Wie man zum Glauben kommt

  1. Das schlussfolgernde Denken kann mit Gewissheit die Existenz Gottes und die Unendlichkeit seiner Vollkommenheiten beweisen. – Der Glaube, ein Geschenk des Himmels, setzt die Offenbarung voraus; er kann folglich gegenüber einem Atheisten nicht angemessen als Beweis für die Existenz Gottes angeführt werden.
  2. Die Göttlichkeit der mosaischen Offenbarung lässt sich mit Gewissheit durch die mündliche und schriftliche Überlieferung der Synagoge und des Christentums beweisen.
  3. Der Beweis aus den Wundern Jesu Christi, wahrnehmbar und schlagend für die Augenzeugen, hat gegenüber den nachfolgenden Generationen nichts von seiner Kraft mit ihrem Glanz verloren. Wir finden diesen Beweis mit voller Gewissheit in der Echtheit des Neuen Testamentes, in der mündlichen und schriftlichen Überlieferung aller Christen. Gerade durch diese zweifache Überlieferung müssen wir ihn dem Ungläubigen, der ihn zurückweist, oder denen darlegen, die, ohne ihn schon anzuerkennen, sich nach ihm sehnen.
  4. Man hat nicht das Recht, von einem Ungläubigen zu erwarten, dass er die Auferstehung unseres göttlichen Erlösers anerkennt, bevor man ihm sichere Beweise dafür geliefert hat, und diese Beweise sind durch schlussfolgerndes Denken abgeleitet.
  5. In diesen verschiedenen Fragen geht die Vernunft dem Glauben voraus und muss uns zu ihm führen.
  6. So schwach und dunkel auch die Vernunft durch die Ursünde geworden ist, [so] bleibt ihr trotzdem genügend Klarheit und Kraft, um uns mit Gewissheit zur Existenz Gottes, zur Offenbarung zu führen, die an die Juden durch Mose, an die Christen durch unseren anbetungswürdigen Gottmenschen ergangen ist.

Diese sechs Thesen stammen aus dem Jahr 1840. Sie wurden von dem Theologen Louis-Eugène-Marie Bautain…

…auf den Druck seines Bischofs hin unterschrieben.

(Sie finden sich übrigens im Denzinger, dem „Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen“, das seinen Spitznamen von seinem ersten Herausgeber hat.)

Ja, richtig gelesen: Diese Thesen sind im Jahr 1840 offizielle kirchliche Lehre, die von Theologen mit abweichenden Meinungen anerkannt werden muss, wenn sie nicht die Amtsenthebung oder die Verurteilung ihrer Werke riskieren wollen.

Also, Lehre der Kirche ist: Man kann mit der Vernunft beweisen, dass ein Gott, ein Schöpfer der Welt existiert. Dann kann man, wenn man die historische Überlieferung ansieht, beweisen, dass 1) die Offenbarung an die Juden wirklich von diesem Gott ausgegangen ist, 2) dass Christus Wunder gewirkt hat und auferstanden ist und sich damit als Sohn Gottes erwiesen hat. Somit kann man mit schlussfolgerndem Denken dazu kommen, die christliche Religion als wahr zu erkennen. So.

[Kleines Update: Hier Beispiele für philosophische Gottesbeweise, und hier etwas zur historischen Offenbarung.]

Das Wort „Glaube“ meint nicht, dass man durch Nichts-Genau-Wissen zur Anerkennung der christlichen Religion kommt. Der Glaube ist eine Tugend, die man braucht, nachdem man die christliche Religion grundsätzlich anerkannt hat. C. S. Lewis schreibt in „Mere Christianity“ (dt. Titel: „Pardon, ich bin Christ“):

Zunächst einmal bedeutet „glauben“ einfach, die Lehren des Christentums für wahr zu halten und sie anzunehmen. Was ich aber früher nicht begreifen konnte, war, dass die Christen diese Art von Glauben als eine Tugend betrachten. Was, so fragte ich mich, soll daran eine Tugend sein? Inwiefern ist es moralisch oder unmoralisch, eine Reihe von Behauptungen anzunehmen oder nicht? Es liegt doch auf der Hand, dass jeder halbwegs gesunde Mensch Aussagen oder Behauptungen nicht deshalb annimmt oder ablehnt, weil er dazu gerade Lust hat oder nicht, sondern weil ihm ihre Begründung gut oder schlecht erscheint. Irrt er sich, so bedeutet das nicht, dass er ein schlechter Mensch, sondern lediglich, dass er nicht allzu klug ist. Erkennt er aber, dass eine Begründung schlecht ist, und zwingt er sich wider besseres Wissen, dennoch zu glauben, so ist er schlichtweg dumm.

 Nun, ich bin auch heute noch dieser Meinung. Was ich aber damals nicht erkannte – und was auch heute viele Menschen nicht erkennen –, war folgendes: Ich ging davon aus, der menschliche Geist werde ganz von der Vernunft beherrscht; wenn er einmal von einer Sache überzeugt sei, so bleibe er auch dabei, so lange, bis sich ein zwingender Grund zeigt, die Überzeugung zu überprüfen. Aber das ist nicht richtig. Zum Beispiel kann mein Verstand durch fundierte Beweise völlig überzeugt sein, dass ich unter einer Narkose nicht ersticke und dass ein guter Chirurg erst dann mit der Operation beginnt, wenn ich wirklich bewusstlos bin. Das ändert aber nichts daran, dass in mir eine kindische, panische Angst aufsteigt, sobald ich auf dem Operationstisch liege und mir die scheußliche Maske übers Gesicht gestülpt wird. Ich meine dann, ich würde ersticken, und schlottere vor Angst, der Arzt könnte vielleicht doch mit seinem Messer ansetzen, ehe ich völlig betäubt bin. Mit anderen Worten: Ich verliere meinen Glauben, dass die Narkose wirkt. Es ist aber nicht der Verstand, der den Glauben von mir nimmt (im Gegenteil, mein Glaube beruht ja auf dem Verstand); es sind meine Phantasie und meine Gefühle. Vernunft und Glaube kämpfen gegen Gefühle und Phantasie. […]

 Das gleiche gilt nun für den christlichen Glauben. Ich verlange von niemandem, sich für das Christentum zu entscheiden, wenn für seinen Verstand alle Beweise dagegen sprechen. Der Punkt, an dem der Glaube einsetzt, liegt ohnehin an anderer Stelle. Doch nehmen wir einmal an, ein Mensch erkennt eines Tages, dass alle Beweise für die Richtigkeit des Christentums sprechen. Ich kann voraussagen, was während der nächsten Wochen in ihm vorgehen wird. Er erhält eine schlechte Nachricht, oder er hat Sorgen, oder er lebt mit Menschen zusammen, die nicht glauben, und plötzlich erheben sich seine Gefühle und starten eine Art Überraschungsangriff auf seinen Glauben. Oder es kommt ein Moment, wo er eine Frau begehrt, wo er lügen möchte, wo er von sich eingenommen ist oder die Möglichkeit sieht, auf irgendeine nicht ganz saubere Art zu Geld zu kommen: Augenblicke, in denen es angenehmer wäre, wenn der christliche Glaube nicht wahr wäre. Und wieder führen seine Wünsche und Begierden einen Blitzangriff.

 Ich rede dabei nicht von solchen Augenblicken, wo echte neue Gründe das Christentum in Frage zu stellen scheinen. Mit solchen Zweifeln muss man sich auseinandersetzen. […]

 Glaube, so wie ich das Wort hier gebrauche, ist die Fähigkeit, allen Gefühlsschwankungen zum Trotz an Überzeugungen festzuhalten, die man einmal als richtig erkannt hat. Stimmungen wechseln, ganz gleich, was unser Verstand auch meint. Das weiß ich aus Erfahrung. Auch heute noch kann es geschehen, dass mir das ganze Christentum höchst unwahrscheinlich vorkommt, während ich früher, als Atheist, das Christentum von Zeit zu Zeit unerhört überzeugend fand. Dieser Aufstand der Stimmungen gegen unser wahres Selbst wird auf jeden Fall kommen. Darum ist der Glaube eine so wichtige Tugend. Wem es nicht gelingt, seine Emotionen an ihren Platz zu verweisen, der kann kein richtiger Christ, ja nicht einmal ein richtiger Atheist sein; er bleibt ein hin- und hergerissenes Geschöpf, dessen Glaube vom Wetter oder von der Verdauung abhängig ist. Deshalb muss man sich in der Tugend des Glaubens üben.

 Der erste Schritt ist also die Erkenntnis, dass unsere Stimmungen wechseln. Der nächste ist der Vorsatz, sich, wenn man den christlichen Glauben angenommen hat, jeden Tag längere Zeit mit seinen Glaubenssätzen zu beschäftigen. Darum sind tägliches Gebet, tägliches Lesen von christlichen Schriften und der Besuch des Gottesdienstes von so großer Bedeutung. Wir müssen ständig daran erinnert werden, was wir glauben. Weder diese noch irgendeine andere Überzeugung wird automatisch in uns lebendig bleiben. Sie muss genährt werden. Wenn wir hundert Menschen fragten, weshalb sie ihren Glauben an das Christentum verloren haben, so würden wir sicher feststellen, dass echte Argumente bei den wenigsten eine Rolle gespielt haben. Die meisten Menschen lassen sich einfach treiben.

Der Glaube ist das Vertrauen auf den Gott, dessen Existenz man erkennt hat; er beinhaltet insbesondere das Überzeugtsein von all den Lehren, die Gott offenbart hat, und die man nicht im einzelnen selber nachprüfen kann (z. B. die Dreifaltigkeit), weil man eben auf die Wahrhaftigkeit Gottes vertrauen kann, und weiß, dass die Offenbarung dieser Lehren wirklich von Ihm kommt. Er schließt das kleinliche Misstrauen aus und das Es-Selber-Besser-Wissen-Wollen-Als-Gott. Er beruht zunächst einmal auf der Vernunft; man sieht die historische Stimmigkeit und die innere Logik der katholischen Lehre und glaubt deshalb. Aber er wird auch zu einem persönlichen Vertrauen auf eine Person, je mehr man sich darauf einlässt, das, was man erkannt hat, in die Praxis umzusetzen, das heißt, zu dieser Person zu beten, in der Bibel von Seinen Taten zu lesen, Ihm im Nächsten zu begegnen oder Ihn bei der Kommunion zu essen. (Das klingt jetzt komisch, ist aber so.) Dann denkt man vielleicht auch gar nicht mehr so viel an Gottesbeweise – wenn man jemanden getroffen oder zumindest einmal von weitem gesehen hat, muss man nicht mehr nach Argumenten für seine Existenz suchen.

Sicher kann es auch bei gläubigen Menschen zu Zweifeln kommen – solchen Zweifeln, mit denen man sich nach Lewis rational auseinandersetzen muss. Wobei man hier unterscheiden muss: Eine Schwierigkeit ist nicht gleich ein Zweifel. Eine Schwierigkeit heißt: „Ich sehe nicht genau, wie das zusammenpasst, aber Gott war bis jetzt verlässlich und die Gründe für seine Verlässlichkeit bestehen immer noch, also suche ich mal nach Lösungen, und vertraue in der Zwischenzeit darauf, dass es welche gibt.“ Ein Zweifel – bei jemandem, der schon wirklich zum Glauben gefunden hat – wäre tiefer und falscher, eher: „Ich sehe nicht, wie das zusammenpasst, und deswegen gebe ich sofort den Glauben an die Verlässlichkeit Gottes auf.“

Gott ist nun einfach nicht direkt sichtbar, Er ist vielleicht mehr wie ein Brieffreund; man kann die Leute, die einem erklären wollen, es gäbe diesen Freund gar nicht und ein Betrüger antworte auf die Briefe, um einen zu täuschen, nicht restlos von der Wahrheit überzeugen, wenn sie sie nicht hören wollen, und muss sich vielleicht auch selbst immer wieder zum Vertrauen auf das einmal Erkannte aufraffen. Glaube ist auch: „Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht.“ (Hebräer 11,1) Aber vielleicht wird einem doch irgendwann die Gnade zuteil, nicht nur theoretisch von diesem Gott zu wissen, sondern ihn wirklich zu erfahren, ihn zu sehen, wie der Hebräerbrief es ausdrückt. Dazu braucht es natürlich auch die Bereitschaft, auf Seine Stimme zu hören.

Einige praktische Regeln für Skrupulanten

Anmerkung: Diese Regeln gelten für Menschen mit einem skrupulösen Gewissen. Was das ist: siehe hier. Menschen mit einem normalen oder laxen Gewissen müssen vielleicht in anderer Weise an sich arbeiten. Man sollte freilich weder als zur Laxheit neigender Katholik sich einreden, man sei Skrupulant, noch als Skrupulant, man neige in Wirklichkeit zur Laxheit; am besten ist es, sich auf die Einschätzung eines vertrauenswürdigen Beichtvaters zu verlassen statt auf seine eigene. Manchmal kann es auch sein, dass man sich nur in einzelnen Bereichen skrupulös verhält.

Meine Reihe von Artikeln über Skrupulosität war eher allgemein ausgerichtet; deshalb möchte ich jetzt noch ein paar praktische Regeln nicht unerwähnt lassen, die wir Skrupulanten beherzigen sollten. Die obersten Regeln sind natürlich, wie erwähnt, der Gehorsam gegenüber dem Beichtvater (vorausgesetzt, man findet einen guten, vertrauenswürdigen, der sich theologisch auskennt), und das Ignorieren von Zweifeln (d. h. wenn man zweifelt, ob etwas, das man tun oder unterlassen will, erlaubt ist, ist es erlaubt; wenn man zweifelt, ob etwas, das man getan oder unterlassen hat, Sünde war, war es keine Sünde). Weiter sollte man beachten:

  1. Wegen lässlichen Sünden muss man nicht zur Beichte gehen, nur wegen schweren. (Das gilt für alle Katholiken und sollte bekannt sein.) Es ist gut, sie in der Beichte zu erwähnen, aber man muss sie nicht alle erwähnen, und man muss nur wegen ihnen nicht vor dem nächsten Kommunionempfang zur Beichte gehen.
  2. Als schwer gilt eine Sünde für uns Skrupulanten nur dann, wenn wir vor Gott schwören könnten, dass es an sich eine schwere Sünde ist, dass wir uns dessen im Voraus bewusst waren, und dass wir aus freiem Willen gehandelt haben. Wenn wir das nicht könnten, müssen wir nicht zur Beichte gehen und können (sollen!) die Kommunion empfangen.
  3. Sünden, die man schon einmal gebeichtet hat, werden nicht erneut gebeichtet, wenn man zweifelt, ob man genau und ausführlich genug war. (Zweifel sind, wie gesagt, generell zu ignorieren.)
  4. Nur klare und sicher feststehende Sünden werden gebeichtet. Wenn man zweifelt, ob man eine Tat begangen hat, oder ob eine begangene Tat eine Sünde war, wird sie nicht gebeichtet.
  5. In der Beichte sind nicht sämtliche Details notwendig; man muss nur das nennen, was die Art der Sünde betrifft, was aus einer bestimmten Sünde eine andere macht (z. B. wird aus einer Lüge, die unter Eid gesprochen wurde, ein Meineid; in diesem Fall muss man in der Beichte sagen, dass man einen Meineid begangen hat, es genügt nicht ein „ich habe einmal gelogen“), und ihre Zahl, soweit man sich daran erinnert oder sie abschätzen kann.
  6. Das Bußgebet nach der Beichte wird nicht wiederholt, auch wenn man glaubt, man war beim ersten Mal nicht andächtig genug. (Die Sünde ist im Übrigen schon mit der Absolution weg. Die Buße ist eine Wiedergutmachung.) Das Nicht-Wiederholungs-Gebot gilt zudem für alle Gebete, die man verrichtet.
  7. Wenn man nicht Essen in den Mund steckt und es schluckt, oder etwas trinkt (was nicht Wasser und Medizin ist, das ist erlaubt), indem man eine Flasche oder ein Glas an die Lippen nimmt und schluckt, kann man das Fasten vor der Kommunion nicht brechen. Zum Brechen dieses Gebots gehört, dass etwas von außen aufgenommen wird (wenn man Zahnfleischbluten hat und Blut verschluckt, gilt es nicht, auch nicht, wenn man Speisereste verschluckt, die schon länger zwischen den Zähnen stecken), es muss geschluckt werden (wenn man also kurz probiert, ob etwas gut gewürzt ist und es dann wieder ausspuckt, gilt es nicht), und es muss ein Akt des Essens/Trinkens vorliegen (wenn einem eine Fliege in den Mund fliegt und man sie reflexhaft schluckt, gilt es nicht). Das Fastengebot gilt im Übrigen für ältere Menschen und für Kranke nicht. (Essen aus Versehen (z. B. weil man sich in der Zeit geirrt hat oder zerstreut war) gilt allerdings; dann sollte man von der Kommunion fernbleiben. (Man hat aber durch das Essen an sich keine Sünde begangen, auch weil keine Pflicht besteht, in jeder Messe zur Kommunion zu gehen; wenn man nicht vorhat, zur Kommunion zu gehen, darf man immer etwas essen. Nur wenn man vorhat, zur Kommunion zu gehen, und trotzdem bewusst etwas isst, ist es Sünde.))
  8. Gedanken, Wünsche, Gefühle, Fantasien, die man nicht mit Absicht herbeiholt bzw. mit Absicht im Kopf behält bzw. ihnen willentlich zustimmt, können keine Sünde sein. Solche Dinge tauchen oft ohne eine eigene Willensentscheidung im Kopf auf und lassen sich manchmal schwer vertreiben. Im Zweifelsfall soll man davon ausgehen, dass man diesen Gedanken etc. nicht zugestimmt hat. Außerdem würden die belastenden Gedanken dadurch, dass man ewig darüber nachgrübelt, ob man ihnen zugestimmt hat, erst recht wieder hochkommen.
  9. Generalbeichten werden nicht abgelegt. Evtl. einmal bei Exerzitien und dann absolut nie wieder. Auch nicht bei einem anderen Beichtvater.
  10. Das, was immer nötig ist, ist Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit, Güte und Liebe. Er liebt uns mehr, als wir es uns vorstellen könnten. Er will uns bei sich haben. Wieso sollte er so einfach zulassen, dass wir von ihm getrennt werden?

Einige weitere Tipps aus meiner persönlichen Erfahrung wären:

  1. Wenn man denkt, dass man beichten gehen muss, genügt es auf jeden Fall bei der nächsten wöchentlichen Beichtgelegenheit in der Pfarrei. Man muss nicht schnellstmöglichst den nächsten Priester abpassen. Genau genommen ist es sogar nur einmal im Jahr verpflichtend, seine schweren Sünden zu beichten; es besteht keine kirchenrechtliche Pflicht, sofort nach einer schweren Sünde zur Beichte zu gehen. Man begeht keine weitere Sünde, wenn man z. B. abwartet, bis man zu dem Beichtvater gehen kann, bei dem man immer ist, oder es einfach einige Zeit nicht zur Beichte schafft.
  2. Wenn man gebeichtet hat, sollte man zumindest eine Woche lang den Beichtstuhl komplett vermeiden.
  3. Generell wäre die Beichte evtl. alle vier Wochen anzuraten. Regelmäßige Beichte ist gut, aber ein Abstand von vier Wochen reicht.
  4. Regelmäßig beten (das ist sowieso wichtig), und zwar zu festgesetzten Zeiten. Eine Viertelstunde morgens, eine Viertelstunde abends, zum Beispiel. Ich weise noch einmal auf das Stundenbuch hin, das es auch als App im Playstore gibt, und dessen Texte wirklich wunderbar dafür geeignet sind, einem Gottes Liebe vor Augen zu führen.
  5. Wenn bestimmte Eingebungen, Gedanken, Bücher etc. einen unruhig und verängstigt zurücklassen und einen fast an der Möglichkeit, jemals in den Himmel zu kommen, verzweifeln lassen, dann sollte man sie meiden. Das ist kein billiger Ausweg. Jeder muss die Medizin nehmen, die zu seiner Krankheit passt, und unsere Krankheit ist nicht moralische Gleichgültigkeit, also werden uns manche aufrüttelnden Texte und Ideen eher in Verwirrung, Mutlosigkeit und Verzweiflung treiben, als dass sie uns anspornen. Wenn einem ein Gedanke kommt, der nur diese Gefühle in uns hervorruft – zum Beispiel „Ich kann Gott nicht wirklich lieben, also nützt doch alles nichts, was ich tue, schließlich halte ich Seine Gebote nur aus Furcht, wenn ich es überhaupt tue“ – dann kann er nicht von Gott kommen. (Das ist übrigens nicht meine Idee; dasselbe sagt z. B. Giovanni Battista Scaramelli SJ (1687-1752), wenn er von der Unterscheidung der Geister spricht.) Gott bringt einem Licht, Klarheit, Frieden und Hoffnung; also beschäftigen wir uns mit den Ideen und Texten, die in uns diese Dinge hervorrufen. [Ach ja: Eine Antwort auf diesen speziellen Gedanken von oben wäre übrigens: Man will Gott lieben und das ist schon der Anfang der Gottesliebe; außerdem ist es kein Wunder, dass man keine oder wenig Liebe zu Gott spürt, wenn man von einem von Furcht überlagerten Gottesbild geplagt wird. Wenn man sich erst einmal klar gemacht hat, was Gott für einen getan hat, wird das schon noch kommen (wobei die Stärke der Gefühlsregungen auch dann nicht unbedingt ein Indikator für die Stärke der Liebe ist; Gefühle kommen und gehen). Und diese Furcht ist auch keine Sünde. Wenn man sich sagt „wenn ich nicht in die Hölle käme, würde ich natürlich lügen und betrügen“ ist das eine Sünde, aber wenn man weiß, dass Lügen und Betrügen falsch ist und das nicht tun will, der größte motivierende Faktor dabei, es nicht zu tun, aber die Furcht vor der Hölle ist, ist das nicht schlimm. Die Kirche selbst hat festgestellt, dass z. B. in der Beichte die „Furchtreue“ genügt und schon ein von Gott gegebener Anfang ist. Sie ist nicht das Bestmögliche, aber trotzdem an sich gut; Furcht vor gerechter Strafe ist nicht falsch.]
  6. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden. Daran muss man immer denken; es braucht kleine Schritte. Gott hat Geduld mit uns. Daher nicht ungeduldig und mutlos werden.
  7. Wenn einem der Gedanke kommt, man müsse andere vor irgendetwas warnen oder sie auf eine mögliche Sünde hinweisen, dann sollte man es meistens lassen, oder jedenfalls die Situation erst einmal ganz in Ruhe durchdenken. Angenommen, man möchte zum Beispiel seinen Bruder davor warnen, dass auf diesem Apfel da Bakterien sein könnten, obwohl man weiß, dass der Bruder diese Phobie vor Bakterien für völlig bescheuert hält und noch nie auf einen gehört hat, wenn man meinte, auf diesen oder jenen Lebensmitteln seien vielleicht Bakterien (und dass er trotzdem noch nie von den entsprechenden Lebensmitteln krank geworden ist). In diesem Fall kann man sich sagen, es wäre sinn- und aussichtslos, die Warnung auszusprechen – selbst wenn da schädliche Bakterien wären, würde der Bruder nicht darauf hören. Oder man bekommt mit, dass eine Bekannte die Pille nimmt oder mit ihrem Freund zusammenziehen will. Nun ist sie nicht einmal katholisch (oder jedenfalls nicht überzeugt katholisch), und wenn man nun versucht, sie auf dieses Thema anzusprechen und ihr die katholische Sexualmoral näherzubringen, wird sie das wahrscheinlich einfach als nervige und unangebrachte Einmischung in ihr Privatleben empfinden und dem Katholizismus dadurch nicht einen Schritt näher kommen. Sicher, man tut so etwas nur, um ihr zu helfen.Aber man sollte durchdenken, wie solche Ermahnungen wahrscheinlich aufgenommen werden und ob sie überhaupt Erfolgsaussichten haben. Es ist für uns Skrupulanten, die wir eher zu viel tun als zu wenig und dabei einen falschen Eindruck hinterlassen können (nämlich den von Besserwisserei und Intoleranz), wahrscheinlich besser, im Bekanntenkreis vielleicht dann Zeugnis für Christus abzulegen, wenn man gefragt wird oder ein mit dem Glauben zusammenhängendes Thema aufkommt; vielleicht auch mal zu Nightfever einzuladen oder zu ähnlichen Veranstaltungen, auf denen es um Gott selber geht, nicht um ein bestimmtes katholisches Aufregerthema.  (Freilich ist es illusorisch, zu erwarten, dass man Menschen mit der richtigen Methode immer und überall einfach und schnell zu Christus bekehren könne. Da müssen die erstens selber nämlich auch mitmachen, und zweitens braucht so etwas immer Zeit, und wird manchmal gar nichts. Wir haben jedenfalls nicht für alles und jeden Verantwortung. Genaueres zur brüderlichen Zurechtweisung in diesem Artikel.)

Die Stellvertreter: Denethor und Faramir

Anmerkung: Hier noch einmal der Verweis auf „Allegorie und Anwendbarkeit“. Nur, damit noch mal jeder weiß, dass ich einfach interpretiere, was mir einfällt, und nicht herumspekuliere, was der Autor sagen wollte. Außerdem SPOILER ALERT.

„Der Herr der Ringe“ ist ein tolles Buch, das viele tolle Figuren enthält. Ich mag Frodo, Sam und Gandalf, Merry und Pippin und Legolas und so weiter, aber besonders mag ich Aragorn, und meine Lieblingsfigur ist Faramir. Die ganze Geschichte um Gondor fasziniert mich: Diese Sache mit dem Königreich, das viele Jahrhunderte lang von Statthaltern regiert wird, bis dann endlich ein Nachfahre der alten Könige zurückkehrt. Vielleicht fasziniert mich dieser Handlungsstrang deshalb so, weil auch wir Katholiken die „Rückkehr des Königs“ (so bekanntlich der Titel von Band 3) erwarten, und auch wir seit langer Zeit von Statthaltern regiert werden.

Es ist Unsinn, wenn in der Tagesschau oder der Süddeutschen der Papst als „das Oberhaupt der katholischen Kirche“ tituliert wird. Das ist einfach nur falsch. Christus ist das Haupt der Kirche, und der Papst ist vicarius Christi, des eigentlichen Königs Stellvertreter.

Bleiben wir erstmal bei der Handlung in „Der Herr der Ringe“. Denethor, Faramirs Vater und die meiste Zeit des Buches über Statthalter von Gondor, ist bekanntlich nicht besonders angetan von der Aussicht auf Aragorns Ankunft – im Gegenteil. Als er schon halb wahnsinnig ist und seinen verletzten Sohn Faramir und sich selbst töten will, um einen Sieg Saurons im Krieg nicht miterleben zu müssen, sagt er zu Gandalf:

„[…] So! Mit der linken Hand wolltest du mich noch ein Weilchen als Schild gegen Mordor benutzen und mit der rechten diesen Waldschrat aus dem Norden heranholen, der mich ersetzen soll.

 Aber lass dir gesagt sein, Gandalf Mithrandir, ich bin nicht dein Werkzeug! Ich bin Statthalter des Hauses Anárion. Ich lasse mich nicht zur Hofschranze eines Emporkömmlings erniedrigen. Und würde mir seine Abkunft auch bewiesen, stammte er doch nur aus Isildurs Linie. So einem will ich mich nicht beugen – dem letzten Spross eines heruntergekommenen Hauses, das der Königswürde längst verlustig gegangen ist.“

 „Was würdet Ihr Euch denn wünschen“, sagte Gandalf, „wenn alles nach Eurem Willen ginge?“

 „Ich würde mir wünschen, dass alles so bleibt, wie es mein Leben lang und zu Zeiten meiner Ahnen gewesen ist: dass ich in Frieden diese Stadt regieren und dann meinen Platz einem Sohn hinterlassen könnte, der sein eigener Herr und kein Zauberlehrling wäre. Wenn aber das Schicksal mir dies verweigert, will ich lieber nichts: weder das verarmte Leben noch die halbierte Liebe oder die beschränkte Ehre.“

 „Mir scheint nicht, dass ein Statthalter, der sein Amt wieder abgibt, nachdem er es gewissenhaft erfüllt hat, dadurch an Ehre und Ansehen verliert“, sagte Gandalf.

Na ja, Gandalf kann Denethor nicht überzeugen; es gelingt ihm, sich selbst zu töten, aber sie können ihn wenigstens noch davon abhalten, auch den bewusstlosen Faramir umzubringen. Faramir kann wieder geheilt werden – durch Aragorns Hilfe. Die Hände des Königs sind Hände eines Heilers, wie es in Gondor heißt.

Plötzlich regte sich Faramir und öffnete die Augen. Er sah Aragorn über sich gebeugt, und ein Licht ging in seinen Augen auf, wie wenn er einen alten Freund wieder erkannte. Leise sagte er: „Herr, Ihr habt mich gerufen. Ich komme. Was befiehlt der König?“

 „Irre nicht länger in den Schatten umher, sondern erwache!“ sagte Aragorn. „Du bist müde. Ruhe eine Weile, nimm etwas zu dir und sei bereit, wenn ich wiederkehre!“

 „Das tu’ ich, Herr. Denn wer wollte faul das Bett hüten, wenn der König wiedergekehrt ist?“

Faramir versteht – im Gegensatz zu seinem Vater – das Amt, das er von diesem geerbt hat, als das, was es ist: als Stellvertretung. Und er freut sich über die Rückkehr seines Königs. Hier noch ein Ausschnitt aus der Szene von Aragorns Krönung nach dem Sieg über Sauron:

In der Mitte des freien Platzes begegneten sich Faramir und Aragorn, und Faramir kniete nieder und sagte: „Der letzte Statthalter von Gondor bittet um Erlaubnis, sein Amt abzugeben.“ Und er reichte Aragorn seinen weißen Stab. Aragorn nahm den Stab und gab ihn Faramir zurück, mit den Worten: „Dieses Amt ist nicht erloschen, und es soll dein und deiner Erben sein, solange mein Haus währt. Walte nun deines Amtes!“

Ein Statthalter unterscheidet sich in einigen wichtigen Dingen von einem König. 1) Er hat seine Autorität nicht durch sich selbst, sondern nur durch den König. 2) Er muss nach den Gesetzen des Königs regieren, nicht nach seinen eigenen. 3) Auch wenn er für das übrige Volk den Platz des Herrschers einnimmt, gehört er gegenüber dem eigentlichen König doch zum Volk dazu. 4) Sobald der König wieder da ist, muss er sein Amt abgeben.

Und das ist es, was auch die Statthalter in Christi Reich, das „nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36) ist, sind und tun. Ein Papst ist nicht das Oberhaupt der Kirche; also kann er nichts an den Gesetzen ändern, die das eigentliche Oberhaupt hinterlassen hat; und obwohl er an unserer Spitze steht, steht er doch auch mit uns als normaler Mensch vor Christus. Deshalb ist es so lächerlich, wenn vom Papst diese und jene Änderung im Namen von „Barmherzigkeit“ oder „Gleichberechtigung“ oder was auch immer gefordert wird. Der Statthalter kann nicht anders, als sich an die Vorstellungen des Königs von Barmherzigkeit und Gleichberechtigung zu halten.

Aber das ist noch nicht alles. Er muss immer wieder zeigen, dass er nicht im eigenen Namen regiert, er muss auf den König verweisen, dessen Ankunft er mit dem übrigen Volk erwartet. Der Stellvertreter Christi trägt auch den Titel „Diener der Diener Gottes“. Das macht auch Sinn; schließlich soll er sein Amt nicht als ein Privileg verstehen, das ihm zusteht (wie Denethor es tut), sondern als einen Dienst, den er im Auftrag eines anderen ausübt (wie Faramir).

PS: Wir Christen sind übrigens alle gegenüber der Welt die Gesandten und damit gewissermaßen Stellvertreter Jesu und sollen Ihn in uns gegenwärtig und sichtbar werden lassen. Imitatio Christi!

PPS: Tipp für Skrupulanten: Wir sollten uns übrigens das, was Aragorn zu Faramir sagt, hinter die Ohren schreiben. Irre nicht länger in den Schatten umher, sondern erwache!

Vollkommene Liebe vertreibt die Furcht, Teil 8: Skrupulosität und Gott

Alle Teile hier.

Entscheidend ist immer, den Mut nicht zu verlieren, und vor allem: Sich immer neu zum Vertrauen auf Gott aufzuraffen. In der Bibel lesen: Besonders in den Evangelien. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, vom verlorenen Schaf, die Abschiedsreden bei Johannes. Auch der erste Johannesbrief oder einige Kapitel bei Propheten wie Hosea (Kapitel 11!) können sehr hilfreich sein. Das Kreuz betrachten, Zeit vor dem Tabernakel verbringen, wo Gott selbst in ein paar Stückchen Brot da ist.

Bei solchen Beschäftigungen kann man zu der Einsicht gelangen, dass Gott irgendwie ein anderes Wesen zu haben scheint, als man es sich unterbewusst wohl vorgestellt hat. Man kann versuchen, das Wesen des menschgewordenen Gottes zu entdecken, aus der Art, wie Er spricht und sich verhält, die Art betrachten, wie Er in die Welt gekommen ist: In einem Stall geboren, in einer Zimmermannsfamilie aufgewachsen. Die Wunder, die Er vollbrachte, waren Heilungen und Totenerweckungen. Er weinte um seinen Freund Lazarus. Man kann sich anhören, wie Er mit den Menschen sprach, die zu Ihm kamen, mit Maria und Marta, mit Petrus, Zachäus oder den Blinden und Gelähmten, und sich vorstellen, dass Er dieselben Worte zu einem sagt. „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das?“ (Joh 11,25-26) Glauben wir Ihm doch!

Seinen König betrachten: „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist friedfertig, und er reitet auf einer Eselin und auf einem Fohlen, dem Jungen eines Lasttiers.“ (Mt 21,5) Müssen wir vor diesem König wirklich Angst haben? Wird er nicht mehr Geduld mit uns haben, als wir ihm vielleicht zutrauen? Wie stellen wir uns unseren König vor: wie Aragorn aus „Der Herr der Ringe“, oder wie Sultan Schahriyar aus „Tausendundeine Nacht“? „Ich habe doch kein Gefallen am Tod dessen, der sterben muss – Spruch Gottes des Herrn.“ (Ezechiel 18,32)

Sehr hilfreich ist für mich persönlich das Stundengebet. Die vorgegebenen Texte, die man z. B. morgens und abends beten kann, führen einem immer wieder die Liebe Gottes vor Augen. (Es gibt das Stundenbuch übrigens als App!)

Wir Skrupulanten müssen es uns immer wieder in Erinnerung rufen: Gott ist nicht unser Feind. Gott ist nicht darauf aus, uns in die Hölle zu werfen. Er will uns bei sich haben, und er wird uns nicht so einfach verloren geben. Sicher sollen wir nicht einfach passiv dasitzen. Aber wir wissen, dass wir seinen Geboten nie vollkommen genügen werden. Die Sache mit der Rechtfertigung durch Werke des Gesetzes hat noch nie funktioniert, soweit hatte Luther Recht. Es geht immer nur durch Gottes Gnade (auch wenn gewisse Werke dazu kommen sollten), und Er ist jederzeit bereit, sie uns zu schenken. Wenn wir ihn darum bitten, herrscht „bei den Engeln Gottes Freude“ (Lukas 15,10). Der ganze Himmel jubelt über die Rettung einer Seele.

Gott ist gütig und barmherzig, langmütig und reich an Huld und Treue. Er ist gütig und von Herzen demütig.

Haben wir Vertrauen darauf. Wir können wieder Freude am Glauben finden, es geht. Konzentrieren wir uns auf Gott und auf das, was er Großes an uns getan hat. Fürchtet euch nicht, wie Gottes Wort es an so vielen Stellen sagt. „Furcht“, so sagt uns Johannes, „gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht.“ (1 Joh 4,18)

Anmerkung: Keins der Beispiele, die ich erwähnt habe, ist erfunden. Einige habe ich selbst erlebt, von anderen habe ich gelesen. Teilweise habe ich Details geändert oder ausgestaltet. Ausgedacht habe ich mir keins.

Tipps für weitere Lektüre:

In einem früheren Teil habe ich schon diese zwei weiteren Artikel von mir mit mehr praktischen Tipps verlinkt. Zu empfehlen wären außerdem noch folgende Texte (v. a. die ersten drei):

Vollkommene Liebe vertreibt die Furcht, Teil 7: Zusammenfassung und Tipps

Alle Teile hier.

Es ist wichtig, sich mit seinem Problem jemandem anzuvertrauen. Wenn man auf einen Priester stößt, der sich mit Skrupeln nicht auskennt oder dem man nicht vertraut, kann man es noch bei einem anderen probieren. Einfach eine E-Mail schreiben oder anrufen und um ein Gespräch bitten.

Wenn man sich im Moment noch zu sehr scheut, um mit jemand Professionellem zu sprechen, oder wenn man wirklich keinen guten Priester erreichen kann: Vielleicht gibt es andere vertrauenswürdige Katholiken, die man ins Vertrauen ziehen kann, Familienmitglieder oder Freunde. Menschen, denen man vertraut und auf deren Ratschläge man sich verlassen kann.

Man braucht Modelle normalen Verhaltens; wenn man sich keine Ratschläge holen will, muss man sich wenigstens am Verhalten vertrauenswürdiger Katholiken orientieren, das man beobachtet. Es gibt einiges, was man selbst tun kann, wenn man sich schwer tut, eine Vertrauensperson zu finden. Die eigentliche Arbeit muss man sowieso immer selbst machen, das können andere einem nicht abnehmen. Aber wenn man ganz allein ist, wird es doch schwieriger. Dann kann einen niemand anspornen, wenn man sich wieder mal von seinen Ängsten kontrollieren lässt.

Allerdings sollte man sich auch davor hüten, andere über Gebühr zu beanspruchen. Irgendwann könnten die genervt reagieren, wenn man zum zehnten Mal mit der Frage kommt „Meinst du wirklich, dass das so in Ordnung geht, wenn…?“. Und das Ziel ist schließlich, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Daher: Wenn man zweifelt, ob es okay ist, ist es okay! Ja, das gilt auch in diesem Fall.

Das Wichtigste noch einmal:

  • Skrupulosität ist eine Krankheit. Sie ist selbst keine Sünde, aber wir müssen sie bekämpfen, und wir können sie bekämpfen. Gott will nicht, dass wir in diesem Zustand bleiben.
  • Es ist wichtig, sich Hilfe zu suchen.
  • Irrtum ist nicht Sünde. Wenn wir wegen eines Irrtums einen Fehler begehen, wird Gott ihn uns nicht anrechnen.
  • Zweifel zählen nicht. Ausreden wie „Vielleicht rede ich mir nur ein, dass ich zweifle“ zählen nicht.
  • Was ein guter Beichtvater sagt, gilt. Punkt, aus, Ende. Nein, dein Fall ist keine Ausnahme. Nein, ganz sicher nicht. Ja, wirklich ganz sicher!
  • Gott will einem helfen. Daher: Beten, beten, beten. Beten darum, dass dieser Zustand geheilt wird.

Vollkommene Liebe vertreibt die Furcht, Teil 6: Skrupulosität aus psychologischer Sicht

Alle Teile hier.

 

Aus psychologischer Sicht ist Skrupulosität eine Form der Zwangsstörung. Sie funktioniert wie andere Zwangsstörungen auch: Zwangsgedanken plagen einen und führen zu Zwangshandlungen (z. B. vermeidet man bestimmte Orte zwanghaft, kontrolliert manche Dinge zwanghaft, geht alle drei Tage zur Beichte…), aber diese Zwangshandlungen bieten nur kurzfristig Erleichterung und verstärken die Zwangsgedanken am Ende; man bleibt in dem Zwang gefangen.

Gerade bei schlimmeren Formen von Skrupulosität kann es helfen, mit einem Psychologen oder Psychiater zu reden. Manchmal kann es einfach helfen, sich vom Psychiater Medikamente verschreiben zu lassen, damit die ständige Angst und Unruhe nach unten gehen; manchmal kann es helfen, zum Psychotherapeuten zu gehen; manchmal braucht man beides.

Psychologen sind nicht mehr auf dem Stand Sigmund Freuds, was ihre Ansichten zur Religion angeht. Sicher kann man an einen schlechten Therapeuten geraten; aber gute Therapeuten respektieren die Religion ihrer Klienten. Seriöse Publikationen behaupten nicht, dass Religion oder Moral Zwangsstörungen auslöse, und betrachten es nicht als Aufgabe eines Therapeuten, Wertmaßstäbe für eine andere Person festzulegen. Derer muss sich der Klient selbst – evtl. in Absprache mit einem Geistlichen seiner Religion – klar werden. Aufgabe eines Therapeuten ist es dann, dabei zu helfen, die Skrupel loszuwerden, da sie eben gerade nicht den eigenen Wertmaßstäben entsprechen. Skrupulosität ist eine psychische Krankheit, und wenn eine Krankheit entsprechend belastend wird, geht man zum Arzt. Es gibt übrigens auch hilfreiche Anleitungen zur Selbsthilfe bei Zwangsstörungen zu kaufen.

Weder wird ein guter Therapeut einem einreden wollen, die Kirche zu verlassen, noch wird er durch die Schilderung der Skrupel einen schlechten Eindruck von der Kirche bekommen, an dem man dann schuld wäre. (Er sollte im Studium schon von religiösen Neurosen gehört haben. Und seinen eigenen möglichen Einfluss zum Schaden seiner Mitmenschen muss man auch nicht immer gar so hoch einschätzen. Die anderen Leute können selber denken und an die denkt Gott auch. (Das ist eine allgemeine Regel, die Skrupulanten vor allem dann beherzigen sollten, wenn es um die „correctio fraterna“, die brüderliche Zurechtweisung geht. Wenn wir denken, andere kommen sicher in die Hölle, weil wir sie nicht auf dieses oder jenes hingewiesen haben, überschätzen wir uns.))

Es ist erwiesen, dass bei Zwangsstörungen eine Verhaltenstherapie hilft. Das heißt, es wird nicht analysiert, woher Ängste und Zwänge kommen, sondern es wird einfach daran gearbeitet, das tägliche Verhalten zu ändern. Dabei muss man üben, seine Ängste zu konfrontieren, ohne dann zu einer Zwangshandlung Zuflucht zu nehmen. Das heißt, man muss, wenn man zum Beispiel fürchtet, durch Händeschütteln gefährliche Bakterien an andere zu übertragen und hier die Möglichkeit einer Todsünde sieht, gerade mit Absicht möglichst vielen Menschen in der Kirche die Hand zum Friedensgruß reichen und danach zur Kommunion gehen, auch wenn das skrupulöse Gewissen einem einreden will, man sei nun nicht mehr im Stand der Gnade. Und dann darf man hinterher nicht zur Beichte gehen oder irgendwelche Gebete verrichten, um die doppelte Sünde (Bakterienübertragung und sakrilegische Kommunion), die man sich nun einbildet, wieder loszuwerden. Stattdessen wartet man einige Wochen bis zur nächsten Beichte und erwähnt dann nur die sicheren Sünden – und die beiden eingebildeten nicht.

Das kostet Überwindung. Skrupulosität ist schwieriger zu besiegen als andere Zwangsstörungen, glaube ich – erstens, weil man nicht irgendein Unglück, sondern ein moralisches Fehlverhalten fürchtet, und zweitens, weil die möglichen Konsequenzen (Hölle) so schlimm sind, dass man sich sagt, man geht lieber auf Nummer sicher, egal was ein Therapeut oder ein Familienmitglied oder auch der Pfarrer sagt. Es schadet doch nichts, wenn man zur Beichte geht… nur… nur vorsichtshalber; lieber kommt man mit der Skrupulosität aus, als dass man die ewige Verdammnis riskiert. Sagt man sich. Aber das ist Unsinn. Und Skrupulosität schadet sehr wohl. Man muss sich das klarmachen, sich Ziele setzen, und konkrete Übungen angehen. Regelmäßig. Immer wieder. Am besten mit jemandem, der es einem nicht durchgehen lässt, sich gehen zu lassen. Dabei wird man entdecken, dass die Angst und Unruhe, die man bei den Übungen erlebt und die einen zu Zwangshandlungen drängt, nicht ewig dauert. Wenn man sie lange genug aushält, verschwindet sie von selbst.

 

Vollkommene Liebe vertreibt die Furcht, Teil 5: Was man gegen Skrupulosität tun soll – Ratschläge der Theologen und Kirchenlehrer

Alle Teile hier.

Da wir nun geklärt haben, was Skrupulosität ist, was sie nicht ist und wieso sie nicht gut ist: Was soll man gegen sie tun?

[Wichtiger Einschub: Allgemeine Tipps für Skrupulanten habe ich hier und hier noch zusammengetragen, nachdem ich diese Reihe fertig hatte; besonders, wer keinen guten Beichtvater hat, wird sie brauchen.]

Zuallererst muss man sich wirklich vornehmen, etwas gegen sie zu tun. Realisiert zu haben, dass etwas nicht stimmt, ist schon mal die halbe Miete. Skrupulosität ist grundsätzlich heilbar, aber nicht immer heilt sie ganz, dessen muss man sich auch bewusst sein. Es kann Phasen der Besserung und Phasen des Rückfalls geben, meistens wird es das geben. Das muss man einkalkulieren. Deshalb: Nicht verzagen! Der heilige Ignatius besiegte die Skrupulosität; der heilige Alfons hatte sein Leben lang mit ihr zu kämpfen; aber beide wurden zu Heiligen. Letztendlich haben sie beide gesiegt.

Wie lässt sich Skrupulosität nun konkret besiegen? Der erste Ratschlag, den alle mir bekannten Heiligen und mit diesem Thema beschäftigten Theologen, von Ignatius von Loyola und Alfons von Liguori bis Adolphe Tanquerey, geben, ist: Gehorsam gegenüber einem Beichtvater.

Das Gewissen eines Skrupulanten, sagen diese erfahrenen Männer, funktioniert nicht mehr, wie es sollte. Es irrt. Daher muss sich ein solcher Mensch auf das Gewissen eines anderen verlassen. Er muss sich einen Beichtvater suchen, dem er vertraut, und dann dessen Entscheidungen akzeptieren. Ohne Debatten, ohne Anzweifeln. Wenn der Beichtvater sagt, etwas ist keine Sünde, dann ist es keine Sünde. Was, wenn er irrt? Egal. Diese Möglichkeit muss man vorab berücksichtigen.

Es ist wahrscheinlich eher nicht anzuraten, sich einem Priester anzuvertrauen, der jeden Sonntag in der Predigt seine Hoffnung verkündet, Papst Franziskus werde nun endlich das Frauenpriestertum einführen und homosexuelle Partnerschaften erlauben. Man sollte schon mit jemandem sprechen, auf dessen Urteil man sich verlassen kann. So ein Beichtvater kann heutzutage manchmal schwer zu finden sein; am ehesten wird man bei den Traditionalisten (z. B. der FSSP) fündig.

Aber jetzt gehen wir mal davon aus, man hat einen grundsätzlich vertrauenswürdigen, rechtgläubigen Beichtvater gefunden, der sich auch in der Moraltheologie wirklich auskennt und nicht nur grob nach Gefühl geht. So einem Beichtvater muss man dann vertrauen. Und wenn er sich trotzdem einmal irrt? Dann ist es sein Problem, nicht unseres. Gott wird uns dafür nicht zur Rechenschaft ziehen. Gott will von uns im Moment, dass wir unsere Skrupel überwinden; wenn wir dabei ohne Absicht einem fehlerhaften Urteil vertrauen, wird er es uns nachsehen (wie er auch dieses fehlerhafte Urteil nachsehen wird, wenn es kein böswilliger oder grob fahrlässiger Fehler war). (Wussten Sie übrigens, dass es Heilige gab, die während des Großen Abendländischen Schismas eine Zeitlang auf der Seite eines Gegenpapstes standen, den sie für den legitimen hielten?) Gott verlangt von uns nicht Allwissenheit, sondern redliches Bemühen. In diesem Fall redliches Bemühen, sich von den Skrupeln zu lösen, und deshalb ist es absolut keine gute Idee, sich vorsichtshalber eine zweite Meinung bei einem anderen Priester einzuholen. Wenn man das zur Gewohnheit macht, wird man jedes Mal die strikteste Ansicht anwenden, die man zu hören bekommt – auch wenn gerade diese vielleicht irrig ist. Wenn Priester A sagt, X ist erlaubt, und Priester B sagt, X ist nicht erlaubt, wird man X für nicht erlaubt halten. Wenn Priester A sagt, Y ist nicht erlaubt, und Priester B sagt, Y ist erlaubt, wird man auch Y für nicht erlaubt halten. Damit hat die Skrupulosität wieder gewonnen, und man hätte sich die Ratsuche gleich sparen können.

Der bereits erwähnte Tanquerey gibt in seinem Werk Ratschläge für Priester, die mit Skrupulanten zu tun haben. „Der Seelenführer“, schreibt er, „muss daher zunächst das Vertrauen des Skrupulanten gewinnen, dann aber auch seine Autorität über ihn auszuüben verstehen, um ihn zu heilen. […] Skrupulanten fühlen zwar instinktiv das Bedürfnis nach einer Leitung. Einige jedoch wagen sich ihr nicht vollständig auszuliefern. Sie wollen sich zwar Rat holen, aber auch ihre Gründe auseinandersetzen. Mit einem Skrupulanten darf man sich jedoch nicht in Streitereien einlassen. […] Er lasse zuerst das Beichtkind sich ganz aussprechen und zeige nur hie und da durch Bemerkungen, er habe alles gut verstanden. Darauf stelle er einige Fragen, auf die der Skrupulant nur mit ja oder nein zu antworten braucht und leite so selbst eine methodische Gewissenserforschung. Dann füge er hinzu: ‚Ich verstehe ihren Fall. Sie leiden in dieser oder jener Hinsicht.’ – Für das Beichtkind ist es schon eine sehr große Erleichterung, sich gut verstanden zu wissen. […] Mit dem Gutverstehen muss Hingabe verbunden werden. Der Seelenführer zeige sich daher geduldig. Anfangs wenigstens höre er, ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken, die langatmigen Auseinandersetzungen des Skrupulanten an. Er zeige sich gütig, nehme Anteil am Ergehen dieser Seele und äußere den Wunsch und die Hoffnung, sie zu heilen. Sanft. Er spreche nicht in strengem und barschem Tone, sondern mit Güte, selbst wenn er etwas befehlen muss. Nichts ist so sehr geeignet, das Vertrauen zu gewinnen, als Festigkeit mit Güte vermischt. Ist das Vertrauen gewonnen, so muss man seine Autorität zur Geltung bringen und Gehorsam verlangen. Man sage dem Skrupulanten: ‚Wollen Sie geheilt werden, so müssen Sie blind gehorchen. Gehorchen Sie, so sind Sie in größter Sicherheit, selbst wenn sich Ihr Seelenführer irren sollte; denn Gott verlangt gegenwärtig nur eines von Ihnen, den Gehorsam. […]’“

Tanquerey gibt auch einen weiteren Ratschlag: „Ist der geeignete Augenblick gekommen, so soll der Seelenführer den Allgemeingrundsatz einprägen, demzufolge der Skrupulant alle Zweifel verachten muss. Nötigenfalls lasse man ihn in irgend einer Form aufschreiben, etwa wie folgt: ‚Was mich betrifft, gilt als Gewissenspflicht nur die Evidenz, d. h. eine jeden Zweifel ausschließende Gewissheit, ruhige und volle Sicherheit, so klar wie zwei und zwei vier ist. Ich kann daher nur dann eine Todsünde oder lässliche Sünde begehen, wenn ich absolut sicher bin, die betreffende Handlung ist mir unter schwerer oder lässlicher Sünde verboten, und obwohl ich es weiß, sie doch vollziehen will. Ich werde deshalb die Wahrscheinlichkeiten, mögen sie auch noch so stark sein, nicht beachten und mich nur durch klare und sichere Evidenz für gebunden erachten. Ist diese nicht vorhanden, so handelt es sich nicht um Sünde.’“

Die Beziehung zu einem Beichtvater sollte, wie Tanquerey schon andeutet, nicht zu einer Abhängigkeit werden, d. h. man sollte nicht bei jeder kleinsten Entscheidung vorsichtshalber beim Pfarrer nachfragen müssen, ob dieses und jenes erlaubt ist. Das würde nicht helfen. Stattdessen soll man lernen, zu wagen, eigene Entscheidungen zu treffen, und sich dabei an diesen Grundsatz halten. Das Ziel ist, das kaputte Gewissen zu richten, sodass es wieder von selbst funktioniert. Wie in der Schule arbeitet man auf den Tag hin, an dem man den Lehrer nicht mehr brauchen wird.

Man muss sich im Alltag an den Grundsatz halten, Zweifel zu missachten. Das ist das Allerwichtigste. Die Ängste werden nur dadurch verschwinden, dass man sie konfrontiert. Ja, das macht zuerst noch mehr Angst. Ja, es ist scheußlich. Ja, man will es nicht wagen. Ja, es wird nicht immer gelingen. Aber es wird besser, wenn man durchhält.

Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, absolute vollkommene Sicherheit haben zu können, wenn wir nur dieses oder jenes tun. Die wird es nicht geben. Aber die größte Sicherheit gibt es, wenn wir uns an diese Dinge halten. Und wir haben die Barmherzigkeit Gottes, auf die wir vertrauen können.

Es ist übrigens wichtig, die Skrupel auch dann schon – je nach ihrem Ausmaß – zu bekämpfen, wenn man meint, so schlimm ist es bei mir ja noch nicht. Skrupulosität ist anfangs nie gleich so schlimm; oft tritt sie phasenweise auf. Auch wenn man sich immer noch zum Vertrauen auf Gott aufraffen kann und immer noch irgendwie Freude an Messe und Anbetung hat, zumindest meistens oder, na ja, relativ oft, sollte man die Angelegenheit ernst nehmen. Wenn ich bei einer Krankheit erst dann Medizin nehme oder zum Arzt gehe, wenn es richtig schlimm geworden ist, wird auch die Heilung länger dauern.

Vollkommene Liebe vertreibt die Furcht, Teil 4: Was Skrupulosität nicht ist

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Aber ist es nicht besser, denken sich manche Skrupulanten (oder auch manche Nicht-Skrupulanten) vielleicht, strenger mit sich zu sein, genauer auf Gottes Gebote zu achten? Ist die Krankheit unserer Zeit nicht vielmehr die Gleichgültigkeit gegenüber der Sünde, sodass wir lieber mehr Skrupel als weniger bräuchten? Ist die Alternative zu dem, was ich als Skrupulantentum beschreibe, ein „laues“ Christentum, „weder kalt noch heiß“ (Offb 3,15)? Wie die meisten sich schon denken werden, lautet die Antwort nein.

Skrupulosität ist nicht einfach nur eine besonders genaue, besonders sorgfältige Beachtung der christlichen Gebote; tatsächlich steht sie einem christlichen Leben im Weg.

Es ist hilfreich, die auf Aristoteles zurückgehende Lehre von den Komplementärtugenden zu kennen. Jede Tugend kann, wenn sie allein in jeder Situation geübt wird, völlig entarten, und ist dann keine Tugend mehr. Alle Tugenden brauchen die Ergänzung durch andere Tugenden. Neben der Vorsicht braucht es die Tapferkeit, neben der Barmherzigkeit die Gerechtigkeit. Höchste Vorsicht in jeder Situation führt zu Feigheit, reine Tapferkeit zu unvernünftiger Waghalsigkeit. Die Forderungen der Gerechtigkeit im Namen der Barmherzigkeit zu missachten, führt zu Ungerechtigkeit (wenn z. B. Täter der Nazizeit nicht zur Verantwortung gezogen wurden, war das nicht Barmherzigkeit, sondern Ungerechtigkeit gegenüber den Opfern); die Barmherzigkeit dagegen völlig außer acht zu lassen, zu Grausamkeit und Unversöhntheit. Die eine Tugend ist in dieser Situation stärker gefragt, die andere in jener. Manchmal braucht es beide zugleich. Polizisten, die einen Terroristen fassen müssen, müssen zum Beispiel gleichzeitig vorsichtig sein, indem sie alle nötigen Maßnahmen treffen, um die Bevölkerung zu schützen und auch sich selbst nicht unnötig zu gefährden, und tapfer, indem sie, wenn es wirklich notwendig ist, auch ihr Leben riskieren.

Deshalb darf man sich die Tugend nicht als eine Linie vorstellen – links zum Beispiel die Gerechtigkeit, rechts die Barmherzigkeit, die Goldene Mitte irgendwo dazwischen –, sondern man muss an ein Dreieck denken: An der Grundlinie sind links unten an der Ecke die reine Gerechtigkeit, die zur unbeugsamen Grausamkeit entartet ist, rechts unten an der Ecke die reine Barmherzigkeit, die Anarchie und Ungerechtigkeit geworden ist, und in der Mitte der Linie vielleicht ein laues Mischmasch daraus. Oben an der Spitze dagegen findet man die Vereinigung beider Tugenden auf höchstem Niveau. (Diese Spitze lässt sich nach oben oder unten verschieben: Auch bei guten Menschen sind manche noch besser als andere, und das ist nicht schlimm.) Nichts darf im christlichen Leben absolut gesetzt werden außer der Liebe zu Gott und dem Nächsten, die der Maßstab für alles ist. Damit die Liebe in jeder Situation verwirklicht werden kann, braucht es in allen anderen Dingen Maß und Ausgewogenheit und Ergänzung.

Und maßlose Skrupulosität geht auf Kosten ganz bestimmter sehr wichtiger Dinge: Glaube, Hoffnung und letztendlich der Liebe. Der Skrupulant reibt sich wegen der geringsten Dinge auf und übersieht das ganze Bild, manchmal „siebt er Mücken aus und schluckt Kamele“ (Mt 23,24) – nicht in pharisäerhafter Selbstgerechtigkeit, sondern in krampfhafter Ängstlichkeit. Es gelingt ihm nicht mehr, Gott zu lieben – wie denn auch? Die meiste Zeit fürchtet er Gottes Strafe. Seine Liebe, Seine Gnade: das sind Dinge, an die er theoretisch glaubt, die aber mit seinem Leben in keinem Zusammenhang stehen.

Das ist kein schönes Gottesbild, nicht wahr? Tatsächlich ist es das Bild eines Tyrannen, den man besänftigen muss, nicht das eines liebenden Vaters. Der skrupulöse Katholik würde es so nicht ausdrücken. Aber sein Verhalten spricht eine andere Sprache: Er ist peinlich darauf bedacht, nicht unehrerbietig zu erscheinen; es kommt ihm zu anbiedernd, zu wenig ehrfurchtsvoll vor, seinen Herrn mit Ausdrücken wie „Liebster Jesus“ anzusprechen; er macht Gott eilfertige Versprechungen für die Ableistung von Gebeten oder Ähnlichem, um für seine vermeintlichen oder tatsächlichen Vergehen zu sühnen; er muss Ihn sofort um Verzeihung bitten, wenn ihm auch nur der Gedanke in den Kopf kommt, dieser oder jener Heilige sei ihm nicht sympathisch. Und zuletzt macht er sich schließlich Vorwürfe für sein mangelndes Vertrauen und seine Ängstlichkeit. Er fühlt beständig den Druck, seine Existenz vor Gott rechtfertigen zu müssen.

Das Problem ist, dass er im tiefsten Inneren nicht an Gottes Liebe zu ihm glaubt. Er hält sich selbst nicht für liebenswert, und er glaubt nicht, dass Gott das anders sehen könnte; das heißt, er glaubt in der Praxis nicht, was er in der Theorie glaubt.

Diese Art der Religiosität ist zutiefst ungesund; und sie lässt sich auf Dauer nicht durchhalten, jedenfalls dann nicht, wenn sie entsprechend extrem ausgeprägt ist. Irgendwann erfüllt man zwar noch seine Sonntagspflicht, aber man würde die Messe am liebsten meiden, wenn man die Wahl hätte. Man betritt eine Kirche nur noch dann, wenn man fühlt, dass man es muss. Man betet nur noch dann, wenn man fühlt, dass man es muss. Man ist nicht mehr gern bei Gott, wie am Anfang seines Glaubensweges. Es gibt Menschen, die sich deshalb am Ende nicht von ihrem Zerrbild des Glaubens, sondern vom Glauben selbst abgewandt haben. Man will nur noch raus, man kann es nicht mehr ertragen.

Wenn noch einer zweifelt, ob dieser Zustand denn so schlimm ist, dann möchte ich ihm den berühmtesten aller Skrupulanten vorstellen: Martin Luther, gewissenhafter und frommer Augustinermönch, Doktor der Theologie zu Wittenberg.

Für Dr. Luther waren nicht irgendwelche kritischen Thesen zum Ablasswesen, sondern die Doktrinen „sola fide!“ (allein durch den Glauben!) und „sola gratia!“ (allein durch die Gnade!) die zentralen Punkte seiner Lehre. Er entwickelte sie deshalb, weil er den Gedanken nicht mehr ertragen konnte, dass seine guten Werke Gott nicht genügten. Er suchte aus dieser grauenvollen Aussicht einen Ausweg, und den fand er in seiner Irrlehre, der gläubige Christ könne sich seiner Erlösung völlig unabhängig von seinen Werken sicher sein. Er könne gar nichts dazu beitragen – so entledigte er sich des Drucks, genügend beitragen zu müssen, den er auf sich geladen hatte.

Nun macht Skrupulosität einen noch nicht gleich sofort zum Ketzer. Aber wenn sie nicht bekämpft wird, ist die wirkliche Gefahr da, den Glauben aufzugeben. Denn was ist das schon für ein Glaube, den man noch hat? Liebe Skrupulanten, ihr wisst selbst, wie sehr euer Glaube sich von dem Glauben der Menschen unterscheidet, die, sagen wir mal, auf dem Weltjugendtag feiern und beten.

Wir brauchen uns zwar wegen unseres Zustandes nicht auch noch ein schlechtes Gewissen zu machen. Skrupel sind eine Krankheit. Sie sind keine Sünde. Aber Gott will nicht, dass wir krank bleiben. Er will, dass wir gesund und glücklich werden, und er will uns dabei helfen.