannes sagt.)

Andererseits findet sich auch im Neuen Testament, in der Apostelgeschichte, sich eine Stelle, an der zwei Christen für ihre Lügen gegenüber den Aposteln von Gott mit dem Tod bestraft werden: „Ein Mann namens Hananias aber und seine Frau Saphira verkauften zusammen ein Grundstück und mit Einverständnis seiner Frau behielt er etwas von dem Erlös für sich. Er brachte nur einen Teil und legte ihn den Aposteln zu Füßen. Da sagte Petrus: Hananias, warum hat der Satan dein Herz erfüllt, dass du den Heiligen Geist belügst und von dem Erlös des Grundstücks etwas für dich behältst? Hätte es nicht dein Eigentum bleiben können und konntest du nicht auch nach dem Verkauf frei über den Erlös verfügen? Warum hast du in deinem Herzen beschlossen, so etwas zu tun? Du hast nicht Menschen belogen, sondern Gott. Als Hananias diese Worte hörte, stürzte er zu Boden und starb. Und über alle, die es hörten, kam große Furcht. Die jungen Männer standen auf, hüllten ihn ein, trugen ihn hinaus und begruben ihn. Nach etwa drei Stunden kam seine Frau herein, ohne zu wissen, was geschehen war. Petrus fragte sie: Sag mir, habt ihr das Grundstück für so viel verkauft? Sie antwortete: Ja, für so viel. Da sagte Petrus zu ihr: Warum seid ihr übereingekommen, den Geist des Herrn auf die Probe zu stellen? Siehe, die Füße derer, die deinen Mann begraben haben, stehen vor der Tür; auch dich wird man hinaustragen. Im selben Augenblick brach sie vor seinen Füßen zusammen und starb. Die jungen Männer kamen herein, fanden sie tot, trugen sie hinaus und begruben sie neben ihrem Mann. Da kam große Furcht über die ganze Gemeinde und über alle, die davon hörten.“ (Apostelgeschichte 5,1-11)

Und Jesus selbst spricht immer wieder überdeutlich vom kommenden Gericht Gottes und der Hölle – die wesentlich schlimmer ist als der zeitliche Tod, den damals die Kanaaniter erlitten haben.

Man kann sicherlich sagen, dass so etwas im Lauf der Heilsgeschichte ein Ausnahmefall war; aber man kann es nicht von vornherein ausschließen.

Dazu kommen die Wundererzählungen. Laut der Bibel hat Gott auch ein paar Wunder gewirkt, um Israel seine Siege zu ermöglichen. Hätte er das getan, wenn diese Siege nicht wirklich Sein direkter – im Unterschied zu seinem indirekten, bloß zulassenden – Wille gewesen wären?

Darauf könnte man zwar antworten, dass solche Wunder nicht bei allzu vielen Schlachten erwähnt werden. In der Regel heißt es nur „Der Herr gab sie in unsere Gewalt“ oder „Die Israeliten schlugen sie“ ohne irgendwelche übernatürlichen Vorkommnisse. Dann gibt es solche Schlachten wie die Abwehr Amaleks in Exodus 17, die eindeutig ein gerechter Verteidigungskampf war, bei dem auch ein moderner Leser kein Problem mit der Annahme eines göttlichen Eingriffs haben muss: „Und Amalek kam und suchte in Refidim den Kampf mit Israel. Da sagte Mose zu Josua: Wähl uns Männer aus und zieh in den Kampf gegen Amalek! Ich selbst werde mich morgen mit dem Gottesstab in meiner Hand auf den Gipfel des Hügels stellen. Josua tat, was ihm Mose aufgetragen hatte, und kämpfte gegen Amalek, während Mose, Aaron und Hur auf den Gipfel des Hügels stiegen. Solange Mose seine Hand erhoben hielt, war Israel stärker; sooft er aber die Hand sinken ließ, war Amalek stärker. Als dem Mose die Hände schwer wurden, holten sie einen Steinbrocken, schoben den unter ihn und er setzte sich darauf. Aaron und Hur stützten seine Arme, der eine rechts, der andere links, sodass seine Hände erhoben blieben, bis die Sonne unterging. So schwächte Josua Amalek und sein Heer mit scharfem Schwert.“ (Exodus 17,8-13)

Bei manchen Erzählungen ist nicht ganz klar, wie historisch sie sind; das gilt etwa für die Eroberung Jerichos, wobei es auch hier nicht ausgeschlossen ist, dass die Geschichte so passiert ist. Aber auch hier gilt wieder: Auch wenn die Details nicht historisch sind, kann man die Geschichte nicht einfach beiseite schieben; sie sagt dennoch etwas aus. Und um an die Aussagen der Bibel zu kommen, sollte man eigentlich auch nicht erst die letztgültige Klärung irgendwelcher archäologischen Funde abwarten müssen, falls das nach so langer Zeit überhaupt noch möglich ist.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/28/Tissot_Moses_on_the_Mountain_During_the_Battle.jpg

(James Tissot, Moses on the Mountain during the Battle. Gemeinfrei.)

Auch interessant: Auch direkt nach dem Exodus, als die Ägypter Israel nachsetzen, Gott Mose das Rote Meer teilen lässt und die Israeliten trockenen Fußes hindurchziehen, heißt es, dass Gott dann noch einmal direkt eingreift, um die Ägypter zu besiegen (Katholiken kennen diese Stelle aus den Lesungen in der Osternacht) : „Um die Zeit der Morgenwache blickte der HERR aus der Feuer- und Wolkensäule auf das Lager der Ägypter und brachte es in Verwirrung. Er hemmte die Räder an ihren Wagen und ließ sie nur schwer vorankommen. Da sagte der Ägypter: Ich muss vor Israel fliehen; denn der HERR kämpft auf ihrer Seite gegen Ägypten. Darauf sprach der HERR zu Mose: Streck deine Hand über das Meer, damit das Wasser zurückflutet und den Ägypter, seine Wagen und Reiter zudeckt! Mose streckte seine Hand über das Meer und gegen Morgen flutete das Meer an seinen alten Platz zurück, während die Ägypter auf der Flucht ihm entgegenliefen. So trieb der HERR die Ägypter mitten ins Meer. Das Wasser kehrte zurück und bedeckte Wagen und Reiter, die ganze Streitmacht des Pharao, die den Israeliten ins Meer nachgezogen war. Nicht ein Einziger von ihnen blieb übrig.“ (Exodus 14,24-28) Mose, Mirjam und die übrigen Israeliten preisen Gott dafür: „Ich singe dem HERRN ein Lied, denn er ist hoch und erhaben. Ross und Reiter warf er ins Meer.“ (Exodus 15,1) Natürlich geht es auch hier wieder um Verteidigung, um Hilfe gegen die Sklavenhalter, die ihre entflohenen Sklaven zurückholen wollen. Aber man kann mit Fug und Recht sagen, dass Gott (der allmächtig ist) die Israeliten auch hätte schützen können, ohne jeden einzelnen ägyptischen Soldaten dieses Aufgebots zu töten; dass Er es tat, war Seine Entscheidung – und Er hatte das Recht dazu.

Wo die Seelen dieser Ägypter, und die der bei der Landnahme getöteten Kanaaniter, jetzt sind, ist wieder eine andere Frage – und Gott ist hier völlig unparteiisch, gerecht und gnädig.

Man darf auch nicht vergessen, wie entscheidend die Landverheißung, die schon Abraham gegeben wurde, im Alten Testament war (und tatsächlich für das jüdische Volk bis heute ist). Gott hatte den Israeliten das Land versprochen; und Er hatte das Recht dazu.

Gott arbeitete im Kontext der damaligen Zeit mit seinem Volk – und wir sollten von der heute so weit verbreiteten Ansicht wegkommen, dass der Tod das Schlimmste ist, was einem passieren kann.

Man kann noch tiefer bohren und sich fragen, inwiefern eine solche Anweisung Gottes, die Kanaaniter vollständig auszurotten, gerade im damaligen Kontext Sinn gemacht haben könnte. Dazu kann man sich gerade die Folgen ansehen, die daraus resultierten, dass die Israeliten dieser Anweisung nicht vollständig nachkamen.

Das Endergebnis war nämlich, dass viele Israeliten sich mit den Kanaanitern vermischten, ihre Götter neben Gott verehrten (vielleicht aus dem Gefühl heraus, dass es sie möglicherweise auch geben könnte und man sie dann besänftigen müsste), und ihre Bräuche übernahmen. Da haben wir dann Herrscher wie Ahas von Juda, über den es heißt: Er ließ sogar seinen Sohn durch das Feuer gehen [d. h. für einen der kanaanitischen Götter als Menschenopfer verbrennen] und ahmte so die Gräuel der Völker nach, die der HERR vor den Israeliten vertrieben hatte.“ (2 Könige 16,3), oder wie Ahab von Israel und dessen Frau Isebel, die „die Propheten des HERRN ausrottete“ (1 Könige 18,4) und auch den Propheten Elija verfolgte.

Gott wusste vermutlich auch: Wenn Er den Israeliten keinen solchen Befehl geben würde, würde es trotzdem auf Kriege mit den Kanaanitern hinauslaufen, weil sie Israel auch nicht so einfach Land überlassen würden; vielleicht nicht auf so viele Tote, vielleicht auf irgendwelche Friedensabkommen am Ende – aber damit auch auf die besagte Vermischung mit den schrecklichen kanaanitischen Kulturen; und trotzdem auf Krieg und einige Tote. Man kann auch infragestellen, ob es z. B. für die kanaanitischen Frauen und Kinder denn wirklich angenehmer gewesen wäre, von den Israeliten (wie es damals in Kriegen üblich war und wie sie es vermutlich getan hätten) versklavt zu werden als einfach umgebracht, wie es dem Befehl beim „Bann“ entsprach. Zudem verhinderte Gott durch den einfachen Befehl des „Banns“ auch andere Sünden durch die Israeliten – z. B. Kämpfe um die Verteilung der Beute (die ja nach diesem Befehl zerstört werden musste); und da Er es befohlen hatte, sündigten sie nicht, wenn sie die Kanaaniter töteten. Insofern kann man den Befehl des „Banns“ auch als kluge Strategie Gottes sehen, um die Seelen aller Beteiligten zu schützen.

Diese Interpretation wird übrigens auch nahegelegt durch folgende Stelle in einem späteren Buch des Alten Testaments:

„Darum bestrafst du die Sünder nur nach und nach; du mahnst sie und erinnerst sie an ihre Sünden, damit sie sich von der Schlechtigkeit abwenden und an dich glauben, Herr. Du hast auch die früheren Bewohner deines heiligen Landes gehasst, weil sie abscheuliche Verbrechen verübten,/ Zauberkünste und unheilige Riten; sie waren erbarmungslose Kindermörder/ und verzehrten beim Kultmahl Menschenfleisch und Menschenblut; sie waren Teilnehmer an geheimen Kulten und sie waren Eltern, die mit eigener Hand hilflose Wesen töteten – sie alle wolltest du vernichten durch die Hände unserer Väter; denn das Land, das dir vor allen anderen teuer ist, sollte eine seiner würdige Bevölkerung von Gotteskindern erhalten. Doch selbst jene hast du geschont, weil sie Menschen waren; du sandtest deinem Heer Wespen voraus, um sie nach und nach zu vernichten. Obgleich du die Macht hattest, in einer Schlacht die Gottlosen den Gerechten in die Hand zu geben oder sie durch entsetzliche Tiere oder ein Wort mit einem Schlag auszurotten, vollzogst du doch erst nach und nach die Strafe und gabst Raum zur Umkehr. Dabei wusstest du genau, dass ihr Ursprung böse und ihre Schlechtigkeit angeboren war und dass sich ihr Denken in Ewigkeit nicht ändern werde; sie waren schon von Anfang an eine verfluchte Nachkommenschaft. Keine Furcht vor irgendjemand hat dich dazu bestimmt, sie für ihre Sünden ohne Strafe zu lassen. Denn wer darf sagen: Was hast du getan?/ Wer vermag sich deinem Urteilsspruch zu widersetzen? Wer könnte dich anklagen wegen des Untergangs von Völkern, die du selbst geschaffen hast? Wer wollte vor dich treten als Anwalt ungerechter Menschen? Denn es gibt keinen Gott außer dir, der für alles Sorge trägt; daher brauchst du nicht zu beweisen, dass du gerecht geurteilt hast. Kein König und kein Herrscher kann dich zur Rede stellen wegen der Menschen, die du gestraft hast. Gerecht, wie du bist, verwaltest du das All gerecht und hältst es für unvereinbar mit deiner Macht, den zu verurteilen, der keine Strafe verdient. Deine Stärke ist die Grundlage deiner Gerechtigkeit und deine Herrschaft über alles lässt dich alles schonen. Stärke beweist du, wenn man an deine unbeschränkte Macht nicht glaubt, und bei denen, die sie kennen, strafst du die anmaßende Auflehnung.“ (Weisheit 12,2-17)

(Vgl. dazu auch Teil 10 über göttliche Gerichtstaten im Allgemeinen und diesen Exkurs zum Ringen mit und Hinterfragen von Gott.)

 

Es sind für die verschiedenen möglichen Interpretationen jedenfalls wieder die Regeln 13-16 zu beachten:

Regel Nummer 13: In frühen Stadien der Offenbarung sind Gottes Botschaften manchmal noch unvollständig.

Regel Nummer 14: Es gibt einen Unterschied zwischen dem direkt verursachenden und dem bloß zulassenden Willen Gottes.

Regel Nummer 15: Es macht keinen Sinn, Gott dafür zu beschuldigen, dass er einem Menschen das Leben nimmt. (Das Argument ist hier nicht so sehr „beschwer dich nicht, dein Leben gehört Gott, er darf damit tun, was er will“, sondern eher „Gott, dem dein Leben gehört, wird dir dieses irdische Leben nur nehmen, wenn er einen guten Grund dafür hat, denn er will dir und allen anderen Menschen Gutes“.)

Regel Nummer 16: Das Alte Testament muss immer im Licht des Neuen interpretiert werden, weil Jesus das Wort Gottes ist.

Über schwierige Bibelstellen, Teil 12: Das Gesetz des Mose

[Dieser Teil wurde noch einmal überarbeitet.]

Das Gesetz des Mose wird von Bibelkritikern immer wieder gern aufgebracht – da heißt es dann, die Bibel legitimiere Polygamie, grausame Strafen für relativ geringe Vergehen, Sklaverei, oder die Vergewaltigung von Kriegsgefangenen. Aber wenn einem Stellen in Exodus, Levitikus oder Deuteronomium Bauchschmerzen bereiten, könnte ein Blick ins Neue Testament schon weiterhelfen. Erst einmal müsste nämlich auffallen: Die Christen halten sich nicht an diese in der Bibel stehenden Gesetze. Und nach 2000 Jahren Christentum kann man sich denken, dass der Grund dafür nicht sein wird, dass ihnen noch nie aufgefallen ist, dass diese Gesetze in der Bibel stehen.

Hier also einige relevante Stellen aus dem NT:

  • „Da kamen Pharisäer zu ihm und fragten: Darf ein Mann seine Frau aus der Ehe entlassen? Damit wollten sie ihm eine Falle stellen. Er antwortete ihnen: Was hat euch Mose vorgeschrieben? Sie sagten: Mose hat erlaubt, eine Scheidungsurkunde auszustellen und (die Frau) aus der Ehe zu entlassen. Jesus entgegnete ihnen: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er euch dieses Gebot gegeben. Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen, und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. Zu Hause befragten ihn die Jünger noch einmal darüber. Er antwortete ihnen: Wer seine Frau aus der Ehe entlässt und eine andere heiratet, begeht ihr gegenüber Ehebruch. Auch eine Frau begeht Ehebruch, wenn sie ihren Mann aus der Ehe entlässt und einen anderen heiratet.“ (Markus 10,2-12)
  • „An einem Sabbat ging er durch die Kornfelder und unterwegs rissen seine Jünger Ähren ab. Da sagten die Pharisäer zu ihm: Sieh dir an, was sie tun! Das ist doch am Sabbat verboten. Er antwortete: Habt ihr nie gelesen, was David getan hat, als er und seine Begleiter hungrig waren und nichts zu essen hatten – wie er zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar in das Haus Gottes ging und die heiligen Brote aß, die außer den Priestern niemand essen darf, und auch seinen Begleitern davon gab? Und Jesus fügte hinzu: Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat. Deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.“ (Markus 2,23-28)
  • „Und er rief die Leute zu sich und sagte: Hört und begreift: Nicht das, was durch den Mund in den Menschen hineinkommt, macht ihn unrein, sondern was aus dem Mund des Menschen herauskommt, das macht ihn unrein. […] Da sagte Petrus zu ihm: Erkläre uns jenes rätselhafte Wort! Er antwortete: Seid auch ihr noch immer ohne Einsicht? Begreift ihr nicht, dass alles, was durch den Mund (in den Menschen) hineinkommt, in den Magen gelangt und dann wieder ausgeschieden wird? Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das macht den Menschen unrein. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen. Das ist es, was den Menschen unrein macht; aber mit ungewaschenen Händen essen macht ihn nicht unrein.“ (Matthäus 15,10f.15-20)
  • „Am folgenden Tag, als jene unterwegs waren und sich der Stadt näherten, stieg Petrus auf das Dach, um zu beten; es war um die sechste Stunde. Da wurde er hungrig und wollte essen. Während man etwas zubereitete, kam eine Verzückung über ihn. Er sah den Himmel offen und eine Schale auf die Erde herabkommen, die aussah wie ein großes Leinentuch, das an den vier Ecken gehalten wurde. Darin lagen alle möglichen Vierfüßler, Kriechtiere der Erde und Vögel des Himmels. Und eine Stimme rief ihm zu: Steh auf, Petrus, schlachte und iss! Petrus aber antwortete: Niemals, Herr! Noch nie habe ich etwas Unheiliges und Unreines gegessen. Da richtete sich die Stimme ein zweites Mal an ihn: Was Gott für rein erklärt, nenne du nicht unrein! Das geschah dreimal, dann wurde die Schale plötzlich in den Himmel hinaufgezogen.“ (Apostelgeschichte 10,9-16)
  • „Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du? Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Johannes 8,3-11)

Regel Nummer 16: Das Alte Testament muss immer im Licht des Neuen interpretiert werden, weil Jesus das Wort Gottes ist.

Klar, auch die Bibel wird oft als das „Wort Gottes“ bezeichnet. Und das ist nicht falsch. Aber das eigentliche Wort Gottes, laut Johannes 1, ist der Sohn Gottes, Gott selbst. Jesus ist Gottes eigentliche Selbstoffenbarung an uns, und die Bibel berichtet von diesem Jesus, und auch von dem, was vor ihm kam – und das muss immer im Licht der endgültigen Offenbarung gesehen werden.

Als Jesus mit einer konkreten Frage zum Gesetz des Mose konfrontiert wird, sagt er: „Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er euch dieses Gebot gegeben.“ (Markus 10,5) In der Tora gibt es Gebote, die „wegen eurer Herzenshärte“ (so die wörtlichere Übersetzung) gegeben wurden, nicht, weil sie an sich gut waren. Dazu gehören, wie Jesus sagt, Regelungen zur Scheidung. Man könnte sie mit heutigen Regelungen dazu vergleichen, was getan werden soll, wenn Väter keine Unterhaltszahlungen für ihre unehelichen Kinder leisten. Solche Regelungen stellen keine Idealsituationen her – ideal wäre es, wenn Eltern in einer liebevollen Partnerschaft zusammenleben und sich freiwillig gut um ihre Kinder kümmern würden –, sie betreiben Schadensbegrenzung. Und die in der Bibel enthaltenen Regeln taten das eben im Kontext der damaligen Zeit (in welchem auch sonst?).

Die Bibel heißt Polygamie nicht gut – aber das Gesetz des Mose schreibt vor, dass ein Mann, der mehrere Ehefrauen hat, sie gleich behandeln muss, und zwar auch dann, wenn es sich um Frauen handelt, die als Sklavinnen gekauft wurden, oder auch in Bezug auf das Erbe ihrer Kinder. „Nimmt er sich noch eine andere Frau, darf er sie in Nahrung, Kleidung und Beischlaf nicht benachteiligen. Wenn er ihr diese drei Dinge nicht gewährt, darf sie unentgeltlich, ohne Bezahlung, gehen.“ (Exodus 21,10f.) „Wenn ein Mann zwei Frauen hat, eine, die er liebt, und eine, die er nicht liebt, und wenn beide ihm Söhne gebären, die geliebte wie die ungeliebte, und der erstgeborene Sohn von der ungeliebten stammt, dann darf er, wenn er sein Erbe unter seine Söhne verteilt, den Sohn der geliebten Frau nicht als Erstgeborenen behandeln und damit gegen das Recht des wirklichen Erstgeborenen, des Sohnes der ungeliebten Frau, verstoßen. Vielmehr soll er den Erstgeborenen, den Sohn der Ungeliebten, anerkennen, indem er ihm von allem, was er besitzt, den doppelten Anteil gibt. Ihn hat er zuerst gezeugt, er besitzt das Erstgeborenenrecht.“ (Deuteronomium 21,15-17)

Die Bibel heißt Sklaverei nicht gut – aber es gibt Gesetze, die die Rechte von Herren über ihre Sklaven einschränken. „Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre Sklave bleiben, im siebten Jahr soll er ohne Entgelt als freier Mann entlassen werden.“ (Exodus 21,2) „Wenn einer seinem Sklaven oder seiner Sklavin ein Auge ausschlägt, soll er ihn für das ausgeschlagene Auge freilassen. Wenn er seinem Sklaven oder seiner Sklavin einen Zahn ausschlägt, soll er ihn für den ausgeschlagenen Zahn freilassen.“ (Exodus 21,26f.) Und das in einer Zeit, in der in anderen Völkern Besitzer das Recht hatten, ihre Sklaven zu töten, wenn ihnen danach war.

Es gibt Stellen in der Tora, die von manchen als Legitimierung von Vergewaltigung verstanden werden, da sie davon handeln, dass ein Vergewaltiger sein Opfer heiraten soll: „Wenn ein Mann einem unberührten Mädchen, das noch nicht verlobt ist, begegnet, sie packt und sich mit ihr hinlegt und sie ertappt werden, soll der Mann, der bei ihr gelegen hat, dem Vater des Mädchens fünfzig Silberschekel zahlen und sie soll seine Frau werden, weil er sie sich gefügig gemacht hat. Er darf sie niemals entlassen.“ (Deuteronomium 22,28f.) Wie man an den Formulierungen leicht sehen kann, geht es hier aber gerade nicht darum, ein Vergewaltigungsopfer zu zwingen, ihren Vergewaltiger zu heiraten, sondern es geht darum, dass sie ein Anrecht darauf hat, dass er sie heiratet; als Wiedergutmachung für das, was er ihr angetan hat. Damals wäre sie von anderen Männern als beschädigte Ware betrachtet worden, was ihre Heiratschancen beträchtlich gemindert hätte, und damals war die Ehe für Frauen keine Sache der Liebe, sondern eine Sache der Versorgung. War das scheiße? Und wie. Aber so war es. Diese Gesetze versuchen, Schadensbegrenzung zu betreiben; entweder, ihr Vergewaltiger hat ihr die Sicherheit im Leben, um die er sie sonst vielleicht gebracht hätte, zu bieten, indem er sie heiratet, oder aber er hat ihrer Familie zumindest den Gegenwert des üblichen Brautpreises als Entschädigung zu zahlen. (Eine ähnliche Stelle, in der allerdings nicht von Vergewaltigung, sondern von Verführung die Rede ist, legt das als zweite mögliche Lösung nahe: „Wenn jemand ein noch nicht verlobtes Mädchen verführt und bei ihm schläft, dann soll er das Brautgeld zahlen und sie zur Frau nehmen. Weigert sich aber ihr Vater, sie ihm zu geben, dann hat er ihm so viel zu zahlen, wie der Brautpreis für eine Jungfrau beträgt.“ (Exodus 22,15f.)) Etwas Besseres bietet diese Vorschrift nicht, weil sie nichts Besseres bieten konnte.

[Die der Deuteronomium-Stelle vorhergehenden Stellen werden übrigens von Bibelkritikern manchmal in dem Sinne gedeutet, dass sie unter Umständen die Todesstrafe für das Opfer einer Vergewaltigung vorsehen. In dem Fall ist das einfach Unsinn, der sich als solcher herausstellt, wenn man die Stelle genau liest. „Wenn ein unberührtes Mädchen mit einem Mann verlobt ist und ein anderer Mann ihr in der Stadt begegnet und sich mit ihr hinlegt, dann sollt ihr beide zum Tor dieser Stadt führen. Ihr sollt sie steinigen und sie sollen sterben, das Mädchen, weil es in der Stadt nicht um Hilfe geschrien hat, und der Mann, weil er sich die Frau eines andern gefügig gemacht hat. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Wenn der Mann dem verlobten Mädchen aber auf freiem Feld begegnet, sie fest hält und sich mit ihr hinlegt, dann soll nur der Mann sterben, der bei ihr gelegen hat, dem Mädchen aber sollst du nichts tun. Bei dem Mädchen handelt es sich nicht um ein Verbrechen, auf das der Tod steht; denn dieser Fall ist so zu beurteilen, wie wenn ein Mann einen andern überfällt und ihn tötet. Auf freiem Feld ist er ihr begegnet, das verlobte Mädchen mag um Hilfe geschrien haben, aber es ist kein Helfer da gewesen.“ Wie ich schon einmal erklärt habe: Die Frage, ob das Vergehen in der Stadt oder außerhalb geschehen ist und ob das Mädchen um Hilfe geschrieen hat oder nicht, dient einfach der Beweisfindung, um zu klären, ob es sich um eine Vergewaltigung oder um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehandelt hat – hier geht es nicht darum, ein Vergewaltigungsopfer zu bestrafen, sondern herauszufinden, ob sie ein Vergewaltigungsopfer ist oder nicht. Die Verse 26 und 27 erklären ja noch einmal deutlich, wieso es nicht strafwürdig ist, vergewaltigt zu werden. Das Verfahren ist etwas ungenügend, geht aber wenigstens bei einem Tatort, wo, anders als in der dicht besiedelten Stadt, niemand in der Nähe gewesen wäre, um zu helfen, von „Im Zweifelsfall für die Angeklagte“ aus – auch auf freiem Feld hätte sie freiwillig mit einem Mann schlafen können. Hier ist es übrigens auch interessant zu sehen, wie unterschiedlich verlobte (rechtlich gesehen schon verheiratete, aber noch im Haus ihrer Eltern lebende) und nicht verlobte Mädchen bzw. die Männer, die mit ihnen Geschlechtsverkehr hatten, behandelt wurden. Ehebruch wurde deutlich strenger gesehen als vorehelicher Geschlechtsverkehr.]

Ähnlich sieht es mit einer anderen, sehr häufig von Kritikern zitierten Stelle aus: „Wenn du zum Kampf gegen deine Feinde ausziehst und der Herr, dein Gott, sie alle in deine Gewalt gibt, wenn du dabei Gefangene machst und unter den Gefangenen eine Frau von schöner Gestalt erblickst, wenn sie dein Herz gewinnt und du sie heiraten möchtest, dann sollst du sie in dein Haus bringen und sie soll sich den Kopf scheren, ihre Nägel kürzen und die Gefangenenkleidung ablegen. Sie soll in deinem Haus wohnen und einen Monat lang ihren Vater und ihre Mutter beweinen. Danach darfst du mit ihr Verkehr haben, du darfst ihr Mann werden und sie deine Frau. Wenn sie dir aber nicht mehr gefällt, darfst du sie entlassen, und sie darf tun, was sie will. Auf keinen Fall darfst du sie für Silber verkaufen. Auch darfst du sie nicht als Sklavin kennzeichnen. Denn du hast sie dir gefügig gemacht.“ (Deuteronomium 21,10-14)

Nein, die Bibel legitimiert hier gerade nicht die Vergewaltigung einer Kriegsgefangenen. Sie versucht, ihre Rechte zu schützen, so gut es eben möglich ist. Ihr muss ein Monat Zeit gegeben werden, um ihre Familie zu betrauern. Sie muss dann wie eine normale Ehefrau mit allen damit einhergehenden Rechten behandelt und versorgt werden. „Der Text in Deuteronomium gibt uns auch mehrere Hinweise, dass der biblische Autor diejenigen, die erzwungene Heiraten praktizierten, mahnt, ihre Handlungen zu überdenken. Erstens wird gesagt, dass die gefangene Frau, die der Mann heiraten will, ihren Kopf scheren muss, und dass der Mann sie mit neuen Kleidern ausstatten muss. Da langes Haar ein Zeichen der Schönheit und Kleidung sehr teuer war, mag das ein Weg gewesen sein, die Israeliten davon abzubringen, Zwangsheiraten zu praktizieren. Zweitens darf die Frau ihren Verlust einen ganzen Monat lang betrauern, und erst dann konnte eine Heirat stattfinden. Wieder wird gehofft, dass diese Vorschrift den Israeliten einen Sinn des Mitleids einflößt und sie motiviert, eine solche Frau nicht gegen ihren Willen zu heiraten. Aber wenn der Mann tatsächlich eine Frau heiratet, die er gefangen genommen hat, und sie ihm später nicht mehr gefällt, dann kann er sie nicht als Sklavin verkaufen. Er muss sie als seine legitime Ehefrau sehen. Wenn er die Ehe beenden will, dann muss er sie gehen lassen, weil, und hier kommt der wichtige Teil, der Text sagt, dass der Mann ‚sie beschämt hat’ (Deuteronomium 21,14).“* (In der englischen Übersetzung, die diesem Text zugrunde liegt, wird das Wort „humiliate“ verwendet, was „beschämen“, „erniedrigen“, oder „demütigen“ heißen kann. In der deutschsprachigen Elberfilder Bibel und ebenso in der Zürcher Bibel heißt es noch deutlicher: „weil du ihr Gewalt angetan hast.“ Leider kenne ich den Urtext hier nicht, und kann damit nicht beurteilen, ob die Elberfilder Bibel oder die Einheitsübersetzung ihn besser wiedergibt; allerdings wird auch in der Vulgata, der lateinischen Standardübersetzung, das Verb „humiliasti“ verwendet, was mit „erniedrigen“, „demütigen“, „entehren“ oder „schänden“ übersetzt werden kann.)

Regel Nummer 17: Nur weil etwas in einem in der Bibel enthaltenen Gesetz reguliert wird, heißt das nicht, dass Gott es gutheißt.

Es gibt noch andere Schwierigkeiten mit den einzelnen Vorschriften der Tora, abgesehen von der, dass sie schlechte oder grausame Dinge wie die Polygamie oder die Sklaverei gestatten. Eine wäre, dass viele der Vorschriften schlicht unnötig oder blödsinnig klingen – die vielen Speisegesetze, das Verbot von Kleidung aus Mischgewebe, die Regeln zur rituellen Reinheit etc. Wozu das alles?

Diese Gesetze sind keine moralischen Gesetze, sondern gehören zum sog. zeremoniellen Gesetz. Es sind Gesetze, die a) Israel als Gottes heiliges Volk von den anderen Völkern unterscheiden und abgrenzen sollten, b) Gott auf ganz konkrete in den Mittelpunkt des Alltagslebens stellen sollten, c) besonders den Gehorsam gegenüber Gott lehren sollten (viele dieser Gesetze wurden nach dem Vorfall mit dem Goldenen Kalb erlassen; es handelt sich also sozusagen um eine pädagogische Maßnahme – tatsächlich bezeichnet Paulus das Gesetz des Mose in Galater 3,24 als „paidagogos“), d) oft einen bestimmten Symbolwert hatten, beispielsweise bei Gesetzen, die bestimmte Vermischungen verbieten (Israel soll sich nicht mit den heidnischen Völkern vermischen, den Gottesdienst nicht mit heidnischen Riten).

Das moralische Gesetz und das zeremonielle Gesetz überschneiden sich an manchen Stellen. Manche Dinge sind immer falsch – Tempelprostitution oder Okkultismus etwa. Andere waren damals falsch, weil sie damals eine bestimmte kultische Bedeutung für andere Religionen hatten, wie bestimmte Frisuren oder Tätowierungen. Ein Abschnitt aus dem Buch Levitikus bietet ein sehr gutes Beispiel für solche Überschneidungen: „Ihr sollt nichts mit Blut essen. Wahrsagerei und Zauberei sollt ihr nicht treiben. Ihr sollt euer Kopfhaar nicht rundum abschneiden. Du sollst deinen Bart nicht stutzen. Für einen Toten dürft ihr keine Einschnitte auf eurem Körper anbringen und ihr dürft euch keine Zeichen einritzen lassen. Ich bin der Herr. Entweih nicht deine Tochter, indem du sie der Unzucht preisgibst, damit das Land nicht der Unzucht verfällt und voller Schandtat wird. Ihr sollt auf meine Sabbate achten und mein Heiligtum fürchten. Ich bin der Herr. Wendet euch nicht an die Totenbeschwörer und sucht nicht die Wahrsager auf; sie verunreinigen euch. Ich bin der Herr, euer Gott.“ (Levitikus 19,26-31)

Das zeremonielle Gesetz hatte also einen Sinn in der Zeit, in der Israel sich auf das Kommen des Messias vorbereitete. Im Neuen Bund gilt es nicht mehr. Jesus betonte während seines irdischen Lebens immer wieder, dass die äußerliche, kultische Reinheit nicht das Entscheidende ist, und dass die Regeln kein Selbstzweck sind. Dann wurde nach seiner Auferstehung dem hl. Petrus offenbart, dass die Speisegebote nicht mehr gelten, und die Apostel entschieden auf dem Apostelkonzil, nicht von den Heidenchristen zu verlangen, sich zu „beschneiden und von ihnen [zu] fordern, am Gesetz des Mose festzuhalten“ (Apostelgeschichte 15,5). Auch in den Paulusbriefen finden sich übrigens zahlreiche Stellen zu den „Werken des Gesetzes“, z. B. im Römerbrief.

Regel Nummer 18: Im Alten Testament muss man zwischen dem moralischen (Zehn Gebote etc.) und dem zeremoniellen Gesetz (Speisegesetze etc.) unterscheiden. Das zeremonielle Gesetz des Alten Bundes hat seinen Zweck erfüllt und ist jetzt nicht mehr nötig.

Ab und zu werden einzelne Stellen aus dem zeremoniellen Gesetz auch als faktisch falsch kritisiert. Dazu gehören z. B. die Einordnung des Hasen als „Wiederkäuer“ in Levitikus 11,6 oder die der Fledermaus als Vogel in Levitikus 11,13-19. In diesen Fällen muss man einfach auf die Originalsprache schauen. Mit Wiederkäuern waren Tiere gemeint, die entweder, wie Kühe, halb verdaute Nahrung aus ihrem Magen noch einmal heraufholen und erneut kauen, oder, wie Hasen, ihren eigenen Kot fressen, um Nährstoffe, die ihr Körper beim ersten Mal nicht aufgenommen hat, beim zweiten Mal zu kriegen. (Ja, ich weiß – ekelhaft.) Und mit Vögeln meinte man schlichtweg Tiere mit Flügeln; hier findet keine biologische Klassifizierung statt. Übersetzungen haben eben ihre Grenzen.

Eine dritte wichtige Schwierigkeit mit der Tora wäre, dass die in ihr enthaltenen Gesetze manchmal übermäßig grausame Strafen vorschreiben. Die immer wieder wiederholten Grundsätze des Buches Deuteronomium hierzu klingen unerbittlich und brutal: „Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen“ (Deuteronomium 13,6; 17,7; 19,19; 21,21; 24,7), und, noch härter und dem instinktiven menschlichen Gefühl für Moral widersprechend, „Du sollst in dir kein Mitleid aufsteigen lassen“ (Deuteronomium 13,9; 19,21; 25,12). Auch zu solchen Strafen haben wir die passende Jesus-Stelle: Als die Ehebrecherin zu ihm gebracht wird und die Schriftgelehrten ihn testen wollen, ob er sich auch an das Gesetz des Mose hält, sorgt er dafür, dass sie entgegen diesem Gesetz nicht gesteinigt wird.

Die Strafen in der Tora haben unterschiedliche Gründe.

Es finden sich harte Strafen für schwere Verbrechen. „Wer einen Menschen so schlägt, dass er stirbt, wird mit dem Tod bestraft. Wenn er ihm aber nicht aufgelauert hat, sondern Gott es durch seine Hand geschehen ließ, werde ich dir einen Ort festsetzen, an den er fliehen kann. Hat einer vorsätzlich gehandelt und seinen Mitbürger aus dem Hinterhalt umgebracht, sollst du ihn von meinem Altar wegholen, damit er stirbt.“ (Exodus 21,12-14) Dieses Gesetz unterscheidet zwischen vorsätzlichem Mord und im Affekt geschehenem Totschlag (oder Körperverletzung mit Todesfolge); im zweiten Fall gibt es für den Täter die Möglichkeit, in eine Asylstadt oder einen Tempel zu fliehen; im ersten Fall gilt für ihn selbst in einem Heiligtum kein Asyl, er wird mit dem Tod bestraft. Oder es gäbe auch dieses Gesetz gegen Menschenraub: „Wer einen Menschen raubt, gleichgültig, ob er ihn verkauft hat oder ob man ihn noch in seiner Gewalt vorfindet, wird mit dem Tod bestraft.“ (Exodus 21,16) Das sind Gesetze, die vernünftigerweise nicht zu beanstanden sind. Erstens hatte man in der damaligen Zeit oft keine Hochsicherheitsgefängnisse (manche Fürsten mochten sehr sichere Kerker haben, aber z. B. während Israels Wüstenwanderung hatte es die nicht). Es gab damals vor allem die Todesstrafe, die Verbannung (evtl. mit der Möglichkeit des Asyls in einer Stadt mit speziellen Rechtsprivilegien oder in einem Heiligtum), Körperstrafen und Geldstrafen (bzw. andere Schadensersatzleistungen), und die Todesstrafe war manchmal schlichtweg nötig, um eine Gesellschaft vor einem gefährlichen Verbrecher zu schützen; praktisch als ein Fall von kollektiver Notwehr. Aber zweitens sagt auch die Kirche heute, dass die Todesstrafe nicht in sich falsch ist und man sie prinzipiell auch einfach anwenden darf, weil sie eine gerechte Strafe ist, auch wenn man die Gesellschaft anders vor dem Verbrecher schützen könnte. (Ob sie in der Praxis angewandt werden sollte, darüber gehen unter Katholiken die Meinungen stark auseinander, aber darum geht es hier auch nicht.) Strafe ist dazu da, das Gleichgewicht der Gerechtigkeit wiederherzustellen; und die Todesstrafe für einen Mörder tut genau das. Wie man sein Recht auf seine Freiheit durch eigene Schuld verlieren kann, so auch sein Recht auf sein Leben; die Todesstrafe nimmt den Mörder als verantwortlichen Menschen ernst und ist außerdem ein Anreiz zur Reue vor dem Tod.

Okay. Ich glaube, dass die meisten Leute, auch wenn sie für heute die Todesstrafe ablehnen nicht allzu viele Schwierigkeiten damit haben werden, zumindest zu akzeptieren, dass eine bronzezeitliche Gesellschaft manchmal nicht umhin kam, Mörder oder Menschenräuber hinzurichten. Aber dann sind da noch andere Vorschriften – Vorschriften wie diese hier:

  • „Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, wird mit dem Tod bestraft.“ (Exodus 21,15)
  • „Wer seinen Vater oder seine Mutter verflucht, wird mit dem Tod bestraft.“ (Exodus 21,17)
  • „Jeder, der seinen Vater oder seine Mutter verflucht, wird mit dem Tod bestraft. Da er seinen Vater oder seine Mutter verflucht hat, soll sein Blut auf ihn kommen.“ (Levitikus 20)
  • „Wenn ein Mann einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat, der nicht auf die Stimme seines Vaters und seiner Mutter hört, und wenn sie ihn züchtigen und er trotzdem nicht auf sie hört,dann sollen Vater und Mutter ihn packen, vor die Ältesten der Stadt und die Torversammlung des Ortes führen und zu den Ältesten der Stadt sagen: Unser Sohn hier ist störrisch und widerspenstig, er hört nicht auf unsere Stimme, er ist ein Verschwender und Trinker. Dann sollen alle Männer der Stadt ihn steinigen und er soll sterben. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Ganz Israel soll davon hören, damit sie sich fürchten.“ (Deuteronomium 21,18-21)
  • „Wenn ein Mann dabei ertappt wird, wie er bei einer verheirateten Frau liegt, dann sollen beide sterben, der Mann, der bei der Frau gelegen hat, und die Frau. Du sollst das Böse aus Israel wegschaffen.“ (Deuteronomium 22,22)
  • „Jeder, der mit einem Tier verkehrt, soll mit dem Tod bestraft werden.“ (Exodus 22,18)
  • „Ein Mann, der mit der Frau seines Nächsten die Ehe bricht, wird mit dem Tod bestraft, der Ehebrecher samt der Ehebrecherin.Ein Mann, der mit der Frau seines Vaters schläft, hat die Scham seines Vaters entblößt. Beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen. Schläft einer mit seiner Schwiegertochter, so werden beide mit dem Tod bestraft. Sie haben eine schändliche Tat begangen, ihr Blut soll auf sie kommen. Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Gräueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen. Heiratet einer eine Frau und ihre Mutter, so ist das Blutschande. Ihn und die beiden Frauen soll man verbrennen, damit es keine Blutschande unter euch gibt. Ein Mann, der einem Tier beiwohnt, wird mit dem Tod bestraft; auch das Tier sollt ihr töten. Nähert sich eine Frau einem Tier, um sich mit ihm zu begatten, dann sollst du die Frau und das Tier töten. Sie werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen. Nimmt einer seine Schwester, eine Tochter seines Vaters oder eine Tochter seiner Mutter und sieht ihre Scham und sie sieht die seine, so ist es eine Schandtat. Sie sollen vor den Augen der Söhne ihres Volkes ausgemerzt werden. Er hat die Scham seiner Schwester entblößt; er muss die Folgen seiner Schuld tragen. Ein Mann, der mit einer Frau während ihrer Regel schläft und ihre Scham entblößt, hat ihre Blutquelle aufgedeckt und sie hat ihre Blutquelle entblößt; daher sollen beide aus ihrem Volk ausgemerzt werden.“ (Levitikus 20,10-18)
  • „Wenn sich die Tochter eines Priesters als Dirne entweiht, so entweiht sie ihren Vater; sie soll im Feuer verbrannt werden.“ (Levitikus 21,9)
  • „Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen.“ (Exodus 22,17)
  • „Männer oder Frauen, in denen ein Toten- oder ein Wahrsagegeist ist, sollen mit dem Tod bestraft werden. Man soll sie steinigen, ihr Blut soll auf sie kommen.“ (Levitikus 20,27)
  • „Wer einer Gottheit außer Jahwe Schlachtopfer darbringt, an dem soll die Vernichtungsweihe vollstreckt werden.“ (Exodus 22,19)
  • „Wenn in deiner Mitte ein Prophet oder ein Traumseher auftritt und dir ein Zeichen oder Wunder ankündigt,wobei er sagt: Folgen wir anderen Göttern nach, die du bisher nicht kanntest, und verpflichten wir uns, ihnen zu dienen!, und wenn das Zeichen und Wunder, das er dir angekündigt hatte, eintrifft, dann sollst du nicht auf die Worte dieses Propheten oder Traumsehers hören; denn der Herr, euer Gott, prüft euch, um zu erkennen, ob ihr das Volk seid, das den Herrn, seinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele liebt. Ihr sollt dem Herrn, eurem Gott, nachfolgen, ihn sollt ihr fürchten, auf seine Gebote sollt ihr achten, auf seine Stimme sollt ihr hören, ihm sollt ihr dienen, an ihm sollt ihr euch fest halten. Der Prophet oder Traumseher aber soll mit dem Tod bestraft werden. Er hat euch aufgewiegelt gegen den Herrn, euren Gott, der euch aus Ägypten geführt und dich aus dem Sklavenhaus freigekauft hat. Denn er wollte dich davon abbringen, auf dem Weg zu gehen, den der Herr, dein Gott, dir vorgeschrieben hat. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Wenn dein Bruder, der dieselbe Mutter hat wie du, oder dein Sohn oder deine Tochter oder deine Frau, mit der du schläfst, oder dein Freund, den du liebst wie dich selbst, dich heimlich verführen will und sagt: Gehen wir und dienen wir anderen Göttern – (wobei er Götter meint,) die du und deine Vorfahren noch nicht kannten, unter den Göttern der Völker, die in eurer Nachbarschaft wohnen, in der Nähe oder weiter entfernt, zwischen dem einen Ende der Erde und dem andern Ende der Erde -, dann sollst du nicht nachgeben und nicht auf ihn hören. Du sollst in dir kein Mitleid mit ihm aufsteigen lassen, sollst keine Nachsicht für ihn kennen und die Sache nicht vertuschen. Sondern du sollst ihn anzeigen. Wenn er hingerichtet wird, sollst du als Erster deine Hand gegen ihn erheben, dann erst das ganze Volk. Du sollst ihn steinigen und er soll sterben; denn er hat versucht, dich vom Herrn, deinem Gott, abzubringen, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Ganz Israel soll davon hören, damit sie sich fürchten und nicht noch einmal einen solchen Frevel in deiner Mitte begehen.“ (Deuteronomium 13,2-12)
  • „Sag den Israeliten: Jeder, der seinem Gott flucht, muss die Folgen seiner Sünde tragen.Wer den Namen des Herrn schmäht, wird mit dem Tod bestraft; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Der Fremde muss ebenso wie der Einheimische getötet werden, wenn er den Gottesnamen schmäht.“ (Levitikus 24,15f.)

Zusammengefasst: Für Vergehen gegen die Eltern, für die schwereren sexuellen Vergehen (Ehebruch, Inzest, homosexuelle Handlungen, Bestialität), und für fremde religiöse / okkulte Praktiken oder den Abfall von Jahwe wird hier die Todesstrafe angedroht. (Noch kurz zu der Frage, was genau mit „Hexerei“ oder den Kulten anderer Götter gemeint war, ein weiteres Zitat aus Deuteronomium: „Wenn du in das Land hineinziehst, das der Herr, dein Gott, dir gibt, sollst du nicht lernen, die Gräuel dieser Völker nachzuahmen. Es soll bei dir keinen geben, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt, keinen, der Losorakel befragt, Wolken deutet, aus dem Becher weissagt, zaubert, Gebetsbeschwörungen hersagt oder Totengeister befragt, keinen Hellseher, keinen, der Verstorbene um Rat fragt. Denn jeder, der so etwas tut, ist dem Herrn ein Gräuel.“ (Deuteronomium 18,9-12) Also alles von Kinderopfern hin zu Geisterbefragung.)

File:Tissot The Sabbath-Breaker Stoned.jpg

(James Tissot, The Sabbath-Breaker Stoned)

Es ist schwierig zu sagen, inwieweit diese strengen Gesetze in der Praxis Anwendung fanden, und auch, ob sie überhaupt in jedem Fall Anwendung finden sollten oder bloß eine Höchststrafe festlegten. Aber lassen wir diese Fragen mal beiseite und gehen davon aus, dass die Gesetze so angewendet wurden, wie sie dastehen. Dabei sollte noch beachtet werden, dass es eine generelle Schwelle für die Anwendung der Todesstrafe gab, nämlich, was die Anzahl der Zeugen betraf, und auch harte Strafen für verleumderische Verdächtigungen: „Wenn es um ein Verbrechen oder ein Vergehen geht, darf ein einzelner Belastungszeuge nicht Recht bekommen, welches Vergehen auch immer der Angeklagte begangen hat. Erst auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen darf eine Sache Recht bekommen. Wenn jemand vor Gericht geht und als Zeuge einen andern zu Unrecht der Anstiftung zum Aufruhr bezichtigt, wenn die beiden Parteien mit ihrem Rechtsstreit vor den Herrn hintreten, vor die Priester und Richter, die dann amtieren, wenn die Richter eine genaue Ermittlung anstellen und sich zeigt: Der Mann ist ein falscher Zeuge, er hat seinen Bruder fälschlich bezichtigt, dann sollt ihr mit ihm so verfahren, wie er mit seinem Bruder verfahren wollte. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Die Übrigen sollen davon hören, damit sie sich fürchten und nicht noch einmal ein solches Verbrechen in deiner Mitte begehen. Und du sollst in dir kein Mitleid aufsteigen lassen: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß.“ (Deuteronomium 19,15-20)

An dieser Stelle sieht man sehr schön den generellen Sinn des Talionsprinzips in der Tora. (Das übrigens nicht nur im Buch Deuteronomium, sondern auch schon im Buch Exodus vorkommt: „Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.“ (Exodus 21,23-25)) Es hat, wie andere weiter oben genannte Vorschriften, auch einen schadensbegrenzenden Zweck, indem es die exzessive Blutrache verbietet – wenn jemand dir ein Auge ausgeschlagen hat, darfst du ihn dafür nicht gleich umbringen –; aber vor allem soll es ganz einfach die reine Gerechtigkeit durchsetzen; Gerechtigkeit, die hart sein kann, die nicht durch Gnade abgemildert wird, die aber jedem ganz genau das gibt, was ihm zusteht und was er sich verdient hat.

Und, wie im Alten Testament sehr deutlich wird, wurden Ehebruch, Inzest, Verfluchung der Eltern, Totenbeschwörung oder die Verehrung anderer Götter eben als schwerwiegende, tatsächlich todeswürdige Verbrechen betrachtet. Man kann das utilitaristisch betrachten: Der Abfall von Gott galt als schwerwiegend, weil er einen Treuebruch mit demjenigen bedeutete, der die Existenz des ganzen Volkes garantierte; die Familie oder Sippe war extrem wichtig und daher galt auch Verhalten, das sie schädigte, wie Ehebruch, Inzest oder Verfluchung der Eltern, als schwerwiegend. Aber diese Betrachtung trifft doch die damalige Betrachtungsweise nicht ganz. Der Bund mit Gott ist einfach heilig; Gott ist aus sich heilig und verdient Anbetung und Treue; die Familie ist heilig und verdient Ehrfurcht und Treue. Es ist falsch, deinen Eltern z. B. den Tod zu wünschen oder sie zu schlagen; es ist sogar extrem böse. Es ist falsch, deinen Ehemann mit einem anderen zu hintergehen; sehr, sehr falsch.

Es gibt die Lesart, dass diese Gesetze, ganz genau so, wie sie sind, von Gott gegeben wurden und damals aus diversen Gründen (um die Israeliten erst einmal auf den richtigen Weg zu bringen; um deutlich zu machen, wie schlimm diese Vergehen sind; um die gesellschaftliche Ordnung der damaligen Zeit zu erhalten, o. Ä.) nötig waren, es heute aber nicht mehr sind, auch wenn die genannten Vergehen an sich immer noch ebenso schlecht sind wie damals. Wie Vergehen bestraft werden, kann sich ändern; hier kann auch Gott mal dies, mal jenes befehlen, wie er auch im Alten Bund am Sabbat verehrt werden wollte, und im Neuen Bund am Sonntag (dem Tag der Auferstehung).

Diese Lesart ist gut christlich, und inzwischen folge ich ihr.

In der vorigen Fassung dieses Artikels habe ich vor allem eine andere Lesart präsentiert; ich stelle sie noch mal dar, und sage dann, was ich inzwischen gegen sie einwenden würde. Sie lautet:

„Als Jesus mit einer konkreten Frage zum Gesetz des Mose konfrontiert wird, sagt er: „Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er euch dieses Gebot gegeben.“ „Er“ ist hier Mose, nicht Gott – es handelt sich bei den Vorschriften, um die es geht, um das Gesetz des Mose; woraus man schließen könnte, dass es ein Gesetz ist, das dieser sich sicher nicht einfach aus den Fingern gesogen, sondern mindestens in einem echten Hinhören auf Gottes Willen verfasst hat, aber das ihm vielleicht auch nicht wortwörtlich vom Himmel herab diktiert wurde, sondern das eben er selbst verfasst hat. Die Bibel zeigt ja auch, wie das Verständnis um Gottes Wesen im Lauf der Zeit zunimmt; sie zeigt nicht nur das Ergebnis, das gesammelte Wissen, das am Ende steht, sondern auch den Prozess, der zu diesem Wissen geführt hat. Sie erzählt eine Geschichte, und hier erzählt sie, welche Gesetze Mose den Israeliten gegeben hat.

Nehmen wir einen Vergleich her mit dem Kinderfilm „Frozen“. Zusammenfassung der Handlung: Prinzessin Elsa hat magische Kräfte und kann Eis und Schnee herbeizaubern, diese Kräfte sind aber auch gefährlich und als Kind hat sie ihre kleine Schwester Anna damit verletzt, also versucht sie seitdem verzweifelt, sie zurückzuhalten, was am Ende nicht funktioniert, weshalb sie am Tag ihrer Krönung davonläuft und sich hoch oben einsam in den Bergen versteckt, wo sie sich ein Eisschloss zaubert. An dieser Stelle im Film kommt das folgende Lied:

Man kann Elsas Erleichterung darüber, dass sie sich endlich nicht mehr verstecken muss, gut nachfühlen – „…and the fears that once controlled me / can’t get to me at all! / It’s time to see what I can do, / to test the limits and break through…“ –, aber trotzdem ist nicht alles, was sie in diesem Moment singt, wahr: „No right, no wrong, no rules for me – / I’m free!“ So funktioniert es auch wieder nicht, und das zeigt der Film in der Folge sehr deutlich. Elsa hat unabsichtlich und ohne es zu merken das ganze Land unter Eis und Schnee versenkt, und als ihre Schwester ihr nachgeht, um sie wieder zurückzuholen, und sie schließlich findet, verletzt Elsa Anna mit einem Eisblitz, was für Anna lebensgefährlich wird. Elsa kann sich nicht einfach zurückziehen und ihren Kräften freien Lauf lassen; sie schadet anderen Menschen damit, auch wenn sie es unabsichtlich tut und ihre bisherigen Versuche, niemandem zu schaden, nicht wirklich erfolgreich waren. Es braucht eine andere Lösung.

Es wäre also falsch, alle Aussagen von „Let it go“ als Aussagen des Films herzunehmen, auch wenn manchen Leuten speziell dieses Lied so gut zu gefallen scheint, dass sie genau das tun. Das hier ist erst der Anfang. Ein paar Erkenntnisse müssen noch kommen.

Ähnlich kann es hier sein. Die Menschen, die diese Gesetze erlassen und Exodus, Levitikus, oder Deuteronomium verfasst haben, hatten bereits einige sehr wichtige Erkenntnisse über Gott und das Gute gewonnen: Das moralische Gesetz ist etwas Absolutes. Gerechtigkeit ist wichtig. Ehebruch oder Okkultismus oder Mord sind wirklich schwerwiegende Sünden, die Wiedergutmachung verlangen, konkreten Menschen schaden, und der Gesellschaft im Ganzen ebenso. „Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen“ – das ist an sich keine falsche Aussage. Das Böse muss weggeschafft werden, ganz radikal, ohne Kompromisse. Aber dass das nicht immer am besten durch das Wegschaffen des Menschen, der das Böse tut, geschieht, das hatten die Autoren dieser Texte eben noch nicht erkannt. Die Unterscheidung zwischen Sünder und Sünde, die Erkenntnis, dass das Böse manchmal eher in der Seele des Einzelnen weggeschafft werden muss als in der Gesellschaft, fehlte noch. Die Gnade kommt zu kurz. Nicht, dass sie im Alten Testament gar nicht vorkäme; im Gegenteil, in anderen Texten kommt sie wieder und wieder und wieder zum Ausdruck. Aber hier fehlt sie ein wenig. Und genau deswegen lässt Jesus die Ehebrecherin eben nicht steinigen, sondern sagt zu ihr, „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr.“ (Johannes 8,11).

„Gott ist die Liebe“, sagt der hl. Johannes (1 Johannes 4,8), und die Liebe, die sich in Jesus Christus offenbart hat, bringt die Gerechtigkeit und die Gnade zusammen.“

Diese Lesart ist halb richtig. Das Gesetz des Mose war noch unvollständig; aber ich denke nicht mehr, dass der Grund dafür ist, dass Mose Gott nicht ganz verstanden hat oder etwas in der Art. In der Bibel – auch im AT – ist ebenso wie im NT jeder Satz und jedes Wort wahr und von Gott so und nicht anders inspiriert, das ist einfach katholische Lehre. Und in der Bibel heißt es klar, dass Gott Mose diese Worte sagte, ihm diese Rechtsvorschriften vorgab. Aber die einfache Erklärung ist, dass Gott Mose nur das offenbarte, was er und die Israeliten bisher fassen konnten: Er zeigte ihnen einen Teil der Wahrheit, den sie zu diesem Zeitpunkt nötig hatten und hob den Rest für später auf. Er zeigte ihnen Rechtsvorschriften, die ihnen jetzt helfen würden, und hob Wahrheiten, die sie einmal mildern würden, für später auf.

Es gibt ja keinen Widerspruch zwischen Mose und Jesus; Jesus erfüllt und ergänzt Mose.

Tatsächlich lese ich persönlich übrigens das Buch Deuteronomium inzwischen sehr gerne. Es enthält unglaublich schöne Texte:

„Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben.“

(Deuteronomium 6,4-9)

„Dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir. Es ist nicht im Himmel, sodass du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, sodass du sagen müsstest: Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können? Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.“

(Deuteronomium 30,11-14)

„Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. […] Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, hör auf seine Stimme und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben. Er ist die Länge deines Lebens, das du in dem Land verbringen darfst, von dem du weißt: Der Herr hat deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen, es ihnen zu geben.“

(Deuteronomium 30,15.19f.)

Man muss eben bloß wissen, was man mit den irritierenden Versen machen soll, die sich immer mal wieder zwischen die schönen verirren.

* Trent Horn, Hard Sayings, El Cajon, California 2016, S. 242f., Übersetzung von mir.