Genervt von politisierenden Weihnachtspredigten über Flüchtlinge?

Ich möchte gleich zu Beginn sagen, dass ich solche Genervtheit manchmal schon verstehen kann. Wenn der Pfarrer sich in der Christmette zwanzig Minuten lang darüber auslässt, wie unchristlich eine Obergrenze wäre oder die Kanzlerin praktisch zur Heiligsprechung anmeldet, statt über Christi Geburt zu reden, dann kann das schon dazu führen, dass man die Augen verdreht und die Gedanken zu den Plänen für das Familientreffen am 1. Feiertag schweifen lässt oder ein paar Mal dezent auf die Armbanduhr schaut. Aber auch die Kritik an politischen (oder: politisch auf der anderen Seite als man selber stehenden) Predigten kann mal mit falschen Argumenten daherkommen. Wenn über die Politisierung der Kirchen geklagt wird, wird ja gelegentlich impliziert, dass die Kirchen völlig unpolitische Vereinigungen zu sein hätten, die sich in Angelegenheiten von öffentlichem Interesse nicht einmischen dürften. Und das wurde ja nun schon im Syllabus Errorum verurteilt. (Seliger Pius IX., bitte für uns!)

Daher ein paar allgemeine Gedanken zum Thema politische Predigten:

Erstens: Ja, an Weihnachten – vor allem in Gottesdiensten, in denen viele Leute erscheinen, die sich sonst nicht  in der Kirche blicken lassen – sollte der Zelebrant zuallererst mal über Weihnachten selber predigen. Euch ist heute der Heiland geboren. Das Wort ist Fleisch geworden. Gott hat Menschennatur angenommen, um uns zu erlösen, und ist in einem Stall von der Jungfrau Maria geboren worden. Darum geht es, das ist die Botschaft; und ob man nun in seinem konkreten Leben irgendwie mit Flüchtlingen zu tun hat oder nicht, diese Botschaft geht einen immer was an.

Zweitens: Ja, es ist sinnvoll, aus der Weihnachtsbotschaft dann auch konkrete Anleitungen für die Zuhörer abzuleiten, im Sinne von „Lasst Jesus auch in euren Herzen geboren werden“, wie das manchmal so heißt. Die können sehr unterschiedlich ausfallen. Sie können die Familie betreffen, das persönliche Gebet, den Job, oder auch mal die Politik – auch wenn die natürlich nicht zur unmittelbaren „Lebenswirklichkeit“ von Leuten gehört, die alle vier Jahre ein Kreuzchen machen dürfen und in keiner Partei aktiv sind.

Drittens: Nein, das Christentum ist, wie oben schon gesagt, nicht unpolitisch. Politik ist eigentlich nur die Regelung des Zusammenlebens in einer sehr großen Gemeinschaft, dafür gelten dieselben moralischen Regeln wie für das Zusammenleben in einer kleinen Gemeinschaft, die Kirche stellt fest, was diese moralischen Regeln sind, daraus folgt: die Kirche ist nicht unpolitisch. Sie stellt moralische Grundprinzipien fest, die auch in der Politik gelten.

Viertens: Zu diesen Grundprinzipien gehört, dass jeder Mensch nach Gottes Abbild geschaffen ist und dementsprechend behandelt werden muss. Zu diesen Grundprinzipien gehört, dass man in jedem Menschen Jesus erkennen kann. „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ (Matthäus 25,45) Die Leute zu ermahnen, das auch in der Flüchtlingskrise nicht zu vergessen und nicht nur an Zahlen und Kulturen zu denken statt an konkrete Menschen, ist durchaus legitim.

Fünftens: Aber ja, es stimmt, man kann als Christ – zum Beispiel – auch mal sagen „Man kann nicht jedem helfen.“ (Wenn auch nicht als Chiffre für „Man soll niemandem helfen.“) Positive Gebote (Gebote, die eine bestimmte Handlung befehlen, etwa „du sollst sonntags in die Kirche gehen“) sind gemäß einem weiteren Prinzip der Moraltheologie schließlich nur dann verpflichtend, wenn sie physisch und moralisch erfüllbar sind (während negative Gebote, die eine Unterlassung befehlen, etwa „Du sollst nicht morden“, immer erfüllbar sind). Das Gebot, jemandem zu helfen, gilt also nur dann, wenn man in der Lage ist, zu helfen. Extreme Beispiele: Jemand, der 2000 Euro im Monat verdient, kann nicht 3000 Euro im Monat spenden, auch wenn irgendeine sehr wichtige Organisation gerade sehr dringend Spenden braucht, um sich über Wasser zu halten. Ein Ehepaar mit kleinen Kindern ist vielleicht physisch (Gästezimmer vorhanden), aber nicht moralisch in der Lage, einen Verwandten, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er für Kindesmissbrauch gesessen hat, auf unbestimmte Zeit bei sich einzuquartieren, auch wenn der dann auf der Straße landet. Und ja, es stimmt auch, dass man nach der christlichen Ethik manchmal vielleicht sagen muss, dass ein vordergründig mitfühlendes Handeln in einer bestimmten Situation langfristig nicht hilft. Ich bin beispielsweise in der Flüchtlingspolitik der Meinung, dass es absolut nicht sinnvoll wäre, eine Flüchtlingsroute über Libyen einfach bestehen zu lassen (zumindest hat sich hier inzwischen etwas geändert) und die Flüchtlinge, die über diese Route kommen, auf unbestimmte Zeit in Europa aufzunehmen und nur in seltenen Ausnahmefällen mal zurückzuschicken – aus dem einfachen Grund, dass so mehr junge Afrikaner, die zwar in ihren Heimatländern mit Arbeitslosigkeit und Armut zu kämpfen haben, aber nicht verhungern würden oder verfolgt werden, dazu bewegt werden, die Reise Richtung Europa zu riskieren, und am Ende auf libyschen Sklavenmärkten landen oder im Mittelmeer ertrinken, was ich nun wirklich niemandem wünsche.

Sechstens: In der Politik, wo es zwangsläufig um große Massen von einzelnen Menschen mit sehr unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen geht, kann es eben, wie das Beispiel mit Libyen zeigt, kompliziert werden mit der aus christlicher Sicht richtigen Entscheidung. Dafür hat die katholische Moraltheologie auch noch detailliertere Prinzipien; aber da können sich Katholiken auch mal uneinig sein. Von daher sind Detailfragen (z. B. „Brauchen wir eine Obergrenze, und, wenn ja, wie hoch sollte die sein?“, „Ist Afghanistan ein sicheres Herkunftsland?“, „Ist die Mietpreisbremse sinnvoll?“, „Sollten wir wieder eine Große Koalition bekommen?“) wahrscheinlich weniger als Themen für eine Predigt in der Christmette geeignet. Um des lieben Friedens willen in der Gemeinde…

Bei aller Genervtheit von politisierenden Pfarrern, die die Messe mit der heute-show zu verwechseln scheinen (okay, so schlimm wird es selten), sollte man auch im Hinterkopf behalten, dass die oft getätigte Aussage, dass man in Flüchtlingen Christus erkennen könne, schlicht wahr ist. Es ist auch wahr, dass man in den Opfern vom Breitscheidplatz Christus erkennen kann. Es ist auch wahr, dass man in Frau Merkel Christus erkennen kann. Es ist auch wahr, dass man in Frau Weidel Christus erkennen kann. Es ist auch wahr, dass man in Herrn Höcke Christus erkennen kann. Es ist auch wahr, dass man in Herrn Amri Christus erkennen kann. Sie sind alle Gottes geliebte Geschöpfe, nach Seinem Abbild gemacht, und Er hat ihre Natur angenommen. Das verkündet die Kirche halt.

Ich wusste gar nicht, dass es noch Theosophen gibt…

…und dass die gar so seltsame Ansichten vertreten.

Zu meinem letzten Artikel wurde von jemandem namens „Öko-Theosoph“ ein Kommentar hinterlassen, den ich wegen völliger Themaverfehlung (in dem Artikel geht es um einen klischeehaften historischen Roman) als Spam markiert habe, aber bei näherer Betrachtung doch mal hier veröffentlichen und selber kurz kommentieren will. Man kennt so was ja; Leute, die überall im Internet ihre standartisierten Kommentare hinterlassen, ob es nun passt oder nicht, um möglichst viele Leute mit ihren Ansichten zu beglücken. Die meisten Absätze sind zwecks besserer Lesbarkeit von mir eingefügt:

Das Christentum muss reformiert werden. Kruzifixe (in Wohnungen) können Kirchengebäude (und Heilige Messen) ersetzen. Es ist unsinnig, zu beten.
Ein Mensch sollte seine Willenskraft und Liebe vergrößern. Es ist wichtig, gesundheitsbewusst zu leben und sich unegoistisch zu verhalten. Es ist sinnvoll, die körperliche Leistungsfähigkeit zu vergrößern, diverse Herausforderungen zu meistern, die Natur zu schützen usw.
Und dann sollte man sich morgens unmittelbar nach dem Aufwachen auf einen Wunsch konzentrieren und sich (nochmal) in den Schlaf sinken lassen. Durch Traumsteuerung (oder im halbwachen Zustand nach dem Aufwachen) kann man zu mystischen Erfahrungen (und Heilen wie Jesus) gelangen. Der Mensch (genauer: das Ich-Bewusstsein) kann mystische Erfahrungen nicht bewirken, sondern nur vorbereiten. Bestimmte Meditations- und Yoga-Techniken, Hypnose, Präkognition usw. sind gefährlich. Traumsteuerung ist auch ohne luzides Träumen (das u. U. gefährlich ist) möglich. Man sollte sich nur dann einen luziden Traum wünschen, wenn man durch Traumdeutung herausgefunden hat, dass man dafür die nötige Reife hat. Oder man kann sich vor dem Einschlafen wünschen, dass sich nur Dinge ereignen, für die man die nötige Reife hat. Es ist gefährlich, während eines luziden Traumes zu versuchen, den eigenen schlafenden Körper wahrzunehmen. Luzide Träume dürfen nicht durch externe Reize (Drogen, akustische Signale usw.) herbeigeführt werden. Man kann sich fragen, ob eine echte (nicht nur eine eingebildete) Zeitdehnung in Träumen möglich ist. Zudem, wie sich Schlaf-Erlebnisse von Tiefschlaf-Erlebnissen (und Nahtod-Erlebnissen usw.) unterscheiden. Die Bedeutung eines symbolischen Traumgeschehens kann individuell verschieden sein und kann sich im Laufe der Zeit ändern.
Es bedeutet eine Entheiligung der Natur, wenn Traumforscher die Hirnströme von Schlafenden messen. Die Wissenschaft darf nicht alles erforschen. Es ist z. B. gefährlich, wenn ein Mensch erforscht, ob er einen freien Willen hat. Es ist denkbar, dass ein Mensch gerade durch die Erforschung der Beschaffenheit des Willens seinen freien Willen verliert. Zudem besteht die Gefahr, dass ein Mensch verrückt wird, wenn er sich fragt (wie schon vorgekommen), ob das Leben nur eine Illusion ist. Das Leben ist real.
Es kann in Teilbereichen auf wissenschaftlichen (und technischen) Fortschritt verzichtet werden. Es ist z. B. falsch, Hochgeschwindigkeitszüge zu bauen. Man sollte möglichst dort wohnen, wo man arbeitet. Dadurch werden viele Privatfahrzeuge (nicht Firmenfahrzeuge) überflüssig.
Es ist sinnvoll, überflüssige Dinge (Luxusgüter, Werbung, Kirchengebäude, Urlaubsindustrie, Rüstung, Geldverleih usw.) abzuschaffen. Der MIPS muss gesenkt werden (Regionalisierung senkt Transportkosten, ein Öko-Auto fährt über 50 Jahre, ein 1-Liter-Zweisitzer-Auto spart Sprit usw.). Ein Mensch kann im kleinen und einstöckigen 3-D-Druck-Haus (Wandstärke ca. 10 cm) mit Nano-Wärmedämmung wohnen.
Wenn die Menschen sich ökologisch verhalten, vergrößert sich die Wahrscheinlichkeit einer günstigen Erwärmung im Winter. Denn das Klima ist (so wie das Leben) in der Lage, sich positiv weiterzuentwickeln.
In der Medizin sollte u. a. die Linsermethode gegen Krampfadern (auch dicke) eingesetzt werden.
Es ist wichtig, den Konsum von tierischen Produkten (und Süßigkeiten und Eis) zu reduzieren oder einzustellen. Hat man eine bestimmte Reife, kann man sich möglicherweise von veganer Urkost ernähren (oder sogar nahrungslos leben).
Die berufliche 40-Stunden-Woche kann durch die 4-Stunden-Woche ersetzt werden (bei Abschaffung des Renteneintrittsalters). Wenn die Menschen sich richtig verhalten, werden die Berufe zukünftig zunehmend und beschleunigt an Bedeutung verlieren.

 

Meine Highlights:

  • Christen haben sich gefälligst nicht in Gemeinschaft zu versammeln; wenn sie unbedingt beten müssen, können sie das für sich zu Hause vor dem Kruzifix erledigen.
  • Aber Beten ist auch unsinnig, also lasst das gefälligst auch; schafft einfach das Christentum ab (ja, Öko-Theosoph, ohne Gebet ist es kein Christentum mehr).
  • Hm, was unterscheidet wohl ein Kruzifix (einen Gegenstand) von einer Heiligen Messe (dem Vorgang, bei dem sich Himmel und Erde berühren, der Quelle und dem Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens)?
  • Mehr über die Natur wissen zu wollen, ist ein Sakrileg. Komisch, eigentlich hätte ich gedacht, dass so ein Gedanke nicht mal aus der unsinnigsten Vergöttlichung der Natur folgen müsste. Wir Christen halten es schließlich auch nicht für ein Sakrileg, mehr über Gott wissen zu wollen (nennt sich „Theologie“).
  • Alle Leute können dort wohnen, wo sie arbeiten. Z. B. eine Putzfrau in der Münchner Innenstadt.
  • Noch mal: Die Wissenschaft ist iiiiihhhh-bääähhh. Sie könnte ja das Leben erleichtern.
  • Auch das philosophische Denken ist gefährlich, zumindest, wenn es an die Grundfragen geht. Die sollte man lieber gar nicht erst stellen. (Und Öko-Theosoph unterscheidet nicht zwischen Naturwissenschaft (Was passiert während des Schlafes im Gehirn?) und Philosophie (Haben wir einen freien Willen? Ist das Leben real?). Aber das geht ja vielen Leuten so.)
  • Die Leute sollen in Zweisitzer-Autos fahren und in möglichst kleinen Häusern wohnen. Weil, wer hat z. B. schon Kinder? Okay, die soll man nach so einer Weltsicht vermutlich eh wegen „Überbevölkerung“ vermeiden, und Freunde, Mitbewohner oder Eltern hat ja auch niemand, also sind Zweisitzer-Autos für die meisten Leute ja total praktisch.
  • Geldverleih ist überflüssig. Wer muss sich schon mal Geld leihen, um sich ein Auto oder ein Haus zu kaufen oder eine Firma aufzubauen?
  • Urlaub ist überflüssig. Überhaupt alles, was nicht strikt notwendig ist, sondern einfach nur Freude macht, ist überflüssig.
  • Alles, was Öko-Theosoph für überflüssig erklärt, hat abgeschafft zu werden. Weil, Freiheit (z. B. die Freiheit, im Sommer zwei Wochen an der Adria zu verbringen oder Gott in einer Kirche anzubeten) würde die Leute ja bloß überfordern.
  • „Urkost“ war vegan. In der Steinzeit (inklusive der Eiszeiten) war es ja ganz einfach, sich Proteine und Fette durch die gerade verfügbaren Pflanzen zu beschaffen.
  • Der Mensch kann (und soll) nahrungslos leben, wenn er „reif“ ist… ne, das kommentiere ich jetzt mal nicht mehr.

Mann, sind Theosophen streng. Und da beschwert man sich über die katholische Kirche.

Interessanter und trauriger als das Gerede über luzide Träume und Nahrungslosigkeit ist, wie Öko-Theosoph in den einleitenden Sätzen noch kurz von „Liebe“ und „unegoistisch[em]“ Verhalten schreibt, und sich dann im weiteren Verlauf des Textes nur noch auf Selbst-Perfektionierung, Gesundheit und natürlich auf die große Verpflichtung, die Natur in Ruhe zu lassen, konzentriert. Das ist Heiligkeit für Esoteriker. Zwischenmenschliches? Das kommt allenfalls unter „ferner liefen“ vor. Nein, die wirkliche Heiligkeit besteht darin, vegan zu essen und Sport zu treiben; der Übergewichtige an der Dönerbude ist der Sünder, nicht derjenige, der seine Mutter nicht im Altenheim besucht oder seine Frau betrügt. Und da liegt Öko-Theosoph ja leider ganz auf einer Linie mit den Mainstream-Moralisten unserer Tage: Sie überfordern die Leute mit der ständigen Einführung neuer Sünden und haben keine Zeit mehr für die wirklichen.

Ich geb’s zu: Ein paar unerwartete vernünftige Ansätze finden sich auch. Z. B. unterscheidet sich Öko-Theosoph vom handelsüblichen Esoteriker darin, dass er das den Eingeweihten, den „Reifen“ erlösende Wissen als etwas darstellt, das dieser sich zumindest nicht völlig selbst erarbeiten kann, dass er also die Begrenztheit des Menschen ein bisschen anerkennt („Der Mensch (genauer: das Ich-Bewusstsein) kann mystische Erfahrungen nicht bewirken, sondern nur vorbereiten“). Auch der Satz Das Leben ist real“ ist schlicht richtig – auch wenn ein Mensch nicht gleich verrückt wird, wenn er sich fragt, ob das Leben denn real ist. Und hey, wenigstens ist er gegen Drogen, das ist auch nicht immer selbstverständlich bei Esoterikern. Aber im Ganzen vertritt Öko-Theosoph klassisch gnostische Lehren, gemischt mit ins Extremistische gesteigerten Grünen-Forderungen.

Die Pfeiler des Glaubens, Teil 2: Zurückgelassene Kinder, geraubte Kinder, befreite Sklaven und eine Identitätskrise

Ich habe meine Besprechung von Ildefonso Falcones‘ Roman „Die Pfeiler des Glaubens“ an einer Stelle unterbrochen, an der es um den Aufstand der Morisken schlecht steht; das Heer um Aben Humeya* muss vor den Truppen des Marquis von Mondéjar in Richtung Ugijar fliehen. Sie lassen vorher noch einige gefangene Christinnen frei, um den Weg für Verhandlungen mit dem Marquis zu ebnen. Viele moriskische Frauen und Kinder bleiben in Juviles (Hernandos Heimatdorf) zurück, das kurz darauf von den christlichen Truppen eingenommen wird, während die Männer sich zurückziehen. Der Marquis ist tatsächlich offen für Verhandlungen und bietet den Morisken, die sich ergeben, eine Amnestie an, während die befreiten Christinnen eher noch auf Rache aus sind und die Soldaten, die hauptsächlich um der Beute willen gekommen sind, auf Plünderung.


(Aben Humeya alias Don Fernando de Válor, Illustration in „Los Monfies de las Alpujarras“, 1859; Quelle: Wikimedia Commons)

Hernando, der sich Sorgen um seine Mutter Aischa macht, trennt sich von der Armee der Morisken und kehrt heimlich nach Juviles zurück. Dort entsteht durch einen unglücklichen Zufall in der nächtlichen Dunkelheit ein Handgemenge zwischen den christlichen Soldaten und ein paar wenigen Morisken, und in dem Chaos dann ein Gemetzel unter den gefangenen moriskischen Frauen und Kindern auf dem Dorfplatz. Hernando findet seine Mutter und seine beiden Halbbrüder und zieht auf der überstürzten Flucht aus dem Ort noch ein Mädchen mit, das er in der Dunkelheit für eine seiner beiden Halbschwestern hält. Außerhalb von Juviles stellt sich jedoch heraus, dass es sich um ein fremdes Mädchen namens Fatima handelt, das auch einen Säugling bei sich hat. Der Abschnitt endet mit dem Satz: „In der Dunkelheit konnte Hernando Fatimas große mandelförmige schwarze Augen zwar nur schwer erkennen, aber er nahm durchaus das Funkeln in ihrem Blick wahr, das die tiefe Nacht erhellte.“ (S. 102. Und hier bin ich mir schon wieder nicht sicher, ob Falcones unter Dunkelheit dasselbe versteht wie ich.)

Raissa und Zahara jedenfalls sind in Juviles zurückgeblieben. Und Hernando, Aischa, Musa, Aquil und Fatima mit ihrem Sohn Humam ziehen weiter nach Ugijar, ohne offenbar auch nur in Betracht zu ziehen, umzukehren, um herauszufinden, was mit den beiden geschehen ist. Allmählich habe ich den Verdacht, dass Falcones Hernandos Halbgeschwister (die durchgehend als „Stiefgeschwister“ betitelt werden – was natürlich auch die Schuld der Übersetzung sein könnte) nur deshalb eingeführt hat, weil er es irgendwie logisch fand, dass, da die Leute damals viele Kinder bekommen haben, Aischa Kinder mit Ibrahim haben müsste, und dass er für sie sonst keine Rolle in der Handlung übrig hat. Auch Musa und Aquil wird in den folgenden Kapiteln nicht viel Beachtung geschenkt.

In Ugijar treffen sie Ibrahim wieder, der sich nur kurz dafür interessiert, dass seine Töchter wahrscheinlich tot oder aber allein in Gefangenschaft sind, und dann ein umso größeres Interesse an der erst dreizehnjährigen, aber sehr attraktiven Fatima entwickelt. Fatima erfährt unterdessen, dass ihr Mann, der auch ihr Kindheitsfreund war und nur wenige Jahre älter als sie selbst, bei den Kämpfen umgekommen ist. Obwohl sie durchaus um ihn trauert, dauert es nicht lange, bis sie und Hernando einander näher kommen, was man sich, seien wir ehrlich, hat denken können, sobald Fatima aufgetaucht ist. Zunächst wird allerdings nichts daraus, da Ibrahim sein Möglichstes tut, um die beiden zu trennen, und sie sogar bedroht; genau genommen wird er gewalttätig gegenüber Aischa, sobald die beiden Teenager Kontakt zueinander suchen, was recht effektiv funktioniert, um sie davon abzuhalten.

Hernando trifft auch Aben Humeya und gewinnt die Gunst des jungen Königs, da er sich mit der Pflege verletzter Maultiere und Pferde auskennt und da er bei einer Flucht den königlichen Schatz rettet. Die Morisken müssen noch mehrmals von Ort zu Ort fliehen, können dann aber auch wieder Gebiete zurückerobern; insgesamt zieht sich der Aufstand noch länger hin, als ich erwartet hatte. Hier mal ein Lob an Falcones: Er schildert den Krieg sehr realistisch als ein kompliziertes, langwieriges, unübersichtliches Hin und Her, bei dem sowohl der Marquis von Mondéjar und der Marquis von Los Vélez, als auch Aben Humeya und andere Anführer der Morisken, als auch die jeweiligen Anführer und ihre jeweiligen Soldaten oft nicht auf einer Linie sind. Aben Humeyas Soldaten laufen ihm zunächst reihenweise davon, um sich dem recht gnädigen Marquis von Mondéjar zu ergeben, kehren dann aber auch wieder zurück, als ihnen klar wird, dass es dem auch nicht gelingt, seine Soldaten davon abzuhalten, auf eigene Faust plündernd und mordend und vergewaltigend durch die Bergdörfer der Alpujarras zu ziehen. Zudem wendet sich das Blatt zugunsten der Morisken, als die Barbareskenstaaten und der osmanische Sultan endlich Hilfe schicken. Freilich lassen diese sich die Waffenlieferungen gut bezahlen und an Kämpfern kommen nicht sehr viele.

Und hier findet sich eine interessante Stelle. Der Sultan hat u. a. zweihundert Janitscharen geschickt, und der Leser erhält ein paar Hintergrundinformationen über diese Krieger:

„Die Janitscharen bildeten eine Eliteeinheit, die nur dem Sultan unterstand, und galten als äußerst loyal und unbezwingbar. Sie erhielten eine lebenslange Bezahlung und genossen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung besondere Privilegien. Sie hatten sogar eine eigene Rechtsprechung. Ein Bey durfte keinen Janitscharen verurteilen oder bestrafen, sie waren ausschließlich ihrem Agha verpflichtet, und Urteile wurden stets in Geheimverfahren gefällt. Diese Eliteeinheit war eine privilegierte Kaste für sich. Sie gingen gnadenlos gegen die Bevölkerung vor, raubten, was ihnen zwischen die Finger kam, und vergingen sich an Frauen und Kindern – ungestraft, denn ein Janitschar war selbst für einen Bey unantastbar!“ (S. 164)


(Sitzender Janitschar, Zeichnung von Gentile Bellini, um 1480; Quelle: Wikimedia Commons)

Das ist, wie gesagt, recht interessant und dürfte im Großen und Ganzen stimmen; was auch interessant ist, aber im Buch nicht erwähnt wird, ist der Werdegang so eines Janitscharen: Im Rahmen der Knabenlese wurden christlichen Familien im Osmanischen Reich (Serben, Kroaten, Bosniern, Albaniern, Bulgaren, Rumänen, Griechen, Armeniern, Georgiern, etc.) regelmäßig einige ihrer Söhne genommen; in einer Region konnten alle paar Jahre oder auch jährlich die zuständigen Beamten und Soldaten auftauchen, sich die Taufregister vorlegen lassen, und Knaben auswählen (z. B. aus jeder 40. Familie; die Zahlen schwankten), die sie dann mitnahmen, nach Istanbul brachten, zum Islam zwangsbekehrten und einer rigorosen Ausbildung unterwarfen. Bestenfalls konnten diese Jungen dann zum Janitschar aufsteigen. Die Sultane bemühten sich tatsächlich sehr, die Loyalität dieser ihrer Privatarmee sicherzustellen; die Janitscharen, die rechtlich gesehen den Status von Sklaven hatten, wurden dafür erzogen, nur für Sultan und Reich zu leben, durften bis ins späte 16. Jahrhundert nicht heiraten und lange Zeit auch nichts vererben. Andererseits erhielten sie eben auch gewisse Privilegien. Und da die Sultane sich zwangsläufig auf die Janitscharen verlassen mussten, erstritten sich diese mit der Zeit so einige weitere Privilegien und erlangten auch große politische Macht; schließlich ermordeten sie Sultane oder setzten diese ab, wenn es ihnen passte. Als die Herrscher schließlich genug von ihrer ehemals so nützlichen Privatarmee gehabt hatten, beschloss Mahmud II. 1826 ihre Auflösung. Eine Rebellion der Janitscharen dagegen wurde niedergeschlagen, und die Überlebenden wurden hingerichtet oder verbannt. Der Sultan sprach vom „Wohltätigen Ereignis“.


(Darstellung der Knabenlese in einer Miniatur im Süleymanname, 1558; Quelle: Wikimedia Commons)

Auch Korsaren aus den Barbaresken-Staaten sind übrigens bei den neu angekommenen Verbündeten (hier mehr zu diesen Piraten, die die christlichen Mittelmeerstaaten bis ins frühe 19. Jahrhundert bedrohten); und einer von ihnen, Barrax, quartiert sich und seine Männer zeitweise im selben Haus ein, in dem auch Hernando, seine Mutter, Fatima und die Tiere, für die Hernando verantwortlich ist, untergebracht sind. Und hier erwähnt Falcones immerhin einen weiteren Grund für die Feindschaft zwischen spanischen Christen und Morisken: „Seit jeher konnten die Korsaren aus den Barbareskenstaaten bei ihren Raubzügen vor der spanischen Mittelmeerküste mit der Hilfe der dort lebenden Morisken rechnen. Viele Korsaren, vor allem die Männer aus Tetuan und Algier, waren selbst Morisken. Sie waren in al-Andalus geboren und machten jetzt auf ihren Fahrten Gefangene, die sie mit der Unterstützung ihrer Familien und Freunde später als Sklaven verkauften.“ (S. 171)

Hernando freilich ist nicht besonders begeistert von der Praxis, Gefangene als Sklaven zu verkaufen. Ihm wird an dieser Stelle der Handlung aufgetragen, sich aus einem Raum voller gefangener Christinnen in Aben Humeyas Anwesen eine auszusuchen und sie auf dem Markt zu verkaufen, um damit Futter für die Pferde bezahlen zu können. Er entdeckt dort Isabel, Gonzalicos Schwester, wieder und nimmt sie mit; statt sie zu verkaufen, versteckt er sie jedoch und bringt sie später heimlich aus dem Ort und zu christlichen Soldaten um den Marquis von Los Vélez. Nach seiner Rückkehr findet er eine andere Möglichkeit, um an das notwendige Geld zu kommen: Er bedroht und erpresst einen Händler namens Salah, der zugegebenermaßen zuvor Hernando erpressen wollte, da er die Sache mit Isabel bemerkt hatte.

Mit Hernandos und Fatimas Romanze geht es dann schließlich doch voran, da Ibrahim für einige Zeit mit dem Kommandanten Aben Aboo (eigentlich Ibn Abbuh) abwesend ist. Man erfährt, dass sie oft „Zeit miteinander [verbrachten“, „Momente der Zweisamkeit [suchten]“, „plauderten“ und „sich an die Ereignisse der letzten Monate [erinnerten]“. Eins dieser Gespräche wird sogar über eine ganze Drittelseite beschrieben. Fatima erzählt Hernando, dass ihre Gefühle für ihren Ehemann eher freundschaftlicher Natur waren – „Aber jetzt weiß ich, dass es noch andere Gefühle gibt.“ (S. 190). Wie romaaaannnntisch!

Ernsthaft: Über Fatima weiß man an dieser Stelle der Handlung nicht sehr viel. Ihr Charakter und ihre Gefühle sind nicht besonders klar. Hernandos Charakter wird aus seinen Handlungen allmählich deutlicher – er ist impulsiv, mutig, nicht unbedingt dumm, handelt entschieden, kann skrupellos gegenüber Menschen sein, die ihn bedrohen, hat aber auch Verantwortungsbewusstsein und Mitgefühl, und ist sich über seine Identität nicht im Klaren. Fatima sieht man nicht viel tun, sie hat z. B. auch keine charakteristische Art, zu sprechen, und es wird selten aus ihrer Perspektive erzählt. Sie ist verliebt in Hernando, sie kann mal nachtragend sein, wenn es ein Missverständnis gibt, und hört sich dann lange keine Erklärung an, sie ist ganz nett und kümmert sich ganz gut um ihren Sohn; das weiß man von ihr. (Alles in allem also die typische weibliche Figur einer Liebesgeschichte.) Aber was genau sie an Hernando mag, was er an ihr mag, was die beiden gemeinsam haben… keine Ahnung. Aber okay. Fatima ist immer noch erst dreizehn Jahre alt und Hernando ist vielleicht fünfzehn oder so; und Teenagerromanzen müssen ja keine tiefergehenden Anlässe haben. Mit dreizehn habe ich vielleicht für einen Lehrer geschwärmt und die Jungs aus meiner Klasse alle doof gefunden.

Schließlich arrangiert Aischa zusammen mit Fatima ein nächtliches Treffen für das Liebespärchen, damit die zwei miteinander schlafen können, und ich verstehe beim besten Willen nicht, wieso. Ich bin mir nicht sicher, welche moralischen Bedenken ich einer Moriskin des 16. Jahrhunderts unterstellen sollte; bekanntlich waren die Leute auch damals nicht alle so streng, wie es die islamische und die christliche Lehre theoretisch vorgeben. Aber davon abgesehen sehe man sich mal an, was sie hinterher zu den beiden sagt, als sie mit ihnen darüber spricht, dass sie heiraten sollen: „‚Was die Brautgabe angeht‘, sprach sie an Hernando gerichtet weiter, ‚du hast drei Monate, um sie zu beschaffen. Ihr habt Beischlaf gehalten, ohne verheiratet zu sein, deshalb könnt ihr erst heiraten, wenn Fatima dreimal die Regel hatte, es sei denn… Wenn sie in Umständen sein sollte, könnt ihr erst nach der Geburt heiraten.'“ Wieso hat Aischa den beiden also nicht einfach gleich gesagt, sie sollen heiraten? (Oder wieso könnten sie ihre Liebesnacht nicht verheimlichen?) Immerhin riskieren sie auf diese Weise, dass Ibrahim zurückkehrt, ehe sie verheiratet sind – was auch geschieht.

Zuvor allerdings wird noch Aben Humeya, der zu einem tyrannischen Lebemann geworden ist, von seinen eigenen Leuten ermordet; kurz vor seinem Tod ruft er den christlichen Gott an. Aben Aboo wird zum neuen König von al-Andalus ausgerufen, und Ibrahim ist inzwischen dessen enger Vertrauter. Aber es kommt noch schlimmer: Kurz nach deren gemeinsamer Rückkehr wird entdeckt, dass der Händler Salah christliche sakrale Gegenstände – Heiligenstatuen, Priestergewänder usw. – in seinem Keller versteckt hält, wohl um sie später zu Geld zu machen, und unglücklicherweise wird Hernando, der den Händler eben mit diesem Wissen erpresst hat, zusammen mit Salah in dem Keller angetroffen. Die beiden werden als angeblich zum christlichen Glauben Abgefallene zum Tod verurteilt; Hernando wird nur dadurch gerettet, dass der Korsar Barrax Aben Aboo bittet, ihn ihm stattdessen als Sklaven zu verkaufen. Freilich tut er das nicht aus Nächstenliebe, sondern um einen neuen Lustknaben zu bekommen. Hernando verweigert sich dem Korsar allerdings und erhält seltsamerweise gleichzeitig den Eindruck aufrecht, er sei ein Christ, was wohl beides irgendwie zusammenhängen soll. „Jetzt musste er so tun, als wäre er ein Christ, um Barrax nicht in die Hände zu fallen…“ (S. 206) Bitte? Seit wann ist es notwendig, religiöse/moralische Vorbehalte vorzutäuschen (die ein Muslim übrigens ebenso anführen könnte), um sich gegen irgendwelche sexuellen Avancen zu wehren? Ja, Barrax denkt sich einmal „Zahllose junge Christen führten in Algier ein angenehmes Leben als Gespielen der Türken und Barbaresken, nachdem sie vom Christentum abgefallen waren und sich zum wahren Glauben bekehrt hatten“ (S. 205), und offensichtlich will er bei Hernando ebenfalls beides erreichen, aber Hernando müsste das Spiel schließlich nicht mitmachen. Ich kapiere Hernando nicht.

Jedenfalls wird er in seiner Zeit als Barrax‘ Sklave in eine neue Identitätskrise gestürzt. Ein paar Mal fragt er sich, zu welcher Religion er sich eigentlich zugehörig fühlen soll: „Oder war er vielleicht doch ein Christ? Aber ihm stand nicht der Sinn nach Glaubensfragen.“ (S. 206) Tatsächlich werden die Glaubensfragen nicht wirklich näher durchdacht, oder auch nur im Einzelnen gestellt. Fragen wie „Ist die Bibel oder der Koran das glaubwürdigere Buch?“ werden an keiner Stelle angeführt, und Hernando fragt sich immer nur „Was bin ich?“, weniger „Was glaube ich und warum?“; die Religion erscheint hier eher als eine Angelegenheit der persönlichen Identität, wie Heimat oder Kultur oder Familie; es geht mehr um Zugehörigkeit als um Überzeugungen.

Unterdessen findet Ibrahim, der mittlerweile zum hauptsächlichen Schurken der Geschichte** avanciert ist – grausam und feige zugleich, egozentrisch, hasserfüllt gegenüber Hernando und despotisch gegenüber seiner ganzen Familie -, weitere Dinge, mit denen er Fatima bedrohen kann, und zwingt sie damit, ihn zu heiraten. Sie ist übrigens noch immer „keine vierzehn Jahre alt“ (S. 210). Keine Ahnung, wie viel Zeit zwischen den einzelnen Punkten der Handlung verstreicht.

Jetzt wendet sich das Kriegsglück wieder zugunsten der Christen; Don Juan de Austria (der Don Juan de Austria von der Seeschlacht von Lepanto***) kommt im Auftrag seines Halbbruders, König Philipps II. von Spanien, mit weiteren Truppen zu Hilfe. Schließlich nehmen die Morisken Kapitulationsverhandlungen auf, was ihre ausländischen Verbündeten gleich mal dazu veranlasst, sich wieder ins Ausland abzusetzen, und der König erlässt ein neues Angebot zur Amnestie. Auch er kann Frieden im Inneren ganz gut gebrauchen, da der Sultan die Zeit, in der Spanien mit seinen inneren Angelegenheiten beschäftigt ist, nutzt, um Zypern und Dalmatien anzugreifen, und Papst Pius V. den König dazu drängt, doch endlich Truppen dorthin zu schicken. (Was zur Seeschlacht von Lepanto führen wird!)

(Paolo Veronese, Die Schlacht von Lepanto; Quelle: Wikimedia Commons)

In einer der letzten Schlachten des Krieges nimmt Barrax einen verwundeten christlichen Adligen gefangen und trägt Hernando auf, diesen gesund zu pflegen, damit er für ihn Lösegeld verlangen kann, bevor er mit seinen Leuten ebenfalls Spanien verlässt. Der Gefangene, der mitbekommen hat, dass Hernando ein Christ sein soll, überredet diesen jedoch zur gemeinsamen Flucht.**** Hernando lässt den Adligen (dessen Namen er übrigens noch immer nicht erfahren hat) schließlich auf einem Maultier ziehen und kehrt selbst ins nächtliche Heerlager zurück, um nach Aischa und Fatima zu suchen; bevor er sich auf den Weg zu denen macht, sucht er allerdings noch Barrax‘ Zelt auf, schlägt diesem den Kopf ab und stopft ihn in einen Sack. Der Hauptgrund dafür ist wohl, dass Barrax nach Hernandos Flucht einen Jungen aus seinem Gefolge hat töten lassen, weil der die Flucht nicht bemerkt und verhindert hat; Hernando sieht die Leiche, als er ins Lager zurückkommt. Dann findet er seine Mutter und Musa; Ibrahim ist mit Fatima, Humam und Aquil schon geflohen, um sich den Christen zu ergeben. In dem Erlass des Königs wird jedem Krieger, der eine Waffe abliefert, für sich und zwei Angehörige zusätzlich zu ihrem Leben auch die Freiheit versprochen, daher hat Ibrahim einen Teil der Familie zurückgelassen. (Fatima hofft, dass ihr noch sehr junger Sohn vielleicht nicht gezählt werden wird.) Hernando flieht nun mit Aischa und Musa ebenfalls zu Don Juan de Austrias Feldlager.

Dort treffen sie zunächst auf Andrés, den jungen Sakristan aus Juviles, der das Massaker an den Christen dort überlebt hat, und dieser erzählt den Soldaten voller Zorn, wie Aischa damals den Dorfpfarrer getötet hat. Diese bestehen jedoch darauf, dass die Amnestie für alle Verbrechen gilt und dass nichts getan werden soll, was die Bedingungen des Erlasses bricht und die Morisken wieder aufstachelt; Don Juan hat seine Soldaten offensichtlich besser im Griff als der Marquis von Mondéjar. Außerdem kommt es natürlich gut an, dass Hernando den Kopf eines Korsaren mitbringt. In dem Heerlager treffen sie auch Ibrahim wieder, der sich mit Fatima gerade in eine Liste hat eintragen lassen, und als auch Aischa sich als seine Frau bezeichnet, bezichtigen die anwesenden Geistlichen ihn natürlich sofort der Bigamie. Ibrahim versucht, sich damit herauszureden, dass man ihn falsch verständen hätte und Fatima seine Schwiegertochter, Hernandos Frau, wäre, und die Beamten geben sich damit zufrieden, die Angelegenheit für ein Missverständnis aufgrund von Sprachschwierigkeiten zu halten.

Die Familie wird mit anderen Morisken für einige Monate in die Gegend von Granada gebracht, und dort heiraten Fatima und Hernando in einer kirchlichen Zeremonie. Zuvor müssen sie noch die Beichte ablegen, und die Szene wird schön klischeehaft geschildert – in einem Roman über Kirchengeschichte muss schließlich irgendwann der Beichtstuhl als Ort der Unterdrückung (oder auch der sexuellen Belästigung) auftauchen. („‚Soll das etwa alles sein?‘ zischte der Priester im Beichtstuhl, nachdem Fatima fertig war. […] ‚Ich kann leider weder Reue noch Bußfertigkeit erkennen.'“ S. 248.)

Hier kann man sich fragen, ob die Spanier nicht eine andere Strategie gegenüber den Morisken wählen hätten sollen, da sie ahnen konnten, dass jene im Geheimen weiterhin den Islam praktizieren würden. Viele Alternativen hatten sie allerdings nicht. Es war logisch, dass man die Morisken als Fünfte Kolonne der gerade erst vertriebenen Besatzer sah, das waren sie; sie zettelten immerhin Aufstände an und schlachteten dabei Christen ab, und halfen auch in Friedenszeiten Piraten, die spanische Kinder in die Sklaverei entführten. Genau deshalb hatte man ja beschlossen, alle, die offen den Islam praktizierten, aus Spanien auszuweisen, was dazu geführt hatte, dass viele Morisken die Taufe gewählt hatten und ein christliches Leben vortäuschten. Aber: es gab auch vereinzelte Morisken, die wirklich Christen geworden waren, vielleicht schon vor dem Abschluss der Reconquista, und die hätte man sicher nicht einfach ausweisen wollen; also bestand man eben auf Taufe oder Auswanderung, und versuchte irgendwie, zu kontrollieren, ob die Getauften denn nun wirklich Christen waren. Das aber täuschten so viele Morisken bloß vor, dass es (hier später im Buch) wieder einen Krieg gab, woraufhin Spanien einfach sämtliche Morisken auswies, und davon ausging, sie wären alle nur Scheinchristen. Es kann gut sein, dass hier auch wirkliche Christen unter die Räder gerieten, denen die Spanier nicht trauten, die aber auch von den muslimischen Morisken als des Todes würdige Abtrünnige gesehen wurden. Beide Alternativen, die teilweise Ausweisung und die völlige Ausweisung, brachten ihre Probleme mit sich; und wenn Spanien keinen einzigen Morisken ausgewiesen hätte, hätte es wahrscheinlich weiterhin Kriege gegeben.

Später müssen sie dann zusammen mit einigen Tausend Morisken in einer langen Kolonne, bewacht von Soldaten, nach Córdoba ziehen, und auf dem kalten Marsch stirbt Humam.

Teil I des Buches – dem Falcones, was ich in meinem ersten Teil zu erwähnen vergessen habe, den Titel „In Allahs Namen“ gegeben hat, endet bei der Ankunft in Córdoba mit den Worten „Es war der 12. November 1570.“ (S. 252) Teil II trägt dann den Titel „Im Namen der Liebe“ – dazu im nächsten Post.

[Update: Weiter geht’s hier.]

* Falcones verwendet durchgehend die christliche Verhunzung „Aben Humeya“ des Namens „Ibn Umayya“, obwohl fast alle Szenen, in denen der König von al-Andalus auftritt, sich hauptsächlich unter Muslimen abspielen. In der direkten Rede bei anderen muslimischen Figuren heißt er dann allerdings wieder „Ibn Umayya“. Keine Ahnung, was das soll; eigentlich blickt Falcones ja aus der Perspektive der Morisken auf die Geschehnisse.

** Die anderen Mächte des Bösen, die für die Handlung an sich vielleicht noch eine größere Rolle spielen, sind eher gesellschaftliche Institutionen, oder aber auch unpersönliche „Kräfte“ wie „gegenseitiger Hass auf Andersgläubige“, die sich in verschiedenen Figuren auf unterschiedliche Weise manifestieren, wobei diese Figuren nicht zwangsläufig völlig böse sein müssen. Ibrahim ist bis jetzt die böseste Persönlichkeit.

*** Es gehört zwar eigentlich nicht hierher, aber man muss die Gelegenheiten eben nutzen:

Lepanto

White founts falling in the courts of the sun,
And the Soldan of Byzantium is smiling as they run;
There is laughter like the fountains in that face of all men feared,
It stirs the forest darkness, the darkness of his beard,
It curls the blood-red crescent, the crescent of his lips,
For the inmost sea of all the earth is shaken with his ships.
They have dared the white republics up the capes of Italy,
They have dashed the Adriatic round the Lion of the Sea,
And the Pope has cast his arms abroad for agony and loss,
And called the kings of Christendom for swords about the Cross,
The cold queen of England is looking in the glass;
The shadow of the Valois is yawning at the Mass;
From evening isles fantastical rings faint the Spanish gun,
And the Lord upon the Golden Horn is laughing in the sun.
Dim drums throbbing, in the hills half heard,
Where only on a nameless throne a crownless prince has stirred,
Where, risen from a doubtful seat and half attainted stall,
The last knight of Europe takes weapons from the wall,
The last and lingering troubadour to whom the bird has sung,
That once went singing southward when all the world was young,
In that enormous silence, tiny and unafraid,
Comes up along a winding road the noise of the Crusade.
Strong gongs groaning as the guns boom far,
Don John of Austria is going to the war,
Stiff flags straining in the night-blasts cold
In the gloom black-purple, in the glint old-gold,
Torchlight crimson on the copper kettle-drums,
Then the tuckets, then the trumpets, then the cannon, and he comes.
Don John laughing in the brave beard curled,
Spurning of his stirrups like the thrones of all the world,
Holding his head up for a flag of all the free.
Love-light of Spain—hurrah!
Death-light of Africa!
Don John of Austria
Is riding to the sea.
Mahound is in his paradise above the evening star,
(Don John of Austria is going to the war.)
He moves a mighty turban on the timeless houri’s knees,
His turban that is woven of the sunset and the seas.
He shakes the peacock gardens as he rises from his ease,
And he strides among the tree-tops and is taller than the trees,
And his voice through all the garden is a thunder sent to bring
Black Azrael and Ariel and Ammon on the wing.
Giants and the Genii,
Multiplex of wing and eye,
Whose strong obedience broke the sky
When Solomon was king.
They rush in red and purple from the red clouds of the morn,
From temples where the yellow gods shut up their eyes in scorn;
They rise in green robes roaring from the green hells of the sea
Where fallen skies and evil hues and eyeless creatures be;
On them the sea-valves cluster and the grey sea-forests curl,
Splashed with a splendid sickness, the sickness of the pearl;
They swell in sapphire smoke out of the blue cracks of the ground,—
They gather and they wonder and give worship to Mahound.
And he saith, “Break up the mountains where the hermit-folk can hide,
And sift the red and silver sands lest bone of saint abide,
And chase the Giaours flying night and day, not giving rest,
For that which was our trouble comes again out of the west.
We have set the seal of Solomon on all things under sun,
Of knowledge and of sorrow and endurance of things done,
But a noise is in the mountains, in the mountains, and I know
The voice that shook our palaces—four hundred years ago:
It is he that saith not ‘Kismet’; it is he that knows not Fate ;
It is Richard, it is Raymond, it is Godfrey in the gate!
It is he whose loss is laughter when he counts the wager worth,
Put down your feet upon him, that our peace be on the earth.”
For he heard drums groaning and he heard guns jar,
(Don John of Austria is going to the war.)
Sudden and still—hurrah!
Bolt from Iberia!
Don John of Austria
Is gone by Alcalar.
St. Michael’s on his mountain in the sea-roads of the north
(Don John of Austria is girt and going forth.)
Where the grey seas glitter and the sharp tides shift
And the sea folk labour and the red sails lift.
He shakes his lance of iron and he claps his wings of stone;
The noise is gone through Normandy; the noise is gone alone;
The North is full of tangled things and texts and aching eyes
And dead is all the innocence of anger and surprise,
And Christian killeth Christian in a narrow dusty room,
And Christian dreadeth Christ that hath a newer face of doom,
And Christian hateth Mary that God kissed in Galilee,
But Don John of Austria is riding to the sea.
Don John calling through the blast and the eclipse
Crying with the trumpet, with the trumpet of his lips,
Trumpet that sayeth ha!
      Domino gloria!
Don John of Austria
Is shouting to the ships.
King Philip’s in his closet with the Fleece about his neck
(Don John of Austria is armed upon the deck.)
The walls are hung with velvet that is black and soft as sin,
And little dwarfs creep out of it and little dwarfs creep in.
He holds a crystal phial that has colours like the moon,
He touches, and it tingles, and he trembles very soon,
And his face is as a fungus of a leprous white and grey
Like plants in the high houses that are shuttered from the day,
And death is in the phial, and the end of noble work,
But Don John of Austria has fired upon the Turk.
Don John’s hunting, and his hounds have bayed—
Booms away past Italy the rumour of his raid
Gun upon gun, ha! ha!
Gun upon gun, hurrah!
Don John of Austria
Has loosed the cannonade.
The Pope was in his chapel before day or battle broke,
(Don John of Austria is hidden in the smoke.)
The hidden room in man’s house where God sits all the year,
The secret window whence the world looks small and very dear.
He sees as in a mirror on the monstrous twilight sea
The crescent of his cruel ships whose name is mystery;
They fling great shadows foe-wards, making Cross and Castle dark,
They veil the plumèd lions on the galleys of St. Mark;
And above the ships are palaces of brown, black-bearded chiefs,
And below the ships are prisons, where with multitudinous griefs,
Christian captives sick and sunless, all a labouring race repines
Like a race in sunken cities, like a nation in the mines.
They are lost like slaves that sweat, and in the skies of morning hung
The stair-ways of the tallest gods when tyranny was young.
They are countless, voiceless, hopeless as those fallen or fleeing on
Before the high Kings’ horses in the granite of Babylon.
And many a one grows witless in his quiet room in hell
Where a yellow face looks inward through the lattice of his cell,
And he finds his God forgotten, and he seeks no more a sign—
(But Don John of Austria has burst the battle-line!)
Don John pounding from the slaughter-painted poop,
Purpling all the ocean like a bloody pirate’s sloop,
Scarlet running over on the silvers and the golds,
Breaking of the hatches up and bursting of the holds,
Thronging of the thousands up that labour under sea
White for bliss and blind for sun and stunned for liberty.
Vivat Hispania!
Domino Gloria!
Don John of Austria
Has set his people free!
Cervantes on his galley sets the sword back in the sheath
(Don John of Austria rides homeward with a wreath.)
And he sees across a weary land a straggling road in Spain,
Up which a lean and foolish knight forever rides in vain,
And he smiles, but not as Sultans smile, and settles back the blade….
(But Don John of Austria rides home from the Crusade.)

(G. K. Chesterton)

**** Dieser Gefangene ist übrigens – neben Gonzalico – so ziemlich meine Lieblingsfigur in diesem Buch: Er hat eine authentische Persönlichkeit; er verhält sich tollkühn, frohgemut, ehrbewusst; er sagt theatralische Sachen wie: „Meine Stahlklinge aus Toledo hat bislang noch jedes maurische Eisen durchschlagen“ (S. 230) oder „Bei den Nägeln des Kreuzes Christi!“ (ebd.). Er ist übrigens verwundet worden, als er seinen Soldaten Deckung geben wollte, und er bringt Hernando sogar dazu, kurz über „Glaubensfragen“ nachzudenken:

„‚Ich werde für Christus sterben [gemeint ist: wenn wir auf der Flucht erwischt werden]‘, flüsterte der Gefangene.

Er hatte diese Worte schon einmal gehört, von Gonzalico. Aus ihnen sprach die gleiche Demut, die gleiche Hingabe. Und was war mit dem Islam? Bedeutete Islam nicht Demut und Hingabe? Und…

‚Aber wir werden nur sterben, wenn Gott es so bestimmt hat. Wir sind freie Menschen, wir können kämpfen‘, unterbrach der Christ Hernandos Gedanken.

Hernando verzog das Gesicht.“ (S. 225)

Das klingt doch vielversprechend!

Die Pfeiler des Glaubens, Teil 1: Von Morisken und Märtyrern

Letztens ist mir bei einem Blick in mein Bücherregal dieser historische Roman hier aufgefallen, den ich vor ein paar Jahren von einer Patentante zu Weihnachten bekommen haben müsste:

20171220_000257[1]

Worum es geht, verrät der Klappentext:

20171220_002643[1]

Pseudohistorisches, schlecht recherchiertes Christenbashing wahrscheinlich, habe ich mir damals gedacht, mich nett bei der Patentante bedankt, und das Buch ungeöffnet ins Regal gestellt. Aber inzwischen habe ich ja einen Blog, und da kann man, wenn ein Buch sich als schlecht herausstellt, andere an seinen genervten Gefühlen teilhaben lassen. Also, frisch ans Werk.

Als ich den Klappentext vor ein paar Tagen wieder gelesen habe, war ich überrascht davon, wie unsympathisch mir der Protagonist in dieser kurzen Beschreibung erscheint; ich hatte nicht mehr in Erinnerung, dass Hernando „sich als Christ ausgibt und für das Domkapitel in Córdoba arbeitet – scheinbar gegen die Muslime“. Wenn du schon einer falschen Religion anhängst, dann steh doch wenigstens dazu, habe ich mir gedacht. Aber ich greife mir vor.

Ildefonso Falcones ist als Schriftsteller kein unbekannter Anfänger; von ihm stammt auch der Bestseller „Die Kathedrale des Meeres“, der im 14. Jahrhundert in Barcelona spielt. Besonders gut geschrieben ist „Die Pfeiler des Glaubens“ trotzdem nicht. Die Perspektive wechselt oft abrupt, an manchen Stellen alle paar Sätze; mal berichtet ein allwissender Erzähler von der politischen Lage, dann blickt man wieder in den Kopf einer Nebenfigur, gleich darauf dann in den des Protagonisten, dann für zwei Sätze in den einer anderen Nebenfigur. Dazu kommen, gleich ab der ersten Seite, Adjektive über Adjektive. Beispiele gefällig?

„Das metallische Echo [der Kirchenglocken] brach sich in den felsigen Schluchten des Südhanges, erfüllte das fruchtbare Tal mit seinen Flüssen Guadelfo, Adra und Andarax, die sich aus den zahllosen Gebirgsbächen der verschneiten Gipfel speisten, und wurde schließlich von den steilen Hängen der Sierra Contraviesa zurückgeworfen.“ (S. 11)

„Vor dem schlichten ockerfarbenen Gotteshaus mit seinem wuchtigen Glockenturm lag ein weitläufiger Vorplatz, von dem aus sich ein Gewirr aus engen Gassen über den Hang ausbreitete.“ (Ebd.)

Der Roman beginnt an einem Sonntagmorgen im Dezember 1568 in diesem spanischen Bergdorf namens Juviles, wo eine Minderheit aus Altchristen mit einer unterdrückten Mehrheit aus Morisken zusammenlebt – Muslimen, die nach der Vertreibung der muslimischen Herrscher aus Spanien 1492 zunächst toleriert, dann allerdings vor die Wahl zwischen Taufe oder Ausweisung gestellt worden waren, und die die Taufe gewählt hatten. Diese Familien praktizieren im Geheimen weiterhin den Islam, erscheinen aber pflichtgemäß zur Sonntagsmesse, wo der Pfarrer ihre Anwesenheit kontrolliert und zwei Frauen, die am vergangenen Sonntag unentschuldigt gefehlt haben, Geldstrafen aufbrummt. Schon in diesen ersten Seiten begegnet man auch vor bzw. in der Kirche zwei gedemütigten Büßern, die für das Vergehen der Hexerei bloßgestellt werden; es handelt sich um eine alte Moriskin, die einer Kranken hat helfen wollen, indem sie deren Hemd in angeblich heilkräftigem Wasser gewaschen hat, und den Ehemann der Kranken, der ihr das Hemd gegeben hatte. Reizend. (Aber, nach meinen (geringen) Kenntnissen der spanischen Kirchenzucht in der frühen Neuzeit, auch nicht ganz unplausibel.*) Erstaunlicherweise scheint die Messe dann übrigens auf Spanisch, nicht auf Latein, gehalten zu werden – es wird erwähnt, dass viele Morisken nicht gut Spanisch sprechen, aber gelernt haben, die Gebete in der Kirche mitzusprechen -, obwohl auch ausdrücklich gesagt wird, dass der Priester bei der Wandlung „mit dem Rücken zur Gemeinde“ steht. Na ja, Flüchtigkeitsfehler können passieren.

In Juviles lebt auch der 14-jährige Hernando, der unter den Morisken eine Art Außenseiterrolle einnimmt, da, wie der Klappentext oben verrät, seine Mutter Aischa von einem christlichen Priester in ihrem Heimatdorf vergewaltigt worden und Hernando dabei herausgekommen ist. Sein Stiefvater Ibraham, der Maultiertreiber ist, und andere Dorfbewohner beschimpfen ihn als „Nazarener“ (S. 18) und „Christenhund“ (ebd.), und als einziger unter den Morisken hat er nur einen christlichen Namen und keinen im Geheimen gebrauchten muslimischen. Auch der christliche Sakristan und der Pfarrer bemühen sich übrigens besonders um Hernando – „so als wollten sie den Bastard des Priesters vor Mohammeds Anhängern retten“ (S. 20). (Ähnliche Formulierungen kommen immer wieder heraus, wenn Falcones dramatisch werden will.)

Hamid, ein alter islamischer Gelehrter, der einst zu einer edlen Familie in Granada gehört hat, jetzt aber in Armut in Juviles lebt, hat Hernando jedoch ebenfalls gern und lehrt ihm seinerseits die heiligen Texte des Islam. Als Hernando wieder einmal bei Hamid zu Besuch ist, kommt ein Besucher vorbei, der Hamid in Aufstandspläne der Morisken einweiht, und bald geht der Aufstand los, auch in Juviles. Die Altchristen dort werden in der Kirche zusammengetrieben, und Hernando, der gerade dem Sakristan geholfen hat, die Christmette vorzubereiten**, mit ihnen; aber als Hamid sich für ihn einsetzt und Hernando das islamische Glaubensbekenntnis ablegt, wird er freigelassen. Von da an beteiligt er sich ebenfalls am Aufstand, da Ibrahim ihn als Maultiertreiber braucht, um Beute zu transportieren, die gegen Waffen getauscht werden soll. Während er sich in der Kirche von Juviles selbst noch nicht ganz sicher gewesen ist, was er eigentlich ist, Christ oder Muslim, entscheidet er sich nun offensichtlich zur Loyalität gegenüber dem Islam. Auch die Sympathie des Autors scheint eher auf dieser Seite zu liegen; vielleicht einfach deshalb, weil die katholische Kirche als die Seite des Bösen von Anfang an feststeht und die Gegenseite daher zwangsläufig zumindest ein bisschen besser sein muss, oder auch deshalb, weil sich die Morisken nach der erfolgreich abgeschlossenen Reconquista in der Rolle der Unterdrückten wiederfinden, und man für die Unterdrückten immer Sympathie hat. (Und überhaupt, auch die Zeit der islamischen Herrschaft war doch so eine tolle, tolerante, kultivierte Zeit für Spanien! Ähm, ja, sicher.)

Bei der Schilderung des Aufstands verzichtet Falcones jedenfalls auf Schwarz-Weiß-Malerei; die Morisken werden durchaus auch als fanatisch und brutal gezeigt, wenn sie etwa christliche Gefangene traktieren, verstümmeln, mit Drohungen zu bekehren versuchen, oder schließlich töten. Es kommen gute Christen und schlechte Christen, gute Muslime und schlechte Muslime vor. In Bezug auf die historische Genauigkeit oder die historisch richtige Darstellung der religiösen Atmosphäre gibt es an dieser Stelle wenig zu bemängeln; alle kämpfen für ihren Glauben, weil es der ihre ist und sie ihn für wahr halten, verabscheuen den der Gegenseite als Gotteslästerung, und wollen sich für vergangenes Unrecht rächen. Aber jetzt kommen wir auch zu einem Thema, das mich an diesem Buch ziemlich nervt: Hernandos Sicht auf Wahrhaftigkeit und Märtyrertum.

An einer Stelle soll Hernando einen in einem anderen Dorf gefangenen christlichen Jungen namens Gonzalico dazu bringen, zum Islam überzutreten. Und ja, in der folgenden Szene, in der Falcones übrigens wieder mal die Zeitform nicht einhalten kann, soll Hernando offenbar mitfühlend und human herüberkommen, nicht wie der ölige Agent in einem Thriller, der den Helden geschickt von seiner Mission abzubringen versucht***:

„‚Eure Könige haben uns gezwungen, unseren Glauben aufzugeben‘, hatte Hernando dem Jungen in der Nacht erklärt. ‚Und das haben wir gemacht. Sie haben uns getauft.‘ Gonzalico sah ihn mit seinen großen graubraunen Augen an. ‚Und da wir jetzt herrschen werden…‘

‚Aber ihr werdet niemals im Himmel herrschen‘, unterbrach ihn Gonzalico.

‚Und selbst wenn es so wäre‘, hatte er ihm geantwortet, ohne weiter auf die dahinterstehende Frage einzugehen, ‚was hindert dich daran, hier auf Erden deinen Glauben aufzugeben?‘

Der Junge fuhr erschrocken zusammen.

‚Ich soll Jesus leugnen?‘, fragte er mit kaum vernehmbarer Stimme.

Wie dumm waren diese Christen denn eigentlich? Also erzählte Hernando ihm von dem Fatwa, das der Mufti von Oran bei der Zwangsbekehrung der spanischen Muslime ausgesprochen hatte. ‚Wenn man euch zwingt, Wein zu trinken, so trinkt ihn, allerdings nicht mit der Absicht, ihn zu genießen‘, zitierte er. ‚Und wenn sie euch den Verzehr von Schweinefleisch auferlegen, dann esst es, auch wenn ihr es in euren Herzen verabscheut und so an seinem Verbot festhaltet.‘ Er versuchte den Jungen zu überzeugen. ‚Gonzalico, das bedeutet, wenn du dazu gezwungen wirst, gibst du in Wirklichkeit deinen Glauben nicht auf. Du bleibst dann deinem Gott immer noch treu.‘

‚Du bist also ein Ketzer‘, stellte Gonzalico fest.

Hernando seufzte tief und sah zur Alten [einem Maultier] hinüber, die immer in seiner Nähe war.

‚Sie werden dich umbringen‘, sagte er nach einer Pause.

‚Ich werde für Christus sterben‘, antwortete der Junge mit einer Ergriffenheit, die weder das Dunkel noch die schützenden Decken verbergen konnten.“ (S. 57f.)

(Wieso auch? Seit wann verbirgt Dunkelheit Geräusche?)

Gonzalico stirbt (zusammen mit vielen anderen Gefangenen) tatsächlich für Christus; am nächsten Morgen wird ihm die Kehle durchgeschnitten, und dann wird noch sein Herz herausgerissen und seiner Schwester Isabel vor die Füße geworfen. (Die weiblichen Gefangenen werden nicht getötet, wohl, um später verkauft werden zu können.) Hernando ist entsetzt von all der Grausamkeit, während um ihn herum gefeiert wird; es wird klar, dass er, als die Identifikationsfigur, Grausamkeit auf allen Seiten nicht mag, obwohl er sich für die Seite des Islam entschieden hat. Am Ende des Kapitels gibt er sich den islamischen Namen Hamid ibn Hamid, und der Erzähler berichtet von der Ausrufung des 22-jährigen Don Fernando de Valor / Muhammad ibn Umayya, von den Christen Aben Humeya genannt, zum König von Granada und Córdoba. Hernando kehrt mit den anderen Männern schließlich nach Juviles zurück, wo in der Burg ein Quartier eingerichtet wird, und auch in diesem Dorf werden die örtlichen Christen getötet, da sie noch immer die Bekehrung verweigern.

Zurück zu Gonzalicos und Hernandos Gespräch. Der Islam kennt kein Märtyrertum; ja, ich weiß, er kennt etwas, das er mit demselben Wort bezeichnet, aber er kennt die Sache an sich nicht, die bedeutet, sich lieber töten zu lassen, als Gott zu verleugnen. Ja, es ist für Christen moralisch erlaubt, ihren Glauben vor Verfolgern zu verstecken; aber ihn zu verleugnen oder bei einer falschen Religion mitzumachen, das kann nie erlaubt sein. Das Prinzip der Taqiyya dagegen lautet: Wenn es sein muss, um dich vor Verfolgung zu bewahren, musst du die Gebote nicht unbedingt halten. Was du nach außen hin tust, ist nicht so wichtig; dein Glaube muss sich nicht in deinem Leben zeigen. Practice what you preach? Wozu? Du musst dich nicht unbedingt zur Wahrheit bekennen, du darfst auch einem falschen Gott Ehre erweisen, wenn nötig.**** Dass Falcones – der meines Wissens nach kein Muslim ist – diesem Prinzip offensichtlich größere Sympathie entgegenbringt als der christlichen Sturheit, die einen zum Märtyrer werden lässt (und ja, das zeigt sich auch noch an späteren Stellen im Buch deutlicher), ist eigentlich gar nicht mal so überraschend. Die Taqiyya passt ganz gut zu einer prägenden Ansicht des Säkularisten: Es gibt keine absolute Moral. Alles ist situationsabhängig. So etwas wie in sich schlechte Handlungen, die man nie begehen darf, gibt es nicht. Manchmal muss man einfach klug sein und für sein Überleben sorgen. Der Islam ist nicht immer so radikal, wie man meint; er ist manchmal eher eine pragmatische Religion der moralischen Kompromisse, so etwa auch bei den Themen Scheidung, Polygamie oder – bei den Schiiten – Genussehe; das ist eben sein Problem. „Du bist also ein Ketzer. Ich werde für Christus sterben“ ist genau die richtige Antwort auf eine solche Einstellung. Der eigentliche Held dieses Buches ist Gonzalico.

Falcones‘ Überzeugung, dass die Wahrheit nur von untergeordnetem Wert ist, wird nicht lange nach Gonzalicos Martyrium auch noch an einem anderen Beispiel gezeigt. Ein anderer, schon früher krimineller, aber von den christlichen Autoritäten nie verurteilter Maultiertreiber namens Ubaid bedroht Hernando und versucht an einer Stelle sogar, ihn zu töten (komplizierte Geschichte). Hernando versteckt daraufhin ein wertvolles Beutestück in Ubaids Sachen und sorgt dafür, dass es von Ibrahim entdeckt wird. Hamid, den die Morisken zum Richter ernennen, lässt Ubaid nach einem Prozess wegen Diebstahls die rechte Hand abschlagen, und am Tag darauf erfährt Hernando, dass Hamid schon ahnte, was in Wahrheit geschehen war, und berichtet dem Gelehrten noch die Einzelheiten. („‚Er wollte mich dazu bringen, den Schatz zu stehlen. Dann hat er sogar versucht, mich umzubringen, und er hat mir damit gedroht, es wieder zu versuchen.'“, S. 78) Hamid meint daraufhin, Hernando solle seinen Verstand benutzen, um auch in Zukunft vor Ubaid sicher zu sein, und fährt fort: „‚Unsere Sitte verlangt, dass ein Richter niemals Unrecht walten lässt‘, sagte der Gelehrte schließlich. ‚Wenn er die Wahrheit unterdrückt, dann nur, um nützlich zu sein. Und ich bin davon überzeugt, dass ich meinem Volk nützlich gewesen bin.'“ (S. 78) Man hätte Ubaid also nicht wegen seiner wirklichen Verbrechen verurteilen können, schon klar. Auf die Wahrheit kommt es ja nicht an.

Dass Lügen, die nützlich sind, etwas Positives seien, wird vor allem auch am Ende des Buches noch einmal sehr deutlich gemacht; da kommen dann nämlich die Bleibücher vom Sacromonte vor. Aber ich will mir hier nicht vorgreifen; bis dahin sind es noch ein paar Jahrzehnte, und jetzt geht es erst einmal damit weiter, dass die Kämpfer aus Juviles weiterziehen, um sich unter Aben Humeyas Kommando einem christlichen Marquis entgegenzustellen, und bald darauf beginnt sich auch schon ihre Niederlage abzuzeichnen…

Weiter geht’s nach den Feiertagen. [Update: Und zwar hier.]

* Wobei es in Spanien bekanntlich keinen Hexenwahn wie im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gab; aber offenbar fanden im 16. Jahrhundert noch ein paar Hexenprozesse statt, und eine solche Bußstrafe im Jahr 1568 klingt daher durchaus möglich. Öffentliche Kirchenbuße und Geldstrafen wurden von Kirchengerichten ja häufiger verhängt, etwa auch für Gotteslästerung.

** Schon zwei Anspielungen auf Weihnachten in diesem Artikel. Niemand kann sagen, ich bringe keine passenden Beiträge zum anstehenden Fest.

*** Oder wie Lord Voldemort: „Die Schlacht ist gewonnen. Ihr habt die Hälfte eurer Kämpfer verloren. Meine Todesser sind in der Überzahl gegen euch, und der Junge, der überlebt hat, ist erledigt. Der Krieg darf nicht länger währen. […] Kommt aus dem Schloss, unverzüglich, und kniet vor mir nieder, und ihr werdet verschont werden. Eure Eltern und Kinder, eure Brüder und Schwestern werden leben, und es wird ihnen verziehen, und ihr werdet euch mir anschließen in der neuen Welt, die wir gemeinsam errichten werden.“ (J. K. Rowling, Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, S. 736f.)

**** Ich will hier übrigens nicht leugnen, dass man sich bei einer Verfolgung seiner Religion in einer sehr schlimmen Situation wiederfinden kann, in der es nicht immer leicht ist, das Richtige zu tun. Aber das sind einfach „mildernde Umstände“, die das Verleugnen der Wahrheit an sich nicht richtiger machen.

Wie man das Gehirn überlistet: Nur ein paar unsortierte Gedanken zu Psychopharmaka und Verhaltenstherapie

Ich habe ja hier schon ein paar Mal erwähnt, dass ich mit verschiedenen Ängsten und Zwängen kämpfe, deswegen im Sommer ein paar Wochen in einer Psychosomatischen Klinik war, und jetzt noch in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung bin. Was mich in den letzten Wochen überrascht hat, ist, wie gut die Therapie mittlerweile vorangeht; das heißt, speziell die „Hausaufgaben“, die ich jede Woche bekomme.

Wahrscheinlich würden sie ohne das Medikament, das ich in der Klinik bekommen habe und seitdem jeden Tag einnehme, nicht so gut funktionieren; ich merke, dass es mein Gehirn ruhiger und klarer werden lässt, und das ist wunderbar. Es macht das Durchdenken der Lage und das Reagieren auf sie in Angstsituationen leichter. Es gibt sicher Leute, die mit überdosierten, süchtig machenden, bei ihnen nicht wirkenden oder mit Nebenwirkungen für sie einhergehenden Psychopharmaka Probleme haben, aber ich persönlich bin inzwischen einfach nur noch dankbar für die Existenz dieser Medikamente. Tatsächlich habe ich den Eindruck, dass die Leute heute tendenziell eher zu vorsichtig dabei sind, sie mal auszuprobieren, als dass sie sie sich zu schnell verschreiben lassen. Hat vielleicht mit dieser gewissen modischen Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun, die Leute auch homöopathische Medikamente kaufen und Impfungen ablehnen lässt. Schließlich kann die Schulmedizin ja nicht alles wissen, oder?! Oh, sie weiß immerhin einiges, habe ich gemerkt, und sie auch nicht automatisch gefährlich, weil das ja irgendwas mit „Chemie“ zu tun haben wird. (Wenn ein Spiegelei gebraten wird, hat das übrigens auch was mit Chemie zu tun. Und wenn ein homöopathisches Medikament hergestellt wird, sind da auch chemische Stoffe beteiligt, bei Arnica-Kügelchen etwa Saccharose, auch Haushaltszucker genannt (und sonst nichts). (Aber die Unsinnigkeit der Homöopathie ist ein Thema für ein anderes Mal…)) Also, alles in allem: Klare Empfehlung für Psychopharmaka, wenn man sie braucht! Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie – bitte wirklich – Ihren Arzt oder Apotheker.

Jetzt zur Therapie. Ich tue mir mittlerweile leichter dabei, nicht mehr (so oft) wütend auf mich zu werden, weil ich einfach nur blöd bin und mich bescheuert verhalte und nichts hinkriege, was normale Leute hinkriegen. Vielleicht ist es auch hier einfach das Medikament, das mich ein bisschen ruhiger, müder und gleichgültiger macht, vielleicht ist mein Unterbewusstsein aber auch tatsächlich dabei, was zu kapieren. Jedenfalls funktioniert die Verhaltenstherapie vor allem mit Geduld, und da muss ich eben akzeptieren, dass ich Geduld haben muss. Kleine Schritte. Eine naheliegende, erträgliche Angstsituation angehen, und das jeden oder fast jeden Tag. Nach einer Woche eine kleine Steigerung. Weiter jeden Tag üben. Nach einer Woche die nächste kleine Steigerung. Und ja, ich rede hier von kleinen Sachen, die normale Leute wirklich selbstverständlich jeden Tag hinkriegen. Aber hey – ich darf trotzdem zufrieden sein, wenn ich’s schaffe, wo ich’s vorher nicht geschafft hätte. Wenn man sich dann sagt „Das war ja gar nichts, jetzt schau mal, dass es ordentliche weitere Fortschritte gibt, dann darfst du dir vielleicht irgendwann selber ein ‚Ausreichend‘ geben“, hilft das auch nichts dabei, weiter Fortschritte zu machen. Wenn man die Übungen in kleinen Schritten angeht, tritt jedenfalls irgendwann ein ganz wunderbarer Gewöhnungseffekt ein, den ich zurzeit gerade an mir merke. Wir wissen ja, der Mensch gewöhnt an sich an alles. Was man die letzten sechs Tage lang gemacht hat, verliert schließlich seinen Schrecken.

Wobei das hier auch wieder nicht ganz so einfach ist: Man sollte sich vor der Übung auch selber klarmachen, dass xyz vernünftig betrachtet eigentlich völlig ungefährlich ist, man sich also ruhig dafür entscheiden kann, es zu machen; wenn man sich vorher in Panik hineinsteigert, sich dann doch – eigentlich gegen seinen Willen – von anderen dazu überreden lässt, es zu probieren, und hinterher dann höchstens das Gefühl hat, dass man vielleicht diesmal zufällig gerade noch der Gefahr entronnen ist, wird der Gewöhnungseffekt doch erheblich behindert. Vielleicht kann man hier den Begriff „Autosuggestion“ verwenden, auch wenn ich nicht weiß, ob die Psychologen den dafür hernehmen. Um solche Autosuggestion hinzukriegen, ist es natürlich sinnvoll, sich über die reale Gefährlichkeit der gefürchteten Dinge vorher genau zu informieren. Dann kann man sich nämlich praktisch mit Gewissheit selber einreden, nein, keine Angst, die Wahrscheinlichkeit ist 99,996%, dass nichts passieren wird. Und ja, die 0,004% Restwahrscheinlichkeit muss man einfach aushalten lernen. Absolute Sicherheit wird es nicht geben, da hilft nichts. (Das ist auch eine Wahrheit, die mir die katholische Theologie schon seit Jahren einzuhämmern scheint. Absolute Sicherheit – vor Leid, vor Enttäuschungen durch andere, etc. – kann man sich als Mensch in dieser Welt durch alle Vorsichtsmaßnahmen nicht selbst erarbeiten. Aber Sicherheit ist auch nicht das höchste Gut in dieser Welt oder das Ziel des menschlichen Lebens. (Mann, wie einen die Wahrheit in gewissen Augenblicken ankotzen kann.))

Geduld, kleine Schritte, die man wirklich hinkriegen kann. Regelmäßigkeit, Planung. Autosuggestion, eine eigene Entscheidung treffen, sich der anerkanntermaßen unvernünftigen Angst zu stellen. Restwahrscheinlichkeit aushalten. Alles eigentlich im Prinzip recht simpel. (In der Theorie.)

Ich glaube, ich habe inzwischen auch mehr oder weniger akzeptiert, dass die Ängste auch durch diese Therapie nicht einfach verschwinden werden, sondern dass ich eher Mechanismen lerne, mit ihnen umzugehen, wie die Therapeutin mir klar gemacht hat, und dass manche Dinge immer anstrengend sein werden. Ich erwarte eigentlich auch nicht mehr, irgendwann „ganz normal“, ganz gesund, zu sein, aber ich will das Zeug zumindest einigermaßen unter Kontrolle haben. Und da bin ich mittlerweile optimistischer als etwa noch im Sommer, dass das funktionieren kann. Ich bin jetzt sicher noch nicht so weit, dass ich zufrieden mit dem Ergebnis wäre, aber ich habe gemerkt, dass ich anscheinend tatsächliche, anhaltende Fortschritte machen kann, und nicht immer wieder zurückfalle, wie ich vorher oft das Gefühl hatte. Das ist doch schon mal etwas. Ich hoffe nur, dass es so bleibt. Sicherheit gibt es nicht…

Nichts Neues von Margot

Beim evangelischen Nachrichtenportal idea erfährt man, passend zur Saison, welche Gedanken Margot Käßmann sich gerade so über die Weihnachtsgeschichte macht: „Käßmann äußerte sich in der ‚Bild am Sonntag‘ auf die Frage, ob man seiner Tochter erzählen solle, dass Maria eine Jungfrau war. Wie sie schreibt, will der Evangelist Matthäus deutlich machen, dass schon die Propheten auf Jesus hingewiesen haben. Deshalb zitiere er Jesaja, der weissagte, eine junge Frau würde schwanger werden und den Retter Israels zur Welt bringen. Käßmann: ‚Das hebräische Wort dafür lautet ‚almah‘, junge Frau. Im Griechischen wird sie zu ‚parthenos‘, ein Wort, bei dem sexuelle Jungfräulichkeit mitschwingt.‘ Matthäus erzähle ‚deshalb‘, Maria sei schwanger geworden vom Heiligen Geist: ‚So wollte er zeigen, dass Jesus eben ganz besonders war.'“ Frau Käßmanns Sorge gilt der möglichen Bewertung der Sexualität als etwas, das „etwas mit Unreinheit zu tun“ hätte, die durch die Geschichte von der Jungfrauengeburt rüberkommen könnte. Klar, ich meine, seitdem Jesus die Brote auf wundersame Weise vermehrt hat, haben wir Christen schließlich auch unsere Vorbehalte dagegen, das Brot ganz normal beim Bäcker zu kaufen oder gar selber zu backen. Brot backen, statt es vermehrt zu bekommen, das ist so unrein, die Hände werden so voll Mehl, und die ganze Küche ist auch voll davon, wenn man nicht aufpasst, und wenn man häufig zähe Teigreste aus der Schüssel spült, kann das irgendwann auch noch den Abfluss des Spülbeckens verstopfen… Vor solchen falschen Ideen müssen natürlich vor allem die Töchter geschützt werden. Also, das Brotbacken toll finden müssen sie nicht unbedingt, aber…

Ach, Mensch, Margot. Klar, Matthäus kannte keine Geschichte von Josefs Zweifeln an Marias Treue und seinen anschließenden Offenbarungen im Traum, der Evangelist hat bloß aus einer „schlecht“ übersetzten Prophezeiung in der Septuaginta eine Geschichte spinnen müssen, um zeigen zu können, dass die alttestamentlichen Prophezeiungen auf seinen Messiaskandidaten passten. Also – wieso genau vertrauen wir Matthäus ansonsten noch gleich, laut dem Evangelium nach Margot? (Und Lukas hat natürlich nie geschrieben, also reden wir über den gar nicht erst.)

Und wenn wir schon die Übersetzung der griechischen Septuaginta – die zumindest uns Katholiken auch als Heilige Schrift gilt; mehrere Bücher des (katholischen) AT sind nur in dieser griechischen Version überliefert – verwerfen müssen, dann sollten wir uns das hebräische „almah“ doch zumindest noch mal genauer anschauen. Ja, ich weiß, das hier ist schon oft genug klargestellt worden, aber Käßmanns falsche Behauptung wird ja auch immer wieder wiederholt. Also: „Almah“ bedeutet sowohl „Jungfrau“ als auch „junge Frau“ und zwar – obacht! – weil beides in der Vorstellungswelt der damaligen Menschen zusammenhing. Eine junge, unverheiratete Frau hatte Jungfrau zu sein. Das Gegenteil dazu war die erwachsene, verheiratete Frau, nicht die ältere Jungfrau oder die junge Nicht-mehr-Jungfrau. „Almah“ wurde etwa so verwendet wie das deutsche „Jungfer“ oder das englische „maiden“

Eine als „Jungfer“ betitelte junge Frau musste nicht immer auch im sexuellen Sinn Jungfrau sein, aber es wurde eigentlich schon im Begriff impliziert. Ähnlich bei „almah“. Es hat vorrangig die Bedeutung „junge Frau“, aber eben auch die Nebenbedeutung „Jungfrau“. Daraus folgt zunächst mal, dass man „almah“ an sich mit „Jungfrau“ oder mit „junge Frau“ übersetzen kann, wie’s beliebt, auch an anderen Stellen wird das Wort mit „Jungfrau“ übersetzt; wenn man sich im Zweifelsfall dann allerdings an der Septuaginta orientieren würde, die immerhin auch schon ein gutes Stück vor Christi Geburt (3. Jhd. v. Chr.) datiert, bliebe „Jungfrau“; und wenn man dann noch den Kontext beachten würde, um auf die richtige Weise der Übersetzung zu kommen, könnte man sich fragen, was Jesaja hier eigentlich sagen wollte. Achtung, er macht eine Prophezeiung über den Messias! Große Neuigkeiten! Wir erfahren ein Erkennungsmerkmal des Messias! Der Herr wird ein bedeutsames Zeichen geben! Der Messias wird von – jetzt kommt’s – einer jungen Frau geboren werden! Seine Mutter wird keine Vierzigjährige sein! Äh, ja.

Und noch etwas. Selbst, wenn die Jesaja-Stelle eindeutig „junge Frau“ lauten würde, wie würde Frau Käßmann dann den Gedankenschritt machen zu „Maria war also keine Jungfrau, weil sie eine junge Frau war“? Ja, ich weiß, sie macht ihn, weil sie alle Schilderungen der Evangelisten nur für Erfindungen zum Promoten ihres Messias hält, die anhand diverser prophetischer AT-Stellen zusammengesponnen wurden, und nicht wirklich glaubt, dass Jesus eben tatsächlich „ganz besonders“ war, zumindest nicht „ganz besonders“ im Sinne von „Gottes Sohn“… Na ja. Wir haben ja auch in der katholischen Kirche den ein oder anderen Bischof, den man nicht mögen muss, aber die Lutherischen können einem manchmal schon leid tun.

Na ja. Es ist Advent. In diesem Sinne, freuen wir uns darauf, zu hören: „Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau hat empfangen, sie gebiert einen Sohn und wird ihm den Namen Immanuel geben.“

„Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen“

„Ein kleines Harfenmädchen sang.
Sie sang mit wahrem Gefühle
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr
Gerühret von ihrem Spiele.

Sie sang von Liebe und Liebesgram,
Aufopfrung und Wiederfinden
Dort oben, in jener besseren Welt,
Wo alle Leiden schwinden.

Sie sang vom irdischen Jammertal,
Von Freuden, die bald zerronnen,
Vom jenseits, wo die Seele schwelgt
Verklärt in ew’gen Wonnen.

Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.

Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,
So wollen wir euch besuchen
Dort oben, und wir, wir essen mit euch
Die seligsten Torten und Kuchen.

Ein neues Lied, ein besseres Lied!
Es klingt wie Flöten und Geigen!
Das Miserere ist vorbei,
Die Sterbeglocken schweigen.“

(aus: Heinrich Heine, „Deutschland. Ein Wintermärchen“, Caput I.)

Mit Heinrich Heine verbindet mich ja so eine Art Hassliebe. Seine schriftstellerische Genialität ist offensichtlich, sein Humor ebenso, Balladen wie „Loreley“ oder „Belsazzar“ sind toll; die inhaltliche Seite seiner politischen/weltanschaulichen Gedichte ist wieder was anderes. Wenn er etwa in „Zur Beruhigung“ bedauernd feststellt, dass die Deutschen zu wenig gewalttätig und revoluzzermäßig veranlagt seien, dann macht er das auf sehr (sehr!) witzige Weise, aber die Botschaft… na ja. Man hat manchmal Sympathie für seine Anliegen, aber seine Lösungen kann man nicht immer so ganz annehmen.

Ähnlich hier. Diese Art der Religionskritik, die man bei einem mit Marx befreundeten Dichter wohl erwarten kann, ist einem ja mittlerweile sattsam bekannt: Die Religion vertröstet auf ein besseres Jenseits, stellt die Erde als ein Jammertal dar, das man eben ertragen, nicht verbessern muss, und zementiert damit die Herrschaft der heuchlerischen Kirchenfürsten über das geplagte Volk.

Heine hat keine Ahnung von Bibel und Christentum, das ist das Problem, oder er verdreht einfach die Fakten.

Aquarellkopie des Basler Totentanzes von 1806 (Johann Rudolf Feyerabend) ()

(Aquarellkopie des Basler Totentanzes von 1806 (nach dem Fresko von ca. 1440), Quelle: Wikimedia Commons)

Das Lied von den „Freuden, die bald zerronnen / Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt / Verklärt in ew’gen Wonnen“, kurz, von der Endlichkeit des irdischen Lebens und der eigentlichen Wichtigkeit des ewigen Lebens, ist gerade eine Mahnung an Leute wie jene, die Heine als „die Herren Verfasser“ darstellt. Es enthält nämlich eigentlich nicht nur die Verheißung vom ewigen Lohn, sondern auch die Verheißung der ewigen Strafen, kurz, die Verheißung vom Gericht. Diese Welt hat nicht das letzte Wort; ein höherer Richter wird am Ende die Gerechtigkeit wiederherstellen, die Hochmütigen und Mächtigen und Heuchler vom Thron stürzen und die Niedrigen erhöhen. Das ist die Botschaft des Magnificats, die Botschaft von Jesu Gerichtsreden, die Botschaft des Jakobusbriefs, die Botschaft von Propheten wie Amos, Hosea, Jesaja… Die Bibel wurde eben nicht von den Mächtigen geschrieben. Und speziell das Mittelalter, obwohl auch die Mächtigen in dieser Zeit dann Christen waren, erinnerte übrigens alle weltlichen oder kirchlichen Mächtigen ständig daran: Auch euer Leben wird enden. Seht euch vor, was ihr tut. In sämtlichen Totentanzdarstellungen führt der Tod unterschiedslos auch Päpste, Könige, Kardinäle, Adlige mit sich; der Schriftsteller Dante steckt Päpste in seine Hölle. Ja, ich weiß, Heine konzentriert sich in seiner Kritik auf die Frohbotschaft, nicht auf die Drohbotschaft des Christentums. Vielleicht vernachlässigte der Klerus letztere zu seiner Zeit. Aber natürlich gehören Frohbotschaft und Drohbotschaft zusammen: Wenn ihr euch gut verhaltet (also z. B. eure Macht recht gebraucht), kriegt ihr dafür die ewigen Wonnen, wenn ihr dagegen zu schlecht seid… na ja. (Etwas platt dargestellt.) Heine scheint diese Botschaft komplett verpasst zu haben; diese völlige Unkenntnis des christlichen Gottes kommt etwa auch in „Die schlesischen Weber“ zum Vorschein.

(Fragment eines Totentanzes aus Tallinn, Replik nach dem Lübecker Totentanz, um 1500; Quelle: Wikimedia Commons)

Zu seiner eigentlichen Kritik. Verhindert die Lehre des Christentums Versuche, die Welt zu verbessern? Nö, richtig verstanden tut sie das gerade nicht. Wenn mittelalterliche Mönche gegen Zinswucher wetterten und Adlige dazu bewegten, in ihren Testamenten Spitäler zu stiften, um sich Zeit im Fegefeuer zu ersparen, veränderten sie ja wohl etwas. Und das Christentum ist natürlich dafür, die Welt so weit zu verbessern, wie es möglich ist. Es sieht dafür nicht alle Mittel als zulässig an, und es hält das irdische Wohl nicht für das höchste Ziel, aber ja, selbstverständlich ist es auch für rein materielle Weltverbesserung, und hat in der Hinsicht auch einiges erreicht. Wurden christliche Lehren im Lauf der Geschichte irgendwann mal in falscher Weise dafür gebraucht, Änderungen an ungerechten Systemen zu blockieren? Ja, natürlich. So wie zu allen Zeiten an sich gute Ideen oft dafür verdreht wurden, falsche politische Zustände zu rechtfertigen oder falsche politische Ziele durchzusetzen. Christliche Ideen wurden auch schon (trotz deren genereller Religionsfeindlichkeit) von Sozialisten zitiert. Und was die altbekannte Bibelstelle angeht: „Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalt unter. Denn es gibt keine staatliche Gewalt außer von Gott; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt“ (Römer 13,1): Paulus schrieb sie nicht als einer, der Wasser predigte und Wein trank und im Dienst der Obrigkeit von solchen Lehren profitierte, sondern als Angehöriger einer verfolgten Minderheit, der von der Obrigkeit hingerichtet werden sollte, und er schrieb sie auch nicht, um Ungerechtigkeiten zu rechtfertigen. (Und ja, seine Lehre hat grundsätzlich sehr wohl ihre Berechtigung – die staatliche Gewalt hat ihren Platz in der göttlichen Ordnung, da Anarchie der Gerechtigkeit entgegenstehen würde. Aber genauer dazu vielleicht ein andermal.)

Ach ja, was ist eigentlich mit denjenigen Herren Verfassern (ich nehme mal an, hier ist kollektiv der Klerus gemeint), die nicht heimlich Wein tranken? Heine muss von ihnen gewusst haben, von den Priestern, die während der Französischen Revolution Hinrichtung oder Deportation in die Kolonien auf sich nahmen, anstatt den Verfassungseid zu leisten oder ihr Priesteramt niederzulegen, den für ihre Weigerung, ihr Ordensleben aufzugeben, guillotinierten Nonnen von Compiègne, oder meinetwegen auch von all den Heiligen früherer Zeiten, die Klöster gegründet und Arme versorgt und asketisch gelebt hatten. Zählen die so gar nicht? Vor allem, da das Lied an sich schon gedichtet wurde, als die ursprünglichen Herren Verfasser eben so gar keine weltliche Macht hatten, sondern eher unter weltlicher Verfolgung litten, ganz am Anfang der Christenheit?

Guillaume Repin

(Darstellung des sel. Märtyrers Guillaume Répin (1709-1794) bei der Zelebration einer illegalen Messe im Wald, in einem Kirchenfenster in Saint-Louis-du-Champ-des-Martyrs of Avrillé, Quelle: Wikimedia Commons)

Das Problem hier ist wirklich, dass Heine einige Fakten entweder nicht kennt oder aber bewusst ignoriert. Vor allem folgende:

  • Es gibt Leid, an dem man nichts ändern kann, jedenfalls nicht durch die Umverteilung von Gütern. Etwa Krankheiten, für die noch keine Heilmittel gefunden wurden, oder auch Leid in zwischenmenschlichen Beziehungen, das unter Umständen schlimmer sein kann als materielles Leid (Einsamkeit, Verluste, Enttäuschungen durch andere Menschen, Mobbing…). Und, ich will nicht übermäßig pingelig werden, aber zu manchen Zeiten der Weltgeschichte wären die Leute sogar bei einer vollkommen gerechten Verteilung der Güter auch noch so einigem materiellen Leid ausgesetzt gewesen, zum Beispiel einfach deswegen, weil es nicht genug Güter gab. Vor der Neolithischen Revolution etwa, als die Menschen Jäger und Sammler waren und es noch wenig soziale Ungleichheit gab, gab es sicher mehr Leid durch Hunger, Durst, Kälte, Hitze, Verletzungen, Krankheiten als, sagen wir mal, im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Wenn Heine schreibt „Es wächst hienieden Brot genug / für alle Menschenkinder“ dann hat er zwar sowohl für seine als auch für unsere Zeit wahrscheinlich schon Recht; hier ist tatsächlich bloß ungerechte Verteilung das Problem, wenn Leute hungern. (Und übrigens, entgegen anderslautender Gerücht, nicht Überbevölkerung! Entschuldigung, ich sollte beim Thema bleiben.) Aber wenn er dann auch noch „Schönheit und Lust“ erwähnt – da wird es eben schwieriger. Ich nehme das mal als Chiffre für ein angenehmes, genüssliches Leben. Das wird leider durch Wohlstand nicht garantiert. Eine Depression, ein manipulativer Partner, ein schwer behindertes Kind, oder auch eine persönliche Sinnkrise und Unzufriedenheit können da einen Strich durch die Rechnung machen.
  • Der Versuch, durch eine gewaltsame Revolution eine gerechte Welt zu erschaffen, ist in der Regel nicht erfolgreich oder schafft zumindest erst einmal viel Leid, bevor er irgendwelche Erfolge aufweisen kann. Heine hätte schon wissen können, dass auf die Französische Revolution zuerst Chaos und Gewalt und die „Schreckensherrschaft“, dann eine Militärdiktatur, und dann die Rückkehr des alten Königshauses folgten, auch wenn er die ganzen späteren Revolutionen des 20. Jahrhunderts noch nicht erlebt hatte. Ja, ich weiß, in diesen Versen speziell werden keine Methoden zur Erschaffung der besseren Welt erwähnt, aber anderswo wird deutlich, dass Heine nicht bloß für friedliche Reformen und gewaltlose Proteste war. Und das hat nicht funktioniert, wie wir heute sehr genau wissen. Die grundsätzliche Erwartung, eine völlig leidfreie Welt erschaffen zu können, hat natürlich niemals funktioniert, egal auf welchem Weg, wie schon oben gesagt. „Wir wollen hier auf Erden schon / das Himmelreich errichten.“ Funktioniert nicht. Mehrmals erprobt, funktioniert nicht.
  • ES GIBT DEN TOD. Oh, ja, Heine erwähnt den Tod schon. Ihm ist irgendwo bewusst, dass er existiert. Er meint nur, dass wir ihn zu ignorieren hätten. Aber er schreibt davon, ein Himmelreich zu errichten, und sein Himmelreich würde noch das Leid enthalten, das durch den Verlust eines Kindes, den Verlust der Eltern, den Verlust von Freunden, oder auch einfach durch die Aussicht auf die eigene Endlichkeit entsteht. Ich definiere „Himmelreich“ anders.

Die Existenz des Todes bedeutet noch etwas. Das kann ich wohl am besten mit einer Stelle aus G. K. Chestertons „Ballad of the White Horse“ ausdrücken. Hier gerät König Alfred bei einer Begegnung mit einer armen Frau (die ihn, der in den schweren Zeiten der Wikingerangriffe des 8. Jahrhunderts allein im Wald unterwegs ist, nicht erkennt, und deren Brote er später aus Versehen verbrennen lässt) ins Grübeln. Er denkt sich Folgendes:

„But in this grey morn of man’s life,
Cometh sometime to the mind
A little light that leaps and flies,
Like a star blown on the wind.

„A star of nowhere, a nameless star,
A light that spins and swirls,
And cries that even in hedge and hill,
Even on earth, it may go ill
At last with the evil earls.

„A dancing sparkle, a doubtful star,
On the waste wind whirled and driven;
But it seems to sing of a wilder worth,
A time discrowned of doom and birth,
And the kingdom of the poor on earth
Come, as it is in heaven.

„But even though such days endure,
How shall it profit her?
Who shall go groaning to the grave,
With many a meek and mighty slave,
Field-breaker and fisher on the wave,
And woodman and waggoner.

„Bake ye the big world all again
A cake with kinder leaven;
Yet these are sorry evermore—
Unless there be a little door,
A little door in heaven.“

Selbst wenn der Traum von Gerechtigkeit auf Erden jemals wahr werden sollte, fragt sich König Alfred, was wird es all denen nützen, die gelitten haben und gestorben sind, ohne diese Gerechtigkeit je erlebt zu haben? „Yet these are sorry evermore – / Unless there be a little door, / A little door in heaven.“ Heine scheint seine Botschaft tatsächlich für eine tröstende Botschaft zu halten („Ein neues Lied, ein besseres Lied! Es klingt wie Flöten und Geigen!“); dabei ist sie eher ein verzweifelter Notfallplan. Wenn es niemanden gibt, der am Ende die Gerechtigkeit für alle Menschen wiederherstellen und barmherzig alles zum Guten führen und Leben über diese Welt hinaus bieten wird, dann versuchen wir eben, aus dieser Scheißwelt hier das Beste zu machen und für die Menschen, die jetzt oder in Zukunft noch leben, so viel Glück wie möglich herauszuschlagen. Ich kann da keinen besonderen Anlass zur Freude entdecken.

Ein weiterer Punkt. Ich finde es sehr interessant, Heines Gedicht mit dem zweiten Kapitel aus dem Buch der Weisheit zu vergleichen: „Sie tauschen ihre verkehrten Gedanken aus und sagen: Kurz und traurig ist unser Leben; für das Ende des Menschen gibt es keine Heilung und man kennt keinen, der aus der Unterwelt befreit. Durch Zufall sind wir geworden und danach werden wir sein, als wären wir nie gewesen. Rauch ist der Atem in unserer Nase und das Denken ein Funke beim Schlag unseres Herzens; verlöscht er, dann zerfällt der Leib zu Asche und der Geist verweht wie dünne Luft. Unser Name wird mit der Zeit vergessen, niemand erinnert sich unserer Werke. Unser Leben geht vorüber wie die Spur einer Wolke und löst sich auf wie ein Nebel, der von den Strahlen der Sonne verscheucht und von ihrer Wärme zu Boden gedrückt wird. Unsere Zeit geht vorüber wie ein Schatten, unser Ende wiederholt sich nicht; es ist versiegelt und keiner kommt zurück. Auf, lasst uns die Güter des Lebens genießen und die Schöpfung auskosten, wie es der Jugend zusteht! Erlesener Wein und Salböl sollen uns reichlich fließen, keine Blume des Frühlings darf uns entgehen. Bekränzen wir uns mit Rosen, ehe sie verwelken. Keine Wiese bleibe unberührt von unserem Treiben, überall wollen wir Zeichen der Fröhlichkeit zurücklassen; denn dies ist unser Anteil und dies das Erbe. Lasst uns den Gerechten unterdrücken, der in Armut lebt, die Witwe nicht schonen und das graue Haar des betagten Greises nicht scheuen! Unsere Stärke soll bestimmen, was Gerechtigkeit ist; denn das Schwache erweist sich als unnütz.“ (Weisheit 2,1-11)

Hier wird aus der Grundeinstellung, dass man das jetzige Leben genießen sollte, gerade geschlossen, dass man nicht für eine bessere Welt für andere kämpfen, sondern andere ausnutzen sollte. Schließlich, was hat man am Ende davon, für andere gelitten zu haben oder vielleicht sogar gestorben zu sein? Keinen ewigen Lohn, nada. Auf „das alte Entsagungslied“, das „Auferopferung“ empfiehlt, braucht man also nicht zu hören. So kann Heines Botschaft auch verstanden werden.

Aber jetzt zu meinem eigentlich wichtigsten Kritikpunkt: Heine stellt sich nie die Frage, ob „das Eiapopeia vom Himmel“ eigentlich wahr sein könnte. Was, wenn es so ist? Wenn wir wirklich auf unsere wahre Heimat hoffen können? Es ist ihm gleichgültig. Es mag ja so sein; wenn, dann wäre das ja ganz nett, aber für jetzt braucht es uns nicht kümmern. „Und wachsen uns Flügel nach dem Tod, / So wollen wir euch besuchen / Dort oben, und wir, wir essen mit euch / Die seligsten Torten und Kuchen.“ (Wieso habe ich nur schon wieder den Eindruck, dass die Pfarrer, mit denen er zu tun hatte, die Fire-and-Brimstone-Predigten von den letzten Dingen eindeutig vernachlässigt haben?)

Und Heine verlangt dieselbe Gleichgültigkeit, die er hegt, vom Rest der Menschheit. „Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen.“ Ja, aber wenn jemand das nicht will? Wenn jemand wissen will, ob es den Himmel gibt, ob es Gott gibt; wenn er sich für das Jenseits interessiert, und nicht nur für diese Welt? Dann ist bei Heine kein Platz für ihn. Wenn die Menschen einfach nicht damit zufrieden sind, sich einfach nur eine behagliche diesseitige Existenz einzurichten, sondern beharrlich nach mehr verlangen, dann passen sie nicht ins Bild.

Wir Christen haben uns unsere Überzeugungen vom ewigen Leben ja auch nicht aus den Fingern gesogen, und das ist auch nichts, was es schon immer in allen Religionen gegeben hätte. Die alten Griechen rechneten nur mit dem Hades, und auch die alttestamentlichen Israeliten wussten zunächst nur von einer dunklen Unterwelt, dem Scheol, und erst langsam kam die Hoffnung auf, dass es eine Auferstehung aus dieser Unterwelt geben werde. (Die Idee vom Scheol ist übrigens nicht falsch – wir nennen ihn heute den Limbus Patrum. Er war der „Aufenthaltsort“ der vor dem Kreuzestod Jesu gestorbenen gerechten Seelen, die nicht bestraft wurden, aber auch noch nicht Gott schauen konnten, bis Jesus sie herausführte.) Jesu Auferstehung begründete dann den Glauben der Christen. Er beruht auf einem historischen Faktum, auf Gottes Offenbarung.

Okay. Zusammenfassend möchte ich hauptsächlich sagen: Manchmal ist die Welt einfach ein Jammertal, und dann ist es okay, sie auch so zu bezeichnen. Und es ist okay, auf die bessere Welt, unsere eigentliche Heimat, den Himmel, zu hoffen, weil es ihn gibt. In diesem Sinne:

I’m just a poor, wayfaring stranger,

Travelling through this world below.

There’s no sickness, no toil or danger

In that bright light to which I go.

I’m going there to see my father

And all my loved ones who’ve gone on.

I’m just going over Jordan,

I’m just going over home.

I know dark clouds will gather round me,

I know my way is hard and steep.

But beautious fields arise before me

Where God’s redeemed their vigils keep.

I’m going there to see my mother,

She said she’d meet me when I come.

I’m just going over Jordan,

I’m just going over home.

I’m just a poor wayfaring stranger,

Travelling through this world below.

There’s no sickness, no toil or danger

In that bright light to which I go.

I’m going there to see my father

And all my loved ones who’ve gone on.

I’m just going over Jordan,

I’m just going over home.

Ihr braucht keine Angst vor uns zu haben, wir sind inzwischen aufgeklärt!

Unter säkularen Menschen ist es ja relativ weit verbreitet, Religion – zumindest ein zu großes Maß an Religion – als den Grund für Gewalt, Krieg, Intoleranz und Unterdrückung in der Welt zu sehen. Nun finde ich es ehrlich gesagt komisch, dass sich diese Ansicht noch immer so hartnäckig hält, nachdem wir im 20. Jahrhundert ein so unglaubliches Maß an Gewalt im Namen ausdrücklich nicht-religiöser, sogar ausdrücklich anti-religiöser, Ideologien gesehen haben. Sorry, Leute, die Menschen werden nicht netter, wenn sie weniger religiös werden, das sollte man inzwischen gemerkt haben. Auch die vielen Beiträge der Religion zu Frieden oder Freiheit oder Nächstenliebe werden in dieser Weltsicht natürlich einfach übersehen (die Gottesfriedensbewegung und die Abschaffung der Sklaverei in Europa im Mittelalter, die Abschaffung der Gladiatorenkämpfe oder das Verbot der Kindesaussetzung durch christliche römische Kaiser der Spätantike, der Abolitionismus (die Bewegung gegen die außereuropäische Sklaverei) des 18. und 19. Jahrhunderts, oder auch die Arbeit sämtlicher Orden seit der Zeit, da es Orden gibt, um nur ein paar Beispiele zu erwähnen). „Die“ Religion hat uns halt sowohl Mutter Teresa als auch Osama bin Laden beschert. Genau wie „die“ Politik uns Konrad Adenauer und Hitler gebracht hat.

Okay, aber mir geht es heute eigentlich nicht um dieses grundsätzliche Vorurteil gegen „die“ Religion, sondern um eine bestimmte Verteidigung, die Sympathisanten oder Anhänger des Christentums manchmal vorbringen, nämlich dann, wenn es um die Gefährlichkeit einer anderen Religion, des Islam, geht. Ja, heißt es dann, Religion kann schon fundamentalistisch und fanatisch und gefährlich werden, deshalb muss sie durch einen Prozess der Aufklärung gehen. Das Christentum hat diesen Prozess aber schon durchgemacht. Klar war es im Mittelalter ganz furchtbar schlimm; aber inzwischen ist es aufgeklärt und damit ungefährlich. Der Islam dagegen hat diesen Prozess noch vor sich und ist nach wie vor fundamentalistisch und damit bedrohlich.

Mich als Katholikin stört diese Ansicht aus mehreren Gründen. Vor allem: Hier stecken viele implizite Verleumdungen gegenüber unseren Brüdern und Schwestern in Christo aus früheren Jahrhunderten drin. Die Leute, die zum Beispiel das Mittelalter für eine finstere Zeit des Fanatismus, der Unwissenheit und der Unterdrückung halten, haben meistens keine Ahnung vom realen Mittelalter.

Und was soll überhaupt „aufgeklärt“ heißen?

Mit diesem Wort könnte gemeint sein: „Diese Religion akzeptiert die Vernunft als Maßstab.“ Okay, also, das tun wir Katholiken seit zweitausend Jahren.

„Fünftens: Ich halte ganz sicher fest und bekenne aufrichtig, daß der Glaube kein blindes Gefühl der Religion ist, das unter dem Drang des Herzens und der Neigung eines sittlich geformten Willens aus den Winkeln des Unterbewußtseins hervorbricht, sondern die wahre Zustimmung des Verstandes zu der von außen aufgrund des Hörens empfangenen Wahrheit, durch die wir nämlich wegen der Autorität des höchst wahrhaftigen Gottes glauben, daß wahr ist, was vom persönlichen Gott, unserem Schöpfer und Herrn, gesagt, bezeugt und geoffenbart wurde.“ Das stammt aus dem Anti-Modernisten-Eid von 1910, der jahrzehntelang angehenden Priestern und Theologiedozenten vorgeschrieben war. „4. Man hat nicht das Recht, von einem Ungläubigen zu erwarten, daß er die Auferstehung unseres göttlichen Erlösers anerkennt, bevor man ihm sichere Beweise dafür geliefert hat, und diese Beweise sind durch schlußfolgerndes Denken abgeleitet. 5. In diesen verschiedenen Fragen geht die Vernunft dem Glauben voraus und muß uns zu ihm führen. 6. So schwach und dunkel auch die Vernunft durch die Ursünde geworden ist, [so] bleibt ihr trotzdem genügend Klarheit und Kraft, um uns mit Gewißheit zur Existenz Gottes, zur Offenbarung zu führen, die an die Juden durch Mose, an die Christen durch unseren anbetungswürdigen Gottmenschen ergangen ist.“ Aus den Straßburger Thesen von 1840, die der fideistische, der Vernunft kritisch gegenüberstehende Theologe Louis-Eugène Bautain auf Geheiß seines Bischofs unterschreiben musste. (Es ist so erfrischend, im „Denzinger“ zu stöbern. Wenn man sich mal nicht so fühlt, muss man nur das Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hrsg. v. Heinrich Denzinger, aufschlagen und schon wird es besser.)

Im Prolog des Johannesevangeliums heißt es: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist.“ (Johannes 1,1-3) Das altgriechische Wort für „Wort“ ist hier „logos“, was auch „Vernunft“ oder „Sinn“ bedeutet. Gott selbst wird in der Heiligen Schrift mit der Vernunft identifiziert. Wir glauben an einen Gott, der selbst vernünftig ist, und der uns unsere Vernunft geschenkt hat, damit wir an Seinem Wesen teilhaben können. Wir dürfen und sollen diese Vernunft gebrauchen, um Gott und die von Ihm geschaffene Welt zu verstehen. (Deshalb haben wir übrigens auch kein Problem mit der Anwendung der Vernunft in den empirischen Wissenschaften.)

Und die Vernunft wurde gerade im finsteren katholischen Mittelalter sehr hoch geschätzt. Man sehe sich allein die Universitäten an: Eine sehr häufige Lehrform dort war nicht die Vorlesung, sondern die Disputation. Eine philosophische oder theologische These wurde aufgestellt, Einwände dagegen wurden vorgebracht, dann ging es an Pro-Argumente und Widerlegungen der Einwände. Am Ende sollte ein für alle einsichtiges, klares, durch die Vernunft erzieltes Ergebnis stehen. Dagegen haben wir heute oft nicht mal mehr die Erwartung, dass Debatten zu für alle Teilnehmer nachvollziehbaren Ergebnissen führen. In Thomas von Aquins Summa Theologiae hat sich diese Lehrpraxis auch niedergeschlagen. Er beginnt mit den Einwänden der gegnerischen Position, und hat dabei den Anspruch, diese besser darzustellen, als der Gegner es selbst tut. „Es scheint, dass es keinen Gott gebe, weil…“ steht ziemlich am Anfang dieses mittelalterlichen theologischen Grundsatzwerks. Ja, mit der Reformation kam dann ein gewisser anti-intellektueller Impuls im Christentum zum Tragen, aber soweit ich weiß lehnt selbst der Protestantismus an sich die Vernunft nicht ab. In der Moderne bezweifeln dagegen viele, ob man sich auf die Vernunft überhaupt verlassen kann oder ob sie nicht doch nur eine Vorspiegelung des Gehirns ist. (Wenn das allerdings so wäre, könnte man nicht durch den Gebrauch der Vernunft zu der Überzeugung kommen, dass die Vernunft nur eine Vorspiegelung des Gehirns ist. Mit anderen Worten: Vielleicht ist ja alles Denken sinnlos und führt zu nichts, aber dann auch das Denken über die Sinnlosigkeit des Denkens.)

Mit diesem Wort könnte auch gemeint sein: „Diese Religion liest ihre heiligen Texte nicht wortwörtlich.“

Da haben wir allerdings wieder eine unsinnige Verallgemeinerung. Die unterschiedlichen Religionen haben sehr unterschiedliche religiöse Texte, die von ihrem Ursprung her nicht alle wörtlich, aber auch nicht alle nicht-wörtlich gemeint sind. Das Christentum hat außerdem nicht nur einen zentralen religiösen Text – wie der Islam –, sondern viele; die Bibel ist eine Sammlung aus Büchern, kein Buch. Einige davon sind historisch-wörtliche Berichte, andere nicht. Der Schöpfungsbericht der Genesis beispielsweise wurde übrigens auch schon von Augustinus nicht einfach wörtlich genommen (siehe auch hier).

Zudem sind auch Christen, die nach diesem Verständnis gar nicht „aufgeklärt“ sind – wie zum Beispiel eine sehr große Anzahl an amerikanischen Evangelikalen –, nicht so besonders bedrohlich. Sie versuchen vielleicht, Leute im Bus darauf anzusprechen, ob sie Jesus kennen, oder bauen eine lebensgroße Arche Noah in Kentucky nach, aber sie zünden im Normalfall keine Bomben. Was ist also die Bedrohung an solcher Unaufgeklärtheit?

Wenn natürlich mit „Eine aufgeklärte Religion nimmt ihre heiligen Texte nicht wortwörtlich“ gemeint sein sollte „Eine aufgeklärte Religion nimmt ihre heiligen Texte nicht ernst“ – hey, dann zur Hölle mit der Aufklärung! Wir nehmen die Bibel da wörtlich, wo sie wörtlich gemeint ist, und da nicht wörtlich, wo sie nicht wörtlich gemeint ist, und wir nehmen sowohl ihre wörtlichen als auch ihre symbolischen Aussagen ernst.

Mit diesem Wort könnte auch gemeint sein: „Diese Religion akzeptiert die Demokratie.“ Okay, tun wir. Die Demokratie ist eine unter mehreren legitimen Staatsformen. (Die einzigen Staatsformen, die wir grundsätzlich ablehnen, sind Tyrannei, Totalitarismus (jeder Totalitarismus ist eine Tyrannei, aber nicht jede Tyrannei ist totalitaristisch – man denke an die klassische Militärdiktatur, die sich nicht um Ideologie kümmert) und Anarchie.)

Mit diesem Wort könnte auch gemeint sein: „Diese Religion will sich nicht gewaltsam ausbreiten und akzeptiert die Religionsfreiheit und die Trennung von Kirche und Staat.“

Na ja, das Christentum breitet sich grundsätzlich nicht gewaltsam aus. In den ersten drei Jahrhunderten des Christentums wurden die Christen sehr häufig für ihren Glauben getötet, sie töteten jedoch nicht für ihn. Das Prinzip, dass die Leute nur freiwillig zum Glauben kommen können und dass daher etwa Zwangstaufen ungültig sind, wurde von der Kirche auch  immer hochgehalten. Noch einmal einige Stellen aus dem Denzinger:

  • Wer in aufrichtiger Absicht Außenstehende zur christlichen Religion, zum rechten Glauben führen möchte, muß sich mit einnehmenden, nicht mit harten Worten darum bemühen, daß nicht die, deren Geist die Angabe einer klaren Begründung hätte herbeirufen können, Feindseligkeit weit fort treibt. Denn alle, die anders handeln und sie unter diesem Deckmantel von der gewohnten Pflege ihres Ritus abbringen wollen, von denen wird deutlich, dass sie mehr ihre eigenen Sachen als die Gottes betreiben. Es haben sich nämlich Juden, die in Neapel wohnen, bei Uns beklagt und behauptet, daß einige sich unvernünftigerweise darum bemühten, sie an bestimmten Feiern ihrer Feste zu hindern und es ihnen ja nicht zu erlauben, die Feiern ihrer Festlichkeiten so zu begehen, wie es ihnen bis jetzt und ihren Vorfahren vor langen Zeiten erlaubt war, sie zu beachten oder zu begehen. Wenn es sich aber in Wahrheit so verhält, so scheinen sie ihre Mühe auf etwas Überflüssiges zu verwenden. Denn was bringt es für einen Nutzen, wenn es, auch wenn man es ihnen entgegen langdauernder Gewohnheit verbietet, ihnen für den Glauben und die Bekehrung nichts nützt? Oder warum setzen wir für die Juden Regeln fest, wie sie ihre Feierlichkeiten begehen sollen, wenn wir sie dadurch nicht gewinnen können? Man muß also bewirken, daß sie vielmehr, durch Milde und Vernunft herbeigerufen, uns folgen, nicht fliehen wollen, damit wir sie, indem wir ihnen aus ihren Schriften beweisen, was wir sagen, mit Gottes Hilfe zum Schoß der Mutter Kirche bekehren können. Deshalb soll Deine Brüderlichkeit sie mit Ermahnungen, soweit sie es mit Gottes Hilfe vermag, zur Bekehrung anfeuern und nicht noch einmal zulassen, daß sie wegen ihrer Feierlichkeiten beunruhigt werden; vielmehr sollen sie die uneingeschränkte Erlaubnis haben, alle ihre Feierlichkeiten und Feste so zu beachten und zu feiern, wie sie es bisher … hielten.“ (Hl. Papst Gregor der Große, Brief „Qui sincera“ an Bischof Paschasius von Neapel, Nov. 602)
  • In bezug auf diejenigen aber, die sich weigern, das Gut des Christentums anzunehmen, … können Wir Euch nichts anderes schreiben, als daß Ihr sie zum rechten Glauben mehr durch Ermahnungen, Ermunterungen und Belehrung als durch Gewalt überzeugen sollt, daß sie eitel denken. … Ferner darf ihnen, damit sie glauben, keinesfalls Gewalt angetan werden. Denn alles, was nicht aus eigener Absicht kommt, kann nicht gut sein [angeführt wird Ps 54,8; 119,108; 28,7]; Gott gebietet nämlich, daß freiwilliger Gehorsam, und nur von Freiwilligen geleistet werde: Denn hätte er Gewalt anwenden wollen, hätte seiner Allmacht keiner widerstehen können.(Papst Nikolaus I., Brief „Ad consulta vestra“ an die Bulgaren, 13. Nov. 866. (Im selben Brief verurteilt der Papst übrigens auch die Folter. Ja, im Jahr 866. Schlagt es nach.))
  • Auch wenn Wir nicht daran zweifeln, daß aus dem Eifer der Frömmigkeit hervorgeht, dass Euer Hochwohlgeboren anordnet, die Juden zum Kult der Christenheit hinzuführen, hielten Wir es dennoch, weil Du dies in ungebührlichem Eifer zu betreiben scheinst, für notwendig, Dir zur Ermahnung Unseren Brief zu senden. Unser Herr Jesus Christus hat nämlich, wie man liest, keinen gewaltsam zu seinem Dienst gezwungen, sondern durch demütige Ermahnung – wobei einem jeden die Freiheit der eigenen Entscheidung vorbehalten blieb – alle, die er zum ewigen Leben vorherbestimmte, nicht durch Richten, sondern durch Vergießen seines eigenen Blutes vom Irrtum zurückgerufen.Desgleichen untersagt der selige Gregor in einem seiner Briefe, daß ebendieses Volk mit Gewalt zum Glauben gezerrt werde.“ (Papst Alexander II., Brief „Licet ex“ an Fürst Landulf von Benevent, 1065)
  • Wenn sie [die Juden] also auch lieber in ihrer Verhärtung verharren wollen als die Weissagungen der Propheten und die Geheimnisse des Gesetzes erkennen und zur Kenntnis des christlichen Glaubens gelangen, so treten Wir, da sie dennoch die Hilfe Unserer Verteidigung erbitten, aufgrund der Sanftmut der christlichen Frömmigkeit in die Fußstapfen Unserer Vorgänger seligen Angedenkens, der Römischen Bischöfe Calixtus [II.], Eugen [III.], Alexander [III.], Clemens [III.] und Cölestin [III.], schenken ihrem Gesuch Gehör und gewähren ihnen den Schild Unseres Schutzes. Wir ordnen nämlich an, daß kein Christ sie mit Gewalt nötige, widerstrebend oder gegen ihren Willen zur Taufe zu kommen; wenn aber einer von ihnen freiwillig um des Glaubens willen seine Zuflucht zu den Christen nimmt, so soll er, nachdem sein Wille eröffnet worden ist, ohne jede Schmähung Christ werden. Denn man glaubt nicht, daß [jener] den wahren Glauben der Christenheit hat, von dem man weiß, daß er nicht aus eigenem Willen, sondern widerwillig zur Taufe der Christen kommt.(Papst Innozenz III., Konstitution „Licet perfidia Iudaeorum“, 15. Sept. 1199)
  • Die Kirche hatte für Erwachsenentaufen übrigens immer auch Mindestvoraussetzungen auf der Seite des Getauften festgelegt: Frage: Ist der Spender, bevor einem Erwachsenen die Taufe gewährt wird, gehalten, ihm alle Geheimnisse unseres Glaubens zu erklären, insbesondere wenn er im Sterben liegt, da dies seinen Geist verwirren würde? Oder würde es nicht genügen, wenn der Sterbende verspräche, er werde, sobald er von der Krankheit genese, dafür sorgen, daß er unterrichtet werde, damit er in die Tat umsetze, was ihm vorgeschrieben wurde? Antwort: Das Versprechen genügt nicht, sondern der Missionar ist gehalten, dem Erwachsenen, auch wenn er im Sterben liegt, falls er noch irgendwie aufnahmefähig ist, die Geheimnisse des Glaubens zu erklären, die mit der Notwendigkeit eines Mittels [heils-]notwendig sind, als da sind hauptsächlich die Geheimnisse der Dreifaltigkeit und der Fleischwerdung.“ (Antwort des Hl. Offiziums (heute Kongregation für die Glaubenslehre) an den Bischof von Quebec, 25. Jan. 1703)

Gab es Zwangstaufen im Lauf der Geschichte? In seltenen Fällen, ja. Bei Karl dem Großen, der die Sachsen besiegte und sie zur Taufe zwang. Auch im Lauf diverser mittelalterlicher Judenpogrome kam es zu Zwangstaufen, die dann der Anlass für die oben zitierten päpstlichen Erlasse gegen Zwangstaufen waren. Ansonsten – nein, ansonsten wären mir keine Fälle bekannt. Bei der Mission in Amerika oder Afrika? Nein, das gab es dort nicht.

Der Katholizismus kennt auch kein Prinzip des heiligen Krieges zur Religionsausbreitung. (Er kennt lediglich das Prinzip des gerechten Krieges: Ein Krieg ist dann gerecht, wenn aus gerechtem Grund erfolgt (z. B. Verteidigung gegen einen Angreifer), mit gerechter Absicht geführt wird (etwa um sich zu verteidigen, nicht, um dann auch noch das feindliche Volk auszurotten), mit gerechten Mitteln geführt wird (also z. B. keine Bomben auf Zivilisten), nur als letztes mögliches Mittel (ultima ratio) begonnen wird; und dann noch paar andere Bedingungen erfüllt sind.)

Was ist mit den Kreuzzügen? Die Kreuzzüge waren gar keine Kriege zur Ausbreitung der eigenen Religion (wenn sie es gewesen wären, könnte man immer noch mit der Verteidigung „die Christen haben sich eben nicht immer an ihre Lehre gehalten“ kommen, aber sie waren es nicht). Sie waren Kriege zur Verteidigung gegen Angehörige einer anderen Religion, die die eigenen heiligen Stätten erobert und teilweise zerstört hatten und nun Pilger angriffen und zu einer ernsthaften Bedrohung für Glaubensgenossen wurden. Der erste Kreuzzug wurde von Papst Urban II. ausgerufen, nachdem der oströmische Kaiser Alexios Komnenos den Westen um Hilfe gegen die angreifenden Seldschuken (die heutigen Türken) gebeten hatte, die bereits in der Nähe von Konstantinopel standen und längst auch schon Jerusalem beherrschten, wo sie die Grabeskirche verwüstet hatten. Oh, während der Kreuzzüge gab es sicher auch mal Fanatismus und Grausamkeit. Aber sie waren kein Dschihad, genauso, wie der „War on Terror“ manchmal grausam ist und mit verkehrten Mitteln geführt wird, aber kein Dschihad ist. Bei den Kreuzzügen wurden keine Muslime zwangsbekehrt; auch die fanatischsten Kreuzzügler wollten einfach nur an die heiligen Stätten in Jerusalem.

Was ist mit der Ketzerverfolgung in Mittelalter und früher Neuzeit? Besseres Argument. Bevor ich darauf im Detail eingehe, sollte ich wahrscheinlich erst noch auf die grundsätzliche katholische Sicht auf die „Trennung von Staat und Kirche“ und die Religionsfreiheit eingehen.

Anders als eine gewisse andere Religion, deren Gründer auch gleichzeitig ihr erster weltlicher Anführer war, hat das Christentum den Bereich des Weltlichen und den des Religiösen bekanntlich nie einfach in eins gesetzt. So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ (Matthäus 22,21) „Jesus antwortete: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier.“ (Johannes 18,36) Nach den Bibelzitaten wieder Papst-Zitate aus dem Denzinger:

  • Zwei sind es nämlich, von denen diese Welt vornehmlich regiert wird, die geheiligte Autorität der Bischöfe und die königliche Gewalt; unter diesen wiegt die Last der Priester umso schwerer, als sie bei dem göttlichen Gericht auch für die Könige der Menschen selbst Rechenschaft ablegen werden. Du weißt nämlich, gütigster Sohn, daß Du zwar durch Deine Würde dem Menschengeschlecht vorstehst, Du unterwirfst Dich jedoch demütig den Vorstehern der göttlichen Dinge und erbittest von ihnen die Ursachen Deines Heiles; und Du erkennst, daß Du beim Empfang der himmlischen Sakramente und ihrer gehörigen Verwaltung nach der Ordnung der Religion eher untertan sein mußt als vorstehen. Du weißt also, daß in diesem Bereich Du vom Urteil jener abhängst, aber nicht willst, daß jene Deinem Willen unterworfen sind. Wenn nämlich, was die Ordnung der öffentlichen Verfassung angeht, auch die Vorsteher der Religion selbst erkennen, daß Dir die Herrschaft auf Anordnung von oben übertragen wurde, und deshalb Deinen Gesetzen gehorchen, um nicht einmal in den weltlichen Dingen den Anschein zu erwecken, sie widerstünden … einer ausgeschlossenen Entscheidung, mit welcher Hingabe, frage ich Dich, ziemt und gebührt es sich dann, denen zu gehorchen, die für die Austeilung der ehrwürdigen Geheimnisse bestimmt sind? (Papst Gelasius I., Brief „Famuli vestrae pietatis“ an Kaiser Anastasius I., 494)
  • Wir wollen aber die Ehrenstellung des Kaisers mit der Ehrenstellung des Bischofs vergleichen; zwischen ihnen besteht ein solch großer Abstand, als jener für die menschlichen Dinge Sorge trägt, dieser für die göttlichen. Du, Kaiser, empfängst vom Bischof die Taufe, erhältst die Sakramente, forderst das Gebet, erhoffst die Segnung, erbittest die Buße. Schließlich verwaltest Du das Menschliche, jener gewährt Dir das Göttliche. Deshalb ist die Ehrenstellung, um nicht zu sagen: höher, so doch sicherlich gleich. … Ich bitte Dich, Kaiser – sei mir nicht böse! –, gedenke, daß Du ein Mensch [bist], auf dass Du die Dir von Gott verliehene Vollmacht gebrauchen kannst; denn auch wenn dies nach menschlichem Urteil geschehen ist, muß es [doch] in göttlichem Gericht geprüft werden. Vielleicht wirst Du sagen, es stehe geschrieben: wir müssen jeder Gewalt untertan sein [vgl. Tit 3,1]. Wir anerkennen freilich die menschlichen Gewalten an ihrem Platz, solange sie nicht ihren Willen gegen Gott erheben. Wenn im übrigen jede Gewalt von Gott ist, so noch mehr, die den göttlichen Dingen vorangestellt ist. Erweise Gott in uns [die Ehre], und wir erweisen Gott in Dir [die Ehre]. (Papst Symmachus, Brief „Ad augustae memoriae“ an Kaiser Anastasius I., zwischen 506 und 512)

Kurz gesagt: Es gibt die kirchliche Autorität, die sich um die kirchlichen Dinge (Sakramente, Dogmenverkündigung, Priesterausbildung, etc.) kümmert, und die weltliche Autorität, die sich um die weltlichen Dinge (Rechtsprechung, Infrastruktur, Sozialhilfe etc.) kümmert. Im frühen Mittelalter ergab es sich durch die chaotische Situation, in der Westeuropa sich befand, dass Bischöfe dort auch immer mehr weltliche Aufgaben übernahmen und schließlich auch zu Landesfürsten wurden, also beide Aufgabenbereiche in einer Person vereinigten, was sich lange Zeit hielt. Das ist jedoch nicht unbedingt ideal nach der Theorie von der zweifachen Gewalt auf Erden (Zwei-Schwerter-Lehre); und selbst dabei wurden die beiden Aufgabenbereiche immer noch unterschieden.

Aber: Alle diese Texte oben erwähnen auch, dass weltliche und geistliche Autorität im Endeffekt von Gott ausgehen. Die Tatsache, dass ab der Spätantike das Christentum in vielen Ländern öffentlich als wahr anerkannt wurde und Gesetze im Sinne des Christentums geändert wurden, stellt nicht automatisch eine unzulässige Vermischung von kirchlichem und weltlichem Bereich dar; die Konstantinische Wende war kein Sündenfall des Christentums, wie selbst manche Christen heute denken. Ich erwähnte in diesem Zusammenhang schon, dass christliche römische Kaiser zum Beispiel die Kindesaussetzung unter Strafe stellten und die Gladiatorenkämpfe abschafften. Natürlich war das gut.

Eine bestimmte Definition von „Trennung von Kirche und Staat“ lehnen wir Katholiken nämlich ab. Wenn damit gemeint ist, dass Christen – oder überhaupt religiöse Menschen – anders als nicht religiöse Menschen ihre Überzeugungen zu öffentlichen Angelegenheiten nicht äußern und sich politisch für sie einsetzen dürften, sondern allenfalls im stillen Kämmerlein ihre Gebete sprechen dürften, dann lehnen wir das ab. Ja, religiöse Überzeugungen haben im öffentlichen Raum etwas zu suchen. Wir sind davon überzeugt, dass das Leben aller Menschen wertvoll ist, also werden wir natürlich gegen Euthanasie oder Abtreibung sein. Wir sind für Solidarität und Subsidiarität, also sind wir natürlich für eine soziale Marktwirtschaft. Wir sehen die Wichtigkeit der Familie, also sind wir natürlich für ihre Unterstützung durch den Staat. Man könnte das einfach so ausdrücken, dass wir Katholiken glauben, dass die Moral für alle gilt und dass auch im öffentlichen Raum eine gewisse grundlegende Gerechtigkeit herrschen sollte. (Natürlich ist es mit der Moral so, dass man auch als Nichtkatholik grundsätzlich erkennen kann, was recht und unrecht ist. Der katholische Fachbegriff dafür nennt sich „Naturrecht“ (siehe auch hier.).)

Jetzt zur Religionsfreiheit. Ich habe oben Lehrschreiben aus dem Mittelalter zitiert, die Zwangstaufen verbieten und dieses Verbot auch ausführlich begründen: Der Glaube ist seinem Wesen nach etwas Freiwilliges, Gott will, dass die Leute freiwillig zu ihm kommen, usw. usf. Aber trotzdem finden sich im Lauf der Kirchengeschichte auch kirchliche Lehrschreiben, die dem Begriff der „Religionsfreiheit“ sehr kritisch gegenüberstehen, vor allem im 18. und 19. Jahrhundert, während und nach der französischen Revolution (die einerseits Religionsfreiheit proklamierte und dann Priester, Mönche und Nonnen – etwa die Karmelitinnen von Compiègne – guillotinierte, aber das ist ein Thema für sich).

Papst Pius VI. etwa, der zur Zeit der Revolution auf dem Stuhl Petri saß und kurz vor seinem Tod noch von französischen Truppen nach Frankreich verschleppt wurde, schreibt in seinem Breve „Quod Aliquantum“ von 1791 (von mir übersetzt aus einer im Internet gefundenen englischen Übersetzung; auf der Website des Vatikans findet sich das Breve leider nur auf Italienisch): „Zu diesem Zweck stellt sie [die französische Nationalversammlung] als ein Recht des Menschen in der Gesellschaft diese absolute Freiheit auf, die nicht nur das Recht sicherstellt, gegenüber religiösen Meinungen indifferent zu sein, sondern auch die völlige Erlaubnis gibt, in religiösen Dingen frei zu denken, zu sprechen, zu schreiben und sogar zu drucken, was auch immer man wünscht – selbst die verdorbensten Vorstellungen. Es ist ein monströses Recht, von dem die Versammlung allerdings behauptet, es resultiere aus der Gleichheit und den natürlichen Freiheiten aller Menschen. Aber was könnte weniger klug sein, als unter den Menschen diese Gleichheit und diese unkontrollierte Freiheit aufzurichten, die jede Vernunft erstickt, das wertvollste Geschenk, das die Natur dem Menschen gegeben hat, das eine, das ihn von den Tieren unterscheidet? [Der Papst schreibt über die göttlichen Gebote, die dem Menschen von Beginn an auferlegt wurden] Können wir die Tatsache ignorieren, dass der Mensch nicht für sich allein geschaffen wurde, sondern um seinem Nächsten hilfreich zu sein?“

Oder da wäre auch Gregor XVI., der in seiner ersten Enzyklika „Mirari vos“ von 1832 schreibt: „Aus dieser modrigen Quelle der Gleichgültigkeit, die den Glauben betrifft, fließt jene törichte und falsche Ansicht, die man besser als Wahnsinn bezeichnet, für jeden die Gewissensfreiheit zu fordern und zu verteidigen. Der Wegbereiter für diesen überaus verderblichen Irrtum ist diese vollkommen übermäßige Meinungsfreiheit, die auf weiten Gebieten zum Verderben der Kirche und des Staates verbreitet ist. Einige behaupten hierbei mit großer Unverschämtheit, daß sich daraus Vorteile für die Religion ergeben. Der heilige Augustinus sagt dagegen, was ist tödlicher für die Seele, als die Freiheit des Irrtums! Wenn jeder Zaum entfernt wird, durch welchen die Menschen auf den Pfaden der Wahrheit geführt werden, und dadurch ihre zum Bösen geneigte Natur in die Tiefe stürzt, sehen wir den geöffneten Abgrund der Hölle, aus dem der Apostel Johannes den Rauch aufsteigen sah, der die Sonne verdunkelte und aus dem Heuschrecken hervorgingen, die sich über die gesamte Erde verbreiteten, um sie zu verwüsten. Aus diesem Irrtum entstammt die Wandlung der Gesinnungen, die zur Verderbnis der Jugend führen, aus dem die Verachtung des Volkes gegenüber der Religion sowie der heiligsten Dinge und Gesetze hervorgeht und aus dem die Worte der Pest kommen, die für das öffentliche Gemeinwesen tödlicher sind, als alles andere. Die Erfahrung bezeugt, was seit ältester Zeit bekannt ist. Staaten, die durch Reichtum, Macht und Ruhm aufblühten, sind an diesem einem Übel zugrunde gegangen, das sich in der übermäßigen Meinungsfreiheit, der Redefreiheit und der Sucht nach Neuerungen äußert. Hierher gehört auch die von Grund auf schlechte, niemals ausreichend verurteilte abscheuliche Freiheit der Buchdruckerkunst, um alle möglichen Schriften unter das Volk zu bringen. Diese Freiheit wird von vielen eifrig und mit lauter Stimme gefordert und gefördert. Entsetzt müssen Wir sehen, mit welchen Ungeheuern von Lehrern, besser ausgedrückt, mit welchen Schreckgestalten von Irrtümern wir überschüttet werden. Überall wird eine gewaltige Menge an Büchern, Schriften und Broschüren verbreitet, deren Umfang zwar klein ist, die Bosheit jedoch übergroß daraus hervorgeht, aus denen Wir mit tränenden Augen den Fluch sehen müssen, der sich über die gesamte Erde ausbreitet. Bedauerlicherweise gibt es Leute, die sich von ihrer Unverschämtheit so weit fortreißen lassen, daß sie starrsinnig behaupten, die aus der Pressefreiheit hervorgehende Flut an Irrtümern würde in ausreichender Weise durch irgendein Buch aufgewogen werden, das in diesem großen Sturm von Schlechtigkeiten zur Verteidigung der Religion und der Wahrheit herausgegeben wird. In Wirklichkeit ist es frevelhaft und gegen jedes Recht, absichtlich ein offenkundiges und größeres Übel zu vollbringen, in der Hoffnung, daß daraus etwas Gutes entstehen könnte. Welcher vernünftige Mensch würde behaupten, daß Gifte frei verbreitet sowie öffentlich verkauft und angeboten, ja sogar getrunken werden dürfen, weil damit ein Heilmittel zur Verfügung steht, durch dessen Gebrauch gelegentlich jemand vor dem Untergang gerettet werden könnte?

Die beiden Dinge, die Pius VI. und Gregor XVI. hier vor allem ablehnen, sind also erstens die Auffassung, es wäre moralisch richtig, zu glauben, was immer man will, man müsste sich nicht um die Erkenntnis der Wahrheit bemühen, da alle Religionen sowieso im Grunde gleich wären – die Idee der Religionsfreiheit war in ihren Tagen von Grund auf verbunden mit der Idee des religiösen Indifferentismus –, und zweitens die vollkommen uneingeschränkte Freiheit, Meinungen zu verbreiten, auch solche, die anderen und dem Gemeinwohl schaden könnten. Sie sagen nicht, man solle Kirchengegner zwangstaufen, sondern eher, man solle sie wie Drogenhändler behandeln, denen man nicht erlaubt, ihre Drogen zu verkaufen, und denen man Hilfe anbietet, damit sie von ihrer eigenen Drogensucht loskommen.

Auch heute glaubt man nicht an eine unbeschränkte Religionsfreiheit: Ein Staat darf einen Islamisten, der versucht hat, aus einer von ihm empfundenen falschen Gewissensverpflichtung einen Anschlag zu begehen, einsperren. Aber ein Staat darf nicht versuchen, einen Islamisten mit Gewalt zu zwingen, gegen sein irrendes Gewissen ein Bekenntnis zu Pluralismus, Religionsfreiheit und Toleranz zu unterschreiben. Ersteres ist für den Schutz der Allgemeinheit nötig, letzteres nicht. Ein Staat darf Terrorpropaganda verhindern, aber muss deswegen nicht totale Gedankenpolizei spielen.

Interessanterweise steht die Position der heutigen Linken („XYZ ist geistige Brandstiftung“, „XYZ darf man keine Bühne bieten“, „keine Toleranz den Intoleranten“) der eines Pius oder Gregor in gewisser Weise näher als der eines Voltaire. (Auch wenn sie i. d. R. die guten Meinungen zensieren wollen statt die schlechten.) Die reine Lehre der klassischen Liberalen der Aufklärungszeit wird zwar auch heute von manchen Menschen noch hochgehalten, speziell von den heutigen Rechten und speziell auch in den USA, wo etwa Holocaustleugnung kein Straftatbestand ist und man legal Naziflaggen schwenken darf. Der Rest der Welt fühlt sich aber mittlerweile irgendwie unwohl mit totaler Meinungsfreiheit. Wir haben auch hier in Deutschland schon lange keine totale Meinungsfreiheit: Beleidigung oder Volksverhetzung oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung sind Straftaten.

Jetzt konkret zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ketzerverfolgung. Erst einmal sollte man sich vielleicht populäre Vorstellungen zu Opferzahlen und Verfahrensweisen aus dem Kopf schlagen; der Inquisitor in dunkler Kapuze, der mit einem finsteren Lächeln am Rad der Streckbank dreht, nachdem der Angeklagte schon seit zehn Stunden gefoltert wird, und so. Dieses Geschichtsbild beruht auf englischer Propaganda aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Aber ja, natürlich, es gab Ketzerprozesse im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, ja, manchmal wurden für schuldig befundene Häretiker „dem weltlichen Arm übergeben“, der dann die Hinrichtung vollstreckte (die Kirche stellte fest, ob jemand ein Ketzer war; der Staat legte die Strafe für Ketzerei fest und vollzog sie). Ja, einige Leute wurden damals verbrannt (oder geköpft, oder gehängt, oder was auch immer). Es gab auch ein paar heftigere Verfolgungswellen, vor allem den „Kreuzzug“ gegen die Albigenser (Katharer) in Südfrankreich im 13. Jahrhundert.

Das Mittelalter war hatte strengere Gesetze. Wenn ein Thomas von Aquin Ketzerei mit Münzfälschung vergleicht und ganz selbstverständlich erwähnt, dass beides mit dem Tod bestraft wird, dann denken wir uns vermutlich eher so was wie: Waaas, für Münzfälschung gab es die Todesstrafe? Die ganze Gesellschaft basierte damals auf dem Katholizismus als Grundkonsens. Man war zwar bereit, gewisse ungetaufte Außenseiter wie die Juden (oder einige übrig gebliebene Heiden, oder in manchen Gebieten Muslime) als Außenseiter zu dulden, für die eigene Regeln galten und die nicht so richtig zur Gesellschaft dazugehörten, aber innerhalb der Christenheit, unter den bereits Getauften, duldete man keine Abweichungen. Tatsächlich schadeten manche Häresien der Gesellschaft auch schon auf konkrete Weise, als man begann, sie zu verfolgen, da ihre Anhänger sich zum Beispiel weigerten, Eide zu schwören oder Kriegsdienst zu leisten; man könnte die Albigenser in etwa mit den heutigen Reichsbürgern vergleichen. (Die Albigenser waren übrigens auch extrem weltabgewandt, glorifizierten den Selbstmord und lehnten Geldwirtschaft, Ehe und Kinderkriegen ab.) Ketzerei konnte damals auch zu Aufruhr und Bürgerkrieg führen; man denke nur an Thomas Müntzer. Man muss die verschiedenen Ketzerverfolgungen also im Kontext ihrer Zeit sehen.

Nun ist es so, dass man nicht zwangsläufig für solche Ketzerverfolgung sein muss. Man kann auch der Meinung sein, dass es unter diesen oder jenen Umständen besser ist, schlechte Dinge (zumindest manche schlechte Dinge) zu tolerieren oder zumindest nicht so hart zu verfolgen. Gregor der XVI. erwähnt in seiner Enzyklika das Prinzip, dass man nicht Böses vollbringen darf, um Gutes zu erreichen; aber wenn ein Staat bis zu einem gewissen Grad auch schlechte Meinungen toleriert, vollbringt er nicht selbst etwas Böses, sondern lässt lediglich etwas Böses zu, was der katholischen Morallehre nach prinzipiell zulässig sein kann, wenn es darum geht, ein größeres Gut zu erreichen oder ein größeres Übel zu verhindern.

Ich finde die Dominikaner irgendwie faszinierend. Dieser Orden wurde vom hl. Dominikus zu der Zeit gegründet, als sich in Südfrankreich viele Menschen den Albigensern anschlossen. Er wurde als Predigerorden gegründet, um diese Leute durch vernünftige Argumente wieder vom katholischen Glauben zu überzeugen. Im Lauf der Zeit wurden so einige Dominikanermönche, da sie eine so gute theologische Ausbildung hatten, auch als Inquisitoren berufen; aber eins zeigt das Beispiel der Dominikaner: Ihr Gründer wusste, dass es mit Zwang allein nicht getan war, sondern dass es überzeugende Argumente brauchte. Genauso, wie es heute auch reale, überzeugende Argumente gegen den Islamismus braucht, und man sich nicht nur mit dem Versuch begnügen kann, islamistische Propaganda im Internet zu löschen oder das Zeigen der IS-Flagge unter Strafe zu stellen.

Man kann als Katholik schon für eine gewisse Religionsfreiheit als bürgerliches Recht sein; aber es ist und bleibt der Fall, dass man keine totale Religionsfreiheit befürworten kann.

Sind wir damit nun aufgeklärt oder nicht?

Alles in allem: Nein, wir haben uns nicht grundlegend von einer gefährlichen, radikalen Religion entwickelt (oder entwickeln müssen) zu einer harmlosen, unbedrohlichen. So bedrohlich waren wir ehrlich gesagt noch nie, aber ernst sollten wir uns immer noch nehmen, und radikal sollten wir in einem gewissen Sinne auch immer noch sein. (Wortbedeutung: „radix“ = „Wurzel“, d. h. „radikal“ = prinzipientreu, konsequent; „radikal“ meint nicht dasselbe wie „fanatisch“, „gewaltbereit“.) Unsere grundsätzlichen Lehren sind nämlich seit 2000 Jahren dieselben. Anders kann es gar nicht sein, wenn wir ernsthaft daran glauben wollen, dass der Sohn Gottes die katholische Kirche gegründet hat und der Heilige Geist ihr beisteht.

Natürlich gibt es Theologen, die diese Lehren ändern wollen, die weibliche Priester verlangen, das Papstamt ablehnen und nicht an die leibliche Auferstehung Jesu Christi glauben. Nur, die werden sich in der katholischen Kirche nicht durchsetzen. Wenn man also das unter „aufgeklärt“ versteht, dann sind wir eben nicht aufgeklärt.

Wozu sollten wir uns überhaupt zwanghaft als irgendwie auf einer Linie mit ein paar Intellektuellen des 18. Jahrhunderts, die sich selbst den nicht gerade bescheidenen Namen „Aufklärer“ verpasst haben, sehen oder darstellen wollen? Müssen wir sämtliche Label, die die Geschichte den Dingen verpasst hat, akzeptieren? Was ist „aufgeklärt“? Ist das eine Kategorie, die für uns wichtig sein sollte? Der Begriff „Aufklärung“ scheint im allgemeinen Sprachgebrauch so unspezifisch, so undefiniert zu sein, dass wir ihn auch einfach links liegen lassen könnten. Wir müssen uns doch keine modischen Begriffe hernehmen, um den Säkularisten zu versichern, dass wir eigentlich ganz harmlos und sowieso auf derselben Seite wie sie sind.

Ehrlich gesagt denke ich, dass das Gerede über die Aufklärung der Religionen entweder bloß eine schlecht durchdachte, reflexhafte Verteidigung von Christen gegen aggressiven Säkulärismus ist, oder aber Wunschdenken, um sich sagen zu können, dass der Islam sich schon noch wandeln wird, wie das Christentum sich angeblich gewandelt habe, wenn nur genügend islamische Theologen sich entscheiden, den Koran so und so zu interpretieren. Mit dieser Art der Koraninterpretation ist es aber leider wie mit einer Bultmann’schen oder Küng’schen Bibelinterpretation: Sie entspricht dem Geist der Religion nicht, und daher wird sie sich am Ende auch nicht durchsetzen. Die jungen Muslime sind im Allgemeinen heute radikaler als ihre Eltern, ebenso wie die jungen Katholiken, die Katholiken meiner Generation, im Allgemeinen radikaler sind als unsere Eltern und die Generation vor unseren Eltern, weil die Leute, die nach einer Religion suchen, am Ende eben doch eine Religion nehmen werden, die sich selbst ernst nimmt und die an eine unveränderliche, dem Menschen vorgegebene übernatürliche Wahrheit glaubt, so wie der traditionelle Islam oder der traditionelle Katholizismus es tut.

Es kommt dann eben nur darauf an, was tatsächlich die Wahrheit ist.