Kurze Frage

Kurze Frage: Wie kann es sein, dass in der Tagesschau im BR in der Berichterstattung zum Reformationsjahrestag ernsthaft der Satz vorkommt: „…der Ablasshandel, mit dem sich die Gläubigen von ihren Sünden freikaufen konnten“?

Ich meine, ernsthaft! Wie kann es sein, dass ein sich als seriös verstehender öffentlich-rechtlicher Sender, und zwar auch noch einer aus dem irgendwann früher mal katholischen Bayern, nicht in der Lage ist, zu recherchieren, was etwas, das er für seine Zuschauer definieren will, IST? Wie kann es sein, dass Leute so wenig Ahnung auch nur von den Begriffen haben, um die es damals überhaupt ging, und sich dann nicht einmal mehr die Mühe machen, sie eventuell mal zu googeln, ehe sie darüber reden? Wie kann es sein, dass man nicht einmal den Unterschied zwischen Beichte und Ablass kennt, wenn man erklären will, worum es in der Reformation ging? Ich meine, hm, wenn jemand Ablass (den es immer noch gibt!!) und Ablassmissbrauch nicht auseinanderhalten könnte, könnte man ja in der heutigen Zeit eventuell noch nachsichtig sein, aber…! Ich meine…!

So. Ich beruhige mich mal wieder. Und verweise auf eine schöne Erklärung einer konvertierten Protestantin dazu, was Ablass eigentlich ist. Zwar glaube ich nicht, dass die BR-Redakteure meinen Blog lesen werden, aber, na ja, kann man nichts machen. Jetzt also bitte hier weiterlesen.

(Und hier noch mal die Originalquellen, Codex des Kanonischen Rechts und Katechismus der Katholischen Kirche)

Das ist nicht eure Erfindung!

Gelegentlich wird es einem in Vorlesungen oder Seminaren im Fach Theologie unterkommen, dass man vom Dozenten oder der Dozentin zu hören bekommt, XYZ sei eine Idee, die vom Zweiten Vatikanum eingeführt worden sei und damit das theologische Denken großartig vorangebracht habe. „Zweites Vatikanum“ lässt sich hier oftmals auch ersetzen durch irgendeinen Theologen, irgendeine theologische Strömung oder Bewegung, oder gegebenenfalls irgendeinen Heiligen. XYZ kann alles Mögliche sein: „positive Sicht auf Sexualität“ oder „Betonung der göttlichen Barmherzigkeit“ oder irgendeine Form der Bibelinterpretation oder „Mitwirkung der Laien an der heiligen Messe“.

Immer wieder sind diese Behauptungen aber leider ziemlicher Unsinn. Und leider auch Unsinn, der nicht nur auf theologische Vorlesungen beschränkt ist. Gerade in der Hagiographie ist es beliebt, irgendeinem Heiligen anzudichten, er habe etwas als erster entdeckt, damit man ihn entsprechend loben kann. Die entsprechenden Heiligen sind nun ja auch oft sehr für das zu loben, was sie getan haben, das Problem ist hier nur: Wenn man unterstellt, dass vor ihnen in der ganzen Kirchengeschichte niemand auf dieselbe Idee gekommen sei, dann unterstellt man allen diesen früheren Christen oft ziemlich unsinnige Sachen.

Nehmen wir mal, weil es gerade so schön passt, das Thema Barmherzigkeit. Irgendein sich kirchlich nicht so auskennender Journalist wird vielleicht schreiben, die Betonung der Barmherzigkeit sei eine Erfindung von Papst Franziskus. Jemand, der sich ein kleines bisschen besser auskennt und für die pfarrliche Kirchenzeitung einen Artikel über die Mitpatronin des letzten Weltjugendtags, die hl. Faustyna (1905-1938) verfassen soll, wird darin vielleicht hervorheben, dass von dieser Heiligen das Bild vom „Barmherzigen Jesus“ stammt, und dass sie eben als erste so sehr diese Barmherzigkeit betont habe, was ja in der damaligen Zeit was ganz Neues und Besonderes gewesen sei. Wer auch immer den Wikipedia-Artikel zur hl. Thérèse von Lisieux (1873-1897) geschrieben hat, will dagegen sie als maßgebliche Impulsgeberin darstellen, was die Sache mit der Barmherzigkeit angeht. Ihr „Wunsch, sogar die Sünder zu lieben“ wird als „für ihre Zeit revolutionär“ (ernsthaft!) dargestellt. Ja, hm. Als nächstes liest man dann irgendwo, dass in derselben Hinsicht „für ihre Zeit revolutionär“ (oder so ähnlich) auch schon die hl. Margareta Maria Alacoque (1647-1690) mit der Einführung der Herz-Jesu-Verehrung gewesen sei. Ja, und wenn man dann irgendwann noch erfährt, dass, sagen wir mal, das geflügelte Wort „Liebe den Sünder, hasse die Sünde“ eigentlich schon vom hl. Augustinus (354-430) stammt und dass tatsächlich so ziemlich, na ja, immer in der Kirchengeschichte von der Barmherzigkeit Gottes geredet und geschrieben wurde, dann fragt man sich irgendwann, woher solche Verleumdungen eigentlich kommen.

Denn es sind Verleumdungen. Ja, es gab eine theologische Entwicklung im Lauf der Kirchengeschichte, die ist sehr wichtig (der sel. John Henry Kardinal Newman hat in seinem Buch „Development of Doctrine“ (dt. Übersetzung: „Entwicklung der Glaubenslehre“) alles Notwendige dazu geschrieben), aber wer unterstellt, dass die Christen vor dem 21. oder 20. oder 19. oder 17. Jahrhundert so grundlegende Sachen wie die Barmherzigkeit Gottes überhaupt nicht beachtet hätten – na ja, der verleumdet die Christen aus diesen früheren Zeiten, und das meistens ohne nachzuforschen, was sie denn tatsächlich überhaupt gesagt haben.

Ähnlich kann es mit den anderen Themen sein. Sowohl der hl. Augustinus als auch der hl. Thomas von Aquin (1215-1274) vertraten z. B. die Ansicht, dass die Schöpfungsgeschichte der Genesis nicht wortwörtlich zu interpretieren sei – ja, wirklich, die beiden allermaßgeblichsten katholischen Theologen aus Antike und Mittelalter waren dieser Ansicht. Was z. B. die participatio actuosa, d. h. das tätige Mitfeiern der hl. Messe durch die Laien – wobei mit diesem Begriff nicht gemeint ist, als Lektor oder Ministrant oder Redner o. Ä. mitzuwirken, sondern zu wissen und nachzuvollziehen und mitzubeten, was der Priester da so am Altar macht – ist Franz von Sales ein gutes Beispiel. Die Idee von der participatio actuosa wurde nämlich auch nicht erst durch die Liturgische Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts (die ja an sich ganz wunderbar war; die Volksmessbücher beispielsweise hat sie erfunden) aufgebracht; und natürlich erst recht nicht erst in den 60ern durch das letzte Konzil. „Bemühe dich also ganz besonders“, schreibt Franz von Sales im Jahr 1609, „jeden Tag der heiligen Messe beizuwohnen, um mit dem Priester das Opfer deines Erlösers Gott dem Vater für dich und die ganze Kirche darzubringen. […] Welches Glück für eine Seele, durch ihr frommes Gebet an einem so kostbaren und begehrenswerten Geheimnis mitzuwirken! 5. Um nun wirklich oder geistig das heilige Messopfer in der rechten Weise mitzufeiern, beachte folgendes: 1) Bereite dich mit dem Priester vor, ehe er an den Altar tritt; denke an Gottes Gegenwart, bekenne deine Unwürdigkeit, bitte um Vergebung deiner Sünden.“ (Usw.) (Einführung in das fromme Leben, Kapitel 14)

Solche Verleumdungen früherer Christengenerationen sind gar nicht selten, und sie nerven. Sie sind falsch. Die damaligen Christen hatten ihre charakteristischen Fehler, und wir haben unsere, aber sie waren oft durchaus christlicher, als man es ihnen zutraut, und locker auch mal christlicher als wir. Und ihre Fehler liegen auch nicht immer da, wo wir sie vermuten. Zum Beispiel hat in der ganzen Kirchengeschichte kein Theologe oder Papst je Zwangstaufen befürwortet. Ebenso gab es auch in Mittelalter und Renaissance Päpste und Bischöfe, die nicht unbedingt dem Bild der „Borgia“-Serie entsprechen, sondern tatsächlich sehr heilig und asketisch waren. Ich könnte noch viele Beispiele aufzählen, aber ich hoffe, es ist klar geworden, was ich sagen will: Auch wenn man seinen Blick darauf richten will, welche wirklichen theologischen Fortschritte und tieferen Einsichten es im Lauf der Kirchengeschichte gab – und die gab es natürlich; beim Konzil von Nicäa ebenso wie beim Konzil von Trient, bei Augustinus ebenso wie bei Thomas oder Thérèse, in der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts ebenso wie in der Katholischen Reform des 16. oder in der Liturgischen Bewegung; in der Kirche gibt es eine solche „Entwicklung der Glaubenslehre“, wenn auch diese Entwicklung nur eine Weiterentwicklung, nicht eine totale Veränderung bedeuten kann –, sollte man hier bei den historischen Tatsachen bleiben. Wahrhaftigkeit ist nie schlecht.

Leben retten, Leben nehmen

Vor ungefähr einer Woche (ich wollte eigentlich schon früher darüber schreiben, bin aber nicht dazu gekommen) lief auf ARD der Film „Terror“. Mein Eindruck davon im Ganzen: Sehr gut dargestellt und gespielt, sehr spannendes und auch tragisches Thema. Aber hier herrscht eine gewisse Verwirrung in Bezug auf grundlegende Prinzipien der Moralphilosophie.

Situation: Der Luftwaffenpilot Major Lars Koch muss sich vor Gericht wegen Mordes in 164 Fällen verantworten – er hat gegen den Befehl der Verteidigungsministerin ein von einem Terroristen entführtes Flugzeug abgeschossen, ehe es in ein Stadion mit 70.000 Menschen fliegen konnte. Das Spannendste am Film, was dem Ersten wahrscheinlich auch ungewöhnlich hohe Einschaltquoten beschert hat, war natürlich, dass die Zuschauer am Ende quasi als Schöffen abstimmen konnten, ob er schuldig oder nicht schuldig gesprochen werden sollte; 86,9 Prozent entschieden: nicht schuldig. Der Film wurde nach der Zeugenvernahme und den Plädoyers für die Abstimmung unterbrochen, und dann wurde das passende Ende mit der Urteilsverkündung gezeigt (vorher wurden zwei Versionen gedreht); Major Koch wurde freigesprochen.

Koch gab von Anfang an klar zu, was er getan hatte und sagte ebenso klar, dass er es für richtig hielt und wieder tun würde. Er hatte sich auch vorher, wie alle in seiner Einheit, intensiv darüber Gedanken über diese Frage gemacht, und war zu dem Schluss gekommen, dass diese Handlung richtig wäre. Das war natürlich die zentrale Frage, die die Zuschauer bewegte: Hatte er richtig gehandelt? War er ein Held oder ein Mörder?

Die Staatsanwältin im Film argumentierte durchweg mit dem grundgesetzlich begründeten Prinzip der Menschenwürde. Leben dürfe nicht gegen Leben aufgewogen werden. Punkt. Man darf nicht wenige Menschen töten, um viele zu retten. Der Verteidiger warf ihr vor, Prinzipien über Menschenleben zu stellen; man müsse eben abwägen. Kurz gesagt: Die Staatsanwältin hat durchweg die besser klingenden Argumente vorgebracht – aber sie hat deswegen noch nicht recht. Und das sahen auch die Menschen, die intuitiv erkannten, dass Major Koch kein Mörder war, auch wenn er und sein Verteidiger in ihrer Begründung um einiges besser argumentieren hätten können, und auch ein paar falsche Argumente vorgebracht haben.

Hier wird nämlich, auf beiden Seiten, ein moralisches Prinzip nicht einmal erwähnt: Das Prinzip der Handlung mit Doppelwirkung.

Es ist nicht so, dass es keine Gelegenheit gegeben hätte, dieses Prinzip zu erwähnen. In ihrem Plädoyer erwähnt die Staatsanwältin zwei konstruierte Beispiele aus der Rechtsphilosophie, nämlich zwei Varianten des sog. Weichenstellerfalls:

  • Ein führerloser Wagon rast auf einen Bahnhof zu, in dem ein voll besetzter Zug steht. Sie sind der Weichensteller und könnten den Wagon auf ein Nebengleis umlenken, auf dem aber fünf Arbeiter stehen, die sterben würden, wenn sie den Wagon umlenken würden. (Eine Fluchtmöglichkeit für die Arbeiter gäbe es nicht.) Wenn Sie den Wagon nicht umlenken würden, würden die hundert Menschen im Zug sterben.
  • Ein führerloser Wagon rast auf ein Gleis zu, auf dem ein voll besetzter Zug steht. Sie stehen auf einer Brücke über dem Gleis; neben Ihnen steht ein sehr dicker Mann, der den Zug allein durch seine Körpermasse stoppen würde, wenn Sie ihn auf das Gleis stoßen würden; damit wären die hundert Menschen im Zug gerettet. Dafür müssten Sie ihn mit Ihrem Taschenmesser töten und dann eben hinunterstoßen.

Die meisten Menschen würden im ersten Fall den Wagon umlenken, obwohl sie dabei den Tod von fünf Menschen in Kauf nehmen würden, im zweiten Fall aber nicht den dicken Mann töten, obwohl so nur ein Mann sterben würde. Daraus schließt die Staatsanwältin: Die Menschen handeln hier inkonsequent. Einmal wägen sie ab, das andere Mal nicht, allein aufgrund ihrer Gefühle. Man darf also grundsätzlich nie abwägen.

Und dieser Schluss ist falsch.

Denn die instinktive Reaktion der Menschen wäre richtig. Im ersten Fall tötet man nämlich keine unschuldigen Menschen – man nimmt den Tod von unschuldigen Menschen in Kauf, man lässt sie sterben; aber man tötet sie nicht. Das Prinzip der Handlung mit Doppelwirkung sagt folgendes: Es gibt Handlungen, aus denen zwei Wirkungen hervorgehen, eine gute und eine schlechte, in diesem Fall die Rettung der Zuginsassen und der Tod der fünf Arbeiter, intendiert ist die gute, die schlechte wird nur in Kauf genommen – und in diesem Fall kann es in bestimmten Fällen moralisch erlaubt sein, diese Handlung vorzunehmen.

Nach der katholischen Naturrechtslehre gibt es bestimmte in sich schlechte Handlungen, dazu gehört auch das direkte Töten unschuldiger Menschen, und diese können nie erlaubt sein, unter keinen Umständen. Töten schuldiger Menschen in Notwehr, oder indirektes Töten unschuldiger Menschen, kann allerdings in bestimmten seltenen Situationen nötig und richtig sein.

Das, was ich hier sagen will, hat auch Pater Recktenwald schon vor einiger Zeit sehr gut ausgedrückt:

„Es gibt in sich schlechte Handlungen, die moralisch nie gerechtfertigt sind. […] Hier gilt der Grundsatz: Der gute Zweck rechtfertigt nicht die schlechten Mittel. Dazu gehört z.B. der Mord. So ist es etwa einer Gruppe von Menschen, die sich in einer Situation extremer Hungersnot befindet, nicht erlaubt, einen Schicksalsgenossen zu töten, selbst wenn durch diesen Kannibalismus alle anderen gerettet werden könnten und ohne denselben alle zugrunde gehen würden. Bei solchen Handlungen verbietet sich jede Güterabwägung.

Daneben gibt es Handlungen mit doppeltem Effekt, nämlich einer guten und einer schlechten Wirkung. Das Entscheidende dabei ist, dass die gute Wirkung nicht eine Folge der schlechten Wirkung ist. In einem solchen Fall ist eine Güterabwägung erlaubt und notwendig. Als Beispiel soll die Situation dienen, in der das Leben einer verschütteten Gruppe von Bergleuten nur durch eine Sprengung gerettet werden kann, bei der ein Verletzter, der in zu großer Nähe des Sprengungsorts liegt und der nicht zuvor in Sicherheit gebracht werden kann, getötet wird. Diese Sprengung hat zwei Folgen: Die Tötung des Verletzten und die Rettung der restlichen Menschen. In diesem Fall darf und muß ich eine Güterabwägung vornehmen und den Tod des einen in Kauf nehmen um der Rettung der vielen willen.

Diese Rettung ist nicht, wie im ersten Beispiel, eine Folge der Tötung. Um sich dies klarzumachen, braucht man nur das Gedankenexperiment anzustellen, ob dieselbe Handlung auch sinnvoll wäre, wenn sie kein Todesopfer involvierte. In unserem Fall würde die Sprengung genauso ans Ziel führen, wenn nicht zufällig ein Verletzter in der Nähe läge. Dessen Tötung hat im Rahmen der Handlung den Charakter eines unglücklichen Umstands, sie definiert aber nicht dieselbe. Wenn wir das obengenannte Beispiel des Kannibalismus danebenhalten, fällt uns der Unterschied sofort ins Auge.

Mir scheint es klar zu sein, dass der Abschuß eines Passagierflugzeugs nach dem Prinzip der doppelten Wirkung beurteilt werden muß: Die Rettung der Menschen ist nicht eine Folge des Todes der Passagiere. Der Abschuss des Flugzeugs wäre genauso sinnvoll und zweckdienlich, wenn es keine Passagiere an Bord hätte. Deren Tod wird als tragischer Umstand in Kauf genommen, was in diesem Fall um so gerechtfertigter erscheint, als sie auch ohne Abschuß ihr Leben verlieren würden. Selbstverständlich käme diese Option nur als ultima ratio in Frage. […]

So klar der Fall in der Theorie ist, so schwierig dürfte die Urteilsfindung in der Praxis sein. Bei der Güterbewegung müssen folgende Faktoren berücksichtigt werden:

  1. Das positive Gut, das erreicht wird, muss das Gut, dessen Zerstörung in Kauf genommen wird, deutlich überwiegen
  2. Je größer das Gut ist, das geopfert werden soll, um so größer muss die Gewissheit der Gefährdung des Gutes sein, das gerettet werden soll.

Mit anderen Worten: Man darf das Flugzeug nicht auf bloßen Verdacht hin abschießen. Auch eine explizite Drohung der Terroristen ist möglicherweise nur ein Bluff. Erst wenn unmittelbar Gefahr in Verzug wäre, dürfte man zur Tat schreiten. Man mag sich viele verschiedenartige Szenarien vorstellen, aber es scheint die Notwendigkeit fast unvermeidlich, dass die Entscheidung über Leben und Tod innerhalb weniger Minuten oder gar Sekunden getroffen werden muß. Wer kann und sollte dies im konkreten Falle tun? Die Schwierigkeit spitzt sich zu, wenn Fragen wie die nach den Bodenopfern eines Abschusses miteinbezogen werden müssen […].

Auf dem Hintergrund solcher Fragen und der Furcht vor Fehlentscheidungen ist etwa das Unbehagen Volker Becks an einer generellen Billigung (was immer das heißen mag) nachvollziehbar. Wenn er aber als Begründung hinzufügt: ‚Eine Abwägung Leben gegen Leben kann es nicht geben. Es bleibt Unrecht, unschuldige Menschen zu töten’, dann stehen diese Worte in grandiosem Widerspruch zur heute allseits und auch von ihm akzeptierten Abtreibungspraxis, bei der Leben nicht nur gegen Leben, sondern gegen soziales, wirtschaftliches und psychologisches Wohlbefinden abgewogen wird und den Kürzeren zieht.

In der katholischen Moraltheologie der letzten Jahrzehnte gibt es eine einflußreiche Bewegung, die den Unterschied zwischen in sich schlechten Handlungen und solchen, die eine Güterabwägung erfordern, aufheben wollen, und zwar zugunsten der letzteren. Demnach bemißt sich die moralische Qualität einer Handlung ausschließlich nach der Gesamtheit ihrer Folgen. Man nennt dieses Konzept ‚Konsequentialismus’. Dieser kennt keine Handlungen, die in sich schlecht sind. […] [A]ls Papst Johannes Paul II. in seiner Rede vom 12. November 1988 auf der Existenz von in sich schlechten Handlungen beharrte, war dies einer der Gründe für den Aufruhr der 163 Theologen, die die ‚Kölner Erklärung’ unterschrieben und dem Papst ihren Widerstand erklärten. Während also diesen Theologen die kirchliche Lehre zu rigoristisch ist, ist sie es dem heutigen Grünen-Politiker plötzlich zu wenig. Dieser will die Güterabwägung am falschen Ort verweigern, jene an jedem Ort erzwingen.“

An einer Stelle des Films verteidigt sich Major Koch damit, dass man den Staat den Terroristen ausliefere, wenn man sich nach den Prinzipien der Staatsanwältin richte. Wie würden denn Terroristen auf so ein Urteil wie das des Bundesverfassungsgerichts reagieren? (Das kippte nämlich 2005 ein Gesetz, das das Abschießen von entführten Flugzeugen geregelt hatte, es sei grundgesetzwidrig; die Frage danach, ob ein einzelner Soldat wegen eines „übergesetzlichen Notstandes“ in einem Einzelfall wegen des Abschießens eines Flugzeugs verurteilt werden könnte, regelte es allerdings ausdrücklich nicht, was natürlich für eine ziemliche Rechtsunsicherheit in dieser Frage sorgt.) Sie würden natürlich erst recht Flugzeuge mit möglichst vielen unschuldigen Menschen entführen, weil sie sich denken, dass der deutsche Staat sich dann handlungsunfähig macht, weil er seine Leute nicht opfern will, und sie freie Hand haben. Das trifft die Situation genau – es wird nur leider nicht mehr genauer ausgeführt.

Ich möchte das an ein paar Beispielen erläutern:

  • Denken wir uns eine Geiselnahme, wie sie z. B. durch RAF-Terroristen geschahen. Die Terroristen haben unschuldige Menschen in ihrer Gewalt. Sie drohen, sie zu töten, wenn man nicht einige RAF-ler aus dem Gefängnis freilässt. Die deutsche Regierung hat in diesem Fall vollkommen richtig entschieden, sich grundsätzlich nicht erpressen zu lassen, wenn so etwas geschähe. Sie würde die Leben der Geiseln opfern – sie würde sie nicht töten, aber sie würde in Kauf nehmen, dass sie durch die Taten der Terroristen zu Tode kommen. So wurde z. B. Schleyer von der RAF getötet, weil die Regierung sich nicht erpressbar machte; auch bei der Entführung der „Landshut“ gab man nicht den Forderungen der Terroristen nach, sondern schickte die GSG-9, um die Geiseln zu befreien, was zwar deren Tod riskierte, aber im Endeffekt immerhin funktionierte.
  • Anderes Beispiel: Eine Gruppe der Hamas versteckt ihre Waffen und hält ihre Besprechungen für Angriffe auf Israel mit Absicht im selben Haus ab, in dem auch ein paar Dutzend ihrer Frauen und Kinder leben, bzw. sie bringt ihre Frauen und Kinder mit Absicht in ihrem militärischen Hauptquartier unter. Wenn Israel es dann bombardiert, kann sie stolz auf die Grausamkeit ihres Feindes verweisen, der einfach so Zivilisten umbringt; so wird es für Israel natürlich schwieriger, die Hamas-Quartiere anzugreifen, weil man ja eigentlich auch keine Zivilisten töten will.

Beides sind Fälle, in denen Terroristen Unschuldige als menschliche Schutzschilde verwenden. Koch, und die 87 Prozent, die für ihn gestimmt haben, erkannten ganz richtig, dass ein Staat sich nicht völlig handlungsunfähig machen darf, dass er seine Bürger auch vor Terroristen verteidigen muss, die Unschuldige als menschliche Schutzschilde verwenden. Denn nichts anderes tun Terroristen, die Passagierflugzeuge entführen. Koch sagt an einer Stelle der Verhandlung, die Menschen im Flugzeug seien nur noch ein Teil der Waffe des Terroristen gewesen; er formuliert es schlecht (die Staatsanwältin kommt dann ja auch gleich mit ihrem Vorwurf, er spräche ihnen jede Menschenwürde ab und sähe sie nur noch als Objekte), aber er hat irgendwo einen Punkt getroffen.

Meine Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Töten mag manchen haarspalterisch erscheinen. Ist es nicht doch einfach eine Abwägung, wie viele Leben man retten kann? Aber wenn man es genau durchdenkt, sieht man den Unterschied sehr genau.

Lars Koch hat nicht 164 Menschen getötet. Er hat ein Flugzeug abgeschossen und dabei in Kauf genommen, dass 164 Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit sterben werden. Er wollte sie nicht töten. Es wäre ihm sehr recht gewesen, wenn es Überlebende gegeben hätte. Er schoss ein Flugzeug ab, um 70.000 Menschen zu retten, und er hätte es auch getan, wenn sich darin einzig und allein der Terrorist befunden hätte. Eine solche Entscheidung muss nicht in jedem einzelnen Fall richtig sein. Aber sie ist nicht automatisch falsch. Und Koch hat so lange gewartet, wie er konnte. Er ist zusammen mit einem zweiten Piloten eine halbe Stunde lang neben dem entführten Flugzeug her geflogen, sie haben versucht, es abzudrängen und zur Landung zu zwingen, und Koch hat einen Warnschuss abgegeben. Das Flugzeug setzte schon zum Sinkflug an, und Koch sah keine Anzeichen dafür, dass die Passagiere noch etwas ausrichten könnten.

Ich möchte noch einmal ein Beispiel anführen, um den Unterschied zwischen dem direkten Töten Unschuldiger und einer solchen Handlung mit Doppelwirkung wirklich deutlich zu machen.

  • Ein Flugzeug ist entführt worden, und zwar von einem psychisch labilen Mann, der sich vor kurzem radikalisierte und zum IS Kontakt aufnahm. Zwei Polizisten kennen ihn von früher, leben im selben Wohnort wie er und haben seine Handynummer. Sie fahren zu seinem Haus und treffen dort seine Frau und seine fünf kleinen Kinder an, die sie gefangen nehmen und fesseln. Dann rufen sie den Terroristen an und drohen ihm damit, seine Familie zu foltern oder zu töten, wenn er das Flugzeug nicht sicher landen lässt. Er nimmt ihnen die Drohung nicht ab und lacht ihnen ins Gesicht. Das Flugzeug beginnt bereits den Sinkflug auf das mit 70.000 Menschen besetzte Olympiastadion. Also erschießt der eine Polizist die fünfjährige Tochter und beginnt dann damit, dem sechsjährigen Sohn nach und nach die Finger abzuschneiden. Der andere filmt es und sie schicken das Video dem Terroristen mit der klaren Ansage, dass es dem Rest der Familie ebenso ergehen wird, wenn er nicht abdreht. Der Terrorist ist vollkommen geschockt und verstört, der Co-Pilot kann ihm seine Waffe abnehmen und ihn überwältigen, und der Pilot kann das Flugzeug sicher landen. Die 164 Menschen im Flugzeug und die 70.000 im Stadion sind gerettet, nur ein Mensch musste sterben und einer hat zwei Finger verloren. Ein akzeptabler Preis?
  • Nehmen wir dagegen die Situation aus dem Film. Das Flugzeug ist entführt worden und setzt zum Sinkflug aufs Olympiastadion an. Major Koch schießt es ab. Die 164 Menschen im Flugzeug sterben, die 70.000 im Stadion sind gerettet. Ein akzeptabler Preis?

Den meisten Menschen würde ganz intuitiv das erste als falsch, das zweite als richtig erscheinen. Aber wieso? Im zweiten Fall sind doch auch Kinder gestorben, und zwar qualvoll.

Den Unterschied zwischen beiden Handlungen sieht man ganz einfach, wenn man sich die Frage stellt: Hätten besagte Personen das gleiche getan, wenn dadurch keine unschuldigen Menschen getötet worden wären? Hätte Major Koch sein Geschoss abgefeuert, wenn im Flugzeug nur der Terrorist gewesen wäre, oder wenn er gewusst hätte, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit alle Passagiere den Absturz überleben? (Ich spreche rein hypothetisch.) Natürlich hätte er. Hätte der Polizist im ersten Fall seine Waffe abgedrückt, wenn dadurch das Mädchen nicht gestorben wäre, und dem Jungen die Finger abgeschnitten, wenn der dadurch nicht Schmerzen und dauerhafte Schädigung erlitten hätte? Die Frage an sich ist schon lächerlich, nicht wahr? Natürlich nicht.

Der Tod bzw. die Folter der Kinder im ersten Fall wäre ein direkt gewolltes und angestrebtes Mittel zum Ziel, der Tod der Passagiere im zweiten Fall eine unbeabsichtigt in Kauf genommene Nebenfolge. Wenn ein Arzt einem Patienten Antibiotika gegen eine schwere Krankheit verabreicht, die bei diesem Patienten starke Nebenwirkungen, sagen wir mal, wochenlange Darmbeschwerden, auslösen, hat der Arzt den Patienten dann geschädigt? Nein, hat er natürlich nicht. Wenn aber ein Arzt einem Patienten Medikamente verabreichen würde, die wochenlange Darmbeschwerden auslösen, damit er an ihm deren genaue Wirkungsweise testen kann, um des medizinischen Fortschritts willen, dann hätte er ihn geschädigt und seine Menschenwürde verletzt. Und zwar, weil der Schaden hier direkt intendiert ist; und eben gerade keine Nebenwirkung, die man in Kauf nimmt, aber weder als Ziel noch als Mittel zum Ziel braucht oder verursachen will.

(Natürlich könnte man bei dem ersten Beispiel auch noch erwähnen, dass auch die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass ein fanatischer Terrorist erst recht damit reagieren würde, möglichst viele Menschen zu töten, wenn er das Video sieht, und damit hätte man eindeutig recht, aber es wäre auch falsch, die Kinder zu töten, wenn man eine hundertprozentige Garantie hätte, damit die 70.164 Menschen zu retten. Punkt. Aber hieran sieht man schon: Folgenabwägung schadet oft auch mehr als sie nützt.)

Die Staatsanwältin meint, man müsse die Menschenwürde opfern, wenn man die 70.000 Menschen retten wolle. Kochs Verteidiger meint, dann müsse man eben die Menschenwürde opfern. Aber sie irren beide; man muss es in diesem Fall nicht. (Und wenn man es in einem anders gearteten Fall müsste, dürfte man es nicht.)

Ich will das Prinzip noch an ein paar Beispielen mehr erläutern:

  • Man befindet sich in einem gerechten Krieg – zum Beispiel verteidigen sich England und die USA gegen Hitler-Deutschland. Nun gibt es Bomben, die man auf Deutschland werfen kann. Man könnte zum Beispiel eine Bombe auf eine Fabrik werfen, in der kriegswichtige Dinge produziert werden. Dabei wäre es möglich, dass Arbeiter sterben, weil sie nicht rechtzeitig in den Luftschutzkeller kommen, oder weil es da gar keinen Luftschutzkeller gibt, oder wieso auch immer. Es müsste einen wichtigen Grund geben, um den möglichen Tod dieser Arbeiter (unter denen vielleicht polnische oder jüdische Zwangsarbeiter sind) in Kauf zu nehmen. Wenn man ziemlich sicher weiß, dass dort Bomben am Fließband produziert oder sogar an der Atombombe geforscht wird, könnte es wohl gerechtfertigt sein, eine Bombe zu werfen. Wenn dort nur Kochgeschirr für die Wehrmacht produziert werden würde, wäre es das nicht. Hier heißt es, Güterabwägung.
  • Nehmen wir aber mal das Beispiel, dass England sagt, wir werfen Bomben auf Wohnviertel, mit dem direkten Ziel, dabei möglichst viele Zivilisten zu töten, damit die deutsche Bevölkerung mit Hitler unzufrieden wird und revoltiert, oder auch einfach aus Rache. Das wäre direktes Töten unschuldiger Menschen. Damit würde ihnen wirklich jede Würde genommen, sie würden nur mehr als Objekte behandelt. Es wäre falsch.
  • In der Serie „The 100“ ist die Erde nach einem verheerenden Atomkrieg völlig verstrahlt. Einige Menschen haben überlebt und ihr Immunsystem kann die Strahlung aushalten. Einige Menschen haben diesen Schutz nicht entwickelt, aber in einem geschützten unterirdischen Bunker überlebt. Allerdings leben sie da schon über hundert Jahre lang und mittlerweile dringt immer wieder Strahlung ein. Deshalb fangen sie Menschen von draußen, und lassen sich mit deren Blut behandeln, sprich sie lassen sich deren Blut durch ihre Adern laufen, wodurch die besagten Menschen natürlich sterben. An einer Stelle der Serie gibt es den sehr treffenden Wortwechsel zwischen zwei Figuren: „Ohne die Behandlungen sterben wir. Was sollen wir tun?“ – „Sterben.“ Vollkommen richtig, kann man da nur sagen. Man darf nicht Unschuldige töten, um andere damit zu retten.
  • Dasselbe Prinzip (Man darf nicht Unschuldige töten, um andere Unschuldige zu retten) wird an einem Beispiel deutlich, das die Staatsanwältin bringt, als sie Koch verhört. Wäre er auch bereit, einen Menschen töten zu lassen, damit eine ganze Menge schwerkranker Menschen durch seine Organe am Leben erhalten werden könnten? Natürlich wäre er das nicht, wie er sagt, aber er findet keine vollkommen logisch konsistente Antwort, als sie ihn fragt, wie denn das Verhältnis sein müsste, damit es gerechtfertigt wäre, wenige für viele zu töten. Und das liegt daran, dass sie die Frage falsch stellt. Es ist nie gerechtfertigt, Unschuldige direkt zu töten, um des (möglichen) zukünftigen Nutzens einer größeren Zahl willen. Aber das hat Koch auch nicht getan.

Das Problem ist hier wirklich: Die Leute kennen genaue Prinzipien der Moralphilosophie nicht mehr. Sie werfen mit Schlagworten (Menschenwürde vs. Güterabwägung) um sich, und haben keine Ahnung, dass man nicht zwischen diesen Prinzipien wählen muss, auch wenn sie instinktiv am Ende zur richtigen Entscheidung finden. Ich kann hier gar nicht genug einen Artikel von Robert Spaemann zum Thema Verantwortungs- und Gesinnungsethik von 1982 empfehlen (ursprünglich in der Herderkorrespondenz erschienen, online hier). Darin räumt Spaemann nämlich gründlich mit dieser vorgeblichen Wahl auf, vor den Staatsanwältin und Anwalt die Zuschauer stellen wollen, und die erst von Max Weber erfunden wurde und den ganzen Diskurs seither verwirrt hat. Es lohnt sich wirklich sehr, den Artikel im Ganzen zu lesen, er ist lang, aber es lohnt sich sehr, jeden einzelnen Abschnitt zu lesen. Aber ich möchte trotzdem mal die wichtigsten Abschnitte daraus zitieren (Hervorhebungen in fett gedruckten Buchstaben von mir):

„I.

In politischen und sozialethischen Grundsatzdebatten der Gegenwart taucht immer wieder jene Unterscheidung auf, die Max Weber eingeführt und als eine letzte, nicht mehr argumentativ entscheidbare Alternative zwischen zwei moralischen Grundhaltungen bezeichnet hat, die Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Als Verantwortungsethiker bezeichnete Weber denjenigen, der bei seinem Handeln die Gesamtheit der Folgen seines Handelns bedenkt und der die Bewertung dieser Folgen zum Maßstab seiner Entscheidung macht. Gesinnungsethiker nannte er denjenigen, der bestimmte Handlungen kontextunabhängig als moralisch oder unmoralisch qualifiziert, also ohne Rücksicht auf die Folgen bestimmter Handlungen oder Unterlassungen das tut, was er für das sittlich Gebotene hält. […]

Max Weber ordnet diese beiden Handlungen zwei verschiedenen Menschentypen zu, die Verantwortungsethik dem Politiker, die Gesinnungsethik dem Heiligen. Der Gesinnungsethiker habe den Beruf verfehlt, so meinte er, wenn er die politische Verantwortung für ein Gemeinwesen übernehme und so andere für die Folgen seine Haltung büßen lasse, als Heiliger aber würde er umgekehrt die Reinheit und Konsequenz seiner Lebensweise kompromittieren, wenn er begänne, strategisch zu handeln und die Gesamtfolgen seiner Handlungen beziehungsweise Unterlassungen jeweils zu kalkulieren.

Weber übersah freilich, daß Heiligkeit kein spezifischer Beruf und keine spezifische Lebensweise ist und daß es sehr wohl Heilige gegeben hat, die zugleich erfolgreiche Politiker waren, wie zum Beispiel Thomas Morus. […]

Ich möchte behaupten, daß die Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zwar sozialpsychologisch ergiebig sein mag, um bestimmte Personentypen idealtypisch zu charakterisieren, daß sie aber ziemlich ungeeignet ist, uns über die Eigenart des Sittlichen, über Ethik zu belehren. Gerade in der Entgegensetzung von Verantwortung und Gesinnung verlieren nämlich beide die Eigenschaft des Sittlichen. […]

Ähnlich wie mit der Weberschen Formel, die ihre Öffentlichkeitswirksamkeit immer noch behauptet, steht es mit einer verwandten Alternative, die in moralphilosophischen und theologischen Diskussionen heute eher dominiert. Man spricht hier von der Alternative zwischen deontologischer und teleologischer Moralbegründung. Deontologisch nennt man eine Ethik, die bestimmten Handlungsweisen ohne Rücksicht auf die Folgen die Prädikate ‚gut’ oder ‚schlecht’ zuspricht, teleologisch eine Ethik, die als Kriterium der Sittlichkeit einzig die Absicht gelten läßt, die Maximierung außersittlicher Werte – materieller, ästhetischer und humaner Werte – zum Maßstab des Handelns und Unterlassens zu machen. Man nennt solche Moralen auch utilitaristisch oder konsequentialistisch. Als Vertreter einer deontologischen Ethik wird gerne Kant genannt, weil er Handlungen, die nicht einer verallgemeinerbaren Maxime entsprechen, ausnahmslos verurteilt.

Der klassische Vertreter des Utilitarismus ist Jeremy Bentham mit seiner berühmten Formel, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl müsse Ziel jeder sittlichen Handlung sein. […]

Zunächst möchte ich mit Bezug auf die Unterscheidung von deontologischer und teleologischer Moral etwas Ähnliches sagen wie mit Bezug auf die Webersche Unterscheidung. Weder Deontologie noch Konsequentialismus treffen das Phänomen des Sittlichen. Eine rein deontologische Ethik kann es gar nicht geben. Sie ist eine bloße Karikatur. Ein Mensch, dessen Moral darin bestünde, ohne Rücksicht auf die Umstände immer bestimmte Handlungen auszuführen und andere zu unterlassen, wäre ein nicht lebensfähiger Idiot. Güterabwägung ist selbstverständlich die normale Art, sich sittlich, und das heißt immer auch vernünftig, zu verhalten. Von den Handlungsfolgen absehen kann man überhaupt nicht, wenn man handelt. Handeln heißt ja: bestimmte Wirkungen hervorbringen. Man kann Handlungen nicht einmal als Handlungen beschreiben, ohne ihren teleologischen Charakter in die Beschreibung aufzunehmen. Andernfalls beschreiben wir nur Körperbewegungen, was unter Umständen einen sehr komischen Effekt machen kann.

 Im Streit um Deontologie und Konsequentialismus geht es also gar nicht darum, ob wir für bestimmte Wirkungen unserer Handlungen die Verantwortung zu tragen haben oder nicht, sondern es geht darum, für welche Wirkungen – ob nur für diejenigen, die eine Handlung definieren, oder auch für die beabsichtigten ferneren Folgen oder auch für die Nebenfolgen, die in Kauf genommen werden, und wenn ja, für welche und in welchem Umfang? Bei der Beschränkung der Verantwortung auf die unmittelbaren Wirkungen unserer Handlungen hängt schließlich alles davon ab, wie wir die Handlung beschreiben.

Hegel hat schon darauf hingewiesen, daß man natürlich eine Brandstiftung so beschreiben kann, daß sie keine Brandstiftung mehr ist. Der Brandstifter hat lediglich ein winziges Häufchen Heu angezündet. Wer freilich im Ernst seine Handlungen so definiert, den werden wir vielleicht von der Verantwortung für den Brand der Scheune entlasten. Dafür werden wir ihn für unzurechnungsfähig erklären. Die Unterscheidung von Deontologie und Konsequentialismus führt uns hier nicht weiter. Die Frage lautet: Wer hat wofür Verantwortung? Was eigentlich ist Gegenstand unserer sittlichen Verantwortung, wenn wir handeln oder eine bestimmte Handlung unterlassen?

Der Konsequentialist antwortet: prinzipiell alles, zumindest alles, was wir hätten voraussehen können. Jeder hat die Pflicht, mit jeder Handlung und Unterlassung den Gesamtzustand der Wirklichkeit zu optimieren. Gut ist eine Handlungsweise, wenn ihre Folgen bei einem Vergleich mit den voraussichtlichen Folgen aller möglichen alternativen Handlungen besser oder zumindest gleich gut wären. Schlecht ist eine Handlungsweise, wenn es Alternativen mit besseren Folgen gäbe. Die Wertmaßstäbe, die bei der Bestimmung von gut und schlecht mit Bezug auf die Folgen zugrunde gelegt werden, müssen außersittliche Wertmaßstäbe sein, da ja sonst die Definition des Sittlichen zirkulär wäre. (Man darf also zum Beispiel nicht das gute oder schlechte Gewissen des Handelnden unter die Handlungsfolgen rechnen.) Man sieht leicht, woher das Modell zu dieser Konzeption stammt. Es stammt aus Bereichen, in denen Strategien der Nutzenmaximierung die adäquate Handlungsform darstellen. Der Konsequentialismus ist die Übertragung eines technischen Bewertungsmodells auf die Ethik. Sittliches Handeln ist in diesem Verständnis strategisches Handeln in Richtung auf eine universale Nutzenfunktion, es ist eine universale Optimierungsstrategie.

[…] [Z]um Zwecke einer solchen Optimierung bedürfte es eines Lösungsalgorithmus in einem geschlossenen Entscheidungsmodell. Das aber würde voraussetzen: 1. eine endliche Anzahl einander ausschließender Alternativen, 2. Bekanntheit der Alternativen und 3. eine klar definierte Zielfunktion sowie Regeln, mit deren Hilfe eine eindeutige Rangordnung der Alternativen gebildet werden kann.

[…] Es ist vollkommen phantastisch, alle möglichen Gesamtverläufe des Weltgeschehens einem Wertvergleich zu unterwerfen, dabei zu einer eindeutigen Rangordnung zu gelangen und das eigene Verhalten an seiner Nutzenfunktion für einen optimalen Verlauf der Dinge auszurichten. Hätten wir in diesem Sinne eine positive Universalverantwortung, so könnten wir nur resignierend mit Hamlet sagen: ‚Weh, daß zur Welt ich kam, sie einzurichten.’

Es wird heute vielfach von den Medien, von politischen und religiösen Predigern eine Verantwortung dieser Art suggeriert. Angesichts der Unmöglichkeit, sie wahrzunehmen, kann das nur zur Resignation und zur Abstumpfung des Gewissens gegenüber den wirklichen Verantwortlichkeiten führen. Die Alternative zu solcher Resignation ist der ideologische Fanatismus, der glaubt, einen Schlüssel für das Verständnis aller Übel der Welt in der Hand zu haben. Es genügt dann, sich auf der richtigen Seite politisch zu engagieren, um das gute Gewissen wiederzugewinnen. Man tut ja alles, was man kann, um die Welt in Ordnung zu bringen, weil man alle Übel an ihrer gemeinsamen Wurzel faßt. Die große Suggestion radikaler politischer Bewegungen für eine große Zahl junger Menschen folgt aus dieser konsequentialistischen Denkweise. Bei den meisten endet sie allerdings dann wiederum in Resignation.

In Wirklichkeit besteht aber zu einer ethischen Resignation niemals Anlaß. Sittliches Handeln ist heute so gut möglich wie eh und je. Es besteht nämlich gar nicht primär in einer solchen Optimierungsstrategie, und es ist auch falsch, das Gute in jeder Situation mit dem Bestmöglichen gleichzusetzen.

Die Forderung, immer das Beste zu tun, läuft auf jenen unerträglichen Rigorismus hinaus, für den das Wort gemacht ist: ‚Das Bessere ist der Feind des Guten.’ Das konsequentialistische Ethikverständnis, das sich selbst als verantwortungsethisch versteht, zerstört den Begriff der sittlichen Verantwortung durch Überdehnung. Die konkrete Verantwortung handelnder Menschen wird zu einer bloß instrumentellen Funktion im Rahmen einer stets fiktiv bleibenden Gesamtverantwortung.

[…] Das sittliche Gewissen des einzelnen wird dem Urteil von Wohlfahrtsstrategen untergeordnet, die ihn erst darüber belehren, welche Handlungsweisen er im Interesse des Gesamtwohls zu wählen hat.

Die Bereitschaft zu solcher Abdankung wurde erschütternd deutlich bei jenem Experiment, das vor Jahren in Nachahmung des amerikanischen Milgram-Experiments der Bayerische Rundfunk veranstaltete. Beliebige, von der Straße geholte Versuchspersonen zeigten sich damals, wenn auch nach einigem Widerstreben, bereit, einer anderen Versuchsperson Stromstöße bis an die Tödlichkeitsgrenze zu erteilen. Man hatte ihnen erklärt, daß dies von großer Bedeutung für die Entwicklung eines globalen lerntheoretischen Programms sei. Man kann sich sogar ausmalen, daß eine solche Verbesserung im Endeffekt schließlich zur Rettung von Menschenleben, zur Verringerung von Leiden usw beitragen würde. ‚Teleologische’, konsequentialistische Rechtfertigungsgründe für dieses Experiment lassen sich beliebig beibringen. Was die Leute übersahen, war: es gehörte gar nicht zu ihren Pflichten, sich für die Verbesserung der Lernerfolge auf der Welt einzusetzen. Verantwortung hatten sie in diesem Falle dagegen für eine bestimmte Person, nämlich jene, die ihrem experimentellen Zugriff ausgeliefert war. Diese war ihr ‚Nächster’ im Sinne des Gebotes der Bibel. […]

Ich mache darauf aufmerksam, daß das konsequentialistische Ethos einen Widerspruch enthält. Es verhindert unter Umständen gerade die wohltätigen Folgen, die es intendiert. Diese Einsicht hat gelegentlich zu einer Modifikation des Konsequentialismus geführt. Man sagt nun: Eben weil eine solche individuelle Optimierungsorientierung letzten Endes mehr Schaden als Nutzen bringt, sollte der einzelne nicht versuchen, sich unmittelbar bei jeder Handlung an einer persönlichen Vorstellung von irgendeinem Gesamtnutzen zu orientieren. Er sollte vielmehr einer vernünftigen Regel folgen, deren allgemeine Befolgung schließlich den größten Nutzen verspricht. […]

Man spricht in diesem Zusammenhang auch von ‚Regelutilitarismus’ im Unterschied zum ‚Handlungsutilitarismus’. Aber der sogenannte Regelutilitarismus verschleiert nur das Problem. Entweder er meint, man sollte immer die regelverstärkenden oder -schwächenden Wirkungen der eigenen Handlung mit bedenken. So verstanden ist der Regelutiliarismus nur eine verfeinerte Form des Handlungsutilitarismus. Er würde eine Abweichung von der Regel immer dann erlauben, wenn die Abweichung verborgen bliebe und deshalb keine Folgen für die Weitergeltung der Regel hätte. Oder aber die Meinung ist, man müsse einer Regel, die im allgemeinen nützlich ist, immer folgen, also auch dann, wenn das im Einzelfall eher schädlich, für die Geltung der Regel selbst aber folgenlos wäre. Dann haben wir es gar nicht mehr mit Utilitarismus, sondern mit einem besonderen, rigorosen Fall von Deontologie zu tun.

Aber gerade an diesem Falle kann man sich die Unfähigkeit des Konsequentialismus verdeutlichen, das sittliche Phänomen angemessen zu interpretieren. Der Regelutilitarismus kann nämlich den prinzipiellen Unterschied nicht sehen zwischen der Regel, bei Rot die Straße nicht zu überqueren, und zum Beispiel der Regel, ein Versprechen zu halten, das man einem Verstorbenen gegeben hat. Die erste Regel dient dem Schutz von Leben und Gesundheit und ist genauso lange sinnvoll, wie sie diese Funktion erfüllt. Natürlich werde ich bei Nacht, wenn kein Auto in Sicht ist und kein Kind zuschaut, bei Rot über die Straße gehen. Aber werde ich ebenso ungerührt mein Versprechen brechen, wenn der einzige Zeuge, der Verstorbene, verschwunden ist und niemandes Wohlbefinden durch den Bruch beeinträchtigt würde, mein eigenes Wohlbefinden aber sehr wohl durch die Einlösung? Wird hier nicht der Gesamtwert der Welt durch den Bruch des Versprechens vermehrt, nämlich um mein eigenes Wohlbefinden? Aber rührt sich hier nicht das Gewissen? Und warum? Weil das Sittliche sich eben nicht reduzieren läßt auf die innere Bereitschaft, die Maximierung außersittlicher Güter oder Werte zu befördern. Eine solche Verantwortungsethik enthüllt sich als das, was sie nicht sein will, als pure Gesinnungsethik. Sie entleert nämlich die Wirklichkeit aller sittlichen Qualitäten und verlegt das Sittliche ausschließlich in die Absicht eines Individuums, seine Verantwortung im Rahmen eines Optimierungsprogramms wahrzunehmen.

 Das normale sittliche Bewußtsein versteht sich ganz anders. Die Pflicht, ein Versprechen zu halten, ergibt sich gar nicht als Funktion eines Gesamtnutzens, also etwa der Erhaltung jener Annehmlichkeit, die sich aus dem allgemeinen Vertrauen unter Menschen ergibt. Es handelt sich gar nicht primär um die Pflicht gegen eine unbekannte Zahl unbekannter Personen, die irgendwo von einer Vertrauensverletzung mitbetroffen wären, sondern um eine Verantwortung, die sich aus diesem konkreten sittlichen Verhältnis ergibt, in das ich mich begeben habe, als ich ein Versprechen gab. Dieses Verhältnis zieht seinem Wesen nach ein Engagement nach sich: das Einlösen des Versprechens.

 Verantwortung ergibt sich stets aus Situationen, in denen wir uns befinden, aus sittlichen Verhältnissen. Sittliche Verhältnisse sind: Freundschaft, Ehe, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, zwischen Arzt und Patient, zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Berufskollegen usw., usw. Erst in solchen Verhältnissen entfaltet sich die sittliche Natur des Menschen. Sittliche Handlungen sind nicht Mittel zur Maximierung außersittlicher Güter, das Zweck-Mittel-Schema ist hier ganz unpassend.

[…]

Hier liegt nun folgender Einwand nahe. Es ist doch offensichtlich, daß es Fälle gibt, in denen man vom Halten eines Versprechens entbunden ist, weil sich eine vordringlichere Pflicht aufdrängt. Ist das nicht ein Beweis für die Richtigkeit des Konsequentialismus? Ein höheres Gut steht auf dem Spiel und verdrängt das niedrigere. Eine Güterabwägung scheint stattzufinden. Aber diese Interpretation trifft den Sachverhalt nicht. Es ist ja keineswegs so, daß ich vom Halten eines Versprechens immer dann dispensiert wäre, wenn mir einfällt, daß ich zur Verbesserung der Welt doch etwas viel Wirksameres beitragen könnte. Wenn es so wäre, dann stünde jedes Versprechen unter dem Vorbehalt: ‚Es sei denn, mir fällt inzwischen etwas Nützlicheres ein.’ Versprechen stehen wirklich meistens unter einem Vorbehalt, aber dieser stillschweigende Vorbehalt lautet: ‚Es sei denn, ich gerate in eine Situation, in der sich eine vordringliche Verantwortung ergibt.’ Zum Beispiel die Situation, der Nächste eines Menschen zu sein, dessen Leben in Gefahr steht.

Hier muß ich in der Tat zwei Verantwortungen gegeneinander abwägen, und in diesem Falle liegt das Resultat der Abwägung sogar auf der Hand. Aber die Pflicht zu dieser Abwägung ergibt sich aus einer ganz bestimmten Situation, einem bestimmten sittlichen Verhältnis, in das ich geraten bin. Es resultiert nicht aus so etwas wie einer allgemeinen Optimierungspflicht. Im übrigen gibt es Versprechen, die solche Situationen legitimer Verdrängung ausschließen, weil sie die Identität der Person selbst und damit auch ihre möglichen Verantwortlichkeiten überhaupt erst definieren. Das gilt vor allem für das Eheversprechen. Ein Mann hat nicht die Verantwortung für das Leben einer fremden Frau, die er vor dem Suizid nur dadurch retten könnte, daß er mit ihr schliefe. Die Pflicht zur Güterabwägung ergibt sich aus konkreten Verantwortlichkeiten, sie begründet diese nicht.

Nun befinden wir uns in einer Vielzahl sittlicher Verhältnisse, aus denen Verantwortungen resultieren und die zueinander in Konflikt treten können. Ich kann hier nicht versuchen, die Theorie einer Rangordnung solcher Verantwortlichkeit zu entwickeln. Es kam mir nur darauf an, zu zeigen, daß man eine solche Rangordnung – die übrigens tragische Konflikte nicht ausschließen muß – nicht ersetzen kann durch eine Art unmittelbarer Universalverantwortung eines jeden für alles und daß die Wahrnehmung sittlicher Verantwortung nicht dasselbe ist wie die Teilnahme an einer Strategie der Optimierung des Universums.

 Zwei Fragen bleiben zu stellen. Erstens: Gibt es nicht so etwas wie eine gestufte Verantwortung, ein Mehr oder Weniger an Verantwortung beziehungsweise eine Verantwortung, der wir mehr durch Handeln, und eine andere, der wir nur durch Unterlassen gerecht werden können? Zweitens: Gibt es Handlungsweisen, die ohne Ansehen der Umstände immer gut oder immer verwerflich sind? Wir können die Frage auch so stellen: Gibt es Verantwortlichkeiten, denen wir nur durch eine ‚deontologische’ Praxis gerecht werden können? Wir werden sehen, daß beide Fragen etwas miteinander zu tun haben.

Der Gedanke einer gestuften Verantwortung ist für jede konkrete Ethik unerläßlich. So haben Eltern in der Regel die positive Verantwortung für das Wohl und die Erziehung ihrer Kinder. Die subsidiäre Verantwortung des Staates bezieht sich – wie das Bundesverfassungsgericht neulich bekräftigt hat – nicht darauf, das Wohl und die Erziehung des Kindes zu optimieren, das heißt, sie den Eltern immer dann aus der Hand zu nehmen, wenn die Erziehung nach Auffassung der Behörden bei anderen Personen besser wäre als bei den Eltern. Fast allen Eltern müßten dann die Kinder weggenommen werden, denn wer erzieht schon seine Kinder so, daß jemand anders sie nicht vielleicht besser erzöge?

Aufgabe des Staates kann es nur sein, die Unterschreitung bestimmter Minimalforderungen, die sich aus der Menschenwürde des Kindes ergeben, zu verhindern und tätig zu werden, wenn diese gefährdet sind. Umgekehrt hat nicht jeder Bürger jede Handlung unmittelbar am Gemeinwohl zu orientieren; sein Beitrag zum Gemeinwohl besteht erstens darin, daß er die ihm eigenen spezifischen Verantwortlichkeiten wahrnimmt, und im übrigen besteht sie in einem Rechtsstaat vor allem im Gehorsam gegen die Gesetze sowie, falls es sich um einen mächtigen Staatsbürger handelt, um Verzicht darauf, den Gesetzgeber zu korrumpieren, das heißt in einer gemeinwohlwidrigen Weise zu beeinflussen. […]

Wir müssen, so sagte ich, menschliche Verantwortung als eine abgestufte verstehen. Es gibt dabei nach oben und nach unten hin eine Grenze, jenseits derer wir unsere Verantwortung nur noch negativ, durch Unterlassen wahrnehmen können, dies allerdings dann auch müssen, und zwar mit einer Eindeutigkeit und Striktheit, die bei der aktiven Verantwortlichkeit fast nie gegeben ist. Die Obergrenze liegt dort, wo das Ganze des Universums beziehungsweise der Welt und der Menschheit ins Spiel kommt, die untere Grenze dort, wo die Würde der einzelnen Person tangiert wird.

Was die Welt als Ganze betrifft, so ist der Gedanke einer Verantwortung für sie neu. Für die Alten hatte ausschließlich Gott das bonum universi zu besorgen. Wir sind in einer anderen Lage. Die Dimensionen menschlicher Aktivität haben eine Reichweite erlangt, daß zumindest ihre unbeabsichtigten Nebenfolgen die Erde als Ganze in Mitleidenschaft ziehen. Die Interdependenzen der verschiedenen Handlungsbereiche nehmen zu. Wir wachsen in eine Epoche hinein, in der Begriffe wie ‚Menschheit’, ‚Kosmos’, ‚Natur’, ‚Geschichte’ beginnen, so etwas wie ein sittliches Verhältnis zu bezeichnen, aus dem sittliche Verantwortlichkeiten folgen.

[…] Soviel kann generell gesagt werden: Verantwortung wächst mit der Macht. So hat ein Unternehmer in normaler Situation nicht die Verantwortung für alle ökologischen Folgen, die sich aus dem Zusammentreffen seiner legalen Tätigkeit mit der vieler anderer ergibt. Es ist die Verantwortung des Staates, diese Nebenwirkungen durch gesetzliche Rahmenbedingungen in Grenzen zu halten. Anders dort, wo mächtige Konzerne schwachen oder korrupten Regierungen in armen Ländern gegenüberstehen. […] Daß man sich allerdings mit der Übernahme von Verantwortung auch übernehmen kann, zeigt das deutsche Asylrecht. Die Zahl der Menschen auf der Welt, die aufgrund echter Gefahr für Leib und Leben dieses Recht in Anspruch nehmen könnten, ist so groß, daß dies den Zusammenbruch unseres Staatswesens zur Folge haben könnte, wenn auch nur ein erheblicher Prozentsatz von ihnen dies täte. Hier gilt zweifellos der Satz des Evangeliums, daß der, der einen Turm bauen will, gut daran tut, zuvor die Kosten zu berechnen. Menschenrechte auf bestimmte Leistungen anderer Menschen können immer nur bedingte Rechte sein, denn die Erfüllung setzt erstens immer voraus, daß es Subjekte entsprechender Pflichten gibt, die diese Leistungen zu erbringen auch imstande sind, und es setzt voraus, daß diese Subjekte nicht vielleicht durch vordringlichere Pflichten an der Erfüllung dieser Ansprüche gehindert sind. Abwehrrechte hingegen, die andere nur dazu verpflichten, bestimmte Handlungen zu unterlassen, sind jederzeit erfüllbar. Sie sind daher strikter als jene. Es ist sehr folgenreich, wenn man – wie es die Marxisten tun – diese Rangordnung umkehrt und die elementaren Freiheitsrechte des Menschen seinen Ansprüchen auf soziale Leistungsgarantien unterordnet.

Die Verantwortung gegenüber Geschichte und Natur ebenso wie gegenüber der Würde des Menschen ist vor allem negativer Art. Wir können nicht die Probleme kommender Generationen im voraus lösen. Wir können ihnen nicht ihre Lebensweise vorschreiben und dürfen es nicht. Wir haben keine Verantwortung für das, was sie aus ihrem Leben machen. Verantwortung haben wir dafür, wie wir ihnen die Welt hinterlassen. Wir haben einerseits nicht das Recht, sie durch technische Transformationen unumkehrbarer Art auf eine Lebensweise zu verpflichten, die sie nicht wünschen. Vor allem aber haben wir die Pflicht, ihnen das in Jahrmillionen entstandene natürliche Erbe als ein Kapital zu übergeben, von dessen Zinsen wir gelebt, das wir selbst aber nicht angegriffen haben. […] Die Verantwortung für Planung und Organisation solcher Unterlassungen ist in erster Linie eine solche des Staates. Denn es ist ja nicht das Handeln des einzelnen, das die irreversiblen Schäden verursacht. Diese sind vielmehr Nebenfolgen des Handelns vieler Bürger. Diese aber zu neutralisieren ist Aufgabe des Staates.

Anders ist es mit jener Verantwortung, die jeder Mensch jedem einzelnen Menschen gegenüber hat. Verantwortung gründet in sittlichen Verhältnissen, in denen wir miteinander stehen. Auch mit dem fremdesten Menschen kann ich ohne mein Zutun in ein Verhältnis der Nähe geraten, wo seine oder meine Existenz davon abhängt, daß der eine den ‚anderen liebt wie sich selbst’. Abhängigkeit begründet Verantwortlichkeit. Aber die Situation einer unmittelbar geforderten aktiven Nächstenliebe ist nur die situationsbedingte Aktivierung eines fundamentalen sittlichen Verhältnisses, das uns mit jedem Menschen verbindet. Die Verantwortung, die sich aus diesem Verhältnis generell ergibt, hat Kant mit der Formel ausgedrückt: ‚Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.’

 Es ist gegen diese Forderung eingewandt worden, daß sie nicht operationalisierbar sei. Wir machen, so sagt man, einander doch ständig zu Mitteln für unsere Zwecke, und die Kantische Formel setze dem ebensowenig eine eindeutige Grenze wie der Begriff der Menschenwürde. Das stimmt jedoch nicht. Erstens verbietet die Formel nicht, den anderen zum Mittel zu machen, sondern sie setzt der Instrumentalisierung Grenzen. Die Grenze besteht darin, daß der andere nicht auf eine solche Weise Mittel und Objekt für mich werden darf, daß dabei sein Status als Subjekt eigener Zwecke, in deren Verfolgung wiederum auch ich als Mittel zu fungieren habe, vernichtet wird. Daraus folgt zum Beispiel die Unsittlichkeit eines Sklavenstatus, der den Untergebenen aller Rechte beraubt und seine ganze Lebenszeit zur Disposition seines Herrn stellt. […]

 Schon Aristoteles und ihm folgend die gesamte europäische Tradition kennt daher Handlungen, die kontextunabhängig immer als verwerflich gelten. ‚Kontextunabhängig’ ist aber hier das falsche Wort. Jeder Mensch ist schon für sich selbst ein ‚Kontext’, ein Sinnganzes. Vermittelt durch seine organische Natur, ist er durch ein bestimmtes Selbstverhältnis definiert, aufgrund dessen wir von Subjektivität oder Personalität sprechen.

Dieses Selbstverhältnis ist die Voraussetzung dafür, daß der Mensch überhaupt in vielerlei andere sittliche Verhältnisse eintreten kann. Dieses Selbstverhältnis ist kein Sachverhalt, den wir herstellen können; wir können seine Entstehung nur begünstigen. Und Handlungen, die dies tun, nennen wir ‚gut’. Man kann jedoch nicht ein für allemal unabhängig vom übrigen Lebenskontext sagen, welche Handlungen das sind. Wohl aber kann man bestimmte Handlungsweisen nennen, die dieses Verhältnis, das heißt die Menschenwürde, immer verletzen. Diese merkwürdige Asymmetrie bringt der alte scholastische Satz zum Ausdruck: ‚bonum ex integra causa, malum ex aliquo defectu.’ Es gibt, so schreibt Thomas von Aquin, keine Handlung, die adäquat und unsimulierbar immer Liebe ausdrückt und die von der Liebe immer und überall gefordert ist. Wohl aber gibt es Handlungen, die immer und überall mit der menschlichen Verantwortung gegen sich und seinesgleichen, das heißt also auch, die immer mit der Liebe unvereinbar sind.

Wenn wir den traditionellen Kanon solcher stets verwerflichen Handlungsweisen durchgehen, so finden wir, ohne daß das bisher in der philosophischen und theologischen Tradition ausdrücklich reflektiert worden wäre, darin eine bestimmte Struktur personaler Selbstdarstellung sehr genau abgebildet, einer Darstellung, die nicht in der Verfügung des Menschen steht, sondern die den Namen ‚natürlich’ verdient. Es sind drei Sphären, in denen sich die Personalität unmittelbar ausdrückt und zu denen sie sich deshalb nicht rein instrumentell verhalten kann, ohne die eigene oder die Würde anderer zu verletzen: das organische Leben, die Sprache und die Sexualität.

 Dem entspricht, daß in der klassischen philosophischen und theologischen Tradition die absichtliche und die direkte Tötung unschuldiger und wehrloser Menschen, die absichtliche Täuschung des Vertrauens durch unwahre Rede und die Herauslösung der Sexualität aus ihrem integralen humanen Kontext jeder weiteren Güterabwägung entzogen und für jederzeit unverantwortlich erklärt wurde. Lediglich mit Bezug auf die Lüge gab es unter den theologischen Moralisten gewisse Meinungsverschiedenheiten, die mit einem ungenügenden Begriff von Sprache zusammenhingen. Es gehört nämlich zur menschlichen Rede nicht nur ein Sprecher und dessen Wort, sondern auch ein Adressat und dessen Weise, das Wort aufzufassen. Das Erzählen von Märchen ist keine Lüge. Zum Vollsinn einer wahrheitsbezogenen Rede gehört, daß sie vom Adressaten als eine solche aufgefaßt wird. Der Kriegsgegner, der polizeiliche Fahnder, der fragt, ob ich einen Menschen versteckt habe, befindet sich zum Sprecher gar nicht in jenem sittlichen Verhältnis des Vertrauens, das eine wahrhaftige Rede erforderlich macht. Bekanntlich kann man ja jemanden, der ohnehin davon ausgeht, daß ich lüge, gerade dadurch in die Irre führen, daß man ihm die Wahrheit sagt. Wo aber ein solches Vertrauensverhältnis existiert, wo der Fragende – zum Beispiel der Patient oder der Ehepartner oder der Freund – zu der Erwartung berechtigt ist, daß ihm vom Arzt, vom Ehepartner oder vom Freund die Wahrheit gesagt wird, da verstößt es in der Tat gegen die Menschenwürde, aus irgendeiner noch so menschenfreundlichen Erwägung heraus die Unwahrheit zu sagen, sich selbst als Person hinter seiner Rede zum Verschwinden zu bringen und den anderen zum bloßen Objekt – und sei es auch der Fürsorge – zu degradieren, während er glaubt, Partner in einem Kommunikationsverhältnis zu sein. Die Lüge, so sagt Kant, ist in erster Linie eine Verletzung der Verantwortung gegen sich selbst, weil sie die konstitutive Identität von Innen und Außen zerstört, die das sittliche Selbstverhältnis ausmacht.

Eine zweite Dimension der Personalität und Menschenwürde ist die Sexualität. Sie engagiert die Person als Ganze auf solche Weise, daß ihre zweckrationale Instrumentalisierung im Dienste der Maximierung irgendwelcher Werte oder Güter dem Selbstzweckcharakter jedes einzelnen Menschen widerspricht. Das moderne Bewußtsein hat hiermit besondere Schwierigkeiten. Die Sexualmoral der klassisch-europäischen Tradition, zu der auch noch die Aufklärungsphilosophen Rousseau, Leibniz, Wolff, Kant und Fichte zählen, beruht auf zwei Voraussetzungen, die dem sogenannten modernen Bewußtsein entgegengesetzt sind. Die erste Voraussetzung ist die: Die Menschenwürde gründet in der Fähigkeit des Menschen zur vernünftigen Selbstbestimmung, also in einem Selbstverhältnis, das sich nicht von selbst herstellt, sondern dessen reine Realisierung – ‚Wo Es war, soll Ich werden’, sagt Freud – selten gelingt. […]

Offensichtlich endet jede Güterabwägung dort, wo es sich um die direkte Tötung eines wehrlosen und unschuldigen Menschen handelt. Sie ist immer unverantwortlich. Ihre Verhinderung muß in der Güterabwägung des Staates einen höheren Rang einnehmen als die positive Ermöglichung dieser oder jener Formen freier Persönlichkeitsentfaltung. Aber wie alle aktiven Handlungspflichten im Unterschied zu Unterlassungspflichten der Güterabwägung unterliegen, so auch die Pflicht der aktiven Verhinderung von Tötungsdelikten. Solange die richtige Rangordnung der Güter gewahrt ist, bleibt hier immer ein verantwortungsethischer Spielraum im Weberschen Sinne.

Anders dort, wo es um das Unterlassen einer in sich schlechten Handlungsweise selbst geht. Eine solche Unterlassung ist immer Pflicht, und der Staat, wenn er sie auch nicht immer und unter allen Umständen verhindern muß, darf sie doch nie anordnen, finanzieren oder begünstigen. Die Verhinderung unterliegt der Güterabwägung, die Ausführung oder deren Veranlassung nicht. Aus dem Gesagten ergeben sich unschwer Anwendungen für die Abtreibung einerseits, für die Abtreibungsgesetzgebung andererseits.

Es ergeben sich aber auch Konsequenzen für die Kriegführung. Die Verteidigung eines Landes – aus Gründen der Kostenersparnis oder zur Kompensation mangelnder Verteidigungs- und Opferbereitschaft der Bürger – auf technische Massenvernichtungsmittel zu gründen, die überwiegend die Zivilbevölkerung treffen, ist schlechthin unsittlich. Es gibt eindeutig sittliche Grenzen einer Abschreckungsstrategie. Abschreckung ist ja nur glaubhaft, wenn sie die wirkliche Bereitschaft zum Einsatz der entsprechenden Waffen wenigstens bei den Soldaten einschließt. Der Bischof Clemens August von Galen verurteilte während des letzten Krieges sogenannte Vergeltungsangriffe gegen die Zivilbevölkerung durch die deutsche Luftwaffe in England. Natürlich hielt er auch die Zerstörung deutscher Städte für kriminell. […]

Wer daran festhält, daß es Dinge gibt, die man nicht tun darf, der muß natürlich zugestehen, daß niemand für die Folgen der Unterlassung solcher Dinge die Verantwortung zu tragen hat. Eine atheistische Zivilisation neigt schon deshalb zum totalen Konsequentialismus in der Moral, weil dort, wo Gott nicht als Herr der Geschichte verstanden wird, Menschen versucht sind, die Totalverantwortung für das, was geschieht, zu übernehmen und so die Differenz zwischen Moral und Geschichtsphilosophie aufzuheben.

Die Entlastung von der Verantwortung für die Folgen der Unterlassung einer schlechten Handlung hatte der Gesetzgeber des alten Rom so formuliert: ‚Was gegen die Ehrfurcht, die Pietät, die guten Sitten ist, muß so betrachtet werden, als ob es unmöglich wäre.’ Der Sinn des Textes ist klar. Die Folgen der Unterlassung von physisch Unmöglichem hat bekanntlich niemand zu verantworten. Es gibt aber auch moralisch Unmögliches; und der Gesetzgeber verlangte, daß dies wie etwas physisch Unmögliches angesehen wird.

Jener Polizist, dem befohlen wurde, ein 12jähriges Judenmädchen zu erschießen, das ihn um sein Leben anflehte, hat wirklich geschossen. Sein sadistischer Vorgesetzter hatte ihm eine Alternative vor Augen gestellt: die Erschießung von 12 anderen unschuldigen und wehrlosen Personen. Der Polizist schoß und wurde wahnsinnig. Er tat, was er nicht mußte, weil er es nicht hätte können müssen. Jeder Mensch muß einmal sterben. Den Tod jener 12 Menschen hätte der Polizist sowenig zu verantworten gehabt, als wenn er keine Hände gehabt hätte. Hätte er nicht auch im Besitz von Händen sagen können: ‚Ich kann nicht’?

Wir haben eben wirklich keine Hände, keine Zunge und kein Geschlecht zu beliebigem Gebrauch, wobei es jedesmal nur auf die gute Endabsicht ankäme. Die überdehnte Verantwortungsethik führt in Wirklichkeit in die Unverantwortlichkeit reiner Gesinnungsethik. Es gibt eine Verantwortung für uns selbst. Was sich aus ihr ergibt, ist u. a. vorgezeichnet durch die natürliche Struktur der menschlichen Person. Diese Verantwortung setzt jeder anderen Verantwortung ihre Grenze. Je ähnlicher diese moralische Grenze einer physischen Grenze ist, je mehr sie sich dem Nicht-Können annähert, um so besser. Wir sprechen dann von Charakter. Der Charakter begrenzt unsere Disponibilität. Nur Menschen, die zu vielem bereit, aber nicht zu allem fähig sind, verdienen es, daß man ihnen Verantwortung anvertraut.“

Ich finde, das trifft es einfach auf den Punkt.

Das wirklich Zentrale ist das, was Spaemann über den Wert des einzelnen Menschen schreibt, der nie ausschließlich Mittel zum Zweck sein darf. Jeder Mensch ist gleich viel wert; also darf kein Mensch ausschließlich für andere Menschen oder den Fortschritt oder was auch immer ausgenutzt werden – wie es z. B. in der Embryonenforschung geschieht – sondern er hat einen Wert in sich, der respektiert werden muss. Aber man muss hier genau hinsehen: Was verletzt die Menschenwürde wirklich – und was eben nicht.

Ziemlich aufgeregt hat mich hinterher in der anschließenden Diskussion in „hart aber fair“ übrigens eine Teilnehmerin, die evangelische Theologin Petra Bahr. Sie behauptete nämlich, dass man aushalten müsse, dass man in dieser Situation nicht anders könne, als schuldig zu werden. Das ist vollkommener Unsinn. Schuld kann nur dann bestehen, wenn man eine Entscheidung zwischen richtig und falsch treffen kann. Manchmal ist es sehr schwierig, die richtige Entscheidung zu treffen bzw. festzustellen, was die richtige Entscheidung ist. Aber man wird nie zwangsläufig schuldig. Schuldig geworden sein heißt, dass man nicht hätte schuldig werden müssen und es trotzdem geworden ist.

Wobei ich damit auch nicht sagen will, dass es zwangsläufig Schuld bedeutet hätte, wenn Koch nicht geschossen hätte. Angenommen, er hätte vermutet, dass das Olympiastadion hoffentlich schon geräumt sein würde (was die Behörden am Boden versäumt hatten), und dass vielleicht die Passagiere noch etwas ausrichten könnten oder der Pilot das Flugzeug im letzten Moment hochreißen würde, hätte man ihm nicht einfach die Verantwortung (juristisch, moralisch) für den Tod der Menschen im Olympiastadion aufhalsen können. Ich bin nicht der Ansicht, dass er durch Schießen schuldig wurde, aber ich bin der Ansicht, dass man keinen Soldaten dafür bestrafen könnte, wenn er entgegen einem anderslautenden Befehl in einer solchen Situation nicht geschossen hätte. Unterlassungspflichten haben generell Vorrang vor Handlungspflichten, und es braucht den Respekt vor dem Gewissen des einzelnen. Dennoch halte ich Kochs Gewissensentscheidung in diesem Fall für richtig.

Was ich auch etwas bescheuert fand, war, dass die, die für „schuldig“ plädierten, immer mit „Aber unser Grundgesetz! Aber unser Grundgesetz!“ kamen. Das ist keine ausreichende Begründung. Unser Grundgesetz schützt die Menschenwürde, aber die Menschenwürde ist nicht bloß ein Verfassungsprinzip, sondern ein moralisches Prinzip, und das wird durch das indirekte Töten von unschuldigen Menschen nicht automatisch außer Kraft gesetzt. Und Moral steht sowieso über Verfassung. Wie der Herr von der Luftwaffe später in der Diskussion sagte: Ist Artikel 1 GG vom lieben Gott in Fels gemeißelt worden? Daran krankt die Argumentation der Staatsanwältin total. Sie behauptet, wir müssten uns auf das Grundgesetz verlassen, weil unser Gewissen und unsere Moral fehlbar seien. Ja, und woher haben wir bitte schön das Grundgesetz? Sollten wir nicht vielmehr mit unserem Gewissen erkennen, dass die vom Grundgesetz – einem menschlichen Gesetz – geschützte Menschenwürde richtig ist? Sie gräbt dem Grundgesetz das Wasser ab, indem sie es auf diesen Sockel hebt. An den Vertretern dieser Position fiel mir auch etwas negativ ihre Verachtung gegenüber dem „gemeinen Volk“ auf – da kamen dann solche Behauptungen wie, 87 Prozent der Menschen hätten gegen unser Grundgesetz gestimmt. Nun ist eine solche Aussage ja nicht automatisch elitär und überheblich und auch ich behaupte nicht, dass die Mehrheit immer recht ist, aber, na ja, in diesem Fall liegt die Mehrheit der Leute meiner Meinung nach nicht ganz so daneben.

Teilweise klang übrigens an, der Film appelliere zu sehr an die Gefühle der Zuschauer und stelle Koch zu positiv dar (er erinnere z. B. schon rein optisch an Stauffenberg; was stimmt, und man findet ihn wirklich sympathisch). Allerdings kam z. B. auch die Witwe eines Opfers des Abschusses als Nebenklägerin ausführlich zu Wort, man hatte wirklich Mitgefühl mit ihr, und die Staatsanwältin kam einem oftmals sympathischer vor als Kochs Anwalt; unausgewogen war der Film sicher nicht. Hier klang dann natürlich in der Diskussion auch der Vorbehalt gegenüber einer Art von Volksjustiz an, als ob es im Film um einen reellen Fall und nicht um eine Art Meinungsumfrage zu einem umstrittenen Thema ginge – da sollte man, denke ich, gelassen bleiben können.

Positiv ist mir aufgefallen, dass am Ende noch ein paar Zitate von einigen bekannten Persönlichkeiten zu diesem Thema eingeblendet wurden, darunter auch Bischof Mixa, der einen Abschuss für möglicherweise gerechtfertigt hielt. Wenigstens kam die katholische Position noch ganz kurz vor, wenn auch ohne ihre ausführliche Begründung. Auch sehr interessant fand ich, dass sich ein Mann aus dem Publikum meldete und berichtete, dass seine Lebensgefährtin Flugbegleiterin sei und die klare Meinung vertrete, auch wenn sie in einem entführten Flugzeug sei, solle man es abschießen.

Dabei musste ich auch an etwas denken, was Koch in der Verhandlung sagt. Er spricht von seinem Soldateneid, davon, dass er als Soldat auch bereit sein müsste, sein Leben für die Verteidigung seines Landes zu opfern. Hier erfasst er auch etwas sehr genau: Wenn eine Regierung ihre Soldaten in einem Krieg (angenommen, es ist ein gerechter Krieg, etwa ein Verteidigungskrieg) opfert, ebenso, wie wenn ein Pilot in einer wirklich ausweglosen Situation in Kauf nimmt, dass bei einem Angriff Zivilisten sterben, die auch sonst sterben würden (wie es hier ja der Fall ist; die Insassen des Flugzeugs hätten mit ziemlicher Sicherheit sowieso nicht überlebt), dann sind die Regierung und der Pilot nicht an deren Tod schuld – sondern die Angreifer, die Terroristen. Sie benutzen diese unschuldigen Menschen als Waffe.

Ich glaube, das ist auch einer der Gründe, warum man Major Koch, diesen aufrechten Soldaten in seiner Uniform, so sympathisch findet. Er drückt etwas aus, was man hierzulande lange vergessen hat: Den Geist des Opfers. Er verkörpert die Realisierung, dass es tragische Dinge im Leben gibt, die man nicht verhindern kann, die man auf sich nehmen muss und vor denen man auch andere Menschen nicht immer bewahren kann, auch wenn man es noch so gern möchte – und sicher, da kann man so einfach aus dem Sessel heraus darüber reden, da will ich gar nicht leugnen, dass es sich für die Leute im Flugzeug noch einmal anders anfühlen würde, aber es ist trotzdem so. Major Koch ist der exemplarische Soldat, der zu Opfern bereit ist – wenn es auch eine totale Verdrehung wäre, zu behaupten, er opfere sein Gewissen und werde um eines höheren Zweckes schuldig, wie Frau Bahr es anklingen ließ. Er wurde nicht schuldig; zumindest subjektiv handelte er richtig. (Was nicht heißt, dass es kein Opfer darstellt, so etwas tun zu müssen, was er getan hat, dass es einen nicht psychisch sehr belasten kann.) Natürlich stellt sich immer die Frage, wie es geregelt sein sollte, wer über einen Abschuss entscheiden dürfte, etc., aber das, was hier im Film beschrieben wird, war kein Mord.

Das ist kein Seins-Sollens-Fehlschluss!

In der Moralphilosophie gibt es das Konzept des Seins-Sollens-Fehlschlusses (auch Naturalistischer Fehlschluss), d. h. es kann ein logischer Fehlschluss entstehen, wenn man daraus, wie etwas ist, direkt ableitet, dass es so sein soll. Allerdings habe ich festgestellt, dass oft eine ziemliche Uneinigkeit bei der Frage herrscht, was eigentlich ein Seins-Sollens-Fehlschluss ist.

Im traditionellen katholischen Naturrechtsdenken wird ja immer mal wieder auf das Sein zurückgegriffen, um ein Sollen abzuleiten. Denn, wie allgemein bekannt sein sollte, glaubt man ja als Katholik nicht, dass man nur dadurch erkennen kann, was gut und richtig ist, dass eine göttliche Stimme es verkündet und Mose es auf Steintafeln aufgezeichnet hat (auch wenn das bei der Erkenntnis hilft; wenn wir nicht selber drauf kommen, sagt Gott es eben ausdrücklich noch mal), sondern dass die Moral an sich durch die Vernunft einsichtig ist. Dabei schaut man erst einmal immer auf die Natur der Dinge. Ein paar Beispiele aus der katholischen Moraltheologie:

  • Der Mensch ist seiner Natur nach ein Gemeinschaftswesen. Es entspricht seiner Natur und ist daher gut für ihn, mit anderen Menschen zusammenzuleben, also braucht es auch gewisse Regeln unter den Menschen, z. B. andere nicht schädigen, anderen helfen, jeder soll in der Gemeinschaft das Seine tun, eine Gemeinschaft braucht Ordnung und Regeln, bei einer größeren Gemeinschaft nennt sich das dann Regierung und Verfassung. Anarchie wäre also unchristlich, ebenso wie willkürlicher Diebstahl, Verantwortungslosigkeit gegenüber der Gemeinschaft, der man angehört, etc.
  • Die Natur der Sprache ist Kommunikation mit anderen, Mitteilung von Wahrheit. Daher ist Lügen falsch, denn dadurch wird die Sprache ihrer eigentlichen Funktion beraubt.
  • Zur Natur der Sexualität gehören, um es mit dem sel. Papst Paul VI. (Enzyklika Humanae Vitae) zu sagen „liebende Vereinigung und Fortpflanzung“. Kinder sollen durch Liebe entstehen, und durch Liebe sollen Kinder entstehen, also sind sowohl Pille und Kondom, durch die Liebe unfruchtbar gemacht wird, als auch Befruchtung im Reagenzglas, durch die Kinder zum Produkt degradiert werden, abzulehnen. Das – wieder Paul VI. – „gründet in einer von Gott bestimmten unlösbaren Verknüpfung der beiden Sinngehalte […], die beide dem ehelichen Akt innewohnen“. (Ja, das ist eine gewöhnungsbedürftige Sprache, aber die Enzyklika ist ja schließlich auch schon knapp fuffzig Jahre alt.) [Kurze Anmerkung: Natürliche Familienplanung (NFP), d. h. nur in den unfruchtbaren Zeiten miteinander zu schlafen, wenn man mit dem nächsten Kind gerade ein wenig warten will, ist freilich etwas anderes als Kondom und Pille; hier wird der natürliche, von Gott in die Dinge gelegte Rhythmus genutzt, und das ist aus einem vernünftigen Grund in einer katholischen Ehe erlaubt.]

Die drei Beispiele sind eigentlich ganz schöne Beispiele, finde ich jedenfalls, denn sie zeigen alle drei, dass der Mensch im katholischen Weltbild seiner Natur nach eben immer auf andere Menschen, auf Gemeinschaft, Kommunikation, Liebe und in der Familie sogar das in-die-Welt-Setzen neuer anderer Menschen, ausgerichtet ist. Das ist also die Natur des Menschen und daher ist das, was ihr widerspricht, schlecht. Eigentlich sehr vernünftig, oder?

Nun kann man jedoch bei manchen neueren Moraltheologen die Argumentation lesen, das, was Humanae Vitae sagt, brauche man jetzt sooooo ernst auch nicht zu nehmen, denn da müsse man „gegebenenfalls die Gefahr eines Seins-Sollens-Fehlschlusses beachten“ (Akademikerdeutsch für: „ich finde, das ist ein Seins-Sollens-Fehlschluss“) oder so ähnlich. Bei anderen Sachen – s. Anarchie – liest man diese Argumentationslinie zwar nicht so oft, weil Verhütung und künstliche Befruchtung nun mal beliebter sind als Anarchie, aber bleiben wir mal bei der philosophischen Argumentation an sich:

Die oben genannte Argumentationsweise im Naturrechtsdenken ist kein Seins-Sollens-Fehlschluss, weil im Sein schon ein Sollen liegt. Jedenfalls nach christlicher Überzeugung. Die Welt ist nämlich eine Schöpfung eines guten Gottes, also liegt auch Gutes in ihrer Natur.

Natürlich ist die Frage wieder nicht ganz so einfach, wie immer in der katholischen Philosophie heißt es auch hier wieder: distinguere! Man muss sehr genau unterscheiden. Man kann ja nun nicht einfach so sagen, alles, was jetzt so ist, wie es ist, soll so sein. (Das wäre zwar ganz schön, denn dann müsste man ja gar keine Veränderungen mehr predigen, aber so funktioniert es eben leider doch nicht.) Und das liegt daran, dass die Welt eine gefallene Welt ist, d. h. eine ursprünglich gute, aber verdorbene Welt, deren Urzustand erst wieder hergestellt werden muss. Zum Beispiel gibt es unter den Menschen, wie sie jetzt sind, generell Neid und Missgunst, das ist so. Aber das ist nicht gut so, denn es entspricht nicht ihrer wahren, sondern ihrer beschädigten Natur, und es macht sie, da es nicht zu ihrer wahren Natur gehört, auch nicht glücklich. Daher wäre es ein tatsächlicher Seins-Sollens-Fehlschluss, zu sagen, alle Menschen kennen Neid, also muss Neid eine sinnvolle Funktion in der menschlichen Gemeinschaft haben. Ebenfalls ein Seins-Sollens-Fehlschluss wäre beispielsweise der Sozialdarwinismus: Daraus, dass man einen Kampf ums Dasein zwischen den Lebewesen beobachten kann, wird beschlossen, dass das Leben generell als Kampf geführt werden sollte, das Recht auf der Seite der Starken und damit Macht gleich Recht ist. Das ist aber nur ein Merkmal der von Gott entfernten Welt.

Bei der Frage danach, ob etwas ein Seins-Sollens-Fehlschluss ist oder nicht, muss aus christlicher Sicht, kurz gesagt, immer danach gefragt werden, ob etwas dem gefallenen Zustand der Welt und des Menschen geschuldet ist, oder der eigentlichen Schöpfungsordnung Gottes. Man muss nach der wahren Natur fragen, dann gibt es auch keinen Naturalistischen Fehlschluss. Das erfordert im Einzelfall sicher genaue Unterscheidung, aber es ist wichtig. Es geht hier einfach darum, was der Zweck, das Ziel einer Fähigkeit oder des Menschen insgesamt ist. Lügen existieren und Menschen verfolgen Zwecke mit ihnen, aber der Zweck der Sprache, der Sache an sich, ist Weitergabe von Wahrheit, das liegt einfach in ihrem Wesen.

Benedikt XVI. hat beim Naturrecht in seiner Rede vor dem Bundestag von einer „Ökologie des Menschen“ gesprochen. Auch der Mensch kann bloß leben, wenn er artgerecht lebt, und das kann man nun wirklich keinen logischen Fehlschluss nennen (unabhängig davon, was man im Einzelnen als artgerecht bewertet).

5 Arten von Predigten, die ich nicht leiden kann

1) Predigten, die eine halbe Stunde dauern und deren Kernaussage sich nicht wirklich erfassen lässt.

Und zwar deshalb, weil der Herr Pfarrer nicht über ein Thema predigt, sondern über ungefähr zehn. Erst einmal geht er vielleicht vom Evangeliumstext aus, dann kommt ein nicht sehr aussagekräftiges Zitat von irgendjemandem, dessen Namen man noch nie gehört hat, dann wird zur aktuellen Flüchtlingspolitik übergeleitet. „Und das Zweite Vatikanische Konzil hat betont… es gibt drei Möglichkeiten, so könnte man sagen, das in die Tat umzusetzen… so schreibt Papst Franziskus auch, dass… der Dichter X hat einmal gesagt… dann könnte man die folgenden vier Punkte betrachten… Der Philosoph Y hat einmal gesagt…“

Man würde ja gerne abschalten und sich auf irgendein Gebet konzentrieren – Zeit dazu wäre ja –, aber leider kann man das nicht so einfach.

Liebe Priester: Wir sind hier nicht bei den Protestanten. Die Predigt ist nicht der Kern des Gottesdienstes! Und selbst wenn sie es wäre, wäre es ganz sinnvoll, wenn man hinterher irgendeine konkrete Aussage mitnehmen könnte.

2) Wissenschaftlich-objektiv klingen sollende Lebensbeschreibungen von Heiligen

Kennen Sie das auch? Sie gehen immer nach St. Kolumban, und irgendwann im Jahr kommt nun einmal der Festtag des heiligen Kolumban, also beschließt der Herr Pfarrer, dass doch etwas über den heiligen Kolumban gesagt werden muss, und in der Messe verkündet er dann nach dem Evangelium vom Ambo, dass er die liebe Frau Pastoralreferentin gebeten habe, etwas zum Leben des heiligen Kolumban herauszusuchen und winkt sie an den Ambo. Man erwartet bei der Frau Pastoralreferentin eh schon keinen wirklich fesselnden Predigtstil, und erwartungsgemäß verläuft die Predigt dann ungefähr so:

„Kolumban ist der Name zweier Heiliger des frühen Mittelalters. Unsere Pfarrkirche ist Kolumban dem Jüngeren geweiht. Kolumban wurde um das Jahr 540 in Irland geboren und gilt als wichtiger Glaubensbote der Franken und auch der Alemannen in der heutigen Schweiz und am Bodensee… kam es zu einem Konflikt mit den fränkischen Bischöfen um den Termin des Osterfestes… zog er mit seinen Gefährten in Richtung… gründete er ein Kloster in… starb er am 23. November 615… Mönchsregel gab prägende Impulse für das entstehende westliche Mönchtum… dargestellt wird er oft mit…“ Man merkt sehr deutlich, was die Frau Pastoralreferentin vermitteln will: Sie gibt hier nicht irgendwelche hagiographischen Legenden wieder, sondern wirklich nur historisch gesicherte Tatsachen, wir sind ja hier wohl nicht mehr im Mittelalter, also bitte.

Bitte: Wenn man über Heilige predigt, dann sollte es darum gehen, inwiefern diese Heiligen ein Vorbild für die Leute sein können, die dieser Predigt zuhören. Es gibt einen Platz für wissenschaftliche Darstellungen, und der ist zum Beispiel in einem universitären Seminar über den Einfluss irischer Wandermönche auf die frühmittelalterliche Kirche in Westeuropa. Da gibt es dann nämlich auch tatsächliche wissenschaftliche Darstellungen und nicht dieses bemüht hochgestochen-objektive Geschwafel, das ziemlich deutlich von Wikipedia abgeschrieben wirkt und uns über das, was dem Heiligen wichtig war, wie er dachte, was er tatsächlich bewirkte und was er uns noch angeht, sehr wenig sagt. Es wäre, kurz gesagt, ganz sinnvoll, sich erst zu überlegen, ob die Leute sich dafür interessieren könnten, was man predigt, ehe man predigt.

Die Frau Pastoralreferentin tritt ab. Der Herr Pfarrer kommt wieder zum Ambo, sagt ein herzliches Vergelt’s Gott für diese schöne Darstellung des Lebens und Wirkens des heiligen Kolumban, fügt ein paar Worte hinzu, die auch nichts wirklich Interessantes mehr hinzufügen, und leitet dann – endlich! – zum Credo und den Fürbitten über.

3) Gewollt pädagogisch-lebensnahe Predigten mit Hilfsmittel

Solche Predigten können einem besonders in Kinder- oder Jugendgottesdiensten unterkommen. Bereits wenn man die Kirche betritt, sieht man, dass im Alterraum eine Art Matte oder Wolldecke liegt, vorzugsweise in scheußlichem Orange, das so wunderbar mit der betongrauen Sechziger-Jahre-Architektur des Kirchengebäudes harmonisiert. Darauf befindet sich dann das besagte Hilfsmittel: Vielleicht ein paar aufgetürmte Ziegelsteine oder eine Topfpflanze oder ein Stock oder eine Nachttischlampe oder ein paar Pappschilder, die sehr nach selbst gebastelt aussehen.

Nach den Lesungen und dem Evangelium (in dem dann oft irgendein Gleichnis vorkommt, etwa vom Senfkorn oder dem guten Hirten, oder vom „Licht der Welt“ o. Ä. die Rede ist) beginnt dann nicht gleich die Predigt, sondern stattdessen kommen eine Dame und ein Herr vom Kindergottesdienstvorbereitungsteam zusammen mit drei oder vier Kindern im Grundschulalter nach vorn. Erneut wünscht man sich, die Gabe zu besitzen, einfach seine Ohren zumachen zu können – so wie man das mit den Augen tun kann, wenn man die orangefarbene Wolldecke nicht sehen will. Die Dame nimmt sich das Mikrofon und beginnt langsam und überdeutlich zu sprechen. „Heute spricht Paulus in seinem Brief von der Kirche. Und wisst ihr, wer damit gemeint ist? Wir alle! Wir alle gehören da dazu! Und da sagt Paulus, dass jeder von uns so ist wie ein Stein – wie so ein Ziegelstein wie die, die wir da hinten aufgebaut haben. Und wer weiß, was man aus so Ziegelsteinen so bauen kann?“ Die Kinder in den vorderen Reihen zögern; aber irgendwann meldet sich eins, weil es sich wohl denkt, irgendwer muss ja doch, und die Dame läuft rasch hin. „Eine Mauer!“ sagt das Kind ins Mikrofon. Das war es nicht, worauf die Dame hinaus wollte. „Äh, ja, und was kann man denn sonst vielleicht noch bauen?“ beginnt sie wieder. Irgendwann meldet sich ein zweites Kind. „Ein Haus“, heißt es diesmal, und nun ist die Dame zufrieden. „Genau! Ein Haus! Und in so einem Haus, da ist jeder Stein wichtig!“ Nun sind die mitgebrachten Kinder an der Reihe. Der Herr reicht jedem von ihnen einen Ziegelstein von der orangefarbenen Wolldecke und sie dürfen nach vorn treten und leise und etwas steif in das Mikrofon sagen, das die Dame ihnen unter die Nase hält, was sie vorher auswendig gelernt haben. („Mein Stein steht für X.“, „Mein Stein steht für Y.“, „Mein Stein steht für Z.“)

Die ganze Gruppe setzt sich wieder, der Priester kommt nach vorn und übernimmt das Mikro. Er fügt noch einige Erläuterungen hinzu, während denen er auch immer wieder auf den wieder aufgetürmten Ziegelsteinhaufen deutet und den Ziegelsteinvergleich schließlich bis ins Letzte ausreizt. Schließlich ist es vorbei, und man fragt sich vage, ob sich Kinder eigentlich ernst genommener fühlen, wenn man sie in eine richtige Erwachsenenmesse mitnimmt oder wenn man sie mit Ziegelsteinen Theaterstückchen aufführen lässt.

4) Predigten zum Bibeltext, die den Bibeltext wegerklären wollen

Der Satz, der mich in einer Predigt bisher am meisten aufgeregt hat, war: „…können wir vielleicht annehmen, dass diese Stelle eher sekundär dazu gekommen ist…“

Auf Deutsch übersetzt heißt das: „Mir passt diese Aussage nicht, also gehe ich mal davon aus, dass Jesus das nicht so gesagt hat und irgendjemand das eben irgendwann einmal in den Bibeltext eingefügt hat.“

Okay: Es gibt – auch in den Evangelien – Stellen, die auf den ersten Blick unverständlich oder seltsam erscheinen. Aber deshalb muss jeder Mann, der zum Priester geweiht werden möchte, auch zuerst einmal 10 Semester Theologie studieren. Da sollte er zumindest mitbekommen haben, dass es hilfreiche Bibelkommentare, die Catena Aurea und ähnliche Quellen gibt, aus denen man sich über den Urtext, den historischen Hintergrund und mögliche Interpretationen informieren kann, wenn man eine Bibelstelle nicht versteht. Ein Priester ist dafür ausgebildet, den Leuten, die diese Ausbildung nicht haben, die Heilige Schrift zu erklären. Nicht dafür, sie wegzuerklären.

Wenn ich als Katholikin in eine katholische Messe gehe, habe ich den Anspruch, dass der katholische Priester die Lesungen aus katholischer Sicht auslegt (oder meinetwegen aus katholischer Sicht etwas zum Festtag sagt, oder beides verbindet). Und ein katholischer Priester sollte nicht – übrigens ohne jede Begründung – erklären, dass Jesus das da vielleicht ja so gar nicht gesagt habe, sondern er sollte die Heilige Schrift als Heilige Schrift annehmen, die nicht er nach seinen Maßstäben zu beurteilen hat, sondern die ihm seine Maßstäbe vorgibt. Wenn er das nicht tun will, schön, aber dann befindet er sich in der falschen Kirche.

5) Predigten, die vor der Hölle warnen, ohne das für kirchenferne Zuhörer gut zu erklären

Das sind – anders als die oben genannten Beispiele – Predigten, die man eher von den konservativeren Priestern zu hören bekommt. Die laufen dann ungefähr so ab: „An dieser Stelle spricht unser Herr vom Gericht, das… Christus sagt klar und deutlich, dass es wichtig ist, die Gebote zu halten, ja: unbedingt notwendig… das Ziel, das Gott uns verheißt, ist der Himmel… um dieses Ziel zu erlangen, müssen wir standhaft bleiben und Seinen Willen erfüllen… wir müssen unsere Sünden anerkennen und umkehren… das ist nicht immer einfach, aber sehr wichtig… achten wir darauf, unser ewiges Ziel nicht zu verfehlen… denken wir daran, wir werden eines Tages vor Gott Rechenschaft ablegen müssen… die Sünde muss man ernst nehmen…“ Am Ende wird auf die vermehrten Beichtgelegenheiten hingewiesen, die es jetzt in der Fastenzeit gibt.

An sich ist gegen diese Predigt überhaupt nichts einzuwenden – gerade wenn mal in einer Predigt tatsächlich auf die Beichte hingewiesen wird. Und hier wird auch nicht mit der Hölle gedroht, hier wird gewarnt. Aber es kann auch sein, dass das auf diese Weise nicht so viel bringt.

Denn es gibt viele Leute, die zwar ab und zu mal in die Kirche kommen, oder gerade jetzt an diesem Sonntag eben zufällig da sind, weil die Messe für den vor einem Jahr verstorbenen Großvater gefeiert wird und es sich irgendwie gehört, hinzugehen, die aber vom katholischen Konzept von Sünde, Hölle und Himmel nicht wirklich viel Ahnung haben. Und deshalb sollte man vielleicht zuerst einmal deutlich machen, dass der Himmel die Gemeinschaft mit Gott bedeutet und die Hölle das Fernsein von ihm und die Folgen der eigenen bösen Taten; dass Lügen, Neid, Geiz oder Gleichgültigkeit Beziehungen zerstören, zu anderen Menschen und damit auch zu Gott, dass sie immer Schaden anrichten, den ein guter Gott nicht einfach gutheißen kann, dass die Sünde den Menschen von Gott, dem Nächsten und sich selbst entfremdet, dass Gott unser wahres Glück will und seine Gebote nicht willkürliche Anweisungen sind, denen wir einfach zu folgen haben, sondern dass sie Wege zu diesem Glück sind, dass Gott alle Menschen bei sich haben will, aber der freie Wille des Menschen aus dummer Selbstsucht und Stolz nein zu Gott sagen kann und der Mensch sich damit selbst unglücklich machen wird, etc. etc.

Sonst gehen diese Menschen, denen diese Hintergrundinformationen nicht präsent sind, weil sie sich einfach nicht regelmäßig in katholischen Kreisen bewegen, nämlich wieder mit einer Bestätigung ihres Kirchenbildes weg: Die Kirche droht eben wie immer mit einem strafenden Gott, der die Leute, die ihren kleinlichen Geboten nicht Genüge tun, in seinen Feuerofen wirft. Diese Kirche kann man offensichtlich abhaken.

Der hl. Franz von Sales hat einmal gesagt: „Man fängt mehr Fliegen mit einem Löffel voll Honig als mit einem Fass voll Essig.“ Und der muss es wissen, er hat immerhin eine ganze calvinistische Region bekehrt. Manchmal muss man auch Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, noch mal sehr behutsam erklären.

Wenn die geschätzten Leser noch weitere nervige Predigtarten kennen, immer her damit! 😉

Die allumfassende Kirche, Teil 6: Sein oder Nichtsein – Katholizismus, Buddhismus und Malthusianismus

Alle Teile hier.

Es gibt eine Grundentscheidung, die der Mensch in seinem Leben treffen muss: Für das Sein oder für das Nichtsein. Damit meine ich die Entscheidung, ob er das Sein, das Leben, die Welt letztlich als gut – wenn auch in dieser Welt offensichtlich mangelhaft und entstellt – sehen will, oder ob er das Nichtsein, den Tod, das Nirwana vorzieht. Die erste Ansicht ist die des Christen; die zweite die des Buddhisten oder auch des nihilistischen Atheisten.

Es gibt vielleicht ein paar Unterschiede zwischen dem durchschnittlichen westlichen Atheisten und dem durchschnittlichen östlichen Buddhisten. Der westliche Atheist ist oft aggressiver und wendet sich deutlicher gegen den christlichen Gott, von dem er mal gehört hat. Er klagt Gott an, dass der das Leid zulasse, und scheint sich dabei manchmal nicht entscheiden zu können, ob er sagen will, dass Gott schlecht ist oder dass es Gott nicht geben kann, weil er schlecht wäre, wenn es Ihn gäbe. Der Buddhist ist friedlicher und meditativer und macht sich nicht wirklich Gedanken über Gott. Er glaubt einfach nicht an ihn; eigentlich ist er der wahre Atheist.

Es gibt ja immer mal wieder Diskussionen darüber, ob man den Buddhismus als eine Religion bezeichnen kann. Das hängt letztlich vom Religionsbegriff ab. Der Buddhismus ist eine Weltanschauung oder Philosophie, die den Menschen zu seinem Heil führen soll, aber an diesem Heil sind keine Götter beteiligt. Der Mensch wirkt es selbst. Durch Erkenntnis und eventuell auch gute Taten befreit der Buddhist sich von dieser Welt, die für ihn nur Leiden bedeutet. Er erfasst, dass sie letztlich nur Schein ist, und gelangt in die Welt des Nicht-Seins, wie es Buddha exemplarisch vorgemacht und gelehrt hat.

Der Buddhismus hat einen guten Ruf, weil er friedlich ist und das Mitleid kennt und einige gute Weisheitssprüche hervorgebracht hat, und natürlich, weil er eine irgendwie exotische Alternative zur einheimischen Religion ist. Aber in seinem tiefsten Inneren ist er Leblosigkeit und Verzweiflung.

Das Christentum ist so ganz anders. Der Himmel wird das Leben in Fülle sein, die selige Schau Gottes; wir freuen uns auf die Chöre der Engel und Heiligen, auf Gesang und Jubel und Schönheit und das Antlitz unseres geliebten Erlösers – nicht auf die Auslöschung unserer Seele. Für uns ist das Sein gut, in seinem tiefsten Wesen gut – es ist nur verzerrt und verschmutzt worden durch die Sünde. Es muss daher gereinigt werden, nicht zerstört.

Wenn man über die Theodizeefrage diskutiert, wird es immer mal wieder Leute geben, die argumentieren, es wäre besser, nicht zu leben, als in einer so leidvollen Welt zu leben (zumindest für Menschen, die wirklich schlimmes Leid erleben, sagen wir mal, die Juden, die nach Auschwitz deportiert wurden, oder die Insassen der nordkoreanischen Arbeitslager, oder Sklavinnen in den Händen des IS). Da ist jedoch eine Art logischer Fehler drin, zumindest etwas, das in dieser Formulierung leicht übersehen wird. Wenn es mich nicht geben würde, wäre das für mich nicht besser – weil es mich dann nicht geben würde. Dann würde ich nicht in einer Welt leben, in der ich weder Schmerz noch Freude empfände, sondern dann würde ich überhaupt nicht leben. Für mich wäre es besser, wenn es mich nicht gäbe, ist ein Widerspruch in sich. Wenn es mich nicht gäbe, könnte nichts für mich gut oder schlecht sein. Wenn man den Satz logisch einwandfrei formulieren möchte, könnte man vielleicht sagen: Es lohnt sich nicht, zu sein, da das Sein zu viel Leid bedeutet, oder etwas in der Art. Aber so richtig überzeugend ist das noch immer nicht.

Diese Art der Argumentation („es wäre besser, nicht zu sein“) muss man nicht akzeptieren. Wer lebt, wird Leid erfahren; aber er wird auch Freude erfahren, zumindest hat er die Chance, wieder einmal Freude zu erfahren (vor allem durch Gott; wenn es Gott nicht gäbe, wäre das Leben allerdings um einiges hoffnungsloser).

Die Kirche ist für das Leben. Der heilige Papst Johannes Paul II. hat oft von einer „Kultur des Lebens“ gesprochen, die sich der verbreiteten „Kultur des Todes“ entgegenstellen muss. Zu dieser Kultur des Todes gehören nach seiner Auffassung – u. a. – Abtreibung, Euthanasie/Sterbehilfe, assistierter Selbstmord und auch die lebensfeindliche Einstellung, die sich im Widerwillen gegenüber Kindern ausdrückt. Gerade im Bereich von Abtreibung und Sterbehilfe hört man oft das Argument, der Tod sei für diese Menschen das Bessere (bei Abtreibung zum Beispiel mit der Begründung, dass ein Kind nicht entweder mit einer Behinderung oder in einer nicht gut funktionierenden Familie leben sollte). Das Christentum wendet nun, wie oben gesagt, ein, dass das Leben an sich gut ist, und das elementare Gutsein des Daseins durch Leid nicht außer Kraft gesetzt wird. (Mal ganz abgesehen davon, dass es eine beinahe lächerliche Unehrlichkeit ist, zu behaupten, man gebe einem Kind mit Downsyndrom eine Giftspritze ins Herz oder zerstückele es, um ihm das Leid des Lebens zu ersparen. Denn Kinder mit Downsyndrom, falls man das noch nicht bemerkt haben sollte, können ein sehr glückliches Leben führen. Den einzigen, denen man hier etwas ersparen will, sind die Menschen, die mit diesem Kind zurechtkommen müssten. Schließlich treffen ja auch sie die Entscheidung für den Tod des Kindes, nicht das Kind. Und oft genug werden sie das auch noch bereuen – glücklicherweise können sie sich dann auch darauf verlassen, dass Gott gut ist, auch die schlimmsten Taten verzeiht, und das Leben für sie und ihr Kind, das schon im Jenseits ist, zum Guten führen kann.)

Man könnte gegen die christliche Sicht auf diese Themen natürlich einwenden, dass der Tod – im Gegensatz zum Gar-nicht-existiert-haben – für die Christen ja nicht die Auslöschung, sondern die Vollendung des Lebens ist. Darauf würde man als Christ entgegnen, dass es an Gott ist, zu bestimmen, wann diese Vollendung fällig ist. Wir leben das Leben, das er uns gegeben hat, und machen das Beste draus, und sehen dann, wann wir zur Vollendung gerufen werden. Abgesehen davon steht bei Leuten, die für Abtreibung und Sterbehilfe sind, wohl kaum das Bestreben im Vordergrund, dem abgetriebenen Kind oder getöteten Kranken ein besseres Leben im Jenseits zu verschaffen (wenn sie denn überhaupt daran glauben), sondern sie wollen – jedenfalls ist das das vorgebrachte Motiv – sein schlechtes Leben im Diesseits zu beenden; lebensbeendende Maßnahmen haben genau dieses Ziel: Leben zu beenden, den Tod zu bringen. Darüber hinaus wird gar nicht geschaut.

Bleiben wir beim Thema Kultur des Todes: Zu dieser Kultur gehören auch gewisse Strömungen in ganz extremen Umweltschützerkreisen, in denen der Mensch teilweise als etwas gesehen wird, das es eigentlich nicht geben sollte. Er ist zu schlecht, er zerstört anderes Leben, er sollte am liebsten einfach weg. (Eigentlich paradox, dass Menschen, die alles Leben für schützenswert halten, das menschliche Leben dabei nicht einschließen.) Eine heute damit verbundene Idee ist der Malthusianismus.

Thomas Robert Malthus (1766-1834) war ein anglikanischer Pfarrer und Ökonom. (Er ist auch ein Beispiel dafür, dass auch Menschen, die äußerlich als Christen leben, schlechte – sehr schlechte – Ideen haben können und sich keineswegs immer als christliche Denker erweisen; Malthus übte tatsächlich großen Einfluss auf den ein wenig später entstandenen Sozialdarwinismus aus.) Er beschäftigte sich hauptsächlich mit dem Thema Bevölkerungsentwicklung, und zwar in ziemlich stümperhafter Weise. Seine simple Theorie lautete folgendermaßen: Die Menschen würden sich exponentiell vermehren (Beispiel: Ein Paar aus einer Generation hat durchschnittlich vier Kinder, die Paare der Generation dieser Kinder dann ebenfalls wieder durchschnittlich vier Kinder, usw.), die Nahrungsmittelproduktion dagegen nur linear (d. h. sie wachse immer um dieselbe Menge, also, sagen wir mal, x Tonnen Weizen kommen jedes Jahr dazu, der Zuwachs wird nie größer). Die Kurven der Nahrungsmittelproduktion und der Bevölkerungsentwicklung würden sich dadurch zwangsläufig immer mehr auseinander entwickeln. Nach diesem Naturgesetz ließen sich natürlich irgendwann nicht mehr alle Menschen ernähren, also würde die Natur zwangsläufig zurückschlagen und ein Teil der Menschen eben durch Hunger, Seuchen etc. sterben. Es sei denn natürlich, sie bekämen weniger Kinder. (Malthus war allerdings stark genug durch eine halbwegs christliche Kultur geprägt, dass er Abtreibung und künstliche Verhütungsmethoden ablehnte und stattdessen späte Heiraten und Enthaltsamkeit vorschlug.)

Die Geschichte hat diese Theorie widerlegt; die von Malthus prophezeite Bevölkerungskatastrophe trat bekanntlich nie ein. Stattdessen wuchs die Nahrungsmittelproduktion im 19. Jahrhundert durch neue Techniken enorm, sogar mehr als notwendig; und diese Techniken wurden gerade deshalb entwickelt, weil eine größere Bevölkerung ernährt werden musste.

Was ist nun das Schlimme an Malthus’ Theorie, abgesehen davon, dass sie sich in der Realität nicht behauptet hat? Schließlich kann es doch schon zu einem Problem werden, wenn – in einem bestimmten Land oder in einer bestimmten Familie – zu viele Kinder auf einmal geboren werden, oder nicht?

Sicher kann es das. Und die katholische Kirche hat auch nie behauptet, dass jede Familie fünfzehn Kinder kriegen muss. (Auch wenn in der Welt da draußen die Tatsache, dass es so etwas wie „NFP“ gibt, ziemlich unbekannt ist.) Aber es besteht doch ein gewisser Unterschied zwischen einer Familie mit mehreren Kindern, die sich selbst entscheidet, vorerst nicht noch ein weiteres zu bekommen, weil sie dann einfach Schwierigkeiten hätte, alle Kinder zu ernähren, und einem Ökonomen, der aus seinem Lehrstuhl heraus erklärt, dass die Welt nun einmal leider nur begrenzte Ressourcen biete und man, wenn es zu viele Menschen gäbe, nichts anderes erwarten könne, als dass einige eben wegstürben, oder einer Regierung wie der chinesischen, die, von der Theorie dieses Ökonomen beeinflusst, Zwangsabtreibungen an Frauen vornehmen lässt, die zum zweiten Mal schwanger werden (und sich dann irgendwann fragt, wie eigentlich die Alten im Land versorgt werden sollen). Von Malthus stammt (zumindest laut Wikipedia) das folgende Zitat: „Ein Mensch, sagte er, der in einer schon okkupierten Welt geboren wird, wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren oder wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedecke für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen.“ Ich denke, das klärt die Frage, was man von Thomas Robert Malthus’ Ideen zu halten hat, oder?

Man sieht das Problem in dieser Philosophie ganz einfach an der Wortwahl ihrer Vertreter: Sie sprechen nicht von einem Mangel an Nahrung, sondern einem Zuviel an Menschen („Überbevölkerung“ oder, früher, „Bevölkerungsüberschuss“). Nicht die Landwirtschaft ist zu wenig produktiv oder die Verteilung zu ungerecht, nein, einfach, dass die Menschen da sind, ist das Problem. An dieser Wortwahl sieht man eins sehr deutlich: Sie sehen ein gewisses Maß an Bevölkerung als akzeptabel an, und der Rest ist dann ein „Überschuss“; es bleibt zwangsläufig die Frage, wer zu diesem Überschuss gehört und wer nicht.

Als einen exemplarischen Malthusianer könnte man vielleicht Ebenezer Scrooge aus Charles Dickens’ „Eine Weihnachtsgeschichte“ nennen. Als zu Beginn des Buches zwei Männer in sein Büro kommen, um ihn um Spenden zu bitten, entwickelt sich zwischen ihnen folgendes Gespräch:

„‚In dieser Festzeit, Herr Scrooge’, sagte der Herr und nahm eine Feder zur Hand, ‚ist es mehr als sonst erwünscht, dass man ein weniges für die Armen und Hilflosen tut, die gegenwärtig schwer zu leiden haben. Vielen Tausenden mangelt es am Allernötigsten, Hunderttausenden an den bescheidensten Annehmlichkeiten des Daseins.’

‚Gibt es keine Gefängnisse?’ fragte Scrooge.

‚Eine Menge Gefängnisse’, sagte der Herr und legte die Feder wieder hin.

‚Und die Arbeitshäuser?’ forschte Scrooge weiter. ‚Sind sie noch in Betrieb?’

‚Gewiss. Indessen’, erwiderte der Herr, ‚ich wollte, ich könnte sagen: Nein!

‚Die Tretmühle und das Armengesetz finden auch noch Anwendung?’ sagte Scrooge.

‚Beide nur zu sehr, mein Herr!’

‚Oh! Ich fürchtete schon – nach dem, was Sie zuerst sagten –, es wäre ein Umstand eingetreten, der ihre nützliche Tätigkeit aufgehalten hätte’, sagte Scrooge. ‚Ich freue mich, das Gegenteil zu hören.’

‚Unter dem Eindruck, dass sie in christlichem Sinne kaum förderlich auf Geist und Körper der breiten Masse wirken, bemühen wir uns daher, das nötige Geld zusammenzubringen, um für die Armen etwas zu essen und zu trinken und warme Kleidung beschaffen zu können. Wir haben dazu diese Zeit gewählt, weil da gerade der Mangel am härtesten empfunden wird und so viele wiederum sich des Überflusses erfreuen. Was darf ich für Sie einsetzen?’

‚Nichts!’, erwiderte Scrooge.

‚Sie wünschen ungenannt zu bleiben?’

‚Ich wünsche allein gelassen zu werden’, sagte Scrooge. ‚Da Sie mich fragen, was ich wünsche, meine Herren, ist das meine Antwort. Ich bereite mir selbst kein fröhliches Weihnachten und ich kann mir nicht leisten, es für Faulenzer zu tun. Ich trage dazu bei, die Einrichtungen zu unterstützen, die ich erwähnt habe – sie kosten gerade genug –, und wem es schlecht geht, der muss sich dorthin wenden!’

‚Viele können es nicht und viele würden lieber sterben.’

‚Wenn sie lieber sterben würden’, sagte Scrooge, ‚täten sie gut daran, dies auch wirklich zu tun und den Bevölkerungsüberschuss zu vermindern. Übrigens – entschuldigen Sie – weiß ich nicht, was ich damit zu tun hab.’

‚Aber Sie könnten es wissen’, bemerkte der Herr.

‚Das ist nicht meine Angelegenheit’, gab Scrooge zurück. ‚Es genügt, wenn ein Mann sich auf seine eigenen Angelegenheiten versteht und sich nicht in diejenigen anderer einmischt. Meine beschäftigen mich zur Genüge. Guten Tag, meine Herren!“

Denn man mache sich nichts vor: Zum Kern des Malthusianismus gehört dieser krasse Individualismus, der den Menschen, der in die Welt kommt (siehe das Zitat oben) nicht als Teil einer Gemeinschaft, sondern als möglicherweise überzählige, auf sich gestellte Einzelperson sieht. Er leugnet nicht nur den grundsätzlichen Wert und die Gleichwertigkeit aller Menschen, sondern auch alle Solidarität unter ihnen. Er ist dem Christentum, in dem es immer um die Ausrichtung auf den Anderen, die Offenheit und den Austausch und Hilfe und Rücksicht und das Mitleiden und Mitfreuen – kurz, die Liebe – geht, fundamental entgegengesetzt. Diese „Jeder ist sich selbst der Nächste“-Philosophie ist der genaue Gegensatz zum Christentum.

Auch heute ist die Theorie von der Überbevölkerung noch lange nicht ausgestorben; man denke an den Club of Rome, oder derzeitige Befürchtungen über die Geburtenrate in Afrika. In Zeiten, in denen die Erde bei gerechter Verteilung etwa 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, während 7 Milliarden auf ihr leben, ist das alles meiner Meinung nach etwas, na ja, übertrieben.

Wenn das Leben Probleme mit sich bringt, muss man gegen die Probleme vorgehen und nicht gegen das Leben. Wenn es in Afrika keine Arbeitsplätze gibt, muss man Arbeitsplätze schaffen, anstatt „Kriegt eben einfach keine Kinder!“ zu sagen. (Wenn die Leute dort keine Kinder kriegen, geht es ihnen übrigens erst recht nicht besser.) Wenn eine Behinderung gesellschaftliche Nachteile und/oder körperliche Beschwerden mit sich bringt, muss man mit Hilfe und Medikamenten ankommen, nicht mit der Giftspritze. Wenn jemand keinen Sinn mehr in seinem Leben sehen will, muss man ihm helfen, den Sinn zu finden, nicht den Tod.

Ich will wieder zu meinem Ausgangspunkt zurückkommen: Man muss sich entscheiden, ob man finden will, dass das Leben, das Dasein an sich, auch das Leiden aufwiegt, das es mit sich bringt, oder nicht. Das ist eine Grundentscheidung, die nicht durch logisches Argumentieren erzwungen werden kann. Aber Gott ist offensichtlich der Meinung, dass das Leben das Leiden aufwiegt; Ihn haben wir hier auf unserer Seite.

[Update: Ich wurde von einem Buddhisten für meine Kritik am Buddhismus in der Einleitung dafür kritisiert, dass ich Buddhisten eine Art Todessehnsucht und totalen Pessimismus unterstellen würde. In Bezug auf die Todessehnsucht war das in gewisser Weise ein Missverständnis; ich wollte ausdrücken, dass die Buddhisten das Leben als grundsätzlich leidbehaftet sehen und man als Buddhist aus dem Kreislauf der Wiedergeburt ausbrechen will, nicht dass man automatisch selbstmordgefährdet ist. Ich wurde nun aber darauf hingewiesen, dass für Buddhisten die Erkenntnis, dass alles Leben leidbehaftet sei, lediglich ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Buddhaschaft sei, und dass man daraus zu der Erkenntnis kommen solle, dass es nur auf einen selber ankomme, was man als angenehm oder unangenehm erlebe, und zu der Erkenntnis, dass das Leben an sich wertfrei und dass alles eigentlich eins sei usw. Dadurch würde man dann gerade das Glück finden, das letztendlich dann wohl doch in einer Art Aufgehen in einem innerlich erkannten großen Ganzen zu bestehen scheint oder so ähnlich. (Soweit die Darstellung dieses Buddhisten; ich kenne nicht alle buddhistischen Schulen.) Diesen buddhistischen Gleichmut finde ich nun allerdings erst recht nicht gerade besser, da er mir ganz einfach als Kapitulation und Gleichgültigkeit erscheint und diese Sicht die Wirklichkeit von Gut und Böse in einem Einerlei auflöst – aber ich wollte es noch erwähnen, damit hier keine Missverständnisse mehr entstehen. Wer sich für die ganze Diskussion interessiert, mag sie hier nachlesen. (Die neuesten Kommentare stehen oben.) An meiner obigen Kritik am Buddhismus würde ich insofern nicht wirklich etwas ändern, da sich auch nach dieser Diskussion mein Eindruck bestätigt hat, dass die Buddhisten das Glück eben darin sehen, sich von der Anhänglichkeit an die Welt zu lösen, während die Christen hier eben genauer unterscheiden, und Anhänglichkeit an das Gute, Wahre und Schöne eben gerade nicht schlecht ist, auch wenn es schlechte Anhänglichkeiten gibt, von denen man sich lösen muss. (Die nennen sich dann Sünden.) Also, nach dem Christentum ist die Lösung nicht Gleichmut und Ende aller Begierden und Wünsche, sondern deren richtige Lenkung und Einsatz für das Gute. Ich würde allerdings sagen, dass konsequent durchgezogener Nihilismus in seiner westlichen Form wohl doch noch mal ein bisschen nihilistischer (und vor allem in der Praxis destruktiver) ist als der Buddhismus.]

Die allumfassende Kirche, Nachtrag zu Teil 5: Ein Gastbeitrag zu Skeptizismus, Materialismus und begrenzten Unendlichkeiten von Mr. Chesterton

Alle Teile hier.

Man kann in Diskussionen an der Uni (aber nicht nur dort) heute immer wieder Folgendes hören: Das menschliche Erkennen ist subjektiv, die Realität an sich gibt es nicht, das, was wir als Realität bezeichnen, ist nur eine von uns selber aufgestellte Konstruktion. Dazu fällt mir nur eine Antwort ein: Wie um Himmels willen können Menschen, die sich selber für „aufgeklärt“ und „gebildet“ halten, einen solchen hanebüchenen Unsinn ernsthaft glauben?

Eine mögliche Antwort wäre, dass sie nicht wirklich merken, was sie da behaupten; daher will ich diese Behauptung in sich nun einmal näher betrachten.

Ich möchte meine Argumentation in scholastischer Weise aufbauen. Die Prämisse – Das menschliche Erkennen ist subjektiv und begrenzt – stimmt, aber die Folgerungen sind in keiner Weise logisch aus dieser Prämisse ableitbar. Wir alle haben Augen, Ohren, Hände, Füße, Nerven, ein Gehirn, und das alles kann mehr oder weniger gut funktionieren. Wenn wir müde oder krank sind, fällt uns das Denken schwerer, wenn wir im Koma liegen, dann wohl noch mehr (ebenso, wie ein Computer schlechter funktioniert, wenn man Kaffee darüber gekippt hat). Aber – Vorsicht, Logik – die Tatsache, dass wir die Welt da draußen dank unserer menschlichen Begrenztheit nicht vollständig in ihrem Wesen erfassen können (was übrigens in der Geschichte der Menschheit nie jemand behauptet hat), heißt nicht, dass sie nicht existiert, und auch nicht, dass wir überhaupt nichts von ihr erfassen können. Wenn ich nicht kapiere, wie Hitler Reichskanzler werden konnte, heißt das dann, dass er nie Reichskanzler wurde? Schön wär’s. Unser Erfassen und unsere Sprache – die Frage, wie und ob wir etwas mit der Sprache korrekt beschreiben können, hängt mit alldem zusammen – sind nicht perfekt und können es nie sein; das hat das Christentum immer schon so gesehen. Aber trotzdem gibt es diese Welt, die da an uns herantritt, und die wir mit unserem stümperhaften Gehirn und unserer stümperhaften Sprache auf mangelhafte Weise zu erfassen versuchen. Das Bild, das wir uns dabei erstellen, ist eine Konstruktion, oder besser gesagt, eine Abstraktion; wie eine Landkarte oder das Modell eines Architekten. Aber die Existenz der Landkarte setzt die Existenz der Landschaft voraus. Vielleicht ist sie falsch; dann kann man das im Vergleich mit der wirklichen Landschaft herausfinden. Aber die Landschaft ist da. Zu sagen, dass die Realität wegen unseres begrenzten Erkennens nicht da ist, wäre dasselbe, wie wenn man sagen würde, die Existenz der Landkarte widerlege die Existenz der Landschaft.

Von nichts kommt nichts. Aus nichts können wir nichts konstruieren. Es gibt uns als erkennende Wesen, und an diese erkennenden Wesen tritt von außen etwas heran, das nicht zu uns gehört und uns zu einer Antwort und Reaktion herausfordert und uns sicher nie in Ruhe lassen wird. Das kann die Mutter sein, die einem sagt, dass man endlich mal seine Socken aufräumen soll, oder der Regen, der auf einen niederprasselt, oder die Regierung, die einen zum Militärdienst rekrutiert, oder der Nachbar, der einen zur Geburtstagsfeier einlädt, oder der Stein, der einen am großen Zeh drückt, oder der Terrorist, der einen mit seiner Bombe umbringt. Das ist schon der Boden unter unseren Füßen und die Luft, die wir atmen. Die Welt ist einfach da, und zwar ungebeten.

Allerdings denke ich, dass das, was ich im letzten Absatz zu erläutern versucht habe, zu offensichtlich ist, um es beweisen zu können. Man muss es akzeptieren, dass es da draußen eine Welt gibt, oder man muss sich gegen diese Annahme entscheiden. Vielleicht könnte man tatsächlich widerspruchsfrei behaupten, alles sei Schein und eine Vorspiegelung unseres eigenen Bewusstseins, das uns die wahre Existenz von Dingen nur vorgaukelt. Man kann im Endeffekt alles anzweifeln. Man kann sich fragen – denkende Menschen tun so was wahrscheinlich irgendwann – ob nicht vielleicht doch alles nur Schein und Schleier ist, ob wir vielleicht doch in einer gigantischen Matrix leben, in einer Art von Truman Show, und den Dingen, die wir für selbstverständlich nehmen, überhaupt trauen können, ob wir sogar unserer eigenen Vernunft überhaupt trauen können. Es ist eine beängstigende, aber theoretisch mögliche Vorstellung; man kann sie nicht durch reine Logik widerlegen. Natürlich kann man sie ebenso wenig belegen, weil Belege nur mit Denken funktionieren und diese Ansicht – heute als Skeptizismus, früher als Solipsismus (solus = allein, ipse = selbst; d. h. allein das Selbst wird als wirklich anerkannt) bezeichnet – ja gerade darauf beruht, dass das Denken nicht verlässlich sei.

Ich denke, man kann den extremen Subjektivismus, Skeptizismus und Solipsismus (letzteres meiner Meinung nach der passendste Begriff) tatsächlich nicht logisch widerlegen; aber man kann ihm mit gesundem Menschenverstand zu Leibe rücken. G. K. Chesterton geht in seinem Buch „Orthodoxie“ auf die Themen Materialismus (eine ähnlich dämliche Ansicht: den Geist, das Denken, das wir tagtäglich erleben, gäbe es nicht wirklich, sondern das alles seien nur Auswüchse von Materie – was dann zwangsläufig auch alle Gedanken der Materialisten ad absurdum führen würde) und Skeptizismus ein:

Durch und durch weltliche Menschen bringen es nicht einmal zum Verständnis der Welt selbst; sie bescheiden sich mit ein paar zynischen Grundsätzen, die keine Wahrheit haben. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit einem wohlhabenden Verleger spazierenging und der eine Bemerkung machte, die ich schon zu oft zu hören bekommen hatte; fast kann man sie als Motto der heutigen Welt ansehen. Jetzt hatte ich sie aber einmal zu oft gehört, und plötzlich ging mir auf, wie nichtssagend sie war. Der Verleger äußerte über jemanden: „Dieser Mann wird es weit bringen; er glaubt an sich.“ Und ich erinnere mich, dass, als ich lauschend den Kopf hob, mein Blick auf einen Omnibus fiel, auf dem der Name „Hanwell“ [Name einer damaligen psychiatrischen Anstalt in London] stand. Ich sagte zu ihm: „Wollen Sie wissen, wo sich die Leute befinden, die am meisten an sich glauben? Ich kann es ihnen sagen. Ich kenne Leute, deren Glaube an sich unerschütterlicher ist als der eines Napoleon oder Cäsar. […] Die Menschen, die wahrhaft an sich glauben, stecken alle in Irrenanstalten.“ Er entgegnete nachsichtig, es gebe schließlich eine erkleckliche Zahl Menschen, die an sich glaubten und nicht in Irrenanstalten seien. „Ja, die gibt es“, erwiderte ich, „und Sie dürften sie am besten kennen. Der versoffene Dichter, dessen dröge Tragödie Sie nicht herausbringen wollten – er glaubte an sich. Der ältliche Pastor mit seiner Monumentaldichtung, vor dem Sie sich in einem Hinterzimmer versteckten – er glaubte an sich. […] Es läge weitaus mehr Wahrheit darin zu sagen, dass ein Mann scheitern muss, weil er an sich glaubt. Absolutes Selbstvertrauen ist nicht nur eine Sünde, es ist auch eine Schwäche. Voll und ganz an die eigene Person zu glauben ist so hysterisch und abergläubisch wie der Glaube an Joanna Southcott [Sektengründerin des 19. Jahrhunderts]; der Mensch, der diesem Glauben frönt, trägt ‚Hanwell’ ebenso deutlich auf seiner Stirn, wie das Wort da auf dem Omnibus steht.“

 […]

 Die Erklärungen eines Verrückten sind immer vollständig und stellen in einem rein verstandesmäßigen Sinne oft zufrieden. Genauer gesagt ist die Erklärung des Geisteskranken zwar vielleicht nicht schlüssig, aber jedenfalls unwiderlegbar; das lässt sich zumal bei den zwei oder drei geläufigsten Formen der Verrücktheit beobachten. Wenn jemand (zum Beispiel) behauptet, man schmiede ein Komplott gegen ihn, lässt sich das nicht bestreiten, außer man setzt dagegen, alle Betroffenen leugneten, sich gegen ihn verschworen zu haben; aber genau so würden Verschwörer sich ja verhalten. Die Erklärung des Verrückten passt ebensogut zu den Fakten, wie das, was man dagegen vorbringt. Wenn jemand behauptet, er sei der rechtmäßige König von England, reicht es nicht aus, ihm zu entgegnen, die Behörden erklärten ihn für verrückt; denn wenn er tatsächlich der König von England wäre, wäre dies vielleicht das Klügste, was die Regierenden tun könnten. Wenn jemand behauptet, er sei Jesus Christus, hilft es nichts, wenn man ihm entgegenhält, die Welt bestreite seine Göttlichkeit; denn das hat die Welt auch bei Christus getan.

 Dennoch irrt er. Versuchen wir indes seinen Irrtum auf den Begriff zu bringen, stellen wir fest, dass dies nicht ganz so einfach ist, wie wir gedacht haben. Vielleicht kommen wir der Sache am nächsten, wenn wir sagen, sein Geist bewege sich in einem perfekt geschlossenen, aber engen Kreis. Ein kleiner Kreis ist genauso unendlich wie ein großer Kreis; aber wenn er auch genauso unendlich ist, ist er doch nicht genauso groß. In vergleichbarer Weise ist die Erklärung des Geisteskranken genauso vollständig wie die des Gesunden, nur ist sie nicht so umfänglich. Eine Gewehrkugel ist genauso rund wie die Welt, aber sie ist nicht die Welt. Es gibt so etwas wie eine enge Universalität, eine kleine, verkrampfte Ewigkeit; man kann das in vielen heutigen Religionen beobachten. Um aber die Sache ganz äußerlich und empirisch zu fassen, können wir sagen, das stärkste und unmissverständlichste Symptom für Verrücktheit besteht in dieser Kombination aus logischer Vollständigkeit und spiritueller Enge. Die Theorie des Geisteskranken hat umfänglichen Erklärungswert, aber sie erklärt nicht auf umfängliche Weise. Das heißt, wenn der Leser oder ich es mit einem Geiste zu tun hätten, der dabei ist, zu erkranken, dann dürften wir nicht so sehr darauf aus sein, ihm mit Argumenten zu begegnen, sondern wir müssten uns hauptsächlich darum bemühen, ihm Luft zu schaffen, ihn davon zu überzeugen, dass es außerhalb der erstickenden Enge einer bornierten Argumentation eine reinere und kühlere Atmosphäre gibt. Nehmen wir zum Beispiel an, wir haben es mit dem ersten der von mir als typisch angeführten Fälle zu tun; nehmen wir den Fall des Mannes, der alle Welt beschuldigt, sich gegen ihn zu verschwören. Um all unseren Widerstand und Einspruch gegen diese fixe Idee zum Ausdruck zu bringen, würden wir vielleicht etwas wie das Folgende äußern. „Also, ich gebe zu, dass an dem, was du da sagst, etwas dran ist und dass es dir ernst damit ist und dass vieles so zusammenpasst, wie du behauptest. Ich gebe zu, dass deine Erklärung vieles erklärt, aber wieviel anderes klammert sie aus! Gibt es in der Welt keine anderen Geschichten außer deiner? Hat die ganze Menschheit nichts weiter zu tun, als sich mit dir zu beschäftigen? Räumen wir die Möglichkeit ein, dass der Mann auf der Straße, der dich nicht zu bemerken schien, nur so tat, als ob, oder dass der Polizist, der deinen Namen wissen wollte, ihn in Wahrheit bereits kannte. Aber wieviel glücklicher wärst du, wenn du wissen dürftest, dass du diesen Menschen ganz egal bist? Wieviel großartiger wäre dein Leben, wenn du dich selber ein bisschen kleiner in ihm machen könntest, wenn du die Leute mit normaler Neugier und Amüsiertheit beobachten, wenn du ihnen zusehen könntest, wie sie in ihrer wonnigen Selbstsucht und kraftvollen Indifferenz herumlaufen! Du würdest anfangen, dich für sie zu interessieren, weil sie an dir kein Interesse zeigen. Du würdest aus diesem winzigen, aufgeputzten Theater, in dem ständig nur dein eigenes kleines Stück gespielt wird, ausbrechen und dich unter freiem Himmel, in einer Straße voller himmlischer Fremder wiederfinden.“ Oder nehmen wir an, es handelt sich um den zweiten Fall von Verrücktheit, den Fall des Mannes, der Anspruch auf die Krone erhebt; dann würden Sie vielleicht den Drang verspüren, ihm zu entgegnen: „Also gut! Vielleicht weißt du, dass du der König von England bist; aber warum ist dir das so wichtig? Gib dir einen großen Ruck, und schon bist du ein Mensch und blickst auf alle Könige der Erde herab.“ Oder wir haben es mit dem dritten Fall zu tun, dem Verrückten, der sich für Christus hält. Um unserem Herzen Luft zu machen, müssten wir ihm sagen: „Du bist also der Schöpfer und Erlöser der Welt; aber was muss das für eine Miniaturwelt sein! Was für einen winzigen Himmel musst du bewohnen, in dem die Engel nicht größer als Schmetterlinge sind! Wie trist musst du es finden, Gott, ein höchst unzulänglicher Gott zu sein! Gibt es wirklich kein erfüllteres Leben als deines und keine fabelhaftere Liebe als deine, und ist es tatsächlich deine kleine, verquälte Barmherzigkeit, in die alles Fleisch seine Zuversicht setzen muss? Wieviel glücklicher wärst du, wieviel mehr von dir wäre da, wenn der Hammer eines höheren Gottes deinen kleinen Kosmos zertrümmern könnte, so dass die Sterne wie Pailletten auseinanderspritzten und du wie andere Menschen im Offenen, Freien stündest und zum Himmel aufsehen oder zur Erde niederblicken könntest!“

 Und man darf nicht vergessen, dass die unverfälschteste praktische Wissenschaft genau diesen Standpunkt gegenüber geistigem Übel einnimmt; sie sucht nicht mit ihm wie mit einem Irrglauben zu rechten, sondern ist einfach bestrebt, es wie einen Bann zu brechen. […]

 Das ist der Verrückte, wie wir ihn kennen; er ist durchweg ein Argumentierer, häufig ein erfolgreicher Argumentierer. Sicher ließe er sich durch Argumente niederringen, ließe sich ihm mit Logik begegnen. Aber viel treffender kann man ihn in allgemeineren und geradezu ästhetischen Begriffen fassen. Er steckt im hygienischen und gut ausgeleuchteten Kerker seiner fixen Idee, ist auf einen qualvollen Punkt fixiert. Ihm fehlt jede gesunde Zögerlichkeit und Vielschichtigkeit. Nun beabsichtige ich, wie bereits eingehend erläutert, in diesen Anfangskapiteln nicht, den Abriss einer Doktrin zu liefern, sondern will durch ein paar Bilder einen Standpunkt illustrieren. Und meine Sicht vom Besessenen habe ich deshalb so ausführlich dargestellt, weil mir die meisten modernen Denker wie dieser Besessene vorkommen. Diese unverwechselbare Stimmung, die ich aus Hanwell kenne, sie schlägt mir auch von der Hälfte der heutigen Wissenschaftskatheder und Stätten der Gelehrsamkeit entgegen; und die meisten der verrückten Doktoren sind in mehrfacher Hinsicht verrückt. Sie alle weisen genau jene Mischung auf, die wir registriert haben: die Kombination aus umfassender und erschöpfender Verstandeskraft und stark eingeschränktem gesundem Empfinden. Sie sind universal nur in dem Sinne, dass sie eine einzige dünne Erklärung auf alles anwenden. Sie sehen ein Schachbrett weiß auf schwarz, und mag selbst das ganze Universum damit gepflastert sein, es bleibt für sie weiß auf schwarz. Wie der Geisteskranke können sie ihren Standpunkt nicht verändern; sie können nicht kraft einer geistigen Anstrengung das Muster plötzlich schwarz auf weiß gewahren.

 Nehmen wir als erstes den ziemlich vielsagenden Fall des Materialismus. Als Welterklärung ist der Materialismus von einer irrsinnigen Schlichtheit. Er ist von haargenau derselben Art wie die Argumentation eines Verrückten; er vermittelt gleichzeitig den Eindruck, alles einzubegreifen und nichts zu erfassen. Schauen wir uns einen kompetenten und ehrlichen Materialisten wie Mr. McCabe an, so lässt er uns genau mit diesem eigentümlichen Gefühl zurück. Er begreift alles, und was er begreift, scheint das Begreifen gar nicht zu lohnen. Sein Kosmos mag bis zum letzten Nietnagel und Zahnrädchen vollständig sein, und doch ist er kleiner als unsere Welt. Wie der luzide Aufriss des Verrückten scheint auch sein Entwurf von den fremdartigen Kräften und der großen Unbekümmertheit unseres Planeten nichts zu wissen; er weiß nichts von den wirklichen Dingen auf Erden, den kämpfenden Völkern oder stolzen Müttern, der ersten Liebe oder der Todesangst auf dem offenen Meer. Die Erde ist so ungeheuer groß und der Kosmos so außerordentlich klein. Der Kosmos ist so ziemlich das kleinste Loch, in dem ein Mensch seinen Kopf verstecken kann.

[…] Fürs erste bin ich ebensowenig darauf aus, Haeckel nachzuweisen, dass der Materialismus unwahr ist, wie es mir darum ging, dem Mann, der sich für Christus hält, nachzuweisen, dass er Opfer eines Irrtums ist. Ich beschäftige mich an dieser Stelle nur mit dem Umstand, dass beide Fälle den gleichen Eindruck von Vollständigkeit und Unvollständigkeit machen. Dass ein Mensch in Hanwell festgehalten wird, lässt sich mit der Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit und also damit erklären, dass man sagt, hier werde ein Gott gekreuzigt, in einer Welt, die seiner nicht wert sei. Das ist durchaus eine Erklärung. Ganz ähnlich kann man die Ordnung des Universums damit erklären, dass man sagt, alle Dinge, einschließlich der Seelen der Menschen, seien Blätter, die sich an einem Baum ohne jedes Bewusstsein naturgesetzlich entfalten – dem blinden Schicksal der Materie gehorchend. Die Erklärung hat durchaus Erklärungswert, wenn auch natürlich keinen so vollständigen wie die des Verrückten. Worum es hier aber geht, ist die Tatsache, dass der normale menschliche Verstand nicht nur beide Erklärungen ablehnt, sondern sie auch aus dem gleichen Grund ablehnt. Das Argument läuft in etwa darauf hinaus, dass der Mann in Hanwell, wenn er denn wirklich Gott ist, als Gott arg zu wünschen übrig lässt. Und entsprechend lässt auch der Kosmos des Materialisten, falls er der wirkliche Kosmos ist, arg zu wünschen übrig. Er ist geschrumpft. Die Gottheit ist weniger göttlich als viele Menschen; und folgt man Haeckel, so ist das Leben als Ganzes grauer, enger und nichtssagender als viele seiner einzelnen Aspekte. Die Teile wirken großartiger als das Ganze.

 Denn wir dürfen nicht aus dem Auge verlieren, dass die materialistische Philosophie (mag sie nun wahr sein oder nicht) mit Sicherheit weit einengender ist als jede Religion. In gewissem Sinne engen natürlich alle Ideen ein. Sie können nicht umfassender sein, als sie sind. Die Beschränkung eines Christen ist gleiche, der auch ein Atheist unterliegt. Ein Christ kann nicht das Christentum für falsch halten und weiter Christ sein; und der Atheist kann nicht den Atheismus für falsch halten und weiter Atheist sein. Aber darüber hinaus unterliegt der Atheismus in einem ganz eigentümlichen Sinne stärkeren Beschränkungen als der Spiritualismus. […] Der Christ gibt zu, dass die Welt vielfältig und sogar bunt gewürfelt ist, geradeso wie ein gesunder Mensch weiß, dass er vielschichtig ist. Der Gesunde weiß, dass er etwas von einem wilden Tier, etwas von einem Teufel, etwas von einem Heiligen, etwas von einem Bürger hat. Ja, der wirklich Gesunde weiß sogar, dass etwas von einem Verrückten in ihm steckt. Die Welt des Materialisten dagegen ist ganz einfach und gediegen, im Stile des Verrückten, der sich seiner Gesundheit absolut sicher ist. Der Materialist weiß ganz genau, dass die Geschichte schlicht und einfach eine Kausalkette darstellt, geradeso wie die zuvor erwähnte Person todsicher weiß, dass sie schlicht und einfach ein Huhn ist. Materialisten und Verrückte sind gegen jeden Zweifel gefeit.

 Glaubenslehren engen den Geist nicht mit solcher Entschiedenheit ein, wie das die materialistischen Verleugnungen tun. Selbst wenn ich an die Unsterblichkeit glaube, muss ich den Gedanken an sie nicht ständig im Herzen tragen. Glaube ich hingegen nicht an die Unsterblichkeit, darf ich keinen Gedanken an sie verschwenden. Im ersten Fall ist der Weg frei und ich kann gehen, soweit ich eben mag; im zweiten Fall ist der Weg blockiert. Aber die Parallele zur Geisteskrankheit reicht sogar noch tiefer und ist noch merkwürdiger. Gegen die erschöpfend logische Theorie des Irren haben wir geltend gemacht, dass sie unabhängig von ihrer Wahrheit oder Falschheit nach und nach das Menschsein des Betreffenden zerstört. Unser Vorwurf gegen die Hauptsätze des Materialismus lautet nun, dass auch sie nach und nach sein Menschsein zerstören – womit ich nicht nur die Menschlichkeit, sondern auch Hoffnung, Mut, Poesie, Initiative meine, kurz, alles, was menschlich ist. Wenn zum Beispiel der Materialismus die Menschen zum vollständigen Fatalismus führt (was er gemeinhin tut), so ist es ganz müßig, ihn als eine befreiende Kraft auszugeben. Es ist absurd zu behaupten, man leiste vor allem der Freiheit Vorschub, wenn man die Freiheit des Denkens nur nutzt, um den freien Willen zu zerstören. Die Deterministen machen nicht frei; sie legen in Ketten. Sie haben allen Grund, ihr Gesetz als kausale ‚Kette’ zu bezeichnen. Es ist die ärgste Fessel, die je ein menschliches Wesen umschlossen hat. Man mag im Zusammenhang mit der materialistischen Lehre noch so sehr die Sprache der Freiheit bemühen – es liegt auf der Hand, dass sie insgesamt ebensowenig dazu passt wie zu einem im Irrenhaus eingesperrten Menschen. Man mag die Ansicht vertreten, es stehe dem Menschen frei, sich für ein Rührei zu halten. Aber mit Sicherheit wiegt die Tatsache schwerer, dass er als Rührei nicht die Freiheit hat, zu essen, zu trinken, zu schlafen, spazierenzugehen und eine Zigarette zu rauchen. Ebenso mag man auch die Ansicht vertreten, der kühne materialistische Denker sei frei, die Wirklichkeit des Willens in Abrede zu stellen. Aber viel schwerer wiegt die Tatsache, dass er dann nicht mehr frei ist, aufzustehen, zu fluchen, zu danken, zu rechtfertigen, zu drängen, zu bestrafen, Versuchungen zu widerstehen, Menschenmengen aufzustacheln, gute Vorsätze an Neujahr zu fassen, Sündern zu vergeben, Tyrannen zu tadeln oder auch nur zu sagen: ‚Würden Sie mir bitte mal den Senf reichen.’

[…]

 Natürlich gilt dies alles nicht nur vom Materialisten, sondern trifft auch auf andere Auswüchse logischer Spekulation zu. Es gibt eine Form der Skepsis, die weit fürchterlicher ist als die Überzeugung, dass die Materie der Anfang von allem ist. Ich denke an den Skeptiker, der die Überzeugung hegt, dass er selbst der Anfang von allem ist. Er zweifelt nicht an der Existenz von Engeln oder Teufeln, sondern daran, dass es Menschen und Kühe gibt. Für ihn sind seine eigenen Freunde Märchengestalten, die er selbst erdichtet hat. Vater und Mutter sind seine eigenen Geschöpfe. Diese schreckliche Phantasterei übt auf den geradezu mystischen Ichkult unserer Tage einen unverkennbaren Reiz aus. Den erwähnten Verleger, der meinte, Menschen brächten es zu etwas, wenn sie an sich glaubten, die Fahnder nach dem Übermenschen, die ständig im Spiegel Ausschau nach ihm halten, die Schriftsteller, die von der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit reden, statt für die Welt Leben zu schaffen – all diese Menschen trennt von jener schrecklichen Leere nur ein Wimpernschlag. Wenn dann die ganze freundliche Welt, die diesen Skeptiker umgibt, als Lüge entlarvt ist, wenn die Freunde zu Gespenstern verblasst sind und die Welt bodenlos geworden ist und er, der an nichts und niemanden glaubt, allein in seinem Alptraum zurückbleibt, dann wird in rächender Ironie das große Motto seines Individualismus über seinem Haupt geschrieben stehen. Die Sterne werden zu bloßen Leuchtpunkten in der Finsternis seines Gehirns; seine Mutter wird nichts als eine flüchtige, seinem Wahn entsprungene Erscheinung an der Wand seines Kerkers sein. Über seinem Kerker aber wird die grauenvolle Wahrheit geschrieben stehen: „Er glaubt an sich.“

 Uns interessiert hier allerdings nur die Feststellung, dass dieses solipsistische Extrem des Denkens die gleiche Paradoxie aufweist wie das materialistische. Es ist der Theorie nach ebenso umfassend wie in der Praxis verkrüppelnd. Der Einfachheit halber lässt sich die Sache so formulieren, dass ein Mensch immer wähnen kann, in einem Traum zu sein. Dass er sich in keinem Traum befindet, lässt sich ihm nicht positiv nachweisen, und zwar einfach deshalb, weil es keinen positiven Beweis gibt, der ihm nicht auch im Traum geliefert werden könnte. Wenn aber der Betreffende nun anfinge, London in Brand zu stecken und zu erklären, er warte darauf, von seiner Haushälterin zum Frühstück gerufen zu werden, dann würden wir ihn uns greifen und ihn zusammen mit anderen Logikern an dem Ort unterbringen, von dem schon mehrfach in diesem Kapitel die Rede war. Wer seinen Sinnen keinen Glauben schenken und wer an nichts außer an die Materie glauben kann ist gleichermaßen wahnsinnig; aber in beiden Fällen findet der Wahnsinn seinen Ausdruck nicht in einer fehlerhaften Argumentation, sondern in der offenkundigen Fehlorientierung des ganzen Lebens. Beide haben sie sich in Kästen eingeschlossen, die innen mit Sonne und Sternen bemalt sind; beide finden sie nicht ins Freie, der eine nicht in die Gesundheit und die Wonne des Himmelreichs, der andere nicht einmal in die Gesundheit und die Wonne des irdischen Daseins. Ihre Haltung ist ganz vernünftig, ja, in gewissem Sinne ist sie unendlich vernünftig, wie ein Zehnpfennigstück unendlich kreisförmig ist. Aber es gibt so etwas wie eine schlechte Unendlichkeit, eine niedrige, erbärmliche Ewigkeit. Es ist interessant zu sehen, dass viele der Modernen, Skeptiker ebenso wie Mystiker, ein bestimmtes östliches Symbol zu ihrem Wahrzeichen erkoren haben, ein Symbol, das diese äußerste Nichtigkeit verkörpert. Die Ewigkeit versinnbildlichen sie durch eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. In diesem Bild von unbefriedigendem Selbstverzehr steckt ein überraschender bitterer Sarkasmus. Die Ewigkeit der fernöstlichen Pessimisten, die Ewigkeit der hochnäsigen Theosophie und der höheren Wissenschaft unserer Tage lässt sich in der Tat kaum besser wiedergeben als durch das Bild der Schlange, die sich selber auffrisst, das Bild eines degenerierten Tieres, das nicht einmal vor der Selbstzerstörung haltmacht.

 […] Zusammenfassend können wir feststellen, dass dieses Hauptmoment die entwurzelte Vernunft ist, die Vernunft, die im luftleeren Raum agiert. Verrückt wird der Mensch, der ohne angemessene Grundlage zu denken anfängt; er beginnt am falschen Punkt. […] Das mystische Moment ist es was den Menschen im Laufe ihrer Geschichte die Gesundheit erhalten hat. Solange es das Mysterium gibt, bleiben die Menschen gesund; zerstört man es, liefert man sie dem Verfall aus. Der einfache Mensch ist gesund, weil er ein Mystiker ist. Er gestattet sich, im Zwielicht zu leben.  […] Stand er vor zwei Wahrheiten, die sich zu widersprechen schienen, so akzeptierte er beide und nahm den Widerspruch in Kauf. Seine spirituelle Sichtweise ist so stereoskopisch wie seine körperliche: er sieht zwei verschiedene Bilder gleichzeitig, was seiner Scharfsicht aber nur zum Vorteil gereicht. So hat er immer an so etwas wie Schicksal, aber auch immer an so etwas wie den freien Willen geglaubt. So hat er geglaubt, dass den Kindern das Himmelreich gehört, aber auch, dass sie dennoch den irdischen Mächten zu gehorchen haben. Er hat die Jungen wegen ihrer Jugend bewundert und die Alten, weil sie die Jugend hinter sich hatten. Genau in diesem Ausbalancieren scheinbarer Widersprüche bestand die Spannkraft des gesunden Menschen.

 […]

 Das letzte Kapitel drehte sich ausschließlich um eine empirische Beobachtung: darum, dass dem Menschen Krankheit eher von seinem Verstand als von seiner Einbildungskraft droht. Dabei ging es nicht darum, die Herrschaft des Verstandes anzugreifen; das Ziel war im Gegenteil, sie zu verteidigen. Denn sie hat Verteidigung nötig. Die ganze moderne Welt führt Krieg gegen den Verstand; schon wankt er in seinen Grundfesten.

 […]

 Es ist müßig, ständig von dem Gegensatz zwischen Vernunft und Glauben zu reden. Die Vernunft selbst ist eine Sache des Glaubens. Davon auszugehen, dass unsere Gedanken überhaupt in einer Beziehung zur Wirklichkeit stehen, ist ein Glaubensakt. Ist man bloß Skeptiker, so drängt sich einem früher oder später die Frage auf: „Warum sollte irgend etwas zutreffen, empirische Beobachtung und logisches Denken eingeschlossen? Warum sollte logische Stringenz weniger irreführend sein als logische Ungereimtheit? Spielt sich doch beides im Gehirn eines verwirrten Großaffen ab.“ Der junge Skeptiker erklärt: „Ich habe ein Recht darauf, selbstständig zu denken.“ Der alte Skeptiker, der vollkommene Skeptiker, aber sagt: „Ich habe kein Recht auf selbstständiges Denken. Ich habe überhaupt kein Recht auf Denken.“

 Es gibt ein Denken, das dem Denken den Garaus macht. Dies ist das einzige Denken, dem man einen Riegel vorschieben sollte. Dies ist das Böse schlechthin, gegen das alle kirchliche Autorität aufgeboten wurde. […] Dass sich das so verhält, wissen wir heute; so zu tun, als wüssten wir es nicht, lässt sich nicht länger rechtfertigen. Wir können hören, wie die Skepsis den alten Verteidigungsring aus Autoritäten durchbricht, und wir sehen die Vernunft auf ihrem Throne wanken. In eben dem Maße, wie die Religion geschwunden ist, schwindet auch die Vernunft. Denn sie sind beide von der gleichen ursprünglichen und maßgebenden Beschaffenheit. Sie sind beide Beweismittel, die sich ihrerseits der Beweisbarkeit entziehen. […] Wir haben lange und mit aller Kraft gezerrt, um dem pontifikalen Menschen die Mitra herunterzureißen, und dabei haben wir den Kopf gleich mit abgerissen.“

Eins vielleicht noch zum Thema Skeptizismus: Zunächst, unser Erkennen hat einen Wert, auch wenn es immer mit Mängeln behaftet ist. Wir können einiges darüber erkennen, was gut und wahr und richtig ist. Aber, es gibt tatsächlich noch eine Welt hinter der unseren; die Welt Gottes und der Engel und Heiligen. Wir leben sozusagen in einem Exil, in einem abgeschotteten Land, in dem wir nur spärliche Informationen aus dieser anderen Welt bekommen können – C. S. Lewis, der in Zeiten des Zweiten Weltkriegs schrieb, hat den Besuch des Gottesdienstes einmal mit dem Abhören verbotener Radiosender verglichen –  aber die Informationen, die wir bekommen, stürzen unser Bild von der Welt (wenn es ein gutes und wirklichkeitsgetreues ist) nicht um, sondern geben ihm noch eine viel tiefere Dimension. Die Gnade setzt die Natur voraus, hat Thomas von Aquin gesagt, das Übernatürliche baut auf dem Fundament des Natürlichen weiter.

Die allumfassende Kirche, Teil 5: Die Kirche und die Vernunft

Alle Teile hier.

Als ich vor einigen Jahren begann, den neu erschienenen Youcat (Jugendkatechismus) zu studieren, um mich mal schlau zu machen, was diese Kirche, zu der ich ja offiziell gehörte, eigentlich so lehrt – wie sich das alles mit Jesus und dem Sinn seines Todes und so verhält, und der ganze Rest – war ich von einer Sache sehr überrascht: Wie hoch die Kirche anscheinend die Vernunft bewertete. Im Allgemeinen wird einem ja immer gesagt, glauben hieße nichts wissen. Und dass genügend Vernunft und „Aufklärung“ den Glauben austreibe, auch wenn die Kirche inzwischen versuchen möge, den Glauben mit der Vernunft zu versöhnen, scheint so ungefähr zum Standardrepertoire der Allgemeinbildung zu gehören. (Das wird einem vielleicht nicht immer in dieser Deutlichkeit gesagt, das stimmt. Aber die Botschaft kommt schon oft an.)

Wenn man schon lange genug überzeugt katholisch ist, kommt es einem so selbstverständlich vor, und so komisch, dass man mal was Anderes geglaubt hat; aber wenn man nicht gläubig ist, kann man durchaus ziemlich überrascht sein, wenn man liest, dass Mönche des 13. Jahrhunderts Sachen gesagt haben wie: „Die vornehmste Kraft des Menschen ist die Vernunft. Das höchste Ziel der Vernunft ist die Erkenntnis Gottes.“ (Heiliger Albertus Magnus) oder „Ich würde nicht glauben, wenn ich nicht einsehen würde, dass es vernünftig ist, zu glauben.“ (Heiliger Thomas von Aquin). Man kann es kaum glauben, wenn man es hört, dass im Mittelalter – Mittelalter! Inquisition, Hexenverfolgung und Kreuzzüge! – an jeder Universität u. a. das Fach Logik belegt werden musste, ehe man Theologie, Medizin oder Jura studieren konnte. Die mittelalterliche Theologie der Scholastik wurde später von den Humanisten der Renaissance (die übrigens auch Christen waren; Erasmus von Rotterdam etwa war Priester, und Thomas Morus zum Beispiel sogar ein Märtyrer und Heiliger) nicht kritisiert, weil sie irgendwie unvernünftig gewesen wäre, sondern wegen ihrer angeblich kalten Logik und lebensfernen Philosophiererei. Die Humanisten schrieben eher Satiren und Utopien und dergleichen, sie benutzten mehr Humor und erzählten mehr Geschichten; aber ihre Gedanken waren sicher nicht per se logischer und durchdachter als die ihrer Vorgänger. Die Werke der Scholastiker (allen voran des Thomas von Aquin) bestanden einfach aus aneinander gereihten philosophischen und theologischen Fragen. Es wurden Prämissen aufgestellt, Folgerungen gezogen, Einwände betrachtet und widerlegt, und schließlich das Ergebnis erklärt. An den mittelalterlichen Universitäten wurde die Kunst der Debatte sehr, sehr stark gepflegt; der Ablauf war reglementiert und am Ende sollte ein klares, durch die Betrachtung aller Vorannahmen, Folgerungen und Argumente erzieltes Ergebnis stehen – ein gewisser Unterschied zu dem ziellosen und unsortierten Gerede bei Maischberger und Co., oder?

Eigentlich war das aber auch im Mittelalter nichts wirklich Neues mehr. Die antiken Kirchenväter nahmen zwar eher Plato als Aristoteles auf (für die Scholastiker ging Aristoteles über alles, auch wenn sie nicht alle seiner Theorien übernahmen) und entwickelten kein ganz so striktes philosophisches System, aber auch sie verbündeten sich mit der Philosophie gegen Vielgötterglauben, Mysterienkulte und natürlich den Kaiserkult, der nichts anderes als eine nützliche politische Fiktion zur Verabsolutierung des Staates war, die so ungefähr gar nichts mit Wahrheit und Vernunft zu tun hatte. Sie identifizierten ihren Gott, der sich den Juden unter dem Namen Jahwe gezeigt hatte und schließlich in Jesus von Nazareth auf die Erde gekommen war, mit dem einen Gott, dem Höchsten Wesen und Schöpfer der Welt, dessen Existenz Sokrates und Platon durch logisches Denken erkannt hatten. Es gibt im Christentum keine doppelte Wahrheit; alle wahre Erkenntnis der Philosophie über Gott ist wahre Erkenntnis über Gott, die ihre Gültigkeit in der Theologie hat. (Der Unterschied ist nur, dass in der Theologie auch die Informationen dazu kommen, die dieser Gott selber uns durch die Offenbarung mitgeteilt hat. Thomas von Aquin bezeichnete deshalb die Philosophie als Magd der Theologie, weil die philosophischen Erkenntnisse beim Verständnis der geoffenbarten Wahrheit helfen.)

Und tatsächlich wird man, wenn man sich wirklich näher damit beschäftigt, feststellen, dass die nichtchristliche Philosophie der Neuzeit immer skeptischer gegenüber der Vernunft wurde. Subjektivismus und Relativismus, extremer Skeptizismus/Solipsismus und deterministischer Materialismus kamen mit der Entfernung vom Christentum. Diesen Denkrichtungen ist gemeinsam, dass sie jedes logische, allgemeingültige Denken leugnen, besonders im Fall des Materialismus eigentlich jedes Denken überhaupt. (Dazu später noch ein anderer Beitrag.)

Die katholische Kirche hält die Vernunft hoch, und die Welt nicht. So einfach ist das. Der katholische Glaube ist, was er zu sein beansprucht: allumfassend, universal. In Gottes Universum gibt es keinen Widerspruch der Wahrheiten; nichts kann unlogisch sein; nichts der Vernunft widersprechen. Es gibt faszinierende Paradoxa, die sich ergänzen müssen, ja, einige sogar (dazu ebenfalls später mehr), aber keine Widersprüche. Gott selbst ist vernünftig; von ihm kommt die Vernunft überhaupt erst.

Im Prolog des Johannesevangeliums heißt es bekanntlich: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. (Joh 1,1-4) Und weiter heißt es dann: Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. (Joh 1,14) Das „Wort“ = der Sohn; das schöpferische „Wort Gottes“, durch das die Welt geschaffen worden und das Fleisch geworden ist, = Jesus Christus; und „Wort“ heißt hier im griechischen Urtext „Logos“ – Wort, Rede, Sinn, Weisheit, Vernunft.

Die allumfassende Kirche, Teil 4 – Alles zur größeren Ehre Gottes

Alle Teile hier.

Die katholische (=allumfassende) Kirche bekennt den Glauben, dass der von Ewigkeit existierende, allmächtige und allwissende Schöpfer des Universums vor zweitausend Jahren zusätzlich zu Seiner Gottheit eine Menschheit annahm, Seine Gottheit mit der Menschheit vereinigte – zuerst als kleiner Zellklumpen im Bauch eines Teenagers und dann in einer als Stall genutzten Höhle „in Windeln gewickelt in einer Krippe“ liegend. Gott selber hat menschliche Natur angenommen und hat sich damit zu den Menschen heruntergebeugt, um sie zu sich emporzuziehen; er hat durch seine Menschwerdung alles Menschliche geheiligt. Und das heißt: Es gibt nichts in dieser Welt, das nicht, wenn es seiner Natur nach gebraucht wird, geheiligt werden, zur größeren Ehre Gottes gebraucht werden könnte.

„Alles zur größeren Ehre Gottes“ ist das Motto des Jesuitenordens. Dieser Orden trat besonders dafür ein, die Welt zu heiligen, d. h. Gottes Wirken in jeden einzelnen Lebensbereich strahlen zu lassen. (Sidenote: Es ist wahrscheinlich kein Wunder, dass gerade der Jesuitenorden uns so viele Astronomen und anderweitigen Naturwissenschaftler beschert hat. (Ja, Priester, die gleichzeitig Wissenschaftler sind, so was gibt’s, und früher gab’s das sogar gar nicht mal selten, siehe zum Beispiel hier; auch Georges Lemaîte beispielsweise, der die Urknalltheorie aufstellte, war Priester (allerdings kein Jesuit).))

Man hört von extremen Kirchengegnern immer mal wieder die Ansicht, Religion könne privat ja praktiziert werden, habe sich aber aus dem öffentlichen Leben herauszuhalten. Nun ist diese Ansicht erstens einmal völlig unlogisch; es gehört zum Wesen einer jeden Weltanschauung, dass sie nicht nur eine Frage des Gebets im stillen Kämmerlein ist, sondern sich auch im Handeln ausdrückt und eine Gesellschaft beeinflussen will; wenn sie es nicht täte, wäre das Heuchelei (practice what you preach und so); und wenn ein Staat das beschränken wollte, würde er eben diese Religion unterdrücken – wie beispielsweise unter Queen Elizabeth I. Man konnte zu ihrer Zeit in England so ganz privat und heimlich schon an die katholische Lehre glauben, aber wenn man nicht in die anglikanische Kirche ging, musste man eben Strafe zahlen, und wenn man einen Priester versteckte und bei einer heimlichen Messe dabei war, also seine Religion auch praktizierte – ja, dann sah die Sache noch mal etwas kritischer aus. Dann hatte man nämlich gute Chancen, eine Märtyrerkrone zu gewinnen.

Zweitens ist eine solche Ansicht insbesondere dem Geist des Christentums grundsätzlich entgegengesetzt; ein Christentum, das nur in privatem Gebet besteht, wäre kein Christentum mehr. Von der Antike an wirkte die Kirche in die Welt; zuerst natürlich nur in ihrem begrenzten Wirkkreis der Gemeinden, aber sobald es ihr möglich war – d. h. sobald sie dank Kaiser Konstantin legal war (beginnendes 4. Jahrhundert) – baute sie im Römischen Reich Krankenhäuser, Herbergen, Waisenhäuser, Altenheime usw. (Jedenfalls im Oströmischen Reich; das Weströmische ging dann erstens ziemlich schnell unter und zweitens kenne ich mich damit einfach weniger aus und kann daher wenige genaue Aussagen darüber treffen, welche kirchlichen Institutionen in den Wirren der Völkerwanderung im 4. und 5. Jahrhundert dort noch gegründet werden konnten. Im Osten gab es jedenfalls so einige. Klöster boten qualitätvolle medizinische Versorgung, wobei auch Ärzte von außen angestellt wurden, nahmen Alte, Behinderte und Waisen auf, kümmerten sich um Leprakranke, speisten Arme an der Klosterpforte, oder sorgten für die Wiedereingliederung ehemaliger Prostituierter in die Gesellschaft.) Und da ab Konstantin die römischen Kaiser und im Zuge der gewandelten öffentlichen Meinung allmählich auch die große Masse der Bevölkerung christlich wurden, wandelte sich auch die öffentliche Ordnung; zum Beispiel wurde das Aussetzen von Kindern verboten. In heidnischer Zeit hatte man es als Recht des Familienvaters angesehen, zu entscheiden, ob ein neugeborenes Kind in der Familie angenommen wurde oder nicht; schließlich war es ja möglich, dass dieses Kind behindert oder ein Mädchen war. Auch die blutigen Spektakel in den Amphitheatern wurden abgeschafft.

Alle diese Änderungen brauchten ein wenig Zeit – letztere zum Beispiel geschah erst, nachdem im 5. Jahrhundert ein Mönch aus Protest gegen diese grausamen, anachrostischen Schauspiele, die seiner Meinung nach in einem christlichen Zeitalter längst der dunklen Vergangenheit anzugehören hatten, in eine Arena gerannt und von den wilden Tieren darin getötet worden war. (Nebenbei: So etwas ist grundsätzlich natürlich weder zu empfehlen noch nachzumachen.) Und natürlich war auch im christlichen Römischen Reich nicht gerade alles ideal. Auch neue Probleme traten mit der gesellschaftlichen Anerkennung auf – zum Beispiel das Problem, dass die Kaiser jetzt gerne in theologischen Debatten auf den Konzilien mitreden wollten (die in gesamtkirchlichem Rahmen allerdings auch erst dank der staatlichen Toleranz stattfinden konnten).

Aber das ist wieder ein anderes Thema und mir geht es ja hier auch nicht um eine Bewertung der Spätantike oder irgendeiner anderen Epoche im Ganzen, sondern ums Grundsätzliche: Es ist Aufgabe der Kirche, in die Welt zu wirken. Wieso gestehen Leute den NGOs, sagen wir mal, Greenpeace oder feministischen Gruppen oder dem Roten Kreuz zu, dass sie versuchen dürfen, in die Gesellschaft hinein zu wirken und ihre Anliegen durchzusetzen, aber nicht der Kirche?

Und die Kirche hat sehr viel Gutes für die Welt bewirkt. Zum Beispiel unsere Vorstellung von der Würde jedes einzelnen Menschen beruht ausschließlich auf dem christlichen Bild vom Menschen als gottebenbildlichem Geschöpf. (Versuchen Sie mal, das atheistisch zu begründen und sagen Sie mir, wie weit Sie da kommen.)

Das Prinzip der Kirche, alles in der Welt zu heiligen, sieht man auch an zwei weiteren Dingen: Nämlich den Patronaten der Heiligen und den Segnungen. Ich meine, wir haben in der katholischen Kirche nun wirklich für alles und jedes einen Schutzpatron. Das heißt, meistens haben wir für ein und dieselbe Sache auch mehrere Schutzpatrone. (Ich habe in der Liste bei Wikipedia nachgezählt: Es gibt 69 Patrone gegen Fieber und immerhin 23 gegen Epilepsie und vier gegen Brandwunden.)

Jeder Kontinent, jedes Land, jedes Bistum, jede Kirche, jede Krankheit und jeder Beruf hat seine besonderen Schutzheiligen; dann gibt es noch die Patrone für Mütter, Verlobte, Schwangere, Pilger, Migranten, Gefangene, Sinti und Roma, gegen Hagel, Blitz, Diebstahl, Erdbeben, und so weiter und so fort. Heilige können auch mehrere Patronate übernehmen, und müssen das meistens auch, sobald sie entsprechend bekannt werden. (Wir können uns wohl auch darauf verlassen, dass sie die ihnen zugeteilten Aufgaben ernst nehmen; schließlich sind sie ja Heilige.) Johannes der Täufer beispielsweise ist laut Ökumenischem Heiligenlexikon Patron von: „Jordanien, Malta, Burgund und der Provence, von Florenz, Amiens und Québec; der Schneider, Weber, Gerber, Kürschner, Färber, Sattler, Gastwirte, Winzer, Fassbinder, Zimmerleute, Architekten, Maurer, Steinmetze, Restauratoren, Schornsteinfeger, Schmiede, Hirten, Bauern, Sänger, Tänzer, Musiker, Kinoinhaber; der Lämmer, Schafe und Haustiere; der Weinstöcke; gegen Alkoholismus, Kopfschmerzen, Schwindel, Angstzustände, Fallsucht, Epilepsie, Krämpfe, Heiserkeit, Kinderkrankheiten, Tanzwut, Furcht und Hagel; des Bistums Gurk-Klagenfurt.“ Johannes Paul II. hat in der kurzen Zeit seit seiner Heiligsprechung immerhin schon den Weltjugendtag 2016, die slowakischen Bergretter und die polnische Stadt Belchatow erhalten.

Also, wir halten mal fest: In der Kirche gibt es einen eigenen Schutzpatron, dem die Zuständigkeit für Restauratoren, Kinoinhaber, Haustiere und Weinstöcke und gegen Kopfschmerzen und Schwindel zugewiesen worden ist. Es wirkt irgendwie ein bisschen witzig, fast trivial – ebenso, wie wenn man beispielsweise am 3. Februar in der Messe den Blasiussegen erhält, der da lautet: „Auf die Fürsprache des heiligen Blasius bewahre dich der Herr vor Halskrankheit und allem Bösen.“ (Halskrankheiten und alles sonstige Böse – eine sehr klare und deutliche Unterteilung des Bösen, oder? Das musste ich jedenfalls denken, als ich das zum ersten Mal gehört habe. 😉 ) Aber genau darum geht es ja: In der katholischen – allumfassenden – Kirche ist nichts zu trivial, um Beachtung zu finden, auch durch einen eigenen Schutzpatron und einen eigenen Segen, auch nicht Halsschmerzen, Weinstöcke und Haustiere.

Da wir nun auch beim Thema Segen angekommen sind: Ich lebe ja in Bayern, und bin da eigentlich ziemlich froh drum. Eines der schönen Merkmale des Lebens in diesem Land ist, dass, auch wenn die Leute nicht mehr so unbedingt überzeugt katholisch sind, trotzdem noch bei jedem Richtfest eines Vereinsheims, jeder Eröffnung einer Fabrikhalle und jeder Einweihung eines neuen Fahrzeugs der Dorffeuerwehr der Pfarrer mit dem Weihwasserwedel da stehen muss. Und das ist wirklich schön. Gott stellt alles unter seinen Segen, ausgeteilt durch seine Priester. Wir haben in dieser unserer allumfassenden Kirche sogar – das war mir auch neu – einen eigenen offiziellen Segen für Bier. Also ist diese Kirche toll oder ist sie toll?

Noch ein anderes Thema könnte man im Zusammenhang mit „Alles zur größeren Ehre Gottes!“ ansprechen: Es gibt oft die Forderung zu hören, die Laien müssten in der Kirche stärker beteiligt werden; worunter man nicht die Kirche als Gemeinschaft aller Gläubigen (da sind sie ja eh schon drin), sondern die Organisation, die Ämter versteht; d. h. es müssten zum Beispiel die Pfarrgemeinderäte gestärkt werden, die Laien sollten bei der Organisation des Bistums mehr gefragt werden, und so weiter.

Die Beteiligung von Laien in der Gemeinde ist allerdings nicht die allererste und -wichtigste Berufung von uns Laien. Für das Innerkirchliche sind an vorderster Front die Bischöfe und Priester und Mönche und Nonnen zuständig, jedenfalls haben die da das Sagen und sollten es auch haben. Die Laien haben dagegen vor allem die Aufgabe, aus der Kirche nach außen zu wirken: In ihre Familien, in ihre Vereine und in ihre Berufe, als christliche Ärzte, Politiker, Künstler, Geologen, Wirtschaftsfachleute, Verwaltungsbeamte, Polizisten, Lehrer, Journalisten oder meinetwegen Taxifahrer und Putzfrauen. Da haben wir so einige Vorbilder, die in ihrem Laienberuf tatsächlich eine viel größere, einflussreichere und für die Kirche nützlichere Rolle gespielt haben, als sie hätten spielen können, wenn sie sich nur darauf konzentriert hätten, in der Kirchenhierarchie Pfarrgemeinderäte und Laienkomitees zu etablieren; nehmen wir mal den hl. Ludwig IX., König von Frankreich, oder den hl. Thomas Morus, Philosoph, Schriftsteller und Lordkanzler von England (und schließlich Märtyrer); oder unter den nicht-heiliggesprochenen Katholiken etwa Konrad Adenauer oder die Zentrumspartei oder die zahlreichen Schriftsteller des Renouveau Catholique; oder heutzutage meinetwegen Matthias Matussek, Raphael Bonelli, Peter Seewald, Martin Mosebach oder Mel Gibson.

Sicher wird es in vielen Berufen (siehe Geologen, Taxifahrer und Putzfrauen) in der Praxis keinen großen Unterschied machen, ob man Christ ist oder nicht; abgesehen davon vielleicht, dass die Christen einen höheren moralischen Anspruch an sich stellen oder zumindest stellen sollten, was Ehrlichkeit und gute, sinnvolle Arbeit anbelangt. In anderen Berufen (siehe Politiker und Journalisten) werden die Unterschiede ziemlich offenkundig sein; bei wieder anderen kann es sie in Einzelfragen geben (z. B. wird ein christlicher Arzt keine ungeborenen Kinder töten oder bei Sterbehilfe mitmachen, aber ansonsten wird er seine Patienten so behandeln wie jeder andere Arzt auch).

Und hey – grundsätzlich ist es egal, ob es äußerlich einen großen Unterschied macht. Das ist ja gerade auch der Punkt bei dem Konzept „Alles zur größeren Ehre Gottes“. In dieser Welt muss oder sollte ziemlich viel gemacht werden, auch Gesteine erforscht, öffentliche Gebäude geputzt (so einen Nebenjob hatte ich auch schon) und Taxis gefahren, und alles Gute und Notwendige, das nach Kräften getan wird, ist immer für Gott getan, und alles, was für Gott getan wird, hat einen großen Wert. Das ist das, was die hl. Thérèse von Lisieux, die immerhin zur Kirchenlehrerin ernannt worden ist, – und nicht nur sie – gelehrt hat: Den „kleinen Weg“ der Liebe. Es kommt nicht immer darauf an, was man Großes leistet, ob man überhaupt Großes leisten kann, sondern es kommt darauf an, das Kleine, das man jeden Tag tut, immer aus Liebe zu tun. Deshalb ist, glaube ich, auch das Wichtigste, das man auf der Erde tun kann, bei den meisten Menschen nicht das, was man in seinem Beruf tut, sondern was man in persönlichen Beziehungen zu anderen Menschen, zur Familie und so weiter, tut. Auch zu Gott. Auch das Gebet hat nämlich einen sehr großen Wert.

Christus hat gesagt: „Wer in den kleinsten Dingen zuverlässig ist, der ist es auch in den großen, und wer bei den kleinsten Dingen Unrecht tut, der tut es auch bei den großen.“ (Lukas 16,10) Und: „Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine große Aufgabe übertragen.“ (Matthäus 25,21) Das beste Beispiel dafür ist seine eigene Mutter. Sie hat eigentlich kein Aufsehen erregendes Leben geführt, und jetzt hat sie es immerhin bis zur Himmelskönigin gebracht. Jetzt hat sie seit zweitausend Jahren unzähligen Christen auf der Erde in unzähligen Anliegen geholfen.

Also: Alles zur größeren Ehre Gottes! Omnia ad maiorem Dei gloriam!

Vergessene Dinge aus der Geschichte

[Mit „vergessenen Dingen“ meine ich hier Epochen und Geschehnisse in der Geschichte, die Historikern zwar durchaus bekannt sind, aber im allgemeinen Geschichtsbewusstsein meistens einfach nicht auftauchen.]

Hier also eine kleine Liste, die absolut keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:

  • Die Jesuitenreduktionen.
  • Die Türkenkriege.
  • Die Thomaschristen.
  • Das Täuferreich von Münster.
  • Die Geschichte Russlands vor 1917.
  • Das katholische Königreich am Kongo im 16. Jahrhundert.
  • Phönizier, Hethiter, Assyrer, Sumerer… der alte Orient eben.
  • Die Makkabäerzeit.
  • Die internationale, sozialdarwinistische Bewegung für Eugenik und – wie man das damals nannte – „Rassenhygiene“ im frühen 20. Jahrhundert, die in Ländern wie den USA Gesetze zur Zwangssterilisation von Behinderten und Kriminellen u. Ä. durchsetzen konnte.
  • So ziemlich die gesamte Geschichte Ostasiens, vielleicht abgesehen von Pearl Harbor und Hiroshima und Nagasaki.
  • So ziemlich die gesamte Geschichte der -stan-Länder (damit meine ich Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan, und wie sie alle heißen).
  • Die Geschichte Äthiopiens; z. B. die Tatsache, dass es in der ganzen Antike gute Verbindungen zum Mittelmeerraum hatte (in Ägypten gab es zeitweise schwarze Pharaonen (25. Dynastie)) und seit dem 4. Jahrhundert christlich war.
  • Die Sklavenjagden in Ostafrika, besonders dem Sudan, durch muslimische Sklavenhändler, die die Gefangenen dann in sämtliche islamische Länder weiterverkauften – die Gesamtzahl der im Lauf der Jahrhunderte zwischen 650 und 1920 Deportierten wird auf ca. 17 Millionen geschätzt.
  • Der größte Teil der Geschichte Spaniens, Irlands oder Polens – zum Beispiel der Spanische Bürgerkrieg, die jahrhundertelange Unterdrückung Irlands durch England oder die polnischen Teilungen.
  • Katholikenverfolgungen in protestantischen Ländern wie Schweden und England im Zuge der Reformation.
  • Der Moabiter Klostersturm.
  • Der protestantische Gottesstaat in Genf unter Calvin.
  • Die Tatsache, dass Luther dem Landgrafen Philipp von Hessen die Bigamie erlaubte.
  • Pol Pot und die Roten Khmer.
  • Die ursprünglichen Khmer.
  • Wie die verschiedenen Staaten Lateinamerikas unabhängig wurden.
  • Das Oströmische Reich: Das Römische Reich ging 476 n. Chr. nicht unter. Ein großer Teil davon bestand noch ziemlich lange weiter.
  • Die Tatsache, dass antike Statuen und Tempel nicht strahlend weiß, sondern quietschbunt waren. Wirklich furchtbar quietschebunt. (Die Farbreste sind zwar heute größtenteils abgeblättert, aber bei genauerem Erforschen mussten auch die Pioniere der Geschichtswissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert sie schon bemerken. Bloß passte diese Erkenntnis nicht in ihr Weltbild von der klassischen, reinen Antike, das sie uns dann weiter überlieferten.)
  • Die Tatsache, dass das ius primae noctis niemals existierte und ebenfalls eine Geschichtslegende des an Geschichtslegenden so reichen 19. Jahrhunderts ist.
  • So außergewöhnliche Lebensgeschichten wie die von Josefine Bakhita, Kateri Tekakwhita, Juan Diego, Andreas Dung-Lac, Karl Lwanga, Raimund Nonnatus, Margaret Clitherow, Thomas Becket, Thomas Morus, Edmund Campion, Moses dem Äthiopier, Pelagius von Cordoba, Petrus Claver, Hippolyt von Rom, den Karmelitinnen von Compiègne, Martín Martínez Pascual, Wilhelm Répin, Augustine Tolton…
  • Antike Häresien: Arianismus, Monophysitismus, Nestorianismus, Doketismus, Apollinarismus, Monotheletismus, Modalismus, Markionismus, Adoptianismus, Nikolaitismus, Pelagianismus, und wie sie sonst noch alle heißen. Obwohl – irgendwie schön, dass die so in Vergessenheit geraten sind!
  • Die Katharer/Albigenser.
  • Die Völkerwanderung und das frühe Mittelalter.
  • Wie schlimm es in Europa ca. zwischen 850 und 950 aussah, als von Osten die Ungarn, von Süden die Sarazenen und von Norden die Wikinger ihre Überfälle verübten, in vielen Fürstentümern eher Chaos herrschte und in Rom so schlechte Päpste regierten, dass es zu solchen Vorkommnissen wie der Leichensynode von 897 kam.
  • Der Mercedarierorden – ein Orden, der im 13. Jahrhundert eigens zu dem Zweck gegründet wurde, Christen, die im Mittelmeerraum verschleppt und als Sklaven in muslimische Länder verkauft worden waren, freizukaufen, und dessen Mitglieder schließlich zusätzlich zu Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam das folgende Ordensgelübde ablegten: „…und in der Macht der Sarazenen verbleibe ich als Geisel, wenn es nötig zur Befreiung der gläubigen Christen ist“. Was sagen die Tatsache, dass ein solcher Orden nötig war, und die Tatsache, dass sich Leute fanden, die dabei mitzumachen bereit waren, wohl über die damalige Situation aus?

Was will ich mit dieser Liste sagen?

Eigentlich nicht so viel. Zum einen will ich damit vielleicht einfach diesen Ausspruch des Sokrates illustrieren: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

Irgendwie, so habe ich manchmal das Gefühl, ist es vielleicht gar nicht so schlimm, dass an den Unis inzwischen so viel Spezialwissen und so wenig Überblickswissen vermittelt wird. Das vermittelt wenigstens eine gewisse Demut – ein gewisses Bewusstsein der Begrenztheit des eigenen Wissens. Wenn man erst einmal merkt, wie wenig man auch nur über soziale Randgruppen im mittelalterlichen Westeuropa weiß, nachdem man sich ausführlich in einem halbjährigen Seminar mit diesem Thema beschäftigt hat, und wie viele offene Fragen man danach noch dazu hat, auf die teilweise auch die Quellen keine Antwort geben, wird einem vielleicht klar, wie viel es im mittelalterlichen Westeuropa im Ganzen gibt, das man nicht weiß, und wie viel es in der ganzen Weltgeschichte gibt, das man nicht weiß, und wie viele andere Wissensbereiche (z. B. Astrophysik und Geologie) es gibt, aus denen man erst recht nichts weiß.

Etwas anderes will ich auch noch sagen: Geschichte wird gemacht. Was als Allgemeinbildung zählt, ist eine Auswahl – und die ist nicht immer repräsentativ, und übrigens auch uns Katholiken gegenüber nicht immer fair. Vor allem bringt diese Auswahl oft nicht nur eine Beschränkung auf Epochen und Länder mit sich, sondern auch auf bestimmte Geschehnisse und geistige Strömungen innerhalb von Ländern und Epochen. Nur, weil man ein paar Informationen über die Napoleonischen Kriege hat, weiß man noch lange nicht, was die Menschen in Europa um 1800 in ihrem täglichen Leben am meisten bewegte, über welche Skandale sie redeten, welche Romane sie lasen, welche Sommerhüte bei ihnen modern waren, was sie zum Mittagessen aßen, wie ihre Sonntagsgottesdienste abliefen, wie sie mehrheitlich über den Papst dachten oder auf was sie für die Zukunft hofften.

Zum dritten finde ich Geschichte einfach wahnsinnig spannend und wollte mit meinen Lesern ein paar Gründe teilen, wieso das so ist.