Der Monogenismus und die Genforschung – Oder: Stammen wir von einem Adam und einer Eva ab?

Ich habe vor längerer Zeit ausführlich darüber geschrieben, wie sich die biblische Schöpfungs- und Sündenfallgeschichte mit der Evolutionstheorie vereinbaren lässt. Das ist im Allgemeinen ein alter Hut; auf ein spezielles Problem bin ich dabei aber nicht eingegangen, deswegen hole ich das heute nach: Ist es aus wissenschaftlicher Sicht – insbesondere aus Sicht der Genforschung – möglich, dass wir von nur einem ursprünglichen Menschenpaar abstammen? Oder muss die Population von Frühmenschen, die erstmals genuin „menschlich“ im philosophischen Sinn gewesen ist, größer gewesen sein? Was würde dann aus Adam, Eva und einem historischen Sündenfall? Dazu möchte ich einfach einen Auszug aus dem Aufsatz „Science, Theology and Monogenesis“ von Kenneth W. Kemp, der 2011 im American Catholic Philosophical Quarterly, Band 85, Nr. 2, erschienen ist und hier im Original heruntergeladen werden kann (es lohnt sich, ihn ganz zu lesen!), hier übersetzen:

Theologen, die die Frage des Ursprungs der Menschheit diskutierten, unterschieden traditionell drei logischerweise mögliche Alternativen. Diese Alternativen können verdeutlicht werden, indem man zwei Fragen unterscheidet.

Die erste lautet, ob der Mensch an einem Ort oder unabhängig voneinander an mehreren verschiedenen Orten entstand. Diese zwei möglichen Darstellungen der Anthropogenese nennen sich Monophyletismus und Polyphyletismus.

Die monophyletische Antwort auf die erste Frage bringt eine zweite Frage auf: Gab es ein einziges ursprüngliches Menschenpaar, von dem alle späteren Menschen abstammen, oder kann der Ursprung der menschlichen Rasse nur zu einer ursprünglichen Gruppe von mehr als zwei Personen zurückverfolgt werden? Diese Alternativen nennen sich „Monogenismus“ und „Polygenismus“.

 Die traditionelle christliche Präferenz des Monogenismus (und die folgende völlige Ablehnung des Polyphyletismus) hatte zwei Gründe. Für einige Christen beruht die Verteidigung der These direkt auf einigen Passagen der Schrift. In der katholischen Tradition wurde allerdings die Betonung viel mehr darauf gelegt, dass der Monogenismus die einzige Sicht sei, die mit der Lehre von der Erbsünde vereinbar sei.

[…]

Eine Darlegung der Erbsündenlehre kann mit dem beginnen, was G. K. Chesterton einmal „den einzigen Teil der christlichen Theologie, der wirklich bewiesen werden kann“ genannt hat, nämlich:

(P1) Alle Menschen leben jetzt in einem Zustand der Erbsünde – sie leiden an einer Schwierigkeit, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden, einer Neigung zu Ungerechtigkeit, Schwäche angesichts des schwierigen Guten, und Konkupiszenz.

Aber die Lehre sagt etwas mehr als das. „Die menschliche Rasse“, wie Kardinal Newman es ausgedrückt hat, „ist verwickelt in eine fürchterliche ursprüngliche Katastrophe. Sie ist nicht mehr im Einklang mit den Absichten ihres Schöpfers.“ Das Herzstück der Lehre kommt also in der Erklärung von P1:

(P2) Gott beabsichtigte, dass der Mensch in einem Zustand der ursprünglichen Gerechtigkeit leben sollte.

(P3) Die ersten menschlichen Wesen zerstörten Gottes Absicht durch einen frei gewählten Akt, die Ursünde.

Sowohl P1 als auch P3 werden „original sin“ [im Deutschen unterscheidet man Erbsünde und Ursünde] genannt, wobei sie im Lateinischen mit mit den Ausdrücken peccatum originale originans für P3 und peccatum originale originatum für P1 unterschieden werden. Was genau ist der Zusammenhang zwischen der Ursünde unserer Vorfahren und dem Zustand der Erbsünde, in dem wir uns alle (sogar Kinder, die zu jung sind, um jemals eine eigene persönliche Sünde begangen zu haben) wiederfinden?

Der locus classicus zu dieser Frage ist der Römerbrief des heiligen Paulus (bei 5,12) […].

Diese Stelle betont klar den Schaden, den Adams Sünde uns allen angetan hat. Das heißt, sie postuliert eine historisch reale Ursünde (peccatum originale originans), um den Zustand der Erbsünde (peccatum originale originatum) zu erklären, der jeden Menschen vom ersten Augenblick seiner Existenz an befällt. Was auch immer man von dieser Stelle hält, die Lehre der Kirche wurde klar beim Konzil von Trient (1545-1563) ausgedrückt – die Schuld dieser Sünde wird von uns allen geerbt. [In der dt. Übersetzung des Dekrets heißt es genau genommen: „‚Wer behauptet, die Übertretung Adams habe nur ihm und nicht seiner Nachkommenschaft geschadet‘, die von Gott empfangene Heiligkeit und Gerechtigkeit, die er verloren hat, habe er nur für sich und nicht auch für uns verloren; oder er habe, befleckt durch die Sünde des Ungehorsams, ’nur den Tod‘ und die Strafen ‚des Leibes auf das ganze menschliche Geschlecht übertragen, nicht aber auch die Sünde, die der Tod der Seele ist‘: der sei mit dem Anathema belegt, ‚da er dem Apostel widerspricht, der sagt: ‚Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen, und durch die Sünde der Tod, und so ging der Tod auf alle Menschen über; in ihm haben alle gesündigt‘ [Röm 5,12]‘.“] Das Konzil sagt weiterhin:

„diese Sünde Adams, die ihrem Ursprung nach eine ist und, durch Fortpflanzung, nicht durch Nachahmung übertragen [wird], [wohnt] allen – einem jeden eigen – inne[…]“

Das gibt uns, was wir brauchen, um die Kraft des Arguments von [Papst] Pius [XII. in Humani Generis 37, dass der Polygenismus nicht mit dem katholischen Glauben vereinbar sei] zu sehen. Wenn:

(P4) „ihrem Ursprung nach eine“ bedeutet „als eine Tat begangen“; und

(P5) „durch Fortpflanzung“ bedeutet „durch biologische Abstammung“; und

(P6) der Ursprung des Menschen polygenetisch (oder polyphyletisch) wäre;

würde daraus folgen, dass

(P7) Adams Zeitgenossen (und vielleicht einige ihrer Nachkommen) Menschen frei von Erbsünde gewesen wären.

Da die Ablehnung von P7 klar vom Konzil von Trient beabsichtigt ist, und P4 und P5 immer vernünftige Interpretationen dessen zu sein schienen, was die tridentinischen Väter meinten, lehnte Papst Pius P6 als unvereinbar mit der Erbsündenlehre ab.

Theologische Schlussfolgerung. Diese katholische Darstellung der Erbsünde also, wenn nicht der Text von Genesis 2-4, schien für viele eine monogenetische Darstellung der Ursprünge der menschlichen Rasse zu erfordern.

[Es werden naturwissenschaftliche Argumente für den Monophyletismus und gegen den Monogenismus angeführt; so ganz geklärt scheint die Frage nicht zu sein, aber die Indizien deuten offenbar auf Monophyletismus und Polygenismus hin.]

[Es werden Ideen liberaler Theologen zur Neuinterpretation der Erbsündenlehre vorgestellt, um sie mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu vereinbaren.]

Natürlich, wenn eine dieser revisionistischen Deutungen der Erbsünde haltbar wäre, würde das Problem verschwinden. Ich beabsichtige nicht, hier im Detail zu zeigen, dass sie falsch sind. Ich werde meine Besorgnis über diese Herangehensweisen darauf beschränken, zu erwähnen, dass sie das rechtgläubige Verständnis (wenn nicht die Praxis als solche) der Kindertaufe in Frage stellen. […]

Es genügt für meine Zwecke, zu zeigen, dass diese neuen Deutungen nicht nötig sind, um die Fakten der Paläoanthropologie anzunehmen. Sie müssen, wenn sie das können, durch andere Gründe überzeugen.

Eine Unterscheidung und ein Fazit. Zum Glück ist eine andere Lösung möglich. Der Grund dieser Lösung wurde von Andrew Alexander CJ gelegt, der vor einigen Jahren die Idee verteidigte, dass „während es wahr ist, dass alle Menschen von Adam abstammen, die Rasse dennoch einen breiten Ursprung hat“. Was Alexanders Analyse zu Grunde liegt, ist eine Unterscheidung, die er nie in genau diesen Begriffen trifft, zwischen dem Menschen als theologischer Spezies und dem Menschen als biologischer Spezies. Man sollte von diesen beiden unterscheiden, was Alexander nicht tut, was man die philosophische Spezies nennen könnte.

Die biologische Spezies ist die Population von Individuen, die sich miteinander fortpflanzen können.

Die philosophische Spezies ist das vernunftbegabte Wesen, d. h. eine natürliche Art, die durch die Fähigkeit zum konzeptionellen Denken, Urteilen, Vernunftüberlegungen und freien Entscheidungen charakterisiert ist. Der hl. Thomas von Aquin legt dar, dass eine bestimmte Art von Körper für Vernunftaktivität notwendig, aber nicht ausreichend sei. Vernunftaktivität erfordert darüber hinaus die Präsenz einer rationalen Seele, etwas, das mehr als die Kraft irgendeines körperlichen Organs ist, und das daher nur, in jedem einzelnen Fall, durch ein schöpferisches Wirken Gottes entstehen kann.

Die theologische Spezies ist, in Erweiterung dessen, die Ansammlung der Individuen, die für die Ewigkeit bestimmt sind. Der Katechismus der Katholischen Kirche sagt: „Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen und in seine Freundschaft aufgenommen.“ Die menschliche Vernunftbegabung ist vermutlich eine notwendige Bedingung für eine solche Freundschaft. Es ist allerdings nicht klar, ob das Angebot einer solchen Freundschaft eine logische Konsequenz der Vernunftbegabung ist. Vermutlich ist das Angebot (ein Angebot, das in sich die Spezies theologisch distinkt macht) ein separater, freier Akt Gottes, vielleicht von seiner Gutheit gefordert, aber nicht in irgendeinem strikteren Sinne notwendig. In jedem Fall sind die beiden menschlichen Attribute zumindest dem Konzept nach voneinander unterscheidbar.

Die Unterscheidung zwischen dem biologischen Spezieskonzept und dem theologischen ist wichtig, da sie nicht notwendigerweise deckungsgleich sind. Zwei Individuen, eins im theologischen Sinne menschlich und das andere nicht, würden solange Mitglieder derselben biologischen Spezies bleiben, wie sie miteinander fruchtbare Nachkommen zeugen könnten. Während es mit Sicherheit ein theologischer Irrtum wäre, irgendwelche jetzt lebenden Mitglieder der biologischen Spezies von der philosophischen oder theologischen Spezies ausschließen zu wollen (d. h. zu behaupten, dass ihnen vernunftbegabte Seelen fehlen würden, oder dass sie nicht unter denen wären, denen Gott seine Freundschaft angeboten hat), kann es keinen theologischen Einwand gegen die Behauptung geben, dass ein (oder zwei) Mitglieder einer prähistorischen, biologisch (d. h. genetisch) menschlichen Spezies ausreichend verschieden von den anderen gemacht wurden, dass sie eine neue theologische Spezies darstellen, z. B. indem ihnen vernunftbegabte Seelen und ein ewiges Schicksal gegeben wurden.

[…]

Diese Darstellung kann mit einer Population von ungefähr 5000 Hominiden beginnen [eine Zahl, die von manchen Genforschern genannt wird], Wesen, die in vielerlei Hinsicht wie Menschen sind, aber denen die Fähigkeit zum intellektuellen Denken fehlt.

Aus dieser Population erwählt Gott zwei und stattet sie mit einem Intellekt aus, indem er ihnen rationale Seelen schafft, und gibt ihnen zum selben Zeitpunkt jene übernatürlichen Gaben, die die ursprüngliche Gerechtigkeit ausmachen. Nur Wesen mit rationalen Seelen (mit oder ohne die übernatürlichen Gaben) sind wahrhaft Menschen. Die beiden ersten theologisch menschlichen Wesen missbrauchen allerdings ihren freien Willen, um eine Sünde (die Ursünde) zu begehen, verlieren dabei die übernatürlichen Gaben, allerdings nicht das Angebot der göttlichen Freundschaft, wodurch sie theologisch (nicht nur philosophisch) von ihren lediglich biologisch menschlichen Vorfahren und Vettern unterschieden bleiben. Diese ersten wahren Menschen haben auch Nachkommen, die sich zu einem gewissen Grad weiterhin gemeinsam mit den nicht-vernunftbegabten Hominiden fortpflanzen, unter denen sie leben. Wenn Gott jedes Individuum, das auch nur einen einzigen menschlichen Vorfahren hat, mit einem eigenen Intellekt ausstattet, würden eine leidliche Rate des reproduktiven Erfolgs und ein leidlicher selektiver Vorteil leicht innerhalb von drei Jahrhunderten eine nicht-vernunftbegabte Hominidenpopulation von 5000 Individuen mit einer philosophisch (und, wenn die zwei Konzepte deckungsgleich sind, theologisch) menschlichen Population ersetzen. Während diesem Prozess würden alle theologisch menschlichen Wesen von einem einzigen menschlichen Paar abstammen (in dem Sinne, dass sie dieses Paar unter ihren Vorfahren hätten), ohne dass es je eine Flaschenhals-Situation [biologischer Fachbegriff aus dem ausgelassenen Textteil; steht für eine vorübergehende starke Reduzierung einer Population (z. B. durch Naturkatastrophen), die danach wieder wächst] in der menschlichen Spezies gegeben hätte.

[…]

Diese Theorie ist monogetisch, was die theologisch menschlichen Wesen angeht, aber polygenetisch in Bezug auf die biologische Spezies. Somit löst die Unterscheidung den Widerspruch auf.

Einwände und Antworten darauf. Lassen Sie mich kurz vier Fragen ansehen, alles Quellen möglicher Einwände.

Erstens, beleidigt diese Idee fromme Ohren? Natürlich mag es eine Folgerung aus meiner Sicht sein, dass unsere frühesten Vorfahren Sünder waren, weil sie sich weiterhin gemeinsam mit jenen vormenschlichen Wesen fortpflanzten, die, wenn sie auch nicht einer anderen biologischen Spezies angehörten, auch nicht im vollen Sinne Menschen waren. Diese Sünde wäre eher wie Promiskuität – unpersönliche sexuelle Handlungen – als wie Bestialität gewesen. Aber die Idee, dass unsere ersten Vorfahren Sünder waren, kann kaum ein Einwand gegen diese Theorie sein. Es ist eine Idee, die von allen vier großen Episoden der menschlichen Frühgeschichte aus Genesis gestützt wird – dem Sündenfall, Kains Mord an Abel, der Flut und dem Turmbau zu Babel.

[…]

Der vorrangige Zweck dieses Aufsatzes war es, zu zeigen, dass es keinen wirklichen Widerspruch zwischen einer theologisch konservativen (monogenetischen) Darstellung der Anthropogenese und den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Evolutionsbiologie und modernen Genetik gibt. […] Manchmal müssen Widersprüche nicht durch die Ablehnung einer der scheinbar widersprüchlichen Theorien gelöst werden, sondern durch die Anerkennung einer solchen vorher übersehenen Unterscheidung.“

[Eine kleine Anmerkung als Update: Es gibt freilich auch Theologen, die diese These ablehnen und der Meinung sind, dass Menschen nur dann biologisch von derselben Substanz sein können, wenn sie auch theologisch/philosophisch von derselben Substanz sind, und die bzgl. der Genetik darauf verweisen, dass ein monogenetischer Ursprung nicht für unmöglich, sondern nur für eher unwahrscheinlich gehalten wird, und dass das reicht.]

Ankündigungen, eine Leserbefragung und ein „Best of“

Ankündigungen in eigener Sache:

Nachdem ich ausführlich über die Benedikt-Option geschrieben habe, möchte ich mir bald auch andere aktuelle Erscheinungen darüber, wie die Zukunft der Kirche funktionieren könnte, anschauen, namentlich „Divine Renovation – Wenn Gott sein Haus saniert: Von einer bewahrenden zu einer missionarischen Kirchengemeinde“ von dem kanadischen katholischen Priester James Mallon und „Eine Kirche für viele statt heiligem Rest“ von Erik Flügge und David Holte. An ersteres habe ich hohe Erwartungen; bei letzterem regt mich ehrlich gesagt schon der Titel auf (obwohl tatsächlich auch ein paar gute Ideen drinstecken könnten). Ich bin mal gespannt – stay tuned!

Außerdem dachte ich, es könnte auch mal wieder Spaß machen, mich ein wenig über einen pseudo-historischen Roman mit Kirchenbezug lustig zu machen, und das dabei transportierte Geschichtsbild genauer anzuschauen. Da ich mich im Moment noch nicht recht entscheiden kann zwischen den Büchern, die meine Familie daheim hat und die mir geeignet scheinen, wollte ich meine Leser mal fragen, welches sie denn am meisten interessieren würde:

  • „Der Kinderpapst“ von Peter Prange. Es geht um Benedikt IX., der zwischen 1032 und 1048 dreimal (!) das Papstamt bekleidete und einzelnen Quellen zufolge beim ersten Mal erst 12 Jahre alt gewesen sein soll (andere Quellen geben ein anderes Alter an). Ich habe es irgendwann mal geschenkt bekommen und dachte mir immer, dass das Thema interessant, das Buch aber vermutlich blöd wäre.
  • „Die Ikone des Kaisers“ von Andreas Knapp. Dieser Roman handelt von der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453. Auch ein altes Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk, und die Beschreibung hört sich eigentlich interessant an, aber der letzte Satz davon klang für mich so dämlich, dass er mir ursprünglich die Lust auf das Buch verdorben hat: „Inmitten der dramatischen Kämpfe findet auch ein geistiges Ringen von höchster Aktualität statt: Darf der Mensch im Namen Gottes Krieg führen?“ Meine Güte, die Griechen verteidigten sich einfach gegen Angreifer! (Okay, man kann hoffen, dass der Satz sich auf die Osmanen beziehen soll.)
  • „Der schwarze Mönch“ von Harald Parigger. Ein Jugendbuch, das eins meiner Geschwister mal als Schullektüre gelesen hat. Es handelt vom Kinderkreuzzug von 1212. Ich habe es mal durchgeblättert, und anscheinend gibt es irgendwelche interreligiösen Verwicklungen mit Kindern, die insgeheim jüdisch sind, und der jugendliche Anführer des Kinderkreuzzugs ist der Schurke der Geschichte.
  • „Im Namen der Königin“ von Maiken Nielsen. Auch ein Jugendbuch, das kurz nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges spielt, und das ich vor Jahren gelesen habe, an das ich aber nur noch verschwommene Erinnerungen habe. Die Protagonistin hat ihr Gedächtnis verloren, und als sie – verletzt und in Jungenkleidern – in einer Hütte auf Rügen aufwacht, weiß sie nicht einmal, was ein Kruzifix, das an der Wand hängt, sein soll. Das Buch spielt hauptsächlich in Schweden, glaube ich, und es kommen dann auch noch andere Jugendliche vor, die alle unterschiedliche religiöse Identitäten haben, und die sich dann für irgendeine Mission zusammentun, oder so etwas.
  • „Die Rebellin“, auch von Peter Prange. Es hat zwar keinen wirklichen Kirchenbezug, aber die Analyse könnte trotzdem ganz interessant werden; es scheint ein gutes Beispiel für einen klassischen „Reiche junge Frau verliebt sich in armen Mann und muss dann ihrem Vater trotzen“-Roman zu sein. Die Beschreibung jedenfalls hört sich so an, als müsste das Mädel in seinem bisherigen Leben sein Zimmer nicht verlassen haben; anscheinend ist es wirklich etwas völlig Neues für Emily, dass es im London des Jahres 1851 Armut gibt.
  • „Die Säulen der Erde“ von Ken Follett. Mein Vater hat es gelesen und es hat ihm gefallen, glaube ich. Es geht um die Schicksale von mehreren mittelalterlichen Menschen, die irgendetwas mit dem Bau einer Kathedrale zu tun haben.
  • Oder soll ich mich vielleicht doch noch an „Die Päpstin“ von Donna W. Cross wagen? Hm. Meine Mutter hat es im Regal stehen – allerdings nie gelesen, soweit ich weiß – und es stand auch in der Bibliothek einer Klinik, in der ich letzten Sommer war, und damals habe ich mir mal aus Neugier die ersten zwanzig oder dreißig Seiten angetan. Es ist ziemlich over the top; Johannas Vater, ein mit einer heidnischen Sächsin verheirateter fränkischer Dorfpriester, ist eine extreme Karikatur eines bösen frauenfeindlichen christlichen Patriarchen.
  • Ich hatte früher auch mal noch ein Jugendbuch, in dem ein Junge aus unserer Zeit ins Granada des Jahres 1492 reist, sich mit einer spanischen Prinzessin anfreundet, und von der Inquisition gefangen genommen und gefoltert wird, weil er eine Packung Ketchup dabei hat und der Prinzessin zeigt, dass man das essen kann, und sie es für Blut hält, weil Tomaten, die aus der Neuen Welt stammen, in Spanien noch nicht bekannt sind, oder irgendetwas in der Art. Doch, das Buch war wirklich so albern. Ich glaube, ich habe es für irgendeinen Flohmarkt in der Schule weggegeben, als ich fünfzehn oder sechzehn war und mit pseudohistorischer Kirchenfeindlichkeit nichts mehr anfangen konnte. Oder vielleicht habe ich es auch weggeworfen, weil es mir gar zu blöd war. Ich habe den Titel jetzt im Internet wiedergefunden („Alhambra“ von Kirsten Boie.) und habe ein bisschen in der Leseprobe gelesen. Himmel, die ersten zwei Kapitel sind schon so doof… Außerdem hält es die Autorin anscheinend für eine wahnsinnig originelle Idee, ein Zitat aus „Nathan der Weise“ vor den Anfang des Buches zu stellen. Ich glaube, wenn meine Leser dafür votieren, würde ich es mir noch mal bestellen, auch wenn ich nicht garantieren würde, dass ich wirklich bis zum Ende durchhalten könnte.

Also, ich würde mich über eure Meinungen in den Kommentaren freuen!

Jetzt zum nächsten Punkt: Im August wird es schon zwei Jahre her sein, dass ich zu bloggen angefangen habe und inzwischen habe ich über 250 Artikel veröffentlicht; heute also, weil es gerade passt, mal ein „Best of“ von „Nolite Timere“:

Zu den insgesamt beliebtesten Artikeln auf meinem Blog gehören (neben der vor kurzem veröffentlichten Besprechung der Benedikt-Option):

Viel gelesen wurde natürlich auch meine Reihe über die schwierigen Bibelstellen und meine Reihe über Skrupulosität

Einige der mir persönlich liebsten Artikel, denen ich noch eine weitere Verbreitung wünschen würde, wären z. B. die folgenden:

Dann wäre da natürlich noch meine neue Reihe „Aus dem Denzinger“, in der ich von Päpsten oder Konzilien herausgegebene Dokumente aus den letzten zweitausend Jahren zusammenstelle, u. a. zu Themen wie Zwangstaufen, Folter, Gottesurteile, Ehen ohne Einverständnis der Eltern, Zölibat oder Evolution:

Und das war’s für heute; wie gesagt, ich freue mich auf Kommentare!

Legt die Benedikt-Option es darauf an, die lauen Christen aus der Kirche zu vertreiben?

In meiner Besprechung von Rod Drehers „Die Benedikt-Option“ bin ich auf ein Thema nicht eingegangen, um das es letztens auf Tobias Kleins Blog bei einem Vergleich zwischen Drehers Buch und Erik Flügges Neuerscheinung „Eine Kirche für viele statt heiligem Rest“ ging: Geht es bei der Benedikt-Option darum, das Christentum strenger zu machen und den lauen Christen die Tür zu weisen, um so möglichst bald eine kleinere, aber entschieden christliche Kirche zu haben? (Und was wäre von so einer Idee zu halten – unabhängig davon, ob sie in diesem Buch steht?)

Zunächst mal: Ich hatte nicht den Eindruck, dass das Buch sich viel mit diesem Thema beschäftigt – deshalb habe ich wohl auch nicht daran gedacht, in meinem vorigen Artikel darauf einzugehen. Dreher nimmt es für selbstverständlich, dass wir Christen eine Minderheit sind bzw. sein werden, und gibt Tipps dafür, wie man dann als einzelner Christ oder als christliche Familie leben kann. Aber ja, es gibt Stellen wie die folgende, an der er für strengere Kirchenzucht plädiert, die man in diesem Sinne auffassen könnte:

„Wenn Kirchen undiszipliniert sind, werden es auch ihre Mitglieder sein. So entsteht ein Klima, das Unmoral und den Zerfall von Ehen begünstigt. Es lockt Gemeindemitglieder an, die nur dem Namen nach Christen sind.“ (S. 189) Er bringt dann das Beispiel einer Southern-Baptist-Gemeinde, die ihre Mitglieder etwa bei einer Scheidung zunächst ermahnt, dann ausschließt.

Beim Thema Kirchenzucht scheint Dreher meiner Ansicht nach tatsächlich zu sehr von einer (amerikanisch-)protestantischen Ekklesiologie auszugehen (zumindest kommt es in diesem Abschnitt so herüber): Christ – und in diesem Zuge dann wohl auch Mitglied in irgendeiner Gemeinschaft von Christen – wird man grundsätzlich nur aus eigener Entscheidung im Erwachsenenalter; eine Kindertaufe zählt nicht. Hier kann jede Gemeinde (unterschiedliche) strenge Anforderungen stellen, um jemanden als Mitglied zuzulassen, und kann ihn auch leicht wieder ausschließen. Die erwähnte Baptisten-Gemeinde kann ihre Mitglieder bei ihrem Eintritt eine Erklärung unterschreiben lassen, dass sie diese und jene Prinzipien anerkennen und mit der Kirchenzucht einverstanden sind; das liegt an der Struktur des amerikanischen Protestantismus mit seinen vielen Freikirchen. Da entscheidet sich der einzelne Christ für eine bestimmte Gemeinde, und entscheidet sich vielleicht auch immer wieder um. Wem’s nicht passt, der soll halt gehen.

In die katholische Kirche wird man dagegen mit der Taufe aufgenommen; und auch, wenn die Eltern einen nur taufen haben lassen, weil das halt so irgendwie dazugehört, und wenn man nicht viel über seinen Glauben lernt oder klar davon überzeugt ist, ist man dann Mitglied der katholischen Kirche, ein getauftes Kind Gottes und der Kirche, ist man in den Gottesbund aufgenommen worden. (Im Katholizismus gibt es übrigens – auch wenn es in Deutschland einen Kirchenaustritt vor dem Staat gibt – nicht wirklich die Option, einen Katholiken ganz und gar auszuschließen, ihn zum Nichtkatholiken zu machen: „Einmal katholisch, immer katholisch“ (semel catholicus, semper catholicus) ist ein Prinzip des Kirchenrechts. Sicher gibt es die Exkommunikation, die bei bestimmten Vergehen sogar automatisch eintritt, aber sie ist eine sog. Beugestrafe, d. h. sie soll jemanden wieder auf den rechten Weg führen, und der Exkommunizierte bleibt immer noch Katholik; er verliert nur einige seiner Rechte. Hier passt tatsächlich die Gegenüberstellung von „Kirche“ (was dann eben die katholische Sicht wäre) und „Sekte“ (was dann die freikirchliche Sicht wäre), die in einem Max-Weber-Zitat in dem verlinkten Blogartikel von Tobias Klein vorgenommen wird: „Eine ‚Kirche‘ ist eben eine Gnadenanstalt, welche religiöse Heilsgüter wie eine Fideikommißstiftung verwaltet und zu welcher die Zugehörigkeit (der Idee nach) obligatorisch, daher für die Qualitäten des Zugehörigen nichts beweisend, ist, eine ‚Sekte‘ dagegen ein voluntaristischer Verband ausschließlich (der Idee nach) religiös-ethisch Qualifizierter, in den man freiwillig eintritt, wenn man freiwillig kraft religiöser Bewährung Aufnahme findet.“)

Und der entscheidende Punkt ist: Die Kirche hat dann eine gewisse Verantwortung für ihre Kinder, egal, wie die zu ihren Kindern geworden sind. Zu dieser Verantwortung gehört auch die Zurechtweisung der Sünder, ja, aber ein „sollen sie lieber gleich verschwinden, wenn sie nicht mit ganzem Herzen dabei sind, sie ziehen bloß den Rest runter“ eben nicht unbedingt. Und deswegen halte ich manche Ideen zur Kirchendisziplin im Kontext der katholischen Kirche für nicht unbedingt zielführend.

Das hängt auch damit zusammen, dass die Verantwortung der Kirche in den letzten 50 Jahren extrem vernachlässigt wurde. Welcher nach 1960 geborene Katholik hat anständige Katechese erlebt? Ich hatte mal eine Religionslehrerin, die mit meiner Klasse am Wandertag zu einer Infoveranstaltung bei pro familia über Verhütung gehen wollte. (Das wurde dann aus organisatorischen Gründen nichts.) Die meisten Katholiken haben nie anständige Argumente für den katholischen Glauben gehört. Und natürlich folgen sie ihm dann nicht. Sie glauben nicht, dass die Kirche wirklich von Jesus eingesetzt wurde und ihre Lehren verlässlich und unveränderlich sind. Das habe ich die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens auch nicht geglaubt.

Was ich damit sagen will: Ein katholischer Pfarrer könnte nicht von heute auf morgen sagen: Also, alle hier in der Kirche, die nicht alles unterschreiben, was im Katechismus der katholischen Kirche steht, bitte schnellstmöglich aufs Standesamt und austreten! Natürlich bekennen seine Pfarrkinder nicht den ganzen Glauben der katholischen Kirche. Da muss man erst mal versuchen, sie langsam wieder heranzuführen, bevor man mehr von ihnen verlangen kann. Ich glaube nicht, dass es Sinn macht, zu den Leuten zu sagen „Wenn du nicht gläubig bist, tritt halt aus“; eher sollte man sie in der Kirche halten, um ihnen – und vielleicht dann auch ihren Kindern (wenn die Eltern erst mal weg sind, erreicht man auch nicht mehr die Kinder mit Religionsunterricht und Firmkatechese) – vielleicht doch noch etwas vom Glauben vermitteln zu können.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich Dreher hier überhaupt widerspreche. Er bleibt in dem Abschnitt über Kirchendisziplin oft vage und sagt auch gar nichts dazu, ob man sie einfach so abrupt einführen sollte. Später, in dem Kapitel über Sexualität (Kapitel 9) sagt er zwar einerseits, dass man die Lehre nicht verwässern sollte, um die jungen Leute da zu halten. (Da klingt er auch recht streng: „Ebenso ist es ein Fehler, die traditionelle Lehre über sexuelle Lauterkeit als optional zu behandeln – sei es offen oder insgeheim, also indem man es vermeidet, darüber zu sprechen, oder indem man über Verstöße hinwegsieht.“ (S. 324)) Er sagt aber auch, dass man „[d]as Gute der Sexualität bekräftigen“ (S. 325) und nicht in „Moralismus“ (S. 329) verfallen soll, sprich, dass man die Lehre ansprechend und verständlich präsentieren sollte.

Letztlich ist es doch so: Die Leute laufen einem sowieso noch eher davon, wenn für gar nichts mehr steht, als wenn man eine klare Linie hat. Aber ja, manche laufen einem auch wegen der klaren Linie davon. Und wenn man dagegen nichts machen kann, ohne den Glauben zu kompromittieren, dann kann man das halt nicht verhindern. Aber man muss nicht die Glaubensanforderungen als besonders schwer hinstellen oder den lauen Christen möglichst oft nahe legen, sie sollten doch bitte endlich austreten, damit man eine reine, besser funktionierende Kirche bekommt.

Die Benedikt-Option: Ich bin positiv überrascht

Jetzt bin ich endlich dazu gekommen, Rod Drehers „Die Benedikt-Option“ fertig zu lesen, nachdem mir das Buch vor zwei Wochen geliefert wurde, und ich muss sagen: es ist deutlich besser, als ich erwartet hätte.

Für alle, denen dieses Thema bisher entgangen sein sollte: Drehers Buch, das den Untertitel „Eine Strategie für Christen in einer nachchristlichen Gesellschaft“ trägt, ist in den USA schon im März 2017 erschienen („The Benedict Option: A strategy for Christians in a post-Christian nation“) und hat dort für viel Aufsehen und lebhafte Diskussionen gesorgt; hierzulande hat sich innerhalb des letzten Jahres vor allem der Blogger und Publizist Tobias Klein (sehr lesenswerter Blog) daran gemacht, Drehers Buch bekannt zu machen, und hat es schließlich für den katholischen fe-Verlag übersetzt. (Auf Amazon findet sich die dt. Ausgabe hier.) Ich hatte anfangs bei dem, was ich so über das Buch gelesen habe, einen sehr gemischten Eindruck; vieles kam mir komisch oder alarmistisch oder übertrieben vor. Aber man soll seine Vorurteile ja überprüfen, also hab ich mir die deutsche Übersetzung gleich mal bestellt, als sie dann erschienen ist. Und, wie gesagt, ich wurde positiv überrascht.

Ein paar Sachen vorweg. Mit Drehers Stil werde ich mich wohl nicht mehr anfreunden (ist einfach Geschmackssache), einzelne Punkte in seinem Buch sehe ich kritisch, und den Titel halte ich für nicht besonders gelungen. Der Untertitel drückt den Inhalt des Buches klar aus, aber der eigentliche Titel ist ein wenig irreführend. Dreher hält seine Ideen nicht für eine Option unter vielen, sondern für eine Strategie, auf die die Christenheit als Ganzes nicht wird verzichten können, wenn der Glaube überleben soll. Das kann man ihm allerdings irgendwo nachsehen, da seine Idee ein ziemlich breites Konzept ist, unter dem sich ganz verschiedene Initiativen und Gruppen wiederfinden könnten.

Die Grundidee des Buches ist einfach: Wir brauchen starke christliche Parallelgesellschaften [ich bitte zu  beachten, dass ich diesen Begriff in keiner Weise negativ meine], um den Glauben in einer glaubensfeindlichen Umgebung zu bewahren, ihn authentisch zu leben und ihn an die nächste Generation weiterzugeben. Damit sind keineswegs zwangsläufig autarke Landkommunen gemeint. Die kommen am Rande vor (dazu später), aber es geht sehr viel mehr um Pfarrgemeinden, christliche Schulen, Studentenverbindungen, berufliche Netzwerke und natürlich die kleinere Gemeinschaft der Familie. Dieser Grundidee kann man kaum widersprechen, und der Autor gibt so einige nützliche Impulse für die praktische Umsetzung. Er hat seine „Option“ nach dem hl. Benedikt von Nursia, dem Vater des abendländischen Mönchtums, benannt und nimmt immer wieder Bezug auf klösterliche Praktiken, die man in veränderter Form auch als Laie anwenden könnte.

Luftaufnahme des Stiftes Heiligenkreuz

(Das Stift Heiligenkreuz bei Wien, zu dem auch die Philosophisch-Theologische Hochschule Benedikt XVI. gehört und das sich sehr um die Neuevangelisierung bemüht, wäre sicher ein gutes Beispiel für eine Benedikt-Options-Gemeinschaft.)

Hier mal eine genauere Beschreibung des Inhalts:

Im ersten Kapitel beschreibt Dreher die Bedrohung, die Individualismus und  Säkularismus für unsere Religion darstellen würden. Die Christen im Westen seien nicht auf den Zusammenbruch des Christentums vorbereitet, obwohl er sich schon klar abzeichne. Viele gäben sich noch immer der Illusion hin, die Kultur sei mit konservativen (lies: republikanischen) politischen Initiativen gegen Abtreibung und Homo-Ehe zu retten. Dreher schreibt natürlich aus der US-amerikanischen Perspektive; und in den USA spielt das Christentum bekanntlich noch eine größere Rolle in Gesellschaft und Politik als in Europa, wo die Meinung, der Westen sei noch überwiegend christlich oder man könne ein „christliches Abendland“ auf kurze Sicht wiederherstellen, vermutlich weniger verbreitet ist.

Dreher schreibt:

„Heute können wir sehen, dass wir an allen Fronten verloren haben, und dass die rasanten und unerbittlichen Ströme des Säkularismus unsere schwachen Barrieren überwältigt haben. Ein feindseliger säkularer Nihilismus hat die Oberhand, und die gesamte Kultur hat sich entschieden gegen traditionsorientierte Christen gewendet. Wir reden uns ein, dass diese Entwicklungen von einer kleinen linksgerichteten Elite betrieben werden – weil wir die Wahrheit nicht ertragen können: Der Mainstream der Gesellschaft unterstützt diese Entwicklungen, wenn nicht aktiv, dann zumindest passiv.“ (S. 25f.)

Folglich sollte man lieber eine Arche bauen, statt erfolglos die Flut zu bekämpfen, lautet Drehers Plan. Das sei nicht nur nötig, um sich selbst vor der Welt zu schützen:

„Es geht nicht nur um unser eigenes Überleben. Wenn wir für die Welt das sein wollen, von dem Christus will, dass wir es seien, dann werden wir mehr Zeit abseits von der Welt verbringen müssen, in tiefem Gebet und umfangreichem spirituellen ‚Training’ – ebenso, wie Jesus sich zum Gebet in die Wüste zurückzog, ehe Er die Menschen lehrte. Wir können der Welt nicht geben, was wir selbst nicht haben.“ (S. 41)

Dreher gibt die Schuld am Zusammenbruch des Glaubens im Westen einem Pseudo-Glauben namens „Moralisch-therapeutischer Deismus“ (MTD), der die wirkliche Religion der meisten Amerikaner sei. Die Existenz von MTD wurde 2005 von den Soziologen Christian Smith und Melinda Lundquist Denton postuliert. Ihnen zufolge hat MTD folgende fünf Glaubenssätze:

„Ein Gott existiert, der die Welt erschaffen hat und in Ordnung hält und über das Leben der Menschen auf der Erde wacht.

Gott will, dass die Menschen gut, freundlich und fair miteinander umgehen, wie es die Bibel und die meisten Weltreligionen lehren.

Das wesentliche Ziel des Lebens ist es, glücklich und mit sich selbst im Reinen zu sein.

Es ist nicht nötig, Gott einen besonders bedeutenden Platz im eigenen Leben einzuräumen, außer man braucht Ihn, um ein Problem zu lösen.

Gute Menschen kommen in den Himmel, wenn sie sterben.“ (S.27f.)

Das Problematische an dieser Darstellung ist meiner Ansicht nach: MTD ist schlichtweg laxes Christentum. Ach, wenn doch nur die Mehrheit der Leute wirklich glauben würde, dass ein Gott die Welt erschaffen hat und in Ordnung hält und über uns wacht! Ich finde es ehrlich gesagt seltsam, dass Dreher sich hier auf MTD bezieht; in Kapitel 2 stellt er eine viel treffendere Diagnose des derzeitigen Zustandes: Die Menschen haben den Glauben daran verloren, dass die Welt wirklich von Gott geordnet ist. Sie hätten den Glauben an folgende, im Mittelalter selbstverständliche Grundpfeiler verloren:

„Die Welt und alle Dinge in ihr sind Teil eines von Gott eingerichteten und mit Sinn erfüllten harmonischen Ganzen – und alle Dinge sind Zeichen, die auf Gott hindeuten.

Die Gesellschaftsordnung ist in dieser höheren Ordnung verwurzelt.

Die Welt ist aufgeladen mit spiritueller Kraft.“ (S. 52)

Kapitel 2 („Die Wurzeln der Krise“) ist überhaupt sehr gelungen. Hier stellt Dreher dar, wie nach und nach, durch die spätmittelalterliche Philosophie des Nominalismus, den Renaissance-Humanismus, die Reformation und die ihr folgende Kirchenspaltung, den Aufschwung der Nationalstaaten, das neue Machbarkeitsdenken im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts, die Ablehnung von Offenbarungsreligionen durch die Aufklärer, die Industrielle Revolution und die ihr folgende Entwurzelung der Menschen, und zuletzt die sexuelle Revolution, das Denken im Lauf der letzten sieben Jahrhunderte immer individualistischer und relativistischer wurde. (Mir meine Wahrheit, dir deine Wahrheit – was ist schon die Wahrheit?)

Eine ausführliche Würdigung dieses Kapitels, mit ein paar Ergänzungen und ein klein wenig Kritik, kommt noch in einem eigenen Blogpost; aber eins möchte ich hier gleich anmerken. Dreher, der in einer protestantischen Familie aufgewachsen ist, sich als Erwachsener nach einer Zeit der Kirchenferne dem Katholizismus zuwandte, und zuletzt im Zuge des Missbrauchsskandals zur Orthodoxie konvertierte, hat sein Buch ausdrücklich ökumenisch ausgerichtet. Er zitiert Katholiken, Orthodoxe, Presbyterianer, Southern Baptists… Aber seine Idee funktioniert im Rahmen des Protestantismus letztlich nicht. Das heißt, Parallelgesellschaften aufbauen kann an sich natürlich jede Religion, aber Dreher zieht viele seiner konkreten Ideen dazu, wie die christlichen Parallelgesellschaften denn aussehen sollen, aus dem Ordensleben und dem katholischen Mittelalter, und hier ergeben sich immer wieder klare Widersprüche zur Gestalt des Protestantismus, v. a. zu evangelikalen Erweckungsbewegungen.

Und, wie gesagt, in Kapitel 2 beklagt Dreher unter anderem die Folgen der Reformation. Das Problem ist nach seiner Darstellung, dass die heilige Ordnung, die Einheit der Christenheit, die universelle Überzeugung von den christlichen Wahrheiten, die im Mittelalter existierte, verloren ging. Er stellt, auch wenn er der Reformation nur einen kurzen Abschnitt widmet und auf die problematischen Aspekte des Gottesbildes der Reformatoren überhaupt nicht eingeht, ganz gut das zentrale Problem heraus, für das sie sorgte:

„Dies [der sola-scriptura-Grundsatz] warf unvermeidlicherweise die Frage auf: Wessen Auslegung der Schrift? Keiner der Reformatoren befürwortete eine private Schriftauslegung, aber es fehlte ihnen an einem überzeugenden Instrumentarium, um festzulegen, wessen Interpretation die richtige war. So stellten die Reformatoren bald fest, dass das Abschütteln der Autorität Roms ein Problem gelöst, gleichzeitig aber ein anderes geschaffen hatte. Wie der Historiker Brad Gregory es formuliert: ‚Weil Christen sich uneinig darüber waren, was sie zu glauben und zu tun hatten, waren sie sich auch uneinig darüber, worin die Früchte eines christlichen Lebens überhaupt bestanden.’ Und so ist es bis heute.“ (S. 61)

Die Benedikt-Option legt dem Leser die Rückkehr zu einer quasi-mittelalterlichen Lebensweise nahe, und das ist total sympathisch; aber das alles macht im Endeffekt nur im Katholizismus oder noch in der Orthodoxie Sinn. Wenn wir zurück ins Mittelalter wollen, müssen wir hinter die Reformation zurück. Dreher stellt im ersten Kapitel MTD als Gegensatz zu „historischer, biblisch fundierter Rechtgläubigkeit“ dar; aber inwiefern soll ein konservativer Presbyterianer oder Baptist bitteschön rechtgläubig sein? Er folgt Ideen, die seit höchstens 500 Jahren in Umlauf sind, und ist damit dem Prinzip nach ebenso modernistisch wie irgendwelche Anglikaner oder Methodisten, die Christus nur für einen Menschen mit einer besonderen Gottesbeziehung halten und zweifach geschiedene lesbische Pfarrerinnen haben.

Dreher stellt an späterer Stelle, bei einem Abschnitt zur Zusammenarbeit über Konfessionsgrenzen hinweg, klar, dass seiner Meinung nach die „verschiedenen christlichen Konfessionen […] wohlgemerkt nicht ihre lehrmäßigen Differenzen verleugnen [sollten]“ (S. 220), gleichzeitig spielt er diese Differenzen jedoch herunter. Er zitiert gleich darauf den Gründer eines ökumenischen Lesekreises:

„‚Wenn wir Christen überleben wollen, wenn wir etwas bewirken wollen, müssen wir in der Lage sein, uns gemeinsam an einen Tisch zu setzen. Ein konfessionsübergreifendes Verständnis von Rechtgläubigkeit ist unverzichtbar’, betont Doom.“ (S. 221)

Wie genau diese Rechtgläubigkeit definiert sein soll, wird freilich nicht klar; es ist auch unmöglich, sie zu definieren; es bleibt letztlich nichts anderes als „das, was schon länger als 50 Jahre da ist* und sich ‚bibeltreu’ nennt“.

Übrigens versucht Dreher an mehreren Stellen im Buch, seinen Lesern klassisch katholische bzw. orthodoxe Dinge schmackhaft zu machen: Eine Liturgie, in der man nicht nur dasitzt und eine Predigt anhört, sondern auch kniet, aufsteht, Weihrauch schwenkt, kurz, den Körper und die Sinne ins Gebet einbezieht; Fasten; die Schriften der antiken Kirchenväter. Er geht dabei auch auf einen leichten Trend der letzten Jahre in evangelikalen Kreisen ein, solche Dinge mehr zu würdigen.

File:Messe solennelle d'action de grâce pour les 25 ans de la FSSP (10892923415).jpg

(Hochamt in der außerordentlichen Form anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Priesterbruderschaft St. Petrus, Quelle: Wikimedia Commons)

Das ist mein Hauptkritikpunkt bei diesem Buch: Die Benedikt-Option ist zu ökumenisch und damit gewissermaßen widersprüchlich. Jetzt aber weiter im Text.

In Kapitel 3 geht es dann um eine Reise des Autors nach Norcia (das ehemalige Nursia), den Herkunftsort des hl. Benedikt, seinen Besuch in einem dortigen Kloster und seine Ideen dazu, wie sich Impulse aus der benediktinischen Ordensregel von Laien umsetzen lassen. Ich muss sagen, am Anfang war ich ein bisschen überrascht darüber, dass Dreher nicht nach Montecassino zu dem Kloster gereist ist, das der hl. Benedikt gegründet hat – das in seinem Herkunftsort entstand wohl erst ein paar Jahrhunderte später – aber das liegt vielleicht einfach daran, dass viele der Benediktiner in Norcia Amerikaner sind, mit denen  Dreher sich natürlich leichter austauschen konnte, oder möglicherweise auch daran, dass diese Gemeinschaft „traditioneller“ nach der Benediktsregel lebt als die heutigen Mönche in Montecassino? Egal. Die Prinzipien jedenfalls, die Dreher herausgearbeitet hat, sind folgende:

  • Ordnung
  • Gebet
  • Arbeit
  • Askese
  • Beständigkeit
  • Gemeinschaft
  • Gastfreundschaft
  • Ausgewogenheit

Ich muss sagen, ich liebe es, wie hier die Ordnung, in der alles im richtigen Maß seinen richtigen Platz hat, betont wird. Man beginnt direkt, sich nach dem geordneten Leben in einem mittelalterlichen Benediktinerinnenkloster zu sehnen, in dem man seine Tage mit Stundengebet, Unkrautjäten, Kartoffelschälen und lectio divina verbringen kann. Also, ich jedenfalls. Irgendwie.

Im 4. Kapitel geht es um „Eine neue Form christlicher Politik“. Kurz gesagt ist Dreher der Ansicht, dass Christen sich eher auf die lokale Basisarbeit als die große Politik konzentrieren sollten. Mit einer Ausnahme: Den Einsatz für Religionsfreiheit. An dieser Stelle halte ich ihn ausnahmsweise mal für eher naiv als alarmistisch. Den meisten Leuten bedeutet Religionsfreiheit nicht unbedingt viel, auch wenn sie offiziell in irgendwelchen Verfassungen drin steht; wenn sie eine religiöse Lehre oder Praxis für schädlich halten, werden sie mit Appellen an Freiheitsrechte nur eine gewisse Zeit lang davon abzuhalten sein, gegen die betreffende Religion vorzugehen (man sehe sich nur Äußerungen in den sozialen Medien zum Thema Kopftuch- oder Beschneidungsverbot an). Es ist wichtig, dass wir uns die Freiheit bewahren, christliche Gemeinschaften bilden zu können usw., aber ich halte den Einsatz dafür nicht für mehr oder weniger aussichtsreich als, sagen wir mal, den Einsatz gegen die Einführung aktiver Sterbehilfe.

In Kapitel 5 („Eine Kirche für alle Jahreszeiten“) geht es dann um das kirchliche Leben, d. h. das Leben innerhalb einer Pfarrei oder einer Freikirche. Hier plädiert Dreher, wie bereits erwähnt, dafür, die christliche Vergangenheit wiederzuentdecken, z. B. indem man in Studienkreisen Schriften der Kirchenväter liest – ein toller Ratschlag. (Ein bisschen appeacement gegenüber den protestantischen Lesern muss aber sein: „Es mag verständlich sein, dass Protestanten misstrauisch gegenüber vorreformatorischen theologischen Werken des zweiten Jahrtausends sind, aber die Schriften der frühen Kirchenväter sind eine Goldmine spiritueller und theologischer Weisheit.“ (S. 170)) Man sollte den „Sinn für Liturgie zurückgewinnen“ (S. 171), außerdem etwas Askese betreiben (z. B. an festgesetzten Tagen fasten), durch „Güte und Schönheit“ (S. 190), also Werke der Nächstenliebe (z. B. Hilfe für kranke Gemeindemitglieder) und christliche Kunst, evangelisieren, und die Gemeinde sollte die „kirchliche Disziplin festigen“ (S. 187), d. h. Kirchenmitglieder müssen wegen schlimmer Sünden ermahnt und ggf. auch aus der Gemeinde ausgeschlossen werden.

„Der Grundgedanke dabei [bei der Kirchendisziplin der frühen Kirche] war weder Gemeinheit noch Selbstgerechtigkeit, sondern Verantwortlichkeit. Zudem konnte die Kirche – als eine Gemeinschaft, die ihre Mitglieder anleitet und formt – ihre Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie nicht in der Lage war, in ihren Reihen Ordnung aufrechtzuerhalten.“ (S. 188)

Hier könnte es aber wieder ein wenig knifflig werden, dank der schon kritisierten ökumenischen Ausrichtung. Mit protestantischer Kirchendisziplin ist das meiner Meinung nach nämlich so eine Sache. Sie neigt dazu, entweder zu strikt oder zu lax zu sein, und ihr fehlen oft die klaren Prinzipien. Im Katholizismus haben wir das universal geltende Kirchenrecht, das z. B. festlegt, wer zur Kommunion gehen darf. Auch hier hat sich eine Laxheit eingeschlichen, die eigentlich nicht da sein sollte (Leute im Stand der Todsünde gehen einfach trotzdem zur Kommunion), aber die Prinzipien wären klar und es muss nicht jede Pfarrei das Rad neu erfinden. Bei den Protestanten ist es schwieriger.

In diesem Abschnitt wird das Beispiel einer Gemeinde der Southern Baptists angeführt, deren Mitglieder bei ihrem Eintritt eine Vereinbarung unterzeichnen müssen, die ihre Pflichten gegenüber der Gemeinde festlegt, und auch das Recht der Gemeinde, sie, wenn sie auf Abwegen sind, zu Umkehr und Buße anzuhalten und ggf. auszuschließen. In dieser Gemeinde gab es ein Ehepaar, „das sich nach vier Jahrzehnten Ehe scheiden lassen wollte. Ein Beratungsgespräch mit den Pastoren, um ihnen zu helfen, ihre Ehe zu retten, lehnten sie ab. Ebenso wiesen sie Hilfsangebote von Freunden und anderen Gemeindemitgliedern zurück. Monatelange Bemühungen der Pastoren, die zerrüttete Ehe des Paares zu heilen, endeten in einer Sackgasse: Die Eheleute wollten einfach nicht kooperieren. Schließlich wurde eine Gemeindeversammlung einberufen, bei der beschlossen wurde, sie auszuschließen.“ (S. 189f.) Nun ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Kirche hier im Recht war und das Paar hätte versuchen sollen, seine Ehe zu bewahren; es ist aber auch möglich, dass die Eheleute gute Gründe für eine Trennung hatten (z. B. anhaltender Ehebruch durch einen der zwei, den sich der andere nicht mehr gefallen lassen wollte; dass sie dann beide nicht unbedingt mit der Gemeinde darüber hätten reden wollen, wäre verständlich). Und eine Trennung und weltliche Scheidung allein ist noch kein Ehebruch, wie eine Wiederheirat nach der Scheidung es wäre; eine Trennung/Scheidung ist nicht automatisch Sünde, sondern nur je nach den Umständen. Insofern frage ich mich schon, ob es gerechtfertigt ist, Mitglieder wegen einer Scheidung an sich, ohne zweite Beziehung, und ohne dass den Pastoren die genauen Hintergründe bekannt sind, aus der Gemeinde auszuschließen.

Aber an sich stimmt es natürlich: Man braucht in der Kirche gewisse moralische und lehrmäßige Standards, und wenn z. B. ein Priester offen Häresie lehrt oder ein Diakon in wilder Ehe lebt, kann das nicht einfach so zugelassen werden, weil die Standards sonst schnell verschwinden.

Kapitel 6 nennt sich „Die Idee eines christlichen Dorfes“ und Dreher beginnt mit dem Sprichwort „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen“. Er erwähnt die orthodoxen Juden und ihren Fokus auf die Gemeinschaft von Familie und Synagoge als Vorbild. Zu den Strategien, um seine Kinder christlich zu erziehen gehöre: ein lebendiges Familienleben, in dem das Heim beinahe eine Art Kloster ist, in dem es regelmäßige gemeinsame Gebetszeiten gibt, der Sonntagsgottesdienst Sportveranstaltungen vorgezogen wird und schädliche Einflüsse, z. B. durch zu viel Internet und Fernsehen, beschränkt werden. Ich finde es hier schön, wie Dreher betont, dass es in einer Familie wichtig ist, sich gegenseitig um Verzeihung bitten zu können; auch wenn es den Gehorsam gegenüber den Eltern brauche, müssten auch die Eltern ihren Kindern zeigen, dass sie sich bei ihnen entschuldigen könnten und ihnen zuhörten. Außerdem betont er noch einmal die Gastfreundschaft. Man müsste den Kindern zudem klar machen, dass es nichts Schlimmes ist, nicht so zu sein wie die anderen, und man sollte sich auch Gedanken darüber machen, mit welchen Gleichaltrigen sie ihre Zeit verbringen.

„Harris [die Psychologin Judith Rich Harris] verweist auf das Beispiel von Immigranten und deren Kindern. Zahlreiche Studien zeigen auf, dass, so stark die Herkunftskultur auch sein mag, die erste Generation der Nachkommen fast immer die Werte der Mehrheitsgesellschaft in der neuen Heimat übernimmt. […] ‚Kulturen werden nicht von Eltern an Kinder weitergegeben; die Kinder von Einwanderereltern nehmen die Kultur ihrer Altersgruppe an.’“ (S. 207)

Hier finde ich in Bezug auf die Situation in Deutschland übrigens das Beispiel der Muslime interessant: Zwar gibt es viele junge Muslime, die sich der säkularen deutschen Gesellschaft angepasst haben, aber es gibt auch sehr viele, die sogar noch traditionsbewusster, religiöser und stolzer auf ihre Herkunft sind als ihre Eltern. Wenn man häufig in einer Moschee mit gleichaltrigen Gleichgesinnten und überzeugenden Predigern zusammenkommt, scheint das einen großen Einfluss zu haben. In Sachen „Parallelgesellschaften aufbauen“ könnten wir von den Muslimen schon was lernen. (Ja, muslimische Parallelgesellschaften haben ihre schlechten Seiten. Weil der Islam eine falsche Religion ist, nicht weil es Parallelgesellschaften sind.)

(Eucharistische Anbetung bei einem Prayerfestival der Jugend 2000; Bildquelle hier.)

Am Ende warnt Dreher davor, die Familie zum Götzen zu machen – sie sei kein „Zweck in sich selbst“, sondern „ein Mittel zum Zweck der Vereinigung mit Gott“ (S. 209). Die Familie sollte nicht tyrannisch und paranoid gegenüber der Außenwelt werden und damit die Kinder vom Glauben forttreiben.

Außerdem geht er darauf ein, welche Vorteile es habe, in räumlicher Nähe zur Kirche zu leben, und häufig an Bibelstudien, Gebetskreisen, Lesezirkeln usw. teilzunehmen; auch die Kirchengemeinde solle man aber nicht zum Götzen machen und nicht zu sehr von der Außenwelt abschotten.

An diesem Kapitel stört mich ein wenig, dass Dreher nicht allzu konkret wird: Wie viel Kontakt zu Nichtgläubigen sollte man den Kindern jetzt erlauben? Außerdem fände ich es noch wichtig, zu erwähnen, dass man eigentlich einen gewissen Kontakt zur Außenwelt herstellen muss, allein schon, um die Kinder daran zu gewöhnen, dass es Menschen gibt, die anders denken (und wie sie denken), weil sie irgendwann mit denen in Kontakt kommen werden.

In Kapitel 7 geht es um Bildung. Dreher kritisiert das öffentliche Schulsystem und viele christliche Schulen, die auch keine entschieden christliche Bildung bieten würden. Das heutige Bildungswesen schaue nur auf Zweckmäßigkeit: Den Kindern muss das beigebracht werden, was sie später mal im Job brauchen werden, Erziehung zur Tugend wird vernachlässigt. Er stellt zwei Alternativen vor: Heimunterricht – der in Deutschland freilich keine Alternative ist, da seit 1938 verboten** – und, worauf er den Fokus legt, „klassisch-christliche Schulen“, d. h. Privatschulen, die klassische Bildung – Geschichte, klassische Literatur, usw. – mit religiöser Bildung verbinden und dabei folgendem Konzept folgen:

„Üblicherweise beginnt die Laufbahn eines Schülers an einer klassischen Schule mit der sogenannten Grammatikschule, in der es vor allem darum geht, grundlegende Fakten über die Welt zu lernen und sich ins Gedächtnis einzuprägen. Die zweite Stufe der klassischen Schulbildung ist die Logikschule, die etwa der 6.-8. Klasse entspricht und in der die Schüler lernen, Fakten zu analysieren und ihre Bedeutung zu erkennen. Die dritte und letzte Stufe ist die Rhetorikschule, die abstraktes Denken, Dichtung und die Fähigkeit zum klaren Selbstausdruck in den Mittelpunkt stellt.“ (S. 256f.)

Offensichtlich sind in den USA schon einige solche Privatschulen von Eltern oder Kirchen gegründet worden; theoretisch wäre so etwas Ähnliches sicher auch in Deutschland möglich.

Dann geht der Autor auch auf die Wichtigkeit von Studentengemeinschaften an den Universitäten ein, und ich muss sagen, hier habe ich mich absolut wiedergefunden. Regelmäßige Messfeier auch unter der Woche, Eucharistische Anbetung, Taizé-Andacht – das kann sehr gut tun.

Zusätzlich zu normalen Hochschulgemeinden und von Studenten gegründeten christlichen Netzwerken, die geistliche Begleitung, Vorträge, Bibelkreise usw. anbieten, stellt Dreher auch gemeinschaftliche Wohnprojekte christlicher Studenten vor, z. B. ein Haus an der Universität von Virginia, in dem ca. 20 junge Männer zusammenleben:

„Die Hausregel entwickelte sich im Laufe der Zeit. Sie probierten verschiedene Dinge aus. Ein gemeinsames Morgengebet erwies sich als schwer durchzuhalten, aber als Abendgebet funktionierte es besser. Sie führten eine Art gegenseitiger Beichte ihrer Sünden gegenüber der Gemeinschaft ein, mit dem Ziel, einander gegenseitig in ihren persönlichen Schwierigkeiten helfen zu können. (‚Wir nannten es ursprünglich nicht Beichte’, sagt Speers. ‚Wir nannten es Rechenschaft. Das klang für Evangelikale weniger anrüchig.’) Außerdem verlangte die Hausregel kontinuierliche gemeinschaftliche Pflege theologischer Studien und Diskussionen.

Es gab auch einige wenige, aber strenge Verbote: Keine Mädchen in Privaträumen bei verschlossenen Türen. Kein Alkohol außer in den Räumen derer, die alt genug waren, um legal Alkohol trinken zu dürfen. Einige Männer, die mit Pornographiesucht zu kämpfen hatten, ließen ihre Laptops im Gemeinschaftsraum zurück, um nicht in Versuchung geführt zu werden.“ (S. 270f.)

Hier zeigt sich für mich wieder, dass solche Wohngemeinschaften eine zweischneidige Sache sein können: Das mit dem Abendgebet beispielsweise klingt toll, auch die Regeln klingen sehr vernünftig. Das mit der öffentlichen Beichte (ohne ein bindendes Beichtgeheimnis) könnte dagegen problematisch werden.

In Kapitel 8 geht es um das Thema Arbeit. Der Autor konzentriert sich hauptsächlich auf die Gefahr, dass Christen am Arbeitsplatz gezwungen werden könnten, gegen ihr Gewissen zu handeln (sich also z. B. an der Ausrichtung einer Schwulenhochzeit zu beteiligen; in den USA wurden Bäcker und Floristen ja schon zu extrem hohen Geldstrafen verurteilt, weil sie eine solche Beteiligung verweigert hatten). Aber er geht auch auf den grundsätzlichen Sinn der Arbeit ein: Sie sollte einen sinnvollen Zweck in Gottes Ordnung erfüllen und zu Seiner größeren Ehre getan werden; und sie sollte nicht zum alleinigen Lebensinhalt werden. Hier lobt er übrigens die deutschen Ladenschlussgesetze, die Familienbetrieben das Leben erleichtern und dafür sorgen würden, dass die Deutschen ein ausgewogeneres Leben führen können als die Amerikaner.

Aber zurück zu möglichen Gewissenskonflikten am Arbeitsplatz. Dreher ist der Ansicht, dass man unterscheiden müsste, ob etwas wirklich nicht mit dem eigenen Gewissen vereinbar sei oder doch, um nach Möglichkeit in seinem Arbeitsumfeld Frieden halten zu können. Er führt das Negativbeispiel eines Staatsbediensteten aus Illinois an, der sich weigerte, sich ein Schulungsvideo über LGBT-Diversität anzusehen (er hätte nur das Video ansehen müssen, keine pro-LGBT-Erklärung abgeben müssen). Am Ende stellt er klare Kriterien auf:

„Ein christlicher Arzt muss es immer und überall ablehnen, unschuldiges Leben zu töten. Abtreibung und Euthanasie sind vollkommen indiskutabel. […] Und schließlich ist kein Job, so harmlos er erscheinen mag, es wert, ihn zu behalten, wenn er einem abverlangt, etwas dezidiert Unchristliches und Wahrheitswidriges aktiv zu unterstützen.“ (S. 294f.)

Dreher warnt, dass Christen sich in Zukunft vielleicht genauer überlegen müssten, welche Berufe sie ergreifen, und rät, dass sie eigene unternehmerische Tätigkeit und Handwerk und Industrie wieder entdecken sollten; außerdem sollte man christliche Netzwerke aufbauen und andere christliche Unternehmen unterstützen.

Kapitel 9 widmet sich dem Thema Sex; hier spricht der Autor z. B. darüber, dass Eltern sich selbst um die Sexualerziehung ihrer Kinder kümmern müssten, dass man jungen Christen vermitteln müsse, wieso die christliche Sexualmoral Sinn macht, und dass man vor allem Pornographie bekämpfen müsse.

In Kapitel 10 geht es um Technologie und hier wird klar: Dreher sieht das Internet als sehr problematisch, zum Beispiel, weil es den Leuten die Fähigkeit nimmt, sich zu konzentrieren, und ihnen eine Wunschwelt zeigt, in der „man sich mit nichts auseinandersetzen muss, was man sich nicht selbst ausgesucht hat. […] Man kann planlos von Seite zu Seite schlittern, flüchtig in soziale Netzwerke hineinschnuppern und sich wieder aus ihnen ausklinken, ganz nach Belieben.“ (S. 354) Er warnt besonders davor, Kindern Smartphones in die Hände zu geben, nicht zuletzt auch wegen der Gefahr, dass sie im Internet auf Pornographie treffen. Aber er kritisiert nicht nur übermäßigen Internetkonsum, sondern auch ganz grundsätzlich eine technokratische Mentalität, die sagt „Wenn wir es tun können, müssen wir auch die Freiheit haben, es zu tun!“ (S. 349), z. B., wenn es um die Fortpflanzungsmedizin geht. Ich muss sagen, beim Internet bin ich nicht ganz so kritisch wie er – immerhin hat es mir sehr dabei geholfen, Informationen über den Katholizismus zu finden, und lässt mich jetzt meine Gedanken vor Publikum ausbreiten! –, aber hier kann ich ihm zustimmen.

So. Das war jetzt eine lange Inhaltszusammenfassung; jetzt noch ein paar allgemeine Anmerkungen:

Es gab immer wieder Stellen, an denen ich mir gedacht habe: Ja, ganz genau so ist es! Ganz genau so. Etwa, wenn Dreher darüber spricht, auf welche Weise der Glaube schon über ein, zwei Generationen verloren gehen kann (wenn ich meine Großeltern, die jeden Sonntag in die Kirche gehen bzw. gingen, und meine Geschwister, die vermutlich noch irgendwie an einen Gott glauben, vergleiche, kann ich diese Entwicklung gut nachvollziehen).

Es ist auch sehr interessant und inspirierend, wie der Autor uns immer wieder die Dissidenten im Ostblock als Vorbilder zeigt. Es ist auch ermutigend: So schlimm wie sie werden wir es auf absehbare Zeit nicht haben – und sie haben manchmal so einiges geschafft, gerade im katholischen Polen.

(Der hl. Johannes Paul II. bei seinem ersten Besuch in Polen nach seiner Papstwahl; Quelle: Wikimedia Commons)

Zuletzt noch zu der Art von christlichen Laiengemeinschaften, an die die Leute (z. B. amerikanische Journalisten, die das Buch im letzten Frühjahr rezensiert haben) bei der Benedikt-Option anscheinend als erstes denken, obwohl sie im Buch gar keine so große Rolle spielen, wie ich erwartet hätte. An verschiedenen Stellen erwähnt Dreher Beispiele für solche Gemeinschaften, z. B. die amerikanische „Alleluia Community“, eine „Laiengemeinschaft charismatischer Katholiken und Protestanten“ (S. 213), oder die italienische „Tipi Loschi“, die er als besonders vorbildhaft hervorhebt. Tipi Loschi, eine Gemeinschaft mit 200 Mitgliedern, die dem Vorbild des sel. Pier Giorgio Frassati nacheifert, ist eine Vereinigung von Familien, die eine nach Chesterton benannte Schule und verschiedene Kooperativen, die wohltätigen Zwecken dienen, betreibt, und die eng mit dem Kloster in Norcia verbunden ist. Mir wird aus dem Buch nicht ganz klar, wie genau die Familien in der „Alleluia Community“ und in „Tipi Loschi“ leben; es hört sich nicht so an, als ob es sich um wirkliche Kommunen wie bei den Zwölf Stämmen oder irgendwelchen Hippie-Sekten der 70er handeln würde, sondern eher nach einem Leben in enger Nachbarschaft und mit vielen gemeinschaftlichen Veranstaltungen und gemeinsam betriebenen Institutionen. Die „Alleluia Community“ jedenfalls hört sich für mich dennoch eher zu eng gestrickt an, als dass ich (die ich von Natur aus kein sehr geselliger Mensch bin) mich da wohlfühlen könnte.

(„In Übereinstimmung mit den Beobachtungen Pater Martins sagt sie, das Geschenk der Gemeinschaft bestehe darin, eine Sozialstruktur auszubilden, in der es Christen leichter gemacht wird, Gottes Stimme zu hören und auf sie zu antworten, und in der andere Mitglieder sie zur Verantwortung ziehen, wenn sie vom geraden Weg abkommen. So nah mit anderen zusammenzuleben, kann die Geduld strapazieren, räumt Rachel ein – aber für sie und ihre Familie hat es sich als gut erwiesen.“ (S. 214))

Der Autor schlägt auch vor, dass Kirchengemeinden nach Geschlechtern getrennte Wohngemeinschaften für junge Singles gründen könnten; bei Ehepaaren und Familien mit Kindern geht er anscheinend schon eher davon aus, dass die für sich leben und sich in Pfarrgemeinden, Schulen usw. einbringen werden.

Er geht sowohl auf die Chancen als auch auf die Gefahren bei solchen Gemeinschaften wie der „Alleluia Community“ oder „Tipi Loschi“ ein; an einer Stelle schreibt er:

„Die wohl gefährlichste Versuchung für eng gestrickte Gemeinschaften ist der Drang, ihre Mitglieder übermäßig zu kontrollieren und allzu streng zu bevormunden, wenn sie von einem gewissen Reinheitsstandard abweichen.“ (S. 223)

Mir fehlen hier ein bisschen die konkreten Standards – wann ist eine Gemeinschaft zu streng oder zu abgeschottet? – und vielleicht auch die konkreten möglichen Vorsichtsmaßnahmen gegen solche Gefahren (z. B. wären klare Regeln wie die benediktinische Ordensregel vermutlich eine gute Idee); aber er erwähnt als grobe Regel immerhin, dass man z. B. auch Freundschaften außerhalb der Gemeinschaft knüpfen sollte, damit man sich nicht einbildet, alle Menschen dort draußen wären verdorben.

Mein Fazit: Das Buch ist lesenswert und gibt einige gute Impulse für ein christliches Leben. (Enthusiastischer wird’s leider nicht – aber ich fand’s alles in allem gut.)

* Ich sage ausdrücklich „50 Jahre“, weil gewisse in konservativen evangelikalen Kreisen verbreitete Ideen wie die von der „Entrückung“ (rapture) in der Endzeit oder die Akzeptanz der künstlichen Empfängnisverhütung noch nicht besonders alt sind.

** Zumindest in den allermeisten Fällen. Ich kannte tatsächlich mal eine Familie, die ihre Kinder zu Hause unterrichtete und dafür, soweit ich mich erinnere, eine Sondergenehmigung hatte. Soweit ich mich erinnere, kamen sie aus Baden-Württemberg und waren evangelisch.

Aus dem Denzinger: Der Heilige Stuhl über Bibel und Naturwissenschaft, Schöpfungsgeschichte und Evolution (vor dem 2. Vatikanum)

Der „Denzinger“, genau genommen das „Enchiridion symbolorum definitionum et declarartionum de rebus fidei et morum / Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen“ ist eine ursprünglich von Heinrich Denzinger, in der um neue Dokumente erweiterten Fassung dann von Peter Hünermann, herausgegebene Sammlung von Glaubensbekenntnissen, Konzilsentscheidungen und päpstlichen Lehrschreiben im lateinischen/griechischen Original und in deutscher Übersetzung. Die Dokumente reichen vom Jahr 96 bis ins Jahr 2003 (in der 42. Auflage).

 Ich habe festgestellt, dass es ziemlich spannend ist, im Denzinger zu stöbern – da kommt einiges Unerwartete aus der Kirchengeschichte ans Tageslicht, und auch manches Kuriose. Vor allem aber bekommt man ein Gespür dafür, welche Probleme die Kirche zu einer bestimmten Zeit beschäftigten. Manche Themen kommen immer wieder auf (z. B. Fragen zur Ehe, oder zur Union der zwei Naturen in Christus, oder zum Vergehen der Simonie); manche nur ein- oder zweimal (z. B. wenn eine Synode diejenigen exkommuniziert, die Schiffbrüchige berauben). Im 17. Jahrhundert streiten die Theologen um die Gnadenhilfen, im 19. muss man sowohl den religiösen Indifferentismus als auch den Fideismus verurteilen.

 In dieser Reihe möchte ich einfach regelmäßig Zitate aus den meiner Meinung nach besonders interessanten Dokumenten bringen, wenn nötig mit einer kurzen historischen Einordnung. Die Zitierweise „DH [Zahl]“ gibt die Nummer an, unter der die Stelle im „Denzinger-Hünermann“ zu finden ist.

 Alle Teile hier.

 

Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. die Paläontologie und die Biologie Fortschritte machten und die Evolutionslehre von immer mehr Wissenschaftlern vertreten wurde, mussten sich auch die Kirchen der Frage stellen, wie sie es mit der Auslegung der ersten Kapitel des Buches Genesis halten wollten. Im Protestantismus gab es ganz unterschiedliche Wege; liberalere Theologen glaubten nicht an eine wörtliche Genesisauslegung, während die wegen ihrem Bekenntnis zu den „fünf Fundamenten“ des Glaubens als „Fundamentalisten“ bezeichneten amerikanischen Protestanten eine wörtliche Auslegung der sieben Schöpfungstage und anderer biblischer Aussagen im frühen 20. Jahrhundert für nicht verhandelbar erklärten. Die katholische Kirche ging einen etwas komplizierteren Weg.

Papst Leo XIII. stellt in seiner Enzyklika „Providentissimus Deus“, in der es um die Hl. Schrift geht, allgemeine Grundsätze über das Verhältnis zwischen der Schrift und den Naturwissenschaften auf, die auf dem Prinzip beruhen, dass sich Glaube und Vernunft nicht widersprechen können:

 

„Dem Lehrer der heiligen Schrift wird die Kenntnis der Naturwissenschaften eine gute Hilfe sein, mit der er auch derartige gegen die göttlichen Bücher gerichteten Trugschlüsse leichter aufdecken und widerlegen kann.

Zwischen dem Theologen und dem Naturwissenschaftler wird es freilich keinen wahren Widerstreit geben, solange sich beide auf ihr Gebiet beschränken und sich gemäß der Mahnung des hl. Augustinus davor hüten, ‚irgendetwas unbesonnen oder Unbekanntes für Bekanntes zu behaupten’*. Sollten sie aber dennoch in Widerstreit geraten, so ist kurz zusammengefasst die von demselben dargebotene Regel, wie sich der Theologe verhalten soll: ‚Von allem,’ sagt er, ‚was sie von der Natur der Dinge mit stichhaltigen Beweisen darlegen können, wollen wir zeigen, daß es unserer Schrift nicht entgegengesetzt ist: von allem aber, was sie aus welchen ihrer Bücher auch immer dieser unserer Schrift, das heißt dem katholischen Glauben, Entgegengesetztes vorbringen, wollen wir entweder, soweit nur irgend möglich, zeigen oder ohne jeden Zweifel glauben, daß es völlig falsch ist’**.

In bezug auf die Billigkeit dieser Regel soll zuerst erwogen werden, daß die heiligen Schriftsteller oder besser ‚der Geist Gottes, der durch sie redete, dies (nämlich die innerste Beschaffenheit der sichtbaren Dinge) die Menschen nicht lehren wollte, da es niemandem zum Heile nützen sollte’***; daß sie daher, statt geradewegs Naturforschung zu betreiben, die Dinge selbst bisweilen lieber entweder in einer gewissen Art von Übertragung beschreiben und abhandeln, oder wie es die alltägliche Sprache in jenen Zeiten mit sich brachte und heute bei vielen Dingen im täglichen Leben selbst unter den gebildetsten Menschen mit sich bringt. Da mit der Volkssprache aber dies zunächst und im eigentlichen Sinne ausgedrückt wird, was unter die Sinne fällt, hat sich in gleicher Weise der heilige Schriftsteller (und auch der Engelgleiche Lehrer machte darauf aufmerksam)‚ an das gehalten, was sinnenfällig erscheint’****, bzw. was Gott selbst, zu den Menschen redend, entsprechend ihrem Fassungsvermögen auf menschliche Weise äußerte.

Deshalb, weil die Verteidigung der heiligen Schrift eifrig betrieben werden soll, sind aber nicht alle Auffassungen in gleicher Weise in Schutz zu nehmen, die die einzelnen Väter oder die nachfolgenden Exegeten bei ihrer Erklärung geäußert haben: sie haben, je nachdem die Meinungen der Zeit waren, bei der Erörterung von Stellen, wo Naturkundliches behandelt wird, vielleicht nicht immer wahrheitsgemäß geurteilt, so daß sie manches behaupteten, was jetzt weniger gebilligt werden könnte.

Deshalb ist bei ihren Auslegungen geflissentlich zu unterscheiden, was sie denn tatsächlich als den Glauben betreffend oder mit ihm aufs engste verbunden lehren, was sie in einmütiger Übereinstimmung lehren; denn ‚in dem, was nicht notwendig zum Glauben gehört, war es den Heiligen erlaubt, verschiedener Meinung zu sein, wie auch uns’*****, wie der Satz des Hl. Thomas lautet. Er bemerkt auch an anderer Stelle überaus klug: ‚Mir scheint es sicherer zu sein, daß das, was die Philosophen gemeinsam gutgeheißen haben und unserem Glauben nicht widerspricht, weder so zu behaupten ist wie Lehrsätze des Glaubens, auch wenn sie manchmal unter dem Namen der Philosophen eingeführt werden, noch so abzulehnen ist als dem Glauben entgegengesetzt, damit den Weisen dieser Welt keine Gelegenheit geboten werde, die Lehre des Glaubens zu verachten’******.

Obwohl der Ausleger zeigen muß, daß das, von dem die Naturwissenschaftler schon mit sicheren Beweisen bestätigt haben, daß es sicher ist, den richtig ausgelegten Schriften keineswegs entgegensteht, soll ihm freilich dennoch nicht entgehen, daß es bisweilen geschehen ist, daß manches, was von jenen als sicher gelehrt wurde, später in Zweifel gezogen und verworfen wurde. …

Sodann wird es nützlich sein, ebendies auf verwandte Wissenschaften, vor allem auf die Geschichte, zu übertragen.“

(Leo XIII., Enzyklika „Providentissimus Deus“, 1893; in: DH 3287-3290)

 

* Vgl. Augustinus, De Genesi ad litteram imperfectus liber c. 9, n. 30 (CSEL 28,48113 / PL 34,233).

** Augustinus, De Genesi ad litteram I 21, n. 41 (CSEL 28,314–9 / PL 34,262).

*** Augustinus, De Genesi ad litteram II 9, n. 20 (CSEL 28,468–10 / PL 34,270f).

**** Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 70, a. 1 ad 3 (Editio Leonina 5,178b).

***** Thomas von Aquin, Super IV libros Sententiarum II, dist. 2, q. 1, a. 3, solutio (Parmaer Ausg. 6,405b / R. Busa, Opera omnia 1 [1980] 130).

****** Thomas von Aquin, Responsio ad lectorem Vercellensem de articulis 42, Vorwort (Opusculum 10 in der römischen Ausg.; = opusculum 22 in der Ausg. von Mandonnet 3 [Paris 1927] 197; = opusculum 9 in der Parmaer Ausg. 16,163b).

 

Die Päpstliche Bibelkommission schrieb dann im Jahr 1909:

 

„Frage 1: Stützen sich die verschiedenen exegetischen Lehrgebäude, die zum Ausschluß des wörtlichen, historischen Sinnes der drei ersten Kapitel des Buches Genesis ausgedacht und unter dem Schein der Wissenschaftlichkeit verfochten wurden, auf eine feste Grundlage?

Antwort: Nein.

Frage 2: Kann, trotz der historischen Eigenart und Form des Buches Genesis, der besonderen Verbindung der drei ersten Kapitel untereinander und mit den folgenden Kapiteln, des vielfältigen Zeugnisses der Schriften sowohl des Alten als auch des Neuen Testamentes, der fast einmütigen Auffassung der heiligen Väter und der traditionellen Meinung, die, auch vom israelitischen Volk übermittelt, die Kirche immer festgehalten hat, gelehrt werden, daß die eben genannten drei Kapitel der Genesis keine Erzählungen wirklich geschehener Dinge enthalten, die nämlich der objektiven Realität und historischen Wahrheit entsprechen; sondern entweder Sagenhaftes, das den Mythologien und Kosmogonien der alten Völker entnommen und vom heiligen Verfasser nach Reinigung von jeglichem Irrtum des Polytheismus der monotheistischen Lehre angepaßt wurde; oder Gleichnisse und Symbole, die der Grundlage der objektiven Realität entbehren und unter dem Schein der Geschichte vorgelegt wurden, um religiöse und philosophische Wahrheiten einzuschärfen; oder schließlich teils historische und teils erdachte Legenden, die zur Unterweisung und Erbauung der Herzen frei zusammengestellt wurden?

Antwort: Nein zu beiden Teilen.

Frage 3: Kann insbesondere der wörtliche, historische Sinn in Zweifel gezogen werden, wo es sich um in ebendiesen Kapiteln erzählte Tatsachen handelt, die die Grundlagen der christlichen Religion berühren: als da sind, unter anderem, die von Gott am Anfang der Zeit getätigte Erschaffung aller Dinge; die besondere Erschaffung des Menschen; die Bildung der ersten Frau aus dem ersten Menschen; die Einheit des Menschengeschlechtes; die ursprüngliche Glückseligkeit der Stammeltern im Stande der Gerechtigkeit, Unversehrtheit und Unsterblichkeit; das dem Menschen von Gott gegebene Gebot, um seinen Gehorsam auf die Probe zu stellen; die Übertretung des göttlichen Gebotes aufgrund der Einflüsterung des Teufels unter der Gestalt der Schlange; die Vertreibung der Stammeltern aus jenem ursprünglichen Stand der Unschuld; sowie die Verheißung des künftigen Wiederherstellers?

Antwort: Nein.

Frage 4: Ist es erlaubt, bei der Auslegung jener Stellen dieser Kapitel, die die Väter und Lehrer auf unterschiedliche Weise verstanden haben, ohne daß sie irgend etwas Sicheres und Bestimmtes überliefert hätten, unbeschadet des Urteils der Kirche und unter Wahrung der Analogie des Glaubens jener Auffassung zu folgen und sie zu verteidigen, die ein jeder umsichtig für richtig befunden hat?

Antwort: Ja.

Frage 5: Ist alles und jedes, nämlich die Worte und Redewendungen, die in den eben genannten Kapiteln vorkommen, immer und notwendig im eigentlichen Sinne aufzufassen , so daß man niemals von ihm abweichen darf, auch wenn sich deutlich zeigt, daß Redeweisen uneigentlich, metaphorisch oder anthropomorph verwendet wurden und den eigentlichen Sinn entweder die Vernunft beizubehalten verbietet oder die Notwendigkeit aufzugeben zwingt?

Antwort: Nein.

 Frage 6: Kann, den wörtlichen und historischen Sinn vorausgesetzt, eine allegorische und prophetische Auslegung mancher Stellen ebendieser Kapitel gemäß dem voranleuchtenden Beispiel der heiligen Väter und der Kirche selbst klugerweise und nutzbringend angewandt werden?

 Antwort: Ja.

Frage 7: Ist, obwohl es bei der Abfassung des ersten Kapitels der Genesis nicht die Absicht des heiligen Autors war, die innerste Beschaffenheit der sichtbaren Dinge und die vollständige Reihenfolge der Schöpfung auf wissenschaftliche Weise zu lehren, sondern vielmehr seinem Volk eine volkstümliche Kunde – wie es die allgemeine Sprache zu jenen Zeiten zuließ – zu überliefern, die den Sinnen und dem Fassungsvermögen der Menschen angepaßt war, bei der Auslegung dieser Dinge genau und stets nach der Eigentümlichkeit wissenschaftlicher Rede zu forschen?

Antwort: Nein

Frage 8: Kann bei jener Bezeichnung und Unterscheidung der sechs Tage, um die [es] im ersten Kapitel der Genesis [geht], das Wort Yôm (Tag) sowohl im eigentlichen Sinne als natürlicher Tag als auch im uneigentlichen Sinne als bestimmter Zeitraum aufgefasst werden, und ist es erlaubt, über diese Frage unter den Exegeten zu diskutieren?

Antwort: Ja.“

(Päpstliche Bibelkommission, 1909; in: DH 3512-3519)

 

Ein paar Jahrzehnte später äußerte sich auch Papst Pius XII. zu dieser Frage:

 

„Deshalb verbietet das Lehramt der Kirche nicht, daß die ‚Evolutionslehre’ (insofern sie nämlich den Ursprung des menschlichen Leibes aus schon existierender und lebender Materie erforscht – daß nämlich die Seelen unmittelbar von Gott geschaffen werden, heißt uns der katholische Glaube festzuhalten –) gemäß dem heutigen Stand der menschlichen Wissenschaften und der heiligen Theologie in Forschungen und Erörterungen von Gelehrten in beiden Feldern behandelt werde, und zwar so, daß die Gründe beider Auffassungen, nämlich der Befürworter und der Gegner, mit der nötigen Ernsthaftigkeit, Mäßigung und Besonnenheit erwogen und beurteilt werden; dabei sollen alle bereit sein, dem Urteil der Kirche zu gehorchen, der von Christus die Aufgabe übertragen wurde, sowohl die Heiligen Schriften authentisch auszulegen als auch die Lehren des Glaubens zu schützen.

Diese Freiheit der Erörterung überschreiten jedoch manche in leichtfertiger Vermessenheit, wenn sie sich so benehmen, als ob dieser Ursprung des menschlichen Leibes aus schon existierender und lebender Materie durch bis jetzt gefundene Hinweise und durch aus ebendiesen Hinweisen abgeleitete Vernunftschlüsse schon ganz und gar sicher und bewiesen sei und es aufgrund der Quellen der göttlichen Offenbarung nichts gebe, was in dieser Sache größte Mäßigung und Vorsicht erfordert.

Wenn es sich aber um eine andere auf Vermutung gründende Ansicht handelt, nämlich um den sogenannten Polygenismus, dann genießen die Kinder der Kirche keineswegs eine solche Freiheit. Die Christgläubigen können diese Auffassung nämlich nicht gutheißen, deren Anhänger behaupten, entweder habe es nach Adam hier auf Erden wahre Menschen gegeben, die nicht von demselben als dem Stammvater aller durch natürliche Zeugung abstammten, oder ‚Adam’ bezeichne eine Menge von Stammvätern; es ist nämlich keineswegs ersichtlich, wie eine solche Auffassung mit dem in Übereinstimmung gebracht werden könnte, was die Quellen der geoffenbarten Wahrheit und die Akten des Lehramtes der Kirche über die Ursünde vorlegen, die aus der wahrhaft von dem einen Adam begangenen Sünde hervorgeht und die, durch Zeugung auf alle übertragen, einem jeden als ihm eigen innewohnt [vgl. Röm 5,12-19; Dekret des Konzils von Trient über die Ursünde].

Wie aber in den biologischen und anthropologischen Disziplinen, so gibt es auch in den historischen Leute, die die von der Kirche festgesetzten Grenzen und Vorsichtsmaßnahmen verwegen übertreten. Und in besonderer Weise beklagenswert ist eine gewisse allzu freie Interpretationsweise der geschichtlichen Bücher des Alten Testamentes, deren Befürworter zu Unrecht den vor nicht so langer Zeit von der Päpstlichen Bibelkommission an den Erzbischof von Paris gerichteten Brief zur Verteidigung ihrer Sache anführen. Dieser Brief macht nämlich ausdrücklich darauf aufmerksam, daß die ersten elf Kapitel der Genesis, wenn sie auch eigentlich nicht mit den Verfahren der Geschichtsschreibung zusammenstimmen, deren sich die herausragenden griechischen und lateinischen Geschichtsschreiber oder die Gelehrten unserer Zeit bedienten, nichtsdestoweniger doch in einem gewissen Sinne, der von den Exegeten noch näher erforscht und bestimmt werden muß, zur Gattung der Geschichte  gehören, und daß dieselben Kapitel in einfacher und bildhafter Sprache, die dem Verständnis eines wenig gebildeten Volkes angemessen ist, sowohl die hauptsächlichen Wahrheiten berichten, auf die sich die Sorge um unser ewiges Heil stützt, als auch eine volkstümliche Beschreibung des Ursprungs des Menschengeschlechtes und des erwählten Volkes bieten.

Wenn die alten Verfasser der heiligen Bücher aber etwas aus volkstümlichen Erzählungen geschöpft haben (was man durchaus einräumen  kann), so darf man niemals vergessen, daß sie unterstützt vom Hauch der göttlichen Eingebung so gehandelt haben, durch den sie bei der Auswahl und Beurteilung jener Dokumente von jeglichem Irrtum rein bewahrt wurden.

Was aber aus volkstümlichen Erzählungen in die Heilige Schrift übernommen wurde, das darf keineswegs mit Mythologien oder anderem Derartigem gleichgestellt werden, das mehr aus einer weitschweifenden Einbildungskraft herrührt als aus jenem Streben nach Wahrheit und Einfachheit, das in den Heiligen Büchern auch des Alten Testamentes so sehr aufstrahlt, daß man von unseren Verfassern der heiligen Bücher sagen muß, daß sie die alten Profanschriftsteller klar überragen.“

(Pius XII., Enzyklika „Humani Generis“, 1950; in: DH 3896-3899)

 

In der Enzyklika bezieht sich der Papst auf einen zwei Jahre zuvor verfassten Brief des Sekretärs der Bibelkommission an den Erzbischof von Paris, der folgende Abschnitte enthält:

 

„Die Frage der literarischen Formen der elf ersten Kapitel der Genesis ist viel undurchsichtiger und umfassender. Diese literarischen Formen entsprechen keiner unserer klassischen Kategorien und können nicht im Lichte der griechisch-lateinischen oder modernen literarischen Gattungen beurteilt werden. Man kann folglich ihre Historizität als ganze weder verneinen noch bejahen, ohne auf sie die Gesetze einer literarischen Gattung ungerechtfertigterweise anzuwenden, unter die sie nicht eingeordnet werden können. Wenn man sich darauf einigt, in diesen Kapiteln nicht Geschichte im klassischen oder modernen Sinne zu sehen, so muß man auch zugeben, daß die gegenwärtigen wissenschaftlichen Gegebenheiten es nicht erlauben, allen Problemen, die sie stellen, eine positive Lösung zu geben.

Die erste Pflicht, die hier der wissenschaftlichen Exegese obliegt, besteht zuallererst in der aufmerksamen Untersuchung aller literarischen, wissenschaftlichen, geschichtlichen, kulturellen und religiösen Probleme, die mit die-sen Kapiteln verbunden sind; man müßte sodann die literarischen Vorgehensweisen der alten orientalischen Völker, ihre Psychologie, ihre Ausdrucksweise und ihren Begriff von geschichtlicher Wahrheit genau überprüfen; man müßte, in einem Wort, ohne Vorurteile das ganze Material der paläontologischen und historischen, epigraphischen und literarischen Wissenschaften sammeln. Nur auf diese Weise kann man darauf hoffen, klarer zu sehen, was die wirkliche Natur bestimmter Erzählungen der ersten Kapitel der Genesis angeht.

A priori zu erklären, ihre Erzählungen enthielten nicht Geschichte im modernen Sinne des Wortes, ließe leicht heraushören, daß sie in keinem Sinne des Wortes Geschichte enthielten, wohingegen sie in einer einfachen und bilderreichen Sprache, die dem Fassungsvermögen einer weniger entwickelten Menschheit angepaßt ist, die grundlegenden Wahrheiten berichten, die der Heilsordnung zugrundeliegen, gleichzeitig mit der volkstümlichen Beschreibung der Anfänge des Menschengeschlechts und des auserwählten Volkes.“

(Brief des Sekretärs der Bibelkommission an den Erzbischof von Paris, Kardinal Suhard, 1948; in: DH 3864)

 

Mit anderen Worten: Die Schöpfungsgeschichte muss keineswegs vollkommen wörtlich zu verstehen sein und die christliche Theologie ist mit der Annahme einer Milliarden von Jahren alten Erde, einer Evolution und einer körperlichen Abstammung des Menschen von Tieren vereinbar; aber Genesis erzählt doch von wirklichen geschichtlichen Ereignissen; der Sündenfall zum Beispiel muss irgendwann einmal tatsächlich geschehen sein, in welcher Form auch immer. Und es gab keinen völlig fließenden Übergang zwischen Tier und Mensch, sondern an irgendeinem Punkt muss Gott menschliche Seelen für von Tieren abstammende Wesen erschaffen haben – wenn wir auch nicht wissen können, wann genau das war.

Hymnen und Herr der Ringe

Mal wieder ein bisschen Musik! Ich habe vor einiger Zeit auf Youtube die Gruppe „Clamavi de Profundis“ entdeckt. Sie hat zwei Schwerpunkte: Vertonungen von Tolkiens Gedichten aus „Der Herr der Ringe“, „Der Hobbit“ usw. und christliche Lieder, i. d. R. Coverversionen von traditionellen Liedern, oder solche, die auf der Liturgie oder der Bibel basieren. Die Musik ist großartig; vor allem die lateinischen Lieder erinnern stark an gregorianische Gesänge. Without further ado, einige der schönsten Beispiele:

Die Totenklage um Boromir:

Die Klage um die Rohirrim:

Das Lied vom König unter dem Berg:

Das Marschlied der Ents:

„Roads go ever on“:

Eine lateinische Vertonung eines Texts aus dem Buch der Klagelieder:

Psalm 69,2 („Gott, komm mir zu Hilfe; Herr, eile, mir zu helfen“), auch auf Latein:

Ein von der Gruppe selbst geschriebenes Lied, auch lateinisch:

Ein englisches Lied zu Dreikönig:

Und noch ein Medley zu Weihnachten. Es enthält u. a. „Veni, veni Emmanuel“, „O tidings of comfort and joy“, „What child is this“ und „Hark, the herald angels sing“:

Wie man Heilige missdeuten kann, oder: Jeanne d’Arc als feministische Endzeit-Terroristin?

(Die hl. Jeanne d’Arc in einer Miniatur aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts; Bildquelle: Wikimedia Commons)

Letztens bin ich auf Youtube auf folgendes Lied gestoßen, das von der hl. Jeanne d’Arc handelt bzw. handeln soll:

 

I am as God made me, I have no desire

For a mouth at my breast, or a pot on the fire

I heed the higher voices, I go where I’m sent

To mow down the men who refuse to repent

I’m a scythe in a field full of briars

 

And they won’t call me mother, or sister, or wife

They will know me or not by the strength of my life

I will burn with a light of my own

They’ll know me as Joan

They’ll know me as Joan

 

The courage of Catherine, the flames of the forge

The sword of Saint Michael, the blood of Saint George

I take what I’m given, I follow my truth

I gladly abandon the bloom of my youth

I’m the lashing that falls from the scourge

 

And they won’t call me mother, or sister, or wife

They will know me or not by the strength of my life

I will burn with a light of my own

They’ll know me as Joan

They’ll know me as Joan

 

I fight where God tells me, I never ask why

I’ve bloodied the devil with steel from on high

I kill without consequence, heed no man’s law

I sift out the righteous like grain from the straw

I am judgment and Heaven is nigh

 

And they won’t call me mother, or sister, or wife

They will know me or not by the strength of my life

I will burn with a light of my own

They’ll know me as Joan

 

They won’t call me mother, or sister, or wife

They will know me or not by the strength of my life

I will burn with a light of my own

They’ll know me as Joan

 

No, they won’t call me mother, or sister, or wife

They will know me or not by the strength of my life

I will burn with a light of my own

They’ll know me as Joan

 

No, they won’t call me mother, or sister, or wife

They will know me or not by the strength of my life

I will burn with a light of my own

They’ll know me as Joan

 

They won’t call me mother, or sister, or wife

They will know me or not by the strength of my life

I will burn with a light of my own

They’ll know me as Joan

They’ll know me as Joan

 

Das ist nicht unsere Heilige, kann ich da nur sagen.

Diese Joan besteht stolz darauf, dass sie nicht als irgendeines Mannes Anhängsel bekannt sein will, sondern für ihre eigenen Taten; nun ist Jeanne d’Arc für ihre eigenen Taten bekannt – wie übrigens unsere heiligen Frauen generell –, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie gerade nicht darauf aus war, sich Ruhm und Anerkennung zu erwerben, als sie ihren Stimmen folgte. Das ist eine Heilige nämlich nicht, und auch kein Heiliger. Sie wollen Gott dienen, sie posaunen nicht überheblich ihre Berufung zu Höherem hinaus. Auch zeigen Heilige für gewöhnlich keine Verachtung für die niederen Aufgaben mit Kindern & Küche, wie hier gleich in der ersten Strophe demonstriert – selbst dann, wenn ihnen speziell diese Aufgaben nicht liegen.

Russische Ikone

Der hl. Benedikt der Mohr konnte offenbar mehr mit der Küche anfangen als „Joan“. Er gab sogar aus Demut den Posten als Novizenmeister wieder auf, auf den ihn seine Mitbrüder gewählt hatten, um dann wieder in der Klosterküche zu arbeiten. (Bildquelle: Ökumenisches Heiligenlexikon.)

Und dann sind da ja noch diese Zeilen, die eher auf Thomas Müntzer oder Jan van Leiden oder Oliver Cromwell passen würden als auf Jeanne d’Arc. (Oder meinetwegen noch auf Arnauld Amaury.)

Datei:Thomas Muentzer.jpg

(Thomas Müntzer (1489-1525), Kupferstich von Christoph van Sichem, 1608)

Nein, die Jungfrau von Orleans war keine verrückte Endzeitprophetin, die sich berufen fühlte, Gottes Gericht an den Sündern zu vollstrecken. Die Engel, die ihr erschienen, beauftragten sie, zu helfen, Frankreich im Hundertjährigen Krieg von den Engländern zu befreien, und mit diesem Anliegen ging sie zu Karl VII. Sie war eine mutige und heilige Kriegerin und französische Patriotin; und sie versuchte nicht, im Widerspruch zum Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Matthäus 13,24-30) die Erde von Sündern zu reinigen („I sift out the righteous like grain from the straw“), weil das Ende der Welt nahe sei („I am judgment and Heaven is nigh“).

(Zeitgenössische Zeichnung von Jeanne d’Arc im Protokoll des Parlaments von Paris, 1429, erstellt von Clement de Fauquembergue; Bildquelle: Wikimedia Commons)

„I kill without consequence, heed no man’s law“? Echt jetzt? Na ja, irgendwie ist es ganz interessant, wie wenig manche Leute auf einmal gegen fanatische Religionskrieger haben, wenn es sich um Frauen handelt.

IS, Terrormiliz, Syrien, Gefährder, Wolfsburg, LKA

(IS-Kämpferinnen; Bildquelle hier.)

Okay, immer trifft das auch nicht zu.

Aus dem Denzinger: Die mittelalterliche Kirche über den Ehekonsens und heimliche Ehen (und Luthers Ansichten dazu)

Der „Denzinger“, genau genommen das „Enchiridion symbolorum definitionum et declarartionum de rebus fidei et morum / Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen“ ist eine ursprünglich von Heinrich Denzinger, in der um neue Dokumente erweiterten Fassung dann von Peter Hünermann, herausgegebene Sammlung von Glaubensbekenntnissen, Konzilsentscheidungen und päpstlichen Lehrschreiben im lateinischen/griechischen Original und in deutscher Übersetzung. Die Dokumente reichen vom Jahr 96 bis ins Jahr 2003 (in der 42. Auflage).

 Ich habe festgestellt, dass es ziemlich spannend ist, im Denzinger zu stöbern – da kommt einiges Unerwartete aus der Kirchengeschichte ans Tageslicht, und auch manches Kuriose. Vor allem aber bekommt man ein Gespür dafür, welche Probleme die Kirche zu einer bestimmten Zeit beschäftigten. Manche Themen kommen immer wieder auf (z. B. Fragen zur Ehe, oder zur Union der zwei Naturen in Christus, oder zum Vergehen der Simonie); manche nur ein- oder zweimal (z. B. wenn eine Synode diejenigen exkommuniziert, die Schiffbrüchige berauben). Im 17. Jahrhundert streiten die Theologen um die Gnadenhilfen, im 19. muss man sowohl den religiösen Indifferentismus als auch den Fideismus verurteilen.

 In dieser Reihe möchte ich einfach regelmäßig Zitate aus den meiner Meinung nach besonders interessanten Dokumenten bringen, wenn nötig mit einer kurzen historischen Einordnung. Die Zitierweise „DH [Zahl]“ gibt die Nummer an, unter der die Stelle im „Denzinger-Hünermann“ zu finden ist.

Alle Teile hier.

 

Nach katholischer Lehre kommt die Ehe (die zwischen Getauften ein Sakrament ist) durch den Konsens, d. h. die freie Willensbekundung von Braut und Bräutigam, und durch nichts anderes, zustande. Auf dieser Lehre bestand die Kirche im Mittelalter sehr klar: Nicht die Einwilligung der Familien sorgte für eine gültige Ehe, auch nicht der Vollzug der Ehe, sondern allein der Konsens; Zwangsehen waren ungültig und konnten annulliert werden, und Ehen ohne die Zustimmung der Eltern oder heimlich geschlossene Ehen waren gültig.

Im Jahr 866 schrieb Papst Nikolaus I. (den ich in dieser Reihe schon öfter zitiert habe) an die Bulgaren, die mit verschiedenen Fragen an ihn herangetreten waren:

 

„Kap. 3. … Nach den Gesetzen soll allein die Einwilligung derer genügen, um deren Verbindung es sich handelt; wenn bei Hochzeiten allein diese Einwilligung fehlen sollte, so ist alles übrige, auch wenn es mit dem Beischlaf selbst begangen wurde, vergebens, wie der große Lehrer Johannes Chrysostomus bezeugt, der sagt: ‚Die Ehe macht nicht der Beischlaf, sondern der Wille’.“

(Nikolaus I., Brief „Ad consulta vestra“ an die Bulgaren, 13.11.866; in: DH 643)

 

Zu dieser Zeit war es noch möglich, dass ein Mann und eine Frau ohne irgendwelche weiteren Anwesende eine Ehe schlossen, indem sie einfach voreinander das Ehegelübde ablegten. Solche heimlichen Ehen kamen gelegentlich vor, sorgten dann aber auch für Probleme; z. B. konnte ein Mann eine Frau heimlich heiraten, und, wenn er ihrer überdrüssig war, sie verlassen, eine andere heiraten und behaupten, nie mit der ersten verheiratet gewesen zu sein. Die erste Frau hatte in diesem Fall kaum eine Chance vor einem Kirchengericht, da dieses ohne äußere Belege natürlich nicht feststellen konnte, ob sie die Wahrheit sagte oder vielleicht nur behauptete, mit ihm verheiratet zu sein, weil sie in ihn verliebt war und er sie verschmäht hatte.

Zudem konnten bei heimlichen Ehen die sog. Ehehindernisse nicht immer vorher entdeckt werden. Zu den Ehehindernissen, die eine Ehe ungültig machten, gehörte z. B. zu nahe Verwandtschaft der Brautleute, weshalb man, wenn man seine Cousine – oder auch seine Cousine zweiten Grades, die Tochter seines Taufpaten, oder seine verwitwete Schwägerin (damals war die Kirche in dieser Hinsicht noch strenger als heute) – heiraten wollte, erst einmal eine Sondergenehmigung (Dispens) vom Bischof beantragen musste. Wenn jemandem ein trennendes Ehehindernis nicht bewusst war und er dann heiratete, ohne einen Priester hinzuziehen, der ihn darauf hätte hinweisen können, war seine Ehe natürlich ungültig. Auch so ernste Dinge wie Frauenraub oder Gattenmord waren Ehehindernisse, d. h. ein Mann konnte nicht gültig eine Frau heiraten, die er zu diesem Zweck entführt hatte oder deren ersten Mann er zu diesem Zweck ermordet hatte. Oder auch ein früheres Keuschheitsgelübde verhinderte eine gültige Ehe; wer z. B. in einem Orden die ewigen Gelübde abgelegt hatte und dann das Kloster verlassen und sich an einem anderen Ort niedergelassen hatte, konnte nicht gültig heiraten. Ehen sollten also öffentlich geschlossen werden, damit vorher bekannt werden konnte, falls, sagen wir mal, der Bräutigam ein paar Jahre vorher ein Kloster verlassen hatte, und damit alles mit rechten Dingen zuging (kein Zwang o. Ä.), und für die Nachwelt dokumentiert wurde.

Es gab schließlich kirchliche Beschlüsse dazu, dass ein Kleriker und/oder weitere Zeugen bei einer Eheschließung anwesend sein mussten, und dass die Hochzeit vorher angekündigt werden musste (= das Aufgebot bestellt werden musste), damit jemand, der von einem möglichen Ehehindernis wusste, den Priester vorher darauf hinweisen konnte.

Zu diesen Beschlüssen gehört diese Vorschrift des 4. Laterankonzils von 1215:

 

„In die Fußstapfen Unserer Vorgänger tretend, verbieten Wir heimliche Eheschließungen völlig; Wir verbieten auch, daß sich ein Priester unterstehe, an solchen [Eheschließungen] teilzunehmen. Deshalb weiten wir die besondere Gewohnheit bestimmter Gegenden allgemein auf die anderen aus und bestimmen, daß, wenn Ehen geschlossen werden sollen, sie in den Kirchen durch die Priester öffentlich angekündigt werden sollen; dabei soll ein angemessener Termin festgesetzt werden, bis zu dem, wer will und kann, ein rechtmäßiges Hindernis entgegenstellen soll. Nichtsdestoweniger sollen auch die Priester selbst nachforschen, ob sich ein Hindernis entgegenstellt. […]“

(4. Konzil im Lateran, Kap. 51, 1215; in: DH 817)

 

Damit hatte das 4. Laterankonzil die heimlichen Ehen jedoch nicht ungültig, sondern nur unerlaubt gemacht – d. h., wer heimlich heiratete, hatte zwar gegen eine Vorschrift verstoßen und sich evtl. Kirchenstrafen zugezogen, war aber trotzdem gültig verheiratet (wenn kein Ehehindernis gegeben war). Das Konzil von Trient, das im 16. Jahrhundert im Zuge der Gegenreformation einberufen wurde, ging einen Schritt weiter:

 

„Kap. 1. [Beweggrund und Inhalt des Gesetzes] Auch wenn nicht daran zu zweifeln ist, daß heimliche Ehen, die in freiem Einverständnis der Partner geschlossen wurden, gültige und wahre Ehen sind, solange die Kirche sie nicht ungültig gemacht hat, und daher zurecht jene zu verurteilen sind, wie sie das heilige Konzil mit dem Anathema verurteilt, die leugnen, daß sie wahr und gültig sind, und die fälschlicherweise behaupten, Ehen, die von den Kindern ohne die Zustimmung der Familien geschlossen wurden, seien ungültig, und die Eltern könnten sie gültig oder ungültig machen: so hat die heilige Kirche Gottes sie nichtsdestoweniger aus äußerst triftigen Gründen immer verabscheut und verboten.

Da aber das heilige Konzil feststellt, daß jene Verbote wegen des Ungehorsams der Menschen nichts mehr nützen, und die schweren Sünden erwägt, die in ebendiesen heimlichen Ehen ihren Ursprung haben, vor allem aber [die Sünden] derer, die im Zustand der Verurteilung bleiben, wenn sie, nachdem sie ihre frühere Frau, mit der sie heimlich [die Ehe] geschlossen hatten, verlassen haben, mit einer anderen öffentlich [die Ehe] schließen und mit dieser in fortwährendem Ehebruch leben; da diesem Übel von der Kirche, die über Verborgenes nicht urteilt, ohne Anwendung eines wirksameren Heilmittels nicht Abhilfe geschaffen werden kann, tritt es in die Fußstapfen des unter Innozenz III. gefeierten [4.] heiligen Konzils im Lateran und gebietet, daß künftig, bevor die Ehe geschlossen wird, dreimal vom eigenen Pfarrer der [Ehe]schließenden an drei aufeinanderfolgenden Festtagen in der Kirche während der Meßfeier öffentlich verkündet werde, von wem die Ehe geschlossen werden soll; sind diese Verkündigungen erfolgt, schreite man, wenn sich kein rechtmäßiges Hindernis entgegenstellt, im Angesicht der Kirche zur Feier der Ehe, wo der Pfarrer, nachdem er Mann und Frau gefragt und sich ihres gegenseitigen Einverständnisses vergewissert hat, entweder sage: ‚Ich verbinde euch zur Ehe, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes’, oder andere Worte gebrauche, entsprechend dem üblichen Ritus einer jeden Provinz.

[Einschränkung des Gesetzes] Sollte aber einmal begründeter Verdacht bestehen, eine Ehe könne in böser Absicht verhindert werden, wenn so viele Verkündigungen vorausgegangen sind: dann soll entweder nur eine Verkündigung erfolgen oder die Ehe wenigstens in Gegenwart des Priesters und zweier oder dreier Zeugen gefeiert werden; danach sollen vor ihrem Vollzug die Verkündigungen in der Kirche erfolgen, damit, wenn irgendwelche Hindernisse vorliegen, sie leichter aufgedeckt werden, es sei denn, der Ordinarius selbst erachtet es für zweckmäßig, daß die eben genannten Verkündigungen erlassen werden, was das heilige Konzil seiner Klugheit und seinem Urteil überläßt.

[Sanktion] Diejenigen, die versuchen werden, eine Ehe anders zu schließen als in Gegenwart des Pfarrers oder – mit Erlaubnis des Pfarrers bzw. des Ordinarius – eines anderen Priesters und zweier oder dreier Zeugen: die erklärt das heilige Konzil für völlig [rechts]unfähig, auf diese Weise [eine Ehe] zu schließen, und es erklärt, daß solche [Ehe]schlüsse ungültig und nichtig sind, wie es sie im vorliegenden Dekret ungültig macht und für nichtig erklärt.“

(Konzil von Trient, Dekret „Tametsi“, 11.11.1563; in: DH 1813-1816)

 

Das Konzil von Trient verurteilte in seinen Beschlüssen verschiedene Ansichten der Reformatoren, insbesondere Luther, zur Ehe, u. a. auch die, dass die Polygamie oder die Scheidung möglich wären, oder dass die Ehe kein Sakrament, sondern nur „ein weltlich Ding“ wäre, und in diesem Dekret bezog es sich, was die Ehen ohne elterliches Einverständnis angeht, auf folgenden Abschnitt in Luthers Schrift „De abroganda missa privata“, Teil III, in der Luther sich gegen die „Erfindungen“ des Papstes wendet:

 

„Hierher gehört, dass er, was als Fallstrick für die Seelen gestellt ist, heimliche Ehen untersagt & trotzdem geschlossene dennoch stützt, gegen den Willen der Eltern, so die Söhne & Töchter gegen ihre Eltern rebellieren und die Ehe gegen ihren Willen bewahren lehrt, so dass, selbst wenn er das Recht der Eltern unberührt gelassen hätte, & die Kinder gelehrt hätte, ihren Eltern zu gehorchen, das Werk nichtig gewesen wäre durch sein törichtes und unwirksames Gesetz über die heimlichen Ehen. […] So sollen die Eltern wissen, dass es ihr Recht ist, die Ehen ihrer Kinder ungültig zu machen, & die Kinder sollen wissen, dass sie in diesen Dingen und in allem, was nicht gegen Gott geht, ihren Eltern gehorchen müssen, & dass ihre geheimen Ehen nichtig sind, wenn sie nicht schließlich durch demütige Bitten von ihren Eltern erreichen, dass sie als gültig anerkannt werden & verwünscht sei dieser Papst, der gegen Gott steht mit seinen Gesetzen.“

(„Huc pertinet, quod laqueo animabus posito, prohibet clandestina matrimonia & tamen contracta confirmat, inuitis parentibus, ita filios & filias parentibus rebellare, & contra eorum uoluntatem matrimonium seruare docens, qui si dimitteret ius parentum intactum, & obedire doceret filios parentibus, nihil opus foret sua stulta & stolida lege de clandestinis matrimoniis. […]Sciant itaque parentes sibi ius esse, matrimonia filiorum irrata faciendi, & filii sciant sese obedire debere in his & in omnibus, quae contra deum non sunt, parentibus suis, & matrimonia sua occulta nihil esse, nisi ea demum impetrent humili prece a parentibus rata haberi & execretur Papam istum aduersarium dei cum suis legibus.“ Quelle hier, Übersetzung von mir.)

 

Vermutlich liegt es an dieser theologischen Tradition der Reformation, dass es bei protestantischen Hochzeiten üblich ist, dass der Vater die Braut zum Altar führt, was in katholischen Traugottesdiensten nicht Tradition ist, oder dass sogar gefragt wird „Wer gibt diese Frau in die Ehe?“. (Gerade im englischen Sprachraum scheint es noch weiter verbreitet zu sein, dass der Pfarrer fragt: „Who gives this woman to be married to this man?“, worauf der Vater der Braut antwortet: „I do“.)

Und wieder ein Grund mehr, den Protestantismus nicht zu mögen!

 

PS: Auch der hl. Thomas äußert sich übrigens in der Summa zum Ehekonsens und zu Zwangsehen.

 

Aus dem Denzinger: Die antike Kirche über den Klerikerzölibat

Der „Denzinger“, genau genommen das „Enchiridion symbolorum definitionum et declarartionum de rebus fidei et morum / Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen“ ist eine ursprünglich von Heinrich Denzinger, in der um neue Dokumente erweiterten Fassung dann von Peter Hünermann, herausgegebene Sammlung von Glaubensbekenntnissen, Konzilsentscheidungen und päpstlichen Lehrschreiben im lateinischen/griechischen Original und in deutscher Übersetzung. Die Dokumente reichen vom Jahr 96 bis ins Jahr 2003 (in der 42. Auflage).

 Ich habe festgestellt, dass es ziemlich spannend ist, im Denzinger zu stöbern – da kommt einiges Unerwartete aus der Kirchengeschichte ans Tageslicht, und auch manches Kuriose. Vor allem aber bekommt man ein Gespür dafür, welche Probleme die Kirche zu einer bestimmten Zeit beschäftigten. Manche Themen kommen immer wieder auf (z. B. Fragen zur Ehe, oder zur Union der zwei Naturen in Christus, oder zum Vergehen der Simonie); manche nur ein- oder zweimal (z. B. wenn eine Synode diejenigen exkommuniziert, die Schiffbrüchige berauben). Im 17. Jahrhundert streiten die Theologen um die Gnadenhilfen, im 19. muss man sowohl den religiösen Indifferentismus als auch den Fideismus verurteilen.

 In dieser Reihe möchte ich einfach regelmäßig Zitate aus den meiner Meinung nach besonders interessanten Dokumenten bringen, wenn nötig mit einer kurzen historischen Einordnung. Die Zitierweise „DH [Zahl]“ gibt die Nummer an, unter der die Stelle im „Denzinger-Hünermann“ zu finden ist.

Alle Teile hier.

 

Manchmal wird behauptet, der Klerikerzölibat wäre erst im Mittelalter eingeführt worden. Das lässt sich leicht widerlegen, indem man sich antike Zeugnisse zu diesem Thema ansieht. Eins der frühesten ist ein Beschluss der Synode von Elvira (300-303):

 

„Kan. 33. Es wurde beschlossen, den Bischöfen, Priestern und Diakonen sowie allen Klerikern, die den Dienst versehen, folgendes Verbot aufzuerlegen: Sie sollen sich von ihren Ehefrauen enthalten und keine Kinder zeugen: jeder aber, der [es] tut, soll aus der Ehrenstellung des Klerikers verjagt werden.“

(Synode von Elvira; in: DH 119)

 

Auch von Papst Siricius (384-399) ist ein Brief zu diesem Thema überliefert:

 

„(Kap. 7, §8) … Wir haben nämlich erfahren, daß sehr viele Priester Christi und Leviten lange Zeit nach ihrer Weihe sowohl aus eigenen Ehen als auch aus schändlichem Beischlaf Nachkommenschaft gezeugt haben und ihr Vergehen mit dem Vorwand verteidigen, dass man im Alten Testament lese, den Priestern und Dienern [sei] die Erlaubnis zum Zeugen zugestanden.

[Gegen dieses Argument wendet der Papst ein:]

(§ 9) Warum wurden die Priester geheißen, im Jahre ihres Amtes sogar fern von ihren Häusern im Tempel zu wohnen? Aus diesem Grund nämlich, damit sie nicht einmal mit ihren Frauen fleischlichen Verkehr ausüben konnten, um in der Reinheit des Gewissens leuchtend ein Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen.

(§ 10) Daher bezeugt auch der Herr Jesus, nachdem er uns mit seiner Ankunft erleuchtet hatte, im Evangelium, daß er gekommen sei, das Gesetz zu erfüllen, nicht aufzulösen [Mt 5,17]. Und deshalb wollte er, daß die Gestalt der Kirche, deren Bräutigam er ist, im Glanze der Keuschheit erstrahle, damit er sie am Tage des Gerichtes, wenn er wieder kommt, ‚ohne Makel und Runzel’ [Eph 5,27] … finden kann. Durch das unauflösliche Gesetz dieser Bestimmungen werden wir alle, Priester und Leviten, gebunden, auf daß wir vom Tage unserer Weihe an sowohl unsere Herzen als auch Leiber der Enthaltsamkeit und Keuschheit überantworten, damit wir dem Herrn, unserem Gott, in den Opfern gefallen, die wir täglich darbringen.“

(Siricius, Brief „Directa ad decessorem“ an Bischof Himerius von Tarragona, 10. 2. 385; in: DH 185)

 

Damals war die Regelung etwas anders als heute: Verheiratete Männer konnten geweiht werden, allerdings mussten sie von ihrer Weihe an enthaltsam leben. Ich persönlich halte ja die spätere Regelung, nur Unverheiratete zu weihen, für besser. Aber man könnte ja mal den Befürwortern von „viri probati“ vorschlagen, es wieder so zu machen wie die frühe Kirche…

Filmkritik: „Voll verschleiert“

Was, er soll sich schwul stellen? Dann müsste er nicht mehr nur Angst vor den Taliban haben, sondern auch vor seinen Brüdern, seiner Mutter, seinem Vater… Nein, nein, beruhigt Armand den jungen afghanischen Flüchtling rasch. Er müsste doch nicht überall den Schwulen spielen. Nur vor dem Amt. Und niemand würde seine Akte zu sehen bekommen. Der Flüchtling ist immer noch nicht überzeugt von dem Plan, den ihm der Verein der Flüchtlingshelfer vorgeschlagen hat, um seine Chancen auf Asyl zu erhöhen: Sollte man nicht, na ja, die Wahrheit sagen?

Das ist eine der ersten Szenen in der französischen Komödie „Voll verschleiert“. Armand und seine Freundin Leila, die beide in Paris Politikwissenschaft studieren, engagieren sich in diesem Verein für Flüchtlinge, der es mit dem Recht und der Wahrheit nicht immer so genau nimmt; außerdem planen sie, in einigen Wochen zusammen für ein Praktikum bei den Vereinten Nationen in die USA zu gehen. Leilas Eltern sind schon verstorben und sie lebt mit ihrem jüngeren Bruder Sinna (ca. 18 oder 19 Jahre  alt) und ihrem älteren Bruder Mahmoud in einem Pariser Vorort mit hohem Migrantenanteil; Armands Eltern sind Iraner, die nach der islamischen Revolution ins Exil gegangen sind (er ein Kommunist, sie eine Feministin), und jetzt ein ausgesprochen säkulares Leben in einem gehobenen Pariser Viertel führen und sich weiterhin mit anderen Exiliranern gegen das Mullahregime engagieren.

Soweit ist alles gut, aber plötzlich stellt sich ein Problem für das junge Pärchen: Mahmoud, der ein Jahr lang in einem Hotel im Jemen gearbeitet hat, kehrt nach Frankreich zurück, und gleich am Flughafen stellt seine Schwester fest: Er hat sich verändert. Er trägt jetzt islamische Kleidung und Vollbart, und nimmt zuhause in der Wohnung angekommen sofort die Familienfotos ab, auf denen seine Eltern seiner Meinung nach nicht anständig angezogen sind, und hängt ein Poster des Gründers der Muslimbruderschaft auf. Sinna wird in Aussicht gestellt, er solle auch in den Jemen geschickt und über den wahren Islam unterrichtet werden. Außerdem will Mahmoud nicht dulden, dass Leila nach New York geht, und als er mitbekommt, wie sie Armand küsst, zerstört er ihr Handy und sperrt sie von da an in der Wohnung ein.

Doch hier können die afghanischen Flüchtlinge helfen, denen Leilas und Armands Verein beisteht. Einer von ihnen schlägt Armand vor, sich einfach mit dem Niqab (einem schwarzen Schleier, der nur die Augen freilässt) zu verkleiden, und Leila in diesem Aufzug zu besuchen. Armand tut das und rüstet sich außerdem vorher vorsichtshalber mit Wissen über den Islam aus. Er stellt sich bei Mahmoud als „Scheherazade“ vor: Leilas Verein habe sie geschickt, Leila solle ihr bei der Vorbereitung auf eine Prüfung helfen. Mahmoud ist bezaubert von der scheuen, frommen Scheherazade, die gleich bei ihrem ersten Besuch darüber redet, wie wichtig ihr der Glaube ist usw. Natürlich besucht „Scheherazade“ Leila von da an ständig, und schon nach ein paar kurzen Begegnungen mit ihr ist Mahmoud überzeugt: Allah hat sie ihm geschickt. Sie muss seine Frau werden.

ACHTUNG: SPOILER. Wer das Ende nicht wissen will, lieber nicht weiterlesen.

Leider ist Scheherazade davon nicht überzeugt: Nein – nein – sie sei nicht die Richtige für ihn – und überhaupt habe ihr Vater sie ihrem Cousin versprochen… Aber Mahmoud ist hartnäckig, und ist überzeugt, dass sie ihn auch will. Zwischendurch gerät Armand arg in Bedrängnis, z. B. als Mahmoud seine Freunde (alle überzeugte Islamisten, darunter ein frischer Konvertit, den die anderen ständig vergessen, bei seinem neuen islamischen Namen „Farid“ statt „Fabrice“ zu rufen) beauftragt, Scheherazade zu folgen, um herauszufinden, wo sie wohnt. Armand kann den Schleier nicht abnehmen, während sie ihm noch auf den Fersen sind, und als seine Eltern dann eine vollverschleierte Frau bei ihrem Haus entdecken, geraten sie in Panik: Könnte etwa das Mullah-Regime die geschickt haben, um ihnen nachzuspionieren? Immerhin hat seine Mutter gerade ein Oben-Ohne-Video veröffentlicht, in dem sie die iranische Politik angegriffen hat. Einen weiteren Anlass zur Panik gibt es für sie, als sie schließlich die Bücher zum Islam unter Armands Bett entdecken. Ist ihr Sohn dabei, sich zu radikalisieren? Aber als sie ihm beim Abendessen Schweinefleisch servieren und er es anstandslos isst, können sie sich wieder beruhigen.

„Scheherazade“ beeindruckt Mahmoud weiterhin, auch mit ihren Gedanken dazu, was wahre Frömmigkeit sei, und mit ein paar Zitaten aus persischer Poesie. Er will, dass sie jetzt seinen jüngeren Bruder über den Islam unterrichtet, und hört einmal mit, wie „Scheherazade“ gegenüber dem über die Religion verunsicherten Sinna ein paar Platitüden darüber, dass Gott die Menschen vielfältig erschaffen habe und nicht so engstirnig sei, wie ihn sich manche vorstellen, zum Besten gibt. Allmählich kommt er durch Scheherazades Einfluss von seinen allzu radikalen Ideen ab. Als Sinna ihn einmal darauf anspricht, wie er denn jetzt zum Heiligen Krieg steht, gesteht er ein, nicht mehr davon überzeugt zu sein. Überhaupt, wenn man die Ungläubigen töten sollte, müsste er als erstes seine Schwester töten. Sinna ist einen Moment lang beunruhigt, aber als ihm klar wird, dass Mahmoud das nicht so meint, dass man Leila töten sollte, ist alles klar und die beiden Brüder bauen wieder ein besseres Verhältnis zueinander auf.

Der Termin, an dem Leila und Armand in die USA reisen müssten, rückt näher, und sie hecken einen Plan aus, damit Leila zum Flughafen kommen kann. Mahmoud wird benachrichtigt, dass Scheherazades Vater mit ihm über eine Heirat mit ihr sprechen wolle. Auch hier springen wieder die Flüchtlinge ein: Mahmoud soll mit seiner Familie zu den Räumlichkeiten des Vereins kommen, und einige der Flüchtlinge spielen Scheherazades Vater, Brüder, und andere männliche Angehörige. Während Mahmoud und seine Freunde, die auch mitgekommen sind, mit ihnen sprechen, soll Leila, die sich für den Anlass verschleiern musste, in einem anderen Raum voller verschleierter Frauen warten. Unter den Schleiern stecken u. a. Armands Mutter und andere Exiliranerinnen, die mit seinen Eltern befreundet sind; nachdem sie von der Geschichte mit Leila erfahren haben, die ihr Sohn zunächst vor ihnen geheim gehalten hatte, wollten Armands Eltern Leila helfen, sich zu befreien. Die Mutter und eine ihrer Freundinnen schaffen Leila aus dem Haus und fahren sie zum Flughafen.

In der Zwischenzeit versucht „Scheherazades Vater“ angestrengt, Mahmoud Bedingungen zu stellen, die dieser nicht bereit wäre, anzunehmen. Zunächst: Mahmoud müsste vom sunnitischen zum schiitischen Islam konvertieren. Als er darauf dringt, sagt Mahmoud entschieden, dass er nicht wisse, wer damals bei der Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten im Recht gewesen sei, und dass er für Scheherazade auch konvertieren wolle, und sagt schließlich das Glaubensbekenntnis in der schiitischen Version auf, zum Entsetzen seiner Freunde. „Scheherazades Vater“ versucht es weiter: Er wolle einen traditionellen Brautpreis. 40 Kamele. Auch dazu erklärt Mahmoud sich bereit. Für Scheherazade will er alles tun.

Aber da bemerken seine Freunde, dass einige verschleierte Frauen das Haus verlassen. Mahmoud glaubt, eine von ihnen sei Scheherazade, und man wolle ihn betrügen und sie doch noch zu ihrem Cousin nach Afghanistan schaffen. Dieser Verdacht erhärtet sich für ihn, als sie dem Auto zum Flughafen folgen. Auf dem Flughafen entsteht dann noch eine verwirrte Verfolgungsjagd zwischen Mahmoud und seinen Freunden und mehreren verschleierten Gestalten. Leila hat ihr schwarzes Gewand abgelegt und schon eingecheckt, aber Armand will doch noch mit Mahmoud reden und als er – bzw. „Scheherazade“ – schließlich von ihm und seinen Freunden gestellt wird, gibt er sich zu erkennen und versucht alles zu erklären. Auch Leila kommt dann noch hinzu und erklärt ihrem Bruder ihre Lage.

Und Mahmoud? Ist erschrocken, aber am Ende verständnisvoll und verzeihend. Na, geh schon, sagt er am Ende mit einem leichten Lächeln zu seiner Schwester. Geh, bevor ich’s mir noch anders überlege! Er hat seine Lektion gelernt, seinem radikalen Glauben abgeschworen, und lässt Leila ihre Freiheit. Aber ganz gibt er den Glauben deswegen nicht auf: „Ich bin nicht wie du“, sagt er während ihres Gesprächs in beinahe entschuldigendem Tonfall zu Leila. „Ich brauche die Religion.“ (Diese Zeile habe ich noch wörtlich so im Kopf; die anderen Gespräche habe ich paraphrasiert; es ist schon knapp zwei Wochen her, dass ich den Film gesehen habe.)

Leila und Armand steigen ins Flugzeug, Happy End.

Tja, was soll man jetzt dazu sagen? Einige Teile des Films sind witzig und gelungen und gleichzeitig auch realistisch. Das Problem ist vor allem das Ende. Es ist schlichtweg unglaubwürdig.

Ob es nicht besser ist, die Wahrheit zu sagen? Diese Frage wirft der junge Afghane am Anfang auf. Aber der Film findet trotz der fast bis zum Ende durchgezogenen Lügengeschichte zu einem ganz simplen guten Ende. Wäre es nicht wahrscheinlicher, dass Mahmoud in Wut ausbricht, als er entdeckt, dass er nicht nur von seiner Schwester und ihrem Liebhaber hintergangen wurde, sondern sich auch, na ja, mehr oder weniger lächerlich gemacht hat, indem er sich in „Scheherazade“ verguckt hat? Man würde erwarten, dass er seine ursprüngliche Ansicht darüber, wie verkommen die moderne Welt sei, bestätigt fühlt, als er auf dem Flughafen entdeckt, wer unter dem Schleier gesteckt und seine Schwester in ihrem Zimmer besucht hat.

Aber auch schon seine vorige Deradikalisierung, und dann sein Eingeständnis, die Religion zu „brauchen“, wirkt einfach zu simpel. Kein überzeugter Muslim würde behaupten, religiös zu sein, weil er die Religion braucht – er ist religiös, weil man Allahs Offenbarung gehorchen muss. Radikal religiöse Menschen behandeln die Religion nicht wie eine Medizin zum Bestehen des Alltags – jedenfalls ganz sicher nicht eingestandenermaßen –, sondern sind der Ansicht, einfach der Wahrheit zu folgen, der man folgen muss. Mahmoud lässt sich mit ein paar liberalreligiösen Platitüden und schönen Gedichtzeilen von seinem Radikalismus abbringen. Aber von jemandem, der sich intensiv mit dem radikalen Islam beschäftigt hat, würde man erwarten, dass er liberal-religiöse Argumente à la „Gott kann doch nicht so-und-so sein“ kennt, Gegenargumente dafür parat hat – und vermutlich sowieso seit langen von ihnen genervt ist. Als nächstes drehen sie noch einen Film, in dem ein katholischer Priesteramtskandidat mit nichts als dem Argument „Du willst dein Leben lang keine Beziehung haben? Was kann Gott denn gegen Liebe haben?“ von seiner Berufung abgebracht wird. (Okay, das würde ich unseren Sendeanstalten wirklich zutrauen.)

Man könnte jetzt natürlich einwenden, dass Mahmoud vielleicht nur eine Kurzzeit-Bekehrung erlebt hat, eine religiöse Phase, die sich dann wieder gegeben hat. Dass er vielleicht nur gegen Ende seines Jemen-Aufenthalts kurz in streng religiöse Kreise geraten ist, sich überhaupt leicht beeinflussen lässt, und von seinem Radikalismus abgekommen ist, sobald ihm klar geworden ist, dass das doch eine ziemlich brutale, problematische Weltanschauung ist. Okay. Das wäre eine Erklärung für diese Figur. Aber dann ist diese Figur leider kein besonders beeindruckendes oder repräsentatives Exemplar eines Islamisten.

Der Film stellt Religion – bzw. den Islam, denn eine andere Religion kommt nicht vor – als etwas dar, das in geringen Dosen ja ganz gut sein kann, aber auch nicht unbedingt notwendig ist, und von dem man nicht zu viel abbekommen sollte. Wie so oft, wenn es um den radikalen Islam und den liberalen Islam geht, kommt eine Frage nicht vor: Ist der Islam die Wahrheit? Ist der radikale Islam die Wahrheit? Ist der liberale Islam die Wahrheit? Was ist die Wahrheit? Hier wird die Religion nur nach ihren praktischen Folgen bewertet – die einem sicher auch irgendwo Aufschluss darüber geben können, ob eine Religion die Wahrheit ist, aber nicht allein die Wahrheit einer Religion beweisen – und nur als eine Art Trostpflaster oder Placebo gesehen, die manche Leute – wie Mahmoud – halt „brauchen“ und andere – wie die emanzipierte, selbstbewusste Leila – nicht.

Besser gelungen ist die satirische Darstellung, wie fromme Muslime an das Thema Liebe und Ehe herangehen dürfen und können. Man darf sich nicht alleine treffen und sich nicht zu genau kennenlernen… also verliebt sich halt schon mal ein Mahmoud in eine „Scheherazade“ und will 40 Kamele besorgen, um sie sofort zu heiraten. Hier ist der Film natürlich übertrieben, aber auch nicht mehr, als es eine Komödie eben für gewöhnlich ist.