Die frühen Christen (bis 200 n. Chr.), Teil 7: Sündenfall und Erbsünde

Wer wissen will, was es mit dieser Reihe auf sich hat, möge bitte diese kurze Einführung hier lesen; knapp gesagt: ich habe Zitate aus christlichen Schriften vom Jahr 95 bis ca. 200 n. Chr. gesammelt, um einen Eindruck von der frühen Kirche zu vermitteln. (In der Einführung findet sich eine Liste mit allen herangezogenen Werken mitsamt ihrer Datierung.)

Alle bisher veröffentlichten Teile gibt es hier.

 

Bibelstellen zum Vergleich (u. a.): Gen 3, Röm 5,12-19, 1 Kor 15,21f., Sir 25,24.

 

Heute geht es darum, was die Christen im 2. Jahrhundert über den Sündenfall und die Folgen von Adams und Evas Sünde lehrten.

 

Bischof Irenäus von Lyon schreibt ausführlich über Erschaffung und Fall des Menschen:

„Den Menschen aber bildete er mit eigener Hand. Er verwandte dazu den feineren und zarteren Stoff der Erde und verband in [weisem] Maße miteinander die Erde und seine Macht. Denn er hat dem Geschöpfe seine Form gegeben, damit es in seiner Erscheinung Gottes Bild sei. Als Abbild Gottes setzte er den von ihm erschaffenen Menschen auf die Erde. Damit er Leben empfange, hauchte er in sein Angesicht den Lebensodem, auf daß der Mensch sowohl seiner ihm eingehauchten Seele nach und in seiner Leibesbildung Gott ähnlich sei. Er war folglich frei und Herr über sich selbst durch Gottes Macht, damit er über alles, was auf Erden ist, herrsche. Und dieses große Schöpfungswerk der Welt, das alles in sich barg, von Gott schon vor der Schöpfung des Menschen zubereitet, wurde dem Menschen zum Wohnsitz gegeben. Und es fanden sich an ihrer Stelle und mit ihren Arbeitsleistungen die Diener dieses Gottes, der alles schuf. Und ein Hauswalter hatte als Schützer dieses Gebiet inne, der über die Mitknechte gesetzt war. Die Knechte waren die Engel, der Walter und Schützer aber der Fürst der Engel [ein Erzengel].

Indem Gott so den Menschen als Herrn der Erde und alles dessen, was auf ihr ist, erschaffen hatte, hat er ihn auch zum Herrn derer, welche als Diener auf ihr sind, erhoben. Jedoch erfreuten sich jene der Reife ihrer Natur, während der Herr, d. h. der Mensch, klein war; war er doch ein Kind, noch des Wachstums bedürftig, um zu seiner Vollreife zu gelangen. Seine Ernährung und sein Wachstum sollte dabei voll Freude und Wonne sein. So ward für ihn dieser Ort schöner bereitet als diese Welt; [er ward ausgestattet mit Vorzügen] der Luft, Schönheit, des Lichtes, der Nahrung, der Pflanzen, Früchte und der Wasser und mit allem anderen, was zum angenehmen Leben nötig war. Sein Name war Paradies. Herrlich und schön war das Paradies; da wandelte das Wort Gottes immer in demselben umher, es verkehrte und sprach mit dem Menschen über die Zukunft und belehrte ihn zum voraus über das, was kommen wird. So wollte es bei ihm wohnen, mit den Menschen reden und weilen und sie in der Gerechtigkeit unterweisen. Allein der Mensch war ein Kind, seine Gedanken waren noch nicht vollkommen geklärt, daher wurde er auch leicht vom Verführer betrogen.

Bei seinem Verweilen im Paradies führte nun Gott dem Menschen, während dieser darin umherging, alles Lebende vor und befahl, es ihm zu benennen. Wie immer Adam ein Lebewesen bezeichnete, so wurde es nunmehr benannt. So war der Augenblick gekommen, da Gott Adam auch eine Gehilfin schaffen wollte. ‚Denn‘, so sprach Gott, ‚es ist nicht gut für den Menschen, allein zu sein. Laßt uns ihm eine Gehilfin machen nach seinen Verhältnissen.‘ Denn unter den andern Lebewesen hatte sich keine Adam nach Natur und Wert gleiche und zu ihm passende Gehilfin gefunden. So ließ Gott selbst über Adam eine Verzückung kommen und ihn in Schlaf sinken. Weil es noch keinen Schlaf im Paradiese gab und doch die Erfüllung eines Werkes auf dem früheren beruhen soll, so ist dieser durch Gottes Willen über Adam gekommen. Es nahm nun Gott eine von den Rippen Adams und ersetzte sie durch Fleisch. Die Rippe selbst aber, die er ihm entnommen hatte, bildete er zum Weibe um und führte es so vor Adam. Als dieser dasselbe sah, sprach er: ‚Das ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleische. Sie soll Weib heißen, denn von ihrem Manne ward sie genommen.‘

Und Adam und Eva — denn das ist der Name des Weibes — waren nackt und schämten sich nicht. Denn sie waren ohne Sünde und kindlichen Sinnes. Ihr Geist war frei von Vorstellungen und Gedanken, wie sie seither aus Bosheit durch sinnliche Begierde und schändliche Gelüste in der Seele entstehen. Noch hatten sie ja ihre Natur unversehrt bewahrt, denn vom Schöpfer war der Hauch des Lebens ihnen eingehaucht worden. So lange dieser Hauch unentweiht und unversehrt bleibt, ist er ohne Empfänglichkeit und Sinn für das Schlechte. Deswegen nun schämten sie sich nicht bei ihren Küssen und Umarmungen in Reinheit nach Kinderart.

Doch sollte der Mensch sich nicht zu hoch dünken und sich nicht hoffärtig erheben, gleich als habe er, da ihm Macht und Freiheit verliehen sind, keinen Herrn über sich; er sollte bewahrt werden davor, sich gegen seinen Gott, seinen Schöpfer, zu verfehlen durch Überschreitung des ihm gesetzten Maßes und durch stolze selbstgefällige Willkürhandlungen gegenüber Gott. Deshalb wurden ihm von Gott Gesetze gegeben; sie sollten ihm zeigen, daß er einen Herrn habe, den Herrn aller Dinge. Auch traf Gott bestimmte Verfügungen, wie die, daß er [der Mensch] in seinem Sein verharren sollte, wie er war, d. h. daß er unsterblich sein sollte, wenn er das Gebot Gottes beobachtete. Der Sterblichkeit aber sollte er verfallen und zur Erde aufgelöst werden, aus welcher er bei der Schöpfung genommen worden war, wenn er dasselbe nicht beobachtete. Das Gebot aber war dieses: ‚Von allen Bäumen, welche im Innern des Gartens sind, sollst du essen dürfen, aber von dem einen Baum, von welchem die Erkenntnis des Guten und des Bösen kommt, sollt ihr nicht essen, denn an dem Tage, an welchem ihr davon esset, sollt ihr dem Tode verfallen.‘

Dieses Gebot hat der Mensch nicht gehalten, sondern er wurde ungehorsam gegen Gott, mißleitet vom Engel. Dieser letztere war wegen der vielen Gaben, die Gott dem Menschen verliehen hatte, von bitterem Neid erfüllt. In diesem richtete er sich selbst zu Grund und machte den Menschen zum Sünder, indem er ihn zum Ungehorsam gegen das Gebot Gottes verleitete. Durch die Lüge zum Anstifter und Urheber der Sünde geworden, verfiel er zwar selbst dem göttlichen Strafgerichte im Abfall von Gott; aber er hatte auch bewirkt, daß der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde. Weil der Engel nach einem aus sich selbst gefaßten Entschluß von Gott abgefallen ist, wurde er in hebräischer Sprache Satan genannt, was so viel ist als Widersacher. Doch wird er auch noch Verleumder [Teufel] genannt. — Die Schlange, welche den Teufel in sich trug, verfluchte also Gott. Sein Fluch traf das Tier, aber er ging auch über auf den in ihm listig verborgenen Teufel. Den Menschen verwies er von seinem Angesichte und gab ihm seinen Wohnsitz vor den Toren des Paradieses. Denn das Paradies nimmt die Sünder nicht in sich auf.“ (Irenäus, Erweis der Apostolischen Verkündigung 11-16)

Über die Notwendigkeit der Erlösung, darüber, dass auch Adam persönlich erlöst wurde, und darüber, wieso Gott die Menschen zu ihrem eigenen Nutzen nicht mehr im Paradies leben lassen konnte, schreibt er:

„Da nun der Herr zu seinem verlorenen Schaf kam und eine so große Heilsordnung rekapitulierte und sein Geschöpf aufsuchte, so mußte er gerade jenen Menschen retten, der nach dem Bild und Gleichnis Gottes gemacht war, d. h, Adam, indem er die wegen seines Ungehorsams festgesetzte Zeit der Verdammnis erfüllte, ‚die der Vater kraft seiner Macht festgesetzt hatte‘. Denn die gesamte Heilsordnung hinsichtlich des Menschen vollzog sich nach dem Wohlgefallen des Vaters, damit Gott nicht unterliege, noch besiegt werde seine Kunst. Der Mensch nämlich war von Gott zum Leben erschaffen, verlor aber, verwundet von der Schlange, die ihn verführt hatte, das Leben. Wäre er nun zum Leben nicht zurückgekehrt, sondern völlig dem Tode preisgegeben worden, dann wäre ja Gott besiegt worden, und die Bosheit der Schlange hätte den göttlichen Willen überwunden. Da aber Gott unbesiegbar und langmütig ist, so zeigte er sich auch langmütig in der Besserung Adams und der Prüfung aller Menschen, wie wir gesagt haben, band durch den zweiten Menschen den Starken und zerbrach seine Gefäße und vernichtete den Tod, indem er den Menschen lebendig machte, der getötet war. Das erste Gefäß, das ihm gehörte, war Adam geworden, den er in seiner Gewalt hielt, d. h. ungerechterweise zur Übertretung verleitete, und an dem er unter dem Vorwand der Unsterblichkeit zum Mörder wurde. Indem er ihnen nämlich versprach, daß sie sein würden wie die Götter, was doch schlechthin unmöglich ist, brachte er den Tod über sie. Darum ward mit Recht von Gott gefangen genommen, der den Menschen gefangen genommen hatte, und von den Banden der Verdammnis wurde gelöst der Mensch, der als Gefangener fortgeführt worden war.

Das ist aber Adam, wenn man die Wahrheit sagen soll, jener erstgebildete Mensch, von dem nach der Schrift der Herr sprach: ‚Lasset uns den Menschen machen nach unserm Bild und Gleichnis.‘ Aus ihm sind wir alle, und weil wir aus ihm sind, haben wir auch seinen Namen geerbt. Wenn aber der Mensch gerettet wird, dann muß auch der Mensch gerettet werden, der zuerst gebildet wurde. Denn es wäre doch sehr unvernünftig, wenn jener, der von dem Feinde heftig verwundet war und zuerst in die Gefangenschaft geführt worden war, von dem, der den Feind besiegte, nicht gerettet sein sollte, wohl aber seine Söhne, die er in derselben Gefangenschaft gezeugt hat. Dann wird der Feind nicht in Wahrheit besiegt erscheinen, wenn in seinen Händen noch die alten Beutestücke zurückbleiben. Wenn Feinde einige überwinden und gebunden in die Gefangenschaft abführen und lange Zeit in Knechtschaft halten, sodaß sie bei ihnen Kinder erzeugen, und jemand aus Mitleid mit denen, die Sklaven geworden sind, eben jene Feinde besiegen würde, dann würde er keineswegs gerecht handeln, wenn er die Söhne jener, die in die Gefangenschaft geführt worden waren, aus der Gewalt derer, die ihre Väter gefangen genommen hatten, befreien wollte, aber jene, welche in die Gefangenschaft geführt wurden, in der Gewalt der Feinde belassen wollte, derentwegen er den Rachezug unternahm. Haben aber die Kinder aus diesem Anlaß die Freiheit erlangt, dann durften die Väter nicht zurückbleiben, die in die Gefangenschaft geführt waren. So ist auch Gott, der dem Menschen zu Hilfe kam und ihn in seine Freiheit wieder einsetzte, weder schwach noch ungerecht.

Deswegen hat er auch gleich zu Beginn der Übertretung des Adam nicht diesen verflucht, sondern die Erde in ihren Werken nach dem Berichte der Schrift, wie auch einer von den Alten sagt: ‚Es übertrug Gott den Fluch auf die Erde, damit er nicht auf dem Menschen verbleibe.‘ Als Strafe aber für seine Übertretung empfing der Mann Mühe und irdische Arbeit und mußte das Brot essen im Schweiße seines Angesichtes und zur Erde zurückkehren, von der er genommen war. In ähnlicher Weise auch das Weib Mühen und Plagen und Seufzer und Traurigkeit bei der Geburt und die Pflicht des Gehorsams gegen den Mann. So sollten sie weder als von Gott Verfluchte gänzlich untergehen, noch straflos Gott verachten dürfen. Der ganze Fluch aber ging auf die Schlange über, die sie verführt hatte, wie geschrieben steht: ‚Und es sprach Gott zur Schlange: Weil du dies getan hast, bist du verflucht von allen großen und kleinen Tieren der Erde.‘ Dasselbe sagt auch der Herr im Evangelium zu denen, die auf seiner linken Seite gefunden werden: ‚Gehet weg, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das mein Vater dem Teufel und seinen Engeln bereitete.‘ Damit tut er kund, daß das Feuer nicht hauptsächlich für den Menschen, sondern ewiglich dem bereitet ist, der ihn verführte und sündigen ließ und, sage ich, dem Fürsten des Abfalls, wie den Engeln, die mit ihm abtrünnig wurden. Dieselbe Strafe werden mit Recht auch die empfangen, die ähnlich wie er ohne Buße und Besserung in ihren bösen Werken verharren.

Dem Kain z. B. riet Gott, er möge sein verkehrtes Betragen gegen seinen Bruder ändern und davon ablassen; jener war aber der Meinung, daß er mit Neid und Bosheit ihn unterbekommen werde, und hörte nicht nur nicht auf den Herrn, sondern fügte Sünde auf Sünde, indem er durch sein Werk seine Gesinnung kundtat. Was er nämlich dachte, das tat er auch, erhob sich wider ihn und tötete ihn. So ließ Gott den Gerechten dem Ungerechten unterliegen, damit jener in seinen Leiden als der Gerechte, dieser in seinen Taten als der Ungerechte offenbar werde. Aber auch nicht einmal dann kam jener zur Einsicht und hörte auf, verkehrt zu handeln, sondern antwortete auf die Frage, wo sein Bruder wäre: ‚Ich weiß es nicht, bin ich denn der Wächter meines Bruders?‘ So erweiterte und vermehrte er noch durch seine Antwort seine Sünde. Denn wenn es schon Sünde ist, den Bruder zu töten, so ist es noch viel schlimmer, dem allwissenden Gott so frech und respektlos zu antworten, gleich als ob er ihn hintergehen könnte. Deswegen traf ihn auch der Fluch, weil er die Sünde ableugnete, ohne Ehrfurcht vor Gott und ohne Reue über den Brudermord.

Bei Adam aber ist nichts Derartiges geschehen, sondern alles verhielt sich umgekehrt. Von einem andern war er verführt unter dem Vorwand der Unsterblichkeit. Sogleich wird er von Furcht ergriffen und verbirgt sich, nicht als ob er Gott entfliehen könnte, sondern beschämt, weil er das Gebot übertreten hatte und unwürdig war, vor dem Angesicht Gottes zu einer Unterredung zu erscheinen. ‚Die Furcht Gottes aber ist der Anfang der Weisheit.‘ Die Erkenntnis seiner Übertretung aber bewirkte die Reue, und den Reumütigen schenkt Gott seine Gnade. Nämlich gleich bei der Tat zeigt er durch die Schürze seine Reue, indem er sich mit Feigenblättern bedeckte. Es gab ja auch viele andere Blätter, die seinen Körper weniger gestochen hätten. Dennoch machte er sich gerade ein Kleid, das seinem Ungehorsam angepaßt war. Da er durch die Furcht Gottes erschüttert war und den ungestümen Angriff des Fleisches zurückdrängen wollte — denn nun hatte er seinen kindlichen Charakter und Sinn verloren und war auf bösere Gedanken gekommen — so legte er sich und seiner Frau den Zügel der Enthaltsamkeit an, weil er Gott fürchtete und seine Ankunft erwartete. Damit wollte er gleichsam kundtun: Das Gewand der Heiligkeit, das ich vom Geiste hatte, habe ich verloren, und erkenne nun, daß ich ein solches Kleid verdiene, das keinerlei Ergötzung bietet, sondern das Fleisch beißt und kratzt. Und dieses Kleid hätte er, um sich zu demütigen, fortan getragen, wenn nicht Gott in seiner Barmherzigkeit sie mit Tierröcken statt der Feigenblätter bekleidet hätte. Deshalb richtet er auch an sie die Frage, damit die Klage auf das Weib falle, und dann wiederum an das Weib, damit sie die Schuld auf die Schlange schieben könne. Sie sagte nämlich, was geschehen war: ‚Die Schlange verführte mich, und ich aß.‘ Die Schlange aber fragte er nicht, denn er wußte, daß sie die Ursache der Übertretung geworden war; so sandte er zuerst auf sie den Fluch, und dann traf den Menschen der Tadel. Den nämlich, der den Menschen verführt hatte, haßte Gott; über den aber, der verführt worden ist, erbarmte er sich ganz allmählich.

Deswegen warf er ihn auch aus dem Paradiese hinaus und entfernte ihn von dem Baume des Lebens, nicht als ob er ihm diesen nicht gegönnt hätte, wie einige sich erkühnen zu behaupten, sondern aus Erbarmen, damit er nicht für immer der Sünder bliebe und die Sünde an ihm nicht unsterblich wäre oder das Übel unendlich und unheilbar. So setzte er der Übertretung einen Damm, indem er den Tod dazwischen legte und der Sünde ein Ende machte durch die Auflösung des Fleisches in Erde, damit endlich einmal der Mensch aufhöre, der Sünde zu leben, und sterbend anfange, für Gott zu leben.

Deswegen setzte er Feindschaft zwischen die Schlange und das Weib und ihren Samen, die sich gegenseitig nachstellen. Der eine sollte in die Fußsohle gebissen werden und über das Haupt des Feindes dahinschreiten, der andere sollte beißen und töten und den Schritt des Menschen aufhalten, bis der verheißene Same käme, sein Haupt zu zertreten, der Sprössling Mariens, von dem der Prophet sagt: ‚Über die Natter und den Basilisken wirst du gehen, und du wirst zertreten den Löwen und den Drachen.‘ Die Sünde also, die sich wider den Menschen erhob und ausdehnte und ihn kalt machte, die sollte mit der Herrschaft des Todes ausgetrieben werden, und zertreten werden von ihm in den letzten Zeiten der gegen das Menschengeschlecht anspringende Löwe, d. h. der Antichrist, indem er jenen Drachen, die alte Schlange, anband und der Macht des Menschen, der besiegt worden war, unterwarf, um alle seine Kraft zu zertreten. Adam war aber besiegt worden, indem von ihm alles Leben hinweggenommen worden war; nachdem also der Feind besiegt war, empfing Adam das Leben wieder. Als letzter Feind aber wird der Tod vernichtet, der zuerst vom Menschen Besitz ergriffen hatte. Deshalb wird, nachdem der Mensch befreit worden ist, geschehen, was geschrieben steht: ‚Verschlungen ist der Tod im Siege; wo ist, Tod, dein Sieg? Wo ist, Tod, dein Stachel?‘ Das könnte aber nicht rechtmäßig gesagt werden, wenn nicht jener befreit worden wäre, über den der Tod zuerst herrschte. Seine Rettung nämlich ist die Vernichtung des Todes. Indem also der Herr den Menschen, d. h. den Adam, lebendig machte, wurde der Tod vernichtet.“ (Irenäus, Gegen die Häresien III,23,1-7)

Er schreibt über Adams Sünde und Jesu Erlösungstat:

„Denn das ist das Ende des menschlichen Geschlechtes, das Gott zum Erbe hat, daß, wie im Anfang wir durch die ersten Menschen alle in die Knechtschaft gebracht wurden durch die Schuld des Todes, so jetzt am Ende der Zeit durch den letzten Menschen alle, die von Anfang an seine Schüler waren, gereinigt und abgewaschen von der Todesschuld, in das Leben Gottes eintreten.“ (Irenäus, Gegen die Häresien IV,22,1)

„Auf diese Weise hat er also unsere Erlösung als herrlicher Sieger vollendet, hat die Verheißungen an die Vorväter erfüllt und die alte Auflehnung getilgt und ausgeschaltet. Der Sohn Gottes wurde zum Sohne Davids, zum Sohne Abrahams; diese vollendend und in sich erneuernd und zusammenfassend, um uns in den Besitz des Lebens zu setzen, ist das Wort Gottes geheimnisvoll in der Jungfrau Fleisch geworden, den Tod zu vernichten und den Menschen mit dem Leben zu begaben. Wir lagen ja in den Banden der Sünde, die wir in Sünden geboren sind und unter der Herrschaft des Todes leben.“ (Irenäus, Erweis der apostolischen Verkündigung 37)

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Mittelalterliche Buchmalerei. Oben: Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. Unten: Adams und Evas Leben nach dem Sündenfall.

 

Theophilus von Antiochia schreibt über den Sündenfall:

„Als nun Gott den Menschen, wie gesagt, ins Paradies gesetzt, um es zu bebauen und zu bewachen, gebot er ihm von allen Früchten zu essen, offenbar auch vorn Baume des Lebens; nur vom Baume der Erkenntnis gebot er ihm, nicht zu kosten. Gott versetzte ihn aber von der Erde weg, aus der er war gemacht worden, ins Paradies und gab ihm den Antrieb zur Weiterbildung, damit er dort fortschreite und vollkommen werde, ja sogar als Gott bezeichnet und im Besitz ewigen Lebens zum Himmel hinaufsteige. Der Mensch war nämlich als Mittelding erschaffen, weder als bestimmt sterblich noch als bestimmt unsterblich, sondern fähig für beides. So stand auch sein Wohnort, das Paradies, in Bezug auf Schönheit, zwischen Himmel und Erde in der Mitte. Der Ausdruck ‚um es zu bebauen‘ aber bedeutet keine andere Tätigkeit als die, das Gebot Gottes zu beobachten, damit er nicht durch Ungehorsam sich ins Verderben stürze, wie er es wirklich durch die Sünde getan hat.

Der Baum der Erkenntnis selbst war gut, und auch seine Frucht war gut. Es brachte nämlich nicht, wie einige meinen, der Baum den Tod, sondern der Ungehorsam. Denn in der Frucht war nichts anderes, als nur die Erkenntnis. Die Erkenntnis aber ist gut, wenn man sie auf rechte Weise benützt. Adam dort aber war seinem dermaligen Alter nach noch ein Kind, deswegen konnte er die Erkenntnis noch nicht nach Gebühr fassen. Denn auch jetzt ist es so: wenn das Kind geboren wird, ist es nicht sofort imstande, Brot zu essen, sondern es wird zuerst mit Milch genährt und geht erst mit fortschreitendem Alter auch zur festen Nahrung über. So war es wohl auch bei Adam. Deswegen hatte ihm Gott nicht etwa aus Neid, wie manche meinen, vom Baume der Erkenntnis zu essen verboten. Ferner wollte er ihn auch prüfen, ob er seinem Gebote gehorchen werde. Zugleich auch wollte er, daß der Mensch in seinem Kindesalter noch für längere Zeit in argloser Einfalt verbleibe. Denn es ist dies nicht bloß vor Gott, sondern auch bei den Menschen etwas Heiliges, in Einfalt und Arglosigkeit den Eltern untertan zu sein. Wenn es aber Pflicht ist, daß die Kinder den Eltern untertan sind, um wieviel mehr muß dies Gott dem Vater des Alls gegenüber geschehen? Ferner ist es auch unschön, wenn kleine Kinder über ihr Alter hinaus altklug sind. Denn wie man an Alter stufenweise wächst, so wächst man auch in der Erkenntnis. Zudem ist, wenn das Gesetz gebietet, sich eines Dinges zu enthalten, und jemand nicht gehorcht, klar, daß nicht das Gesetz an der Züchtigung Schuld ist, sondern der grobe Ungehorsam. Denn auch ein Vater befiehlt seinem Kinde manchmal, sich gewisser Dinge zu enthalten, und wenn dies dem väterlichen Gebote nicht gehorcht, so wird es derb gezüchtigt und ausgescholten wegen seines Ungehorsams. Und es sind nicht gleich die Handlungen die Ursache der Schläge, sondern der Ungehorsam ist es, der dem Ungehorsamen die empfindliche Züchtigung einbringt. So brachte auch dem Ersterschaffenen sein Ungehorsam die Strafe, daß er aus dem Paradiese vertrieben wurde. Nicht als ob der Baum der Erkenntnis etwas Böses an sich gehabt hätte, sondern durch seinen Ungehorsam hatte der Mensch nun Mühsal, Plage, Schmerz zu erdulden und fiel zuletzt dem Tode anheim.

Und zwar ist der Tod auch noch eine große Wohltat, die Gott dem Menschen erwiesen hat, auf daß er nicht in der Sünde befindlich ewig lebte; sondern er verwies ihn sozusagen in eine Art Verbannung aus dem Paradiese, damit er die Sünde in der ihm bestimmten Zeit durch die Strafe abbüße und dann gebessert später wieder zurückgerufen würde. Deswegen steht auch in der Hl. Schrift, nachdem der Mensch auf dieser Welt erschaffen war, mit geheimnisvoller Bedeutung, daß er zweimal ins Paradies versetzt worden sei; das erstemal, als er dorthin versetzt wurde, das zweite Mal soll es sich erfüllen nach der Auferstehung und dem Gerichte. Ja noch weiter! gleichwie ein Geschirr wenn es nach der ersten Verfertigung einen Fehler hat, umgegossen und umgebildet wird, so daß es wieder neu und ganz wird, so geschieht auch dem Menschen durch den Tod. Denn er wird sozusagen zerschlagen, um bei der Auferstehung wieder ganz zu erscheinen, d. h. fleckenlos, gerecht und unsterblich. Daß aber Gott sagte und rief: Adam, wo bist du? so tat er dies nicht, weil er es nicht wußte, sondern er wollte ihm in seiner Langmut damit Veranlassung zur Reue und zum Bekenntnisse geben.

Nun wird man mir aber sagen: ‚Der Mensch ist also sterblich von Natur aus erschaffen?‘ Durchaus nicht! ‚Was denn? unsterblich?‘ Auch das sagen wir nicht. ‚Also‘, wird man sagen, ‚keines von beiden?‘ Auch das sagen wir nicht. Der Mensch ist also von Natur weder sterblich noch unsterblich erschaffen. Denn hätte ihn Gott von Anfang an unsterblich erschaffen, so hätte er ihn zum Gotte gemacht; hinwiederum, wenn er ihn sterblich erschaffen hätte, so würde es scheinen, als ob Gott an seinem Tode schuld sei. Weder unsterblich also noch auch sterblich hat er ihn erschaffen, sondern, wie gesagt, fähig für beides, daß er, wenn er durch die Beobachtung des göttlichen Gebotes der Unsterblichkeit sich zuwendete, die Unsterblichkeit als Lohn von Gott empfing und ein Gott würde, hinwiederum aber, wenn er durch Ungehorsam gegen Gott sich auf Seite des Todes stellte, selbst die Ursache seines Todes würde. Denn Gott hat den Menschen mit Freiheit und Selbstbestimmung begabt erschaffen. Was er sich nun durch seinen Leichtsinn und Ungehorsam zugezogen, das gibt ihm Gott jetzt seinerseits als Geschenk aus Liebe und Erbarmung, wenn sich der Mensch gehorsam unterwirft. Denn gleichwie der Mensch durch seinen Ungehorsam dem Tode hörig geworden ist, so kann durch Gehorsam gegen den Willen Gottes jeder, der will, sich das ewige Leben erwerben. Gott hat uns nämlich sein Gesetz und heiligen Gebote gegeben, auf daß durch deren Erfüllung ein jeder das Heil erlangen, zur Auferstehung gelangen und die Unverweslichkeit erben kann. […]

Gott aber, der Vater und Schöpfer des Alls, hat das Menschengeschlecht nicht verlassen, sondern ihm sein Gesetz gegeben und heilige Propheten geschickt, um dem Menschengeschlechte Kunde und Belehrung zu bringen, auf daß ein jeder von uns sich ernüchtere und erkenne, daß nurein Gott sei. Diese lehrten auch, daß man sich enthalten müsse vom sündhaften Götzendienste, vom Ehebruch, Totschlag, Hurerei, Diebstahl, Geiz, Meineid, von aller Ausgelassenheit und Uneinigkeit; daß der Mensch alles, was er nicht will, daß es ihm geschehe, auch einem andern nicht tue, und daß so der gerecht Handelnde den ewigen Strafen entgehe und des ewigen Lebens durch Gott gewürdigt werde.“ (Theophilus, An Autolykus II,24-27.34)

 

Tatian schreibt über die Erschaffung des Menschen und der Engel durch den Sohn Gottes, und wie sie von Gott abfielen und dem Teufel folgten:

„Denn der himmlische Logos, als Geist vom Geiste und als Wort aus der Kraft des Wortes entsprungen, hat in Nachahmung des Vaters, der ihn gezeugt, zum Abbild der Unsterblichkeit den Menschen geschaffen, auf daß dieser, wie die Unvergänglichkeit bei Gott ist, ebenso, durch einen Anteil am Wesen Gottes, gleichfalls die Unsterblichkeit besitze.

Nun wurde aber der Logos vor der Erschaffung der Menschen auch der Schöpfer der Engel: beide Gattungen von Geschöpfen sind frei geschaffen und besitzen nicht von Natur aus das Gute, das ausschließlich in Gott allein ist, von den Menschen aber aus freier Wahl vollbracht wird, damit der Böse mit Recht bestraft werde, nachdem er durch seine eigene Schuld böse geworden, der Gerechte aber um seiner guten Werke willen nach Verdienst gelobt werde, weil er nach freiem Entschluß den Willen Gottes nicht übertreten hat. So verhält es sich mit den Engeln und Menschen. Da aber die Kraft des Logos die Fähigkeit an sich hat, das vorauszusehen, was in Zukunft nicht durch das Fatum, sondern durch die freie Entschließung der Wählenden geschehen werde, so sagte er den Verlauf der kommenden Ereignisse voraus, schränkte durch Verbote die Bosheit ein und lobte diejenigen, die im Guten verharren würden. Doch als die Menschen und Engel einem, der als Erstgeborener die übrigen an Verstand übertraf, scharenweise folgten und ihn, obgleich er sich wider das Gesetz Gottes aufgelehnt hatte, als einen Gott ausriefen, da stieß die Kraft des Logos sowohl den Urheber des Frevels als auch dessen Anhänger aus der Gemeinschaft mit dem Worte. Und der nach dem Bilde Gottes geschaffene Mensch wurde, da der mächtigere Geist sich von ihm trennte, sterblich; der Erstgeborene aber wurde ob seiner Übertretung und Torheit zum Dämon, und aus denen, die seine Gaukeleien nachahmten, wurde ein Heer von Dämonen, die ihrer Unverbesserlichkeit überlassen wurden, weil sie ja freie Wesen waren.“ (Tatian, Rede an die Bekenner des Griechentums 7)

Über die Folgen der Ursünde schreibt er:

„Nachdem die Seele ihre Flugkraft, den vollkommenen Geist, durch die Sünde verwirkt hatte, flatterte sie ängstlich wie ein junger Vogel und fiel zu Boden; und da sie also die Verbindung mit dem Himmel verloren hatte, begann sie die Gemeinschaft mit den niederen Dingen zu wünschen. Verstoßen wurden die Dämonen, ausgetrieben wurden die ersten Menschen: jene wurden vom Himmel herabgestürzt, diese von der Erde vertrieben, aber nicht von der heute bestehenden, sondern aus einer, die besser eingerichtet war als die gegenwärtige.“ (Tatian, Rede an die Bekenner des Griechentums 20,2f.)

Die ganze Schöpfung ist gut, das Böse eine Pervertierung des Guten:

„‚Alles ist von ihm und ohne ihn ist nichts gemacht.‘ Ist aber in dem Geschaffenen etwas Schädliches, so ist es durch unsere Sünde hineingekommen.“ (Tatian, Rede an die Bekenner des Griechentums 19,11f.)

 

In einem Märtyrerbericht heißt es über die Erbsünde:

„Als aber der Soldat die Holzstücke aufschichtete und anzünden wollte, sagte der heilige Karpus, während er da hing: Wir sind von derselben Mutter Eva geboren worden und haben dasselbe Fleisch, aber hinblickend auf das untrügliche Gericht erdulden wir alles. Als er dieses gesagt hatte und das Feuer brannte, betete er sprechend: Gepriesen seist du, Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, daß du auch mich Sünder deines Besitzes gewürdigt hast.“ (Martyrium der Heiligen Karpus, Papylus und Agathonike 4)

 

Die Schöpfung ist auch von den Dämonen in Unordnung gebracht und der Mensch wird von ihnen zum Schlechten beeinflusst, schreibt Athenagoras von Athen:

Weil also gegen Erwartung und Recht die einen glücklich, die andern unglücklich sind, so konnte es sich Euripides nicht erklären, wer die Verwaltung der irdischen Dinge habe, bei der man ausrufen möchte:

‚Wie sollten wir beim Anblick solcher Dinge noch
An Götter glauben oder halten ein Gesetz?‘

Dies bewog auch einen Aristoteles zu dem Ausspruche, daß es für die Dinge unter dem Himmel keine Fürsorge gebe. Aber die ewige Fürsorge Gottes bleibt uns nach wie vor:

‚Ob gern, ob ungern sprießt die Erde Weide mir.
Naturnotwendig, und ernährt zur Mast mein Vieh‘

und auch die Fürsorge für die Teile erstreckt sich tatsächlich, nicht bloß vermeintlich, auf die würdigen; auch für das übrige ist, soweit es der gemeinsame Zweck der Schöpfung fordert, durch weise Einrichtung gesorgt. Weil aber die vom feindseligen Geiste ausgehenden Erregungen und Einwirkungen besagte Unordnung hineinbringen, da sie nunmehr auch die Menschen, den einen so, den andern anders, bald einzelne, bald ganze Völker durch geteilten oder gemeinschaftlichen Ansturm, je nach dem Verhältnisse eines jeden zur Materie und nach dem Grade seiner Empfänglichkeit fürs göttliche, innerlich und äußerlich in Erregung versetzen, so haben einige und zwar Autoritäten gemeint, daß das Universum nicht auf einer Ordnung beruhe, sondern der Tummelplatz blinden Zufalls sei; sie haben dabei übersehen, daß von all den Dingen, von denen eigentlich der Fortbestand der Welt abhängt, kein einziges ungeordnet und vernachlässigt ist, sondern ein jedes eine vernünftige Einrichtung zeigt, so daß sie die ihnen gesetzte Ordnung nicht überschreiten. Auch der Mensch, wie er aus des Schöpfers Hand hervorging, ist ein wohlgeordnetes Wesen, mag man nun die Art und Weise seiner Entstehung betrachten, die einen einheitlichen, für alle gültigen Plan aufweist, oder sein organisches Wachstum, welches das hiefür maßgebende Gesetz nicht überschreitet, oder das Ende des Lebens, das gleich und gemeinschaftlich bleibt für alle. Aber nach seiner eigenen individuellen Vernunft und nach der Einwirkung jenes drängenden Herrschers und seines Dämonengefolges wird der eine so, der andere anders beeinflußt und erregt, obschon die Fähigkeit vernünftigen Denkens allen in gleicher Weise innewohnt.“ (Athenagoras, Bittschrift für die Christen 25)

 

Im Diognetbrief heißt es:

„An diesem Orte nämlich ist ein Baum der Erkenntnis und ein Baum des Lebens gepflanzt; aber nicht der Baum der Erkenntnis tötet, sondern der Ungehorsam. Denn nicht ohne tiefern Sinn ist, was geschrieben steht, dass Gott am Anfange einen Baum der Erkenntnis und einen Baum des Lebens in der Mitte des Paradieses pflanzte: durch ‚Erkenntnis‘ hat er das Leben angedeutet; weil die Stammeltern von ihr keinen lautem Gebrauch machten, wurden sie durch Betrug der Schlange entblösst. Denn weder gibt es Leben ohne Erkenntnis, noch sichere Erkenntnis ohne wahres Leben; deshalb sind beide nebeneinander gepflanzt worden. Im Hinblick auf die Macht dieser Verbindung tadelt der Apostel die Erkenntnis, die ohne Wahrheit der Anwendung aufs Leben geübt wird, und sagt: Die Wissenschaft bläht auf, die Liebe aber erbaut. Denn wer etwas zu wissen glaubt ohne wahre Erkenntnis, der auch das Leben Zeugnis gibt, der hat keine wirkliche Erkenntnis und wird von der Schlange irregeführt, weil er das Leben nicht liebte. Wer aber mit Furcht erkennt und Leben sucht, der pflanzt auf Hoffnung in Erwartung der Frucht.“ (Diognetbrief 12)

 

 

So-tun-als-ob-Pastoral

In der katholischen Durchschnittspfarrei kann man öfter das erleben, was ich als „So-tun-als-ob“-Pastoral bezeichnen würde. Was ich damit meine:

Für mich war es als Kind in den 2000ern (bayerische Kleinstadt) ganz normal, mit so gut wie allen Mitschülern außer den ein oder zwei Türken und Evangelischen im Religionsunterricht zu sitzen und zur Erstkommunion- und Firmvorbereitung zu gehen, ein paar aus der Klasse waren auch immer bei den Ministranten (ich übrigens nicht) oder bei irgendwelchen kirchlichen Musikgruppen. Aber gleichzeitig war es völlig normal und erwartet, dass man außerhalb von Erstkommunion- und Firmvorbereitung nie wieder zur Beichte gehen würde und das Konzept von „Kein Sex vor der Ehe“ natürlich abzulehnen war. Das sind halt so Sachen, die die Kirchenhierarchie irgendwie noch offiziell fordert, aber hier vor Ort natürlich mehr oder weniger ignoriert werden können. Vielleicht glaubt auch der ein oder andere neue Kaplan oder die ein oder andere Religionslehrerin doch noch daran, aber sogar die sind manchmal zögerlich dabei, von einem zu erwarten, dass man das überzeugend findet. Auch diejenigen, die es schön finden, wenn man bei den Ministranten mitmacht – dass man regelmäßig zur Kirche kommt, wenn man nicht bei den Ministranten ist, wird selten erwartet. Man ist verpflichtet, bei ewig vielen Gruppenstunden und Ausflügen zur Firmvorbereitung mitzukommen, aber ob man, bevor man gefirmt wird, die grundlegendsten katholischen Wahrheiten eigentlich bekennt oder nicht, interessiert dabei eher so weniger (wie auch; man hat sie ja oft nur sehr bruchstückhaft beigebracht bekommen).

Oder dann hat man da manchmal diesen distanzierten Umgang mit speziell katholischen Sachen: Wenn Religionslehrer so was erklären wie „aus katholischer Sicht wird einem durch den Beistand des Priesters in der Beichte die Botschaft ‚Gott ist bei dir in allen deinen Schwächen‘ zugesprochen, aus evangelischer Sicht soll man sich im persönlichen Gebet Gott anvertrauen“ – na ja, da denkt man sich, okay, was glauben die jetzt eigentlich und wollen mir vermitteln. Offensichtlich nicht, dass die Beichte jetzt wirklich was Wichtiges und Wirksames ist. „Katholiken glauben, dass in der Kommunion Jesus gegenwärtig wird“ „Für Katholiken gilt die Firmung als entscheidender Schritt auf dem Weg eines Christen“ – man hat den Eindruck, als würde man über den Hinduismus oder Zoroastrismus informiert, nicht über das, was der Religionslehrer selber theoretisch glauben soll.

Es wird ein bisschen so getan, als ob man sich noch an den offiziellen Katholizismus hält; man muss ja die Form wahren. Aber der Glaube dahinter ist nicht derselbe. Das heißt nicht, dass da gar kein Glaube ist; der Glaube, dass es Gott gibt, dass Jesus zumindest was ganz Besonderes und vielleicht sogar Gottes Sohn war, dass man nach dem Tod in den Himmel kommt (und es für Leute wie Hitler und Stalin vielleicht sogar eine Hölle gibt), dass Jesus gesagt hat, dass man nett sein und Gutes tun soll, das ist zumindest oft noch da – wobei man sich manchmal nicht mal bei der Existenz Gottes so ganz sicher ist, das vermutet man eben oder geht mal davon aus. Aber es ist alles irgendwie verschwommen und unsicher; es ist mehr die Vorstellung da, dass alle konkreten Offenbarungen (Christentum, Judentum, Islam usw….) nicht wahr sind und bloß Teilwahrheiten enthalten, und die gerade unbeliebten katholischen Wahrheiten natürlich falsch sind. Gott ist nicht konkret da, sondern fern und vage.

Man bietet noch die Beichte an; aber eben als Zugeständnis für die paar Leute, die noch unbedingt daran festhalten wollen. Man liest die Messe; aber eben nur deswegen, weil das die katholische Form des Gottesdienstes ist, und man nun mal in diese Religion hineingeboren wurde, man hätte auch kein Problem damit, Lutheraner zu sein und evangelische Gottesdienste zu veranstalten. Man macht auf ausdrückliche Bitte hin noch die Krankensalbung, aber versteht eigentlich nicht, wieso manche Sterbende die unbedingt wollen und nicht mit dem Trost durch einen Laienseelsorger vorlieb nehmen können.

Natürlich sind nicht alle so. In guten Pfarreien hat man sogar eine ziemlich starke Partei, die den Glauben ernst nehmen will, die Nightfever-Abende, Eucharistische Anbetungen und Alpha-Kurse veranstaltet, und mit Jugendgruppen zum Weltjugendtag fährt. Aber für gewöhnlich hat man auch eine große Masse, die so tut als ob.

Das ist, denke ich, einer der zentralen Unterschiede zu Tradigemeinden. Ich bin selber noch vergleichsweise neu dabei und hatte gerade im Lauf des letzten Jahres oft gar nicht die Gelegenheit, jeden Sonntag zur alten Messe zu gehen. Aber auch während man sich (wie ich) in die ungewohnte „vorkonziliare“ Liturgie erst noch ein bisschen reinfinden muss, ist da von Anfang an dieses Gefühl da: Hier hat man keine so grundlegenden Differenzen. Hier kann man offen sein, ein guter Priester muss nicht erst Leute von den grundlegendsten Dingen überzeugen, und man hat nicht die Sorte Priester, bei deren Predigt man versucht, sie einfach nur auszublenden. Da passt man hin, da muss man sich nicht rechtfertigen, da ist einfach diese kollektive Unehrlichkeit und Spaltung nicht da; da wird nicht so getan, als ob.

Carl Frithjof Smith, Nach der Erstkommunion.

Christliche Kultur am Sonntag: „Eines Tages“

Bei christlichen Sachbüchern findet man bekanntlich relativ leicht gute Sachen; bei Romanen, Filmen oder Kinderbüchern sieht es allerdings manchmal schwieriger aus, auch wenn einige vermutlich gern mehr davon besäßen. Dabei gibt es eigentlich auch hier viel Gutes, wenn man näher hinschaut, und weil nicht allen alles bekannt ist, dachte ich, ich stelle meinen Lesern hier mal jede Woche kurz ein Werk vor – hauptsächlich katholische Sachen, aber wenn es von guter Qualität ist, auch mal was aus anderen Konfessionen; nicht nur Hochkultur, sondern auch eher Populärkultur (aber halbwegs gut gemacht soll es sein); und sowohl solches mit explizit religiösen Inhalten (im Einzelfall auch mal, wenn es von persönlich nicht sehr frommen Menschen kommt), als auch Werke von überzeugten Christen ohne explizite Botschaft. Viele werden bestimmte Klassiker schon kennen, aber andere vielleicht noch nicht.

Und weil ich ja auch nicht alles kennen kann: Wer ein katholisches Lieblingsbuch, einen Film o. Ä. hat, von dem er schon immer mal mehr Leuten erzählen wollte, darf mir gern über die „Contact“-Seite schreiben und vielleicht ergibt sich ein Gastbeitrag.

Heute: „Eines Tages“ (Corinna Turner)

Corinna Turners kurzer Roman „Eines Tages“ (geeignet ca. ab 16 Jahre) beginnt irgendwo im ländlichen England, im methodistischen Mädcheninternat Chisbrook Hall. In der Nacht ertönt der Feueralarm, und fremde Männer in Uniform drängen die Schülerinnen nach draußen. Bald wird ihnen klar, dass es keine Soldaten sind. Die Männer geben sich als Mitglieder einer islamischen Terrormiliz zu erkennen, treiben die Mädchen in LKWs und Pferdeanhänger und fahren mit ihnen davon. Später werden sie im Wald in andere Fahrzeuge umgeladen, und noch ein wenig später bei Nacht und Nebel auf ein Schiff gebracht, das England schnell hinter sich lässt.

„Eines Tages“ erzählt die Entführung der 276 nigerianischen Schülerinnen aus Chibok im Jahr 2014 durch die Terrorgruppe Boko Haram nach, versetzt sie aber nach England. Die Geschichte wird aus häufig wechselnder Sichtweise erzählt; aus der Sicht verschiedener Schülerinnen und aus der Sicht von Leuten, die nach ihnen suchen. Da wäre Ruth, die wegen ihres christlichen Glaubens entschlossen ist, sich nicht zwingen zu lassen, das islamische Glaubensbekenntnis aufzusagen, obwohl die anderen sie anflehen, es zu tun, um nicht getötet zu werden; Alleluia, die es schafft, andere Mädchen zu einem riskanten Fluchtversuch zu bewegen, als sich ihnen, während sie noch in England sind, eine Gelegenheit bietet; Daniyah, die muslimische Schülerin, die versucht, den anderen Schülerinnen zu helfen, da sie weiß, was von ihnen erwartet wird; Yoko, die japanische Austauschschülerin, die wenig Englisch spricht und die ihre shintoistischen Talismane aus ihrem Schlafsaal mitgenommen hat, was dann von einem der Entführer entdeckt wird; Sam, Isaar und Rishad, Offizierskadetten, die bei der Suche nach den Mädchen helfen und zwei im Wald zurückgelassene vergewaltigte Mädchen finden.

Es wird nichts beschönigt; manche Mädchen werden vergewaltigt, manche werden getötet. Die Terroristen wollen schließlich aussortieren, wer als „Ehefrau“ taugt und wer nur als Sklavin, was sich bei ihnen kaum voneinander unterscheidet, und wollen sie zur Konversion zum Islam zwingen. Bei vielen einzelnen Punkten der Handlung hat die Autorin sich an Berichte von Mädchen aus Chibok angelehnt, die fliehen konnten.

Die Handlung wirkt an manchen Stellen nicht so glaubwürdig, wie wenn es in Nigeria spielen würde; man würde einen größeren Einsatz der Sicherheitsbehörden erwarten, und dass Flucht und Untertauchen im dichter besiedelten Europa nicht so einfach wären. (Andererseits stellt die Autorin dieses England als mit ständigen weiteren Terrorakten überfordert dar.) Aber es bringt das Ganze eben auch näher. Corinna Turner ist keine brillante, aber eine gute Autorin; und die Geschichte selber fesselt genug. Die schlimmsten Szenen werden nicht direkt geschildert – was eine gewisse Achtung vor den Opfern ausdrückt, meiner Meinung nach; denn es geht hier auch nicht nur um Buchfiguren, sondern auch um die realen Vorbilder.

Das letzte Kapitel endet damit, wie man in England Monate nach der Entführung erfährt, dass vier weitere Mädchen von einer Farm in Albanien geflohen sind, wo sie zuletzt gefangen gehalten wurden, und dass diese Mädchen vom Tod von ein paar weiteren Mädchen berichten konnten. Die anderen – über 200 – werden nicht gefunden; die Terrorgruppe ist weitergezogen.

Es gibt kein wirkliches Ende, keine zufriedenstellende Auflösung, eigentlich überhaupt keine Auflösung. Auch hier hat sich die Autorin an die Realität gehalten. (Das Buch wurde 2016 geschrieben; jetzt, Stand 2021, sind immer noch über 100 der Mädchen aus Chibok in der Gewalt von Boko Haram.) Man erfährt nicht einmal, ob ein paar der Figuren in England, bei denen man es hätte erwarten können, noch irgendwann zusammenfinden; und es wird nichts mehr aus der Sicht der Mädchen erzählt, die noch in Gefangenschaft geblieben sind. Sie sind verschwunden, fort aus der Geschichte, irgendwo verschollen. Man weiß nur von Vergewaltigung, Sklaverei und Elend.

Das Buch enthält ein Vorwort eines nigerianischen Bischofs und im Anhang Berichte realer Opfer von Boko Haram; der Erlös geht an die Hilfsorganisation Kirche in Not, die auch in Nigeria aktiv ist. Es ist über den Verlag Petra Kehl oder den Sarto-Verlag erhältlich.

Linkssein: Nicht nur fehlgeleiteter Idealismus

Es herrscht ja bei vielen der Eindruck, linke Ideen wären eigentlich an sich sehr schön, nur leider ein bisschen zu unpraktisch und utopisch; natürlich seien Linke gute Idealisten, aber auch ein bisschen realitätsfremde Träumer. „Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz, wer mit 30 noch Kommunist ist, hat keinen Verstand“ usw. Das ist meines Erachtens ziemlich falsch. Erstens ist schon die linke Theorie verkehrt; sie funktioniert deshalb nicht, weil sie nicht gut ist, nicht der Natur des Menschen entspricht. Aber auch ihre Vertreter sind nicht immer wahnsinnig sympathisch.

[Kurz zur Begriffsdefinition: Mit „Linkssein“ meine ich das ganze Konglomerat, das auf der politisch linken Seite zusammenkommt: Sozialismus (Ablehnung von Privateigentum und Marktwirtschaft in mehr oder weniger klassischer Form; zeigt sich z. B. an einer generellen Begeisterung für Enteignungen / Vergesellschaftungen, an Ideen von „100% Erbschaftssteuer“ o. Ä.); Feminismus im Sinne der Feministinnen, die Abtreibung befürworten und ständig über „toxische Männlichkeit“ schreiben; Anti-Rassismus im Sinne der Critical Race Theory (umgangssprachlich Wokeness), wobei alles und jedes von Rassismus geprägt ist, Weiße automatisch rassistisch sozialisiert sind und es keinen antiweißen Rassismus geben kann, weil Weiße strukturell privilegiert sind; Anti-Faschismus im Sinne der Antifa, wobei alles Faschismus ist, was man nicht mag; Umweltschutz im Sinne der Grünen, wobei oft das Denken dahintersteht, dass die Welt doch ohne Menschen besser dran wäre; usw.]

Ich halte nichts davon, nur mit Psychologisieren gegen Gegner vorzugehen; es gibt, wie gesagt, genug Argumente, die schon gegen ihre Theorien an sich sprechen. Ich habe diesen Artikel nicht geschrieben, weil ich meinen würde, Psychologisieren wäre schon genug, um diese Theorien zu verwerfen, sondern einfach, weil oft der m. E. falsche Eindruck herrscht, dass man mit Linken besonders freundlich und behutsam umgehen und ihnen automatisch gute Motive unterstellen sollte, während man anderen diese Freundlichkeit nicht entgegenbringt. Linke sind nicht automatisch gute Menschen mit irrendem Gewissen. Sicher gibt es einige solche Linke; v. a. die, die nur Mitläufer sind. Aber es gibt erfahrungsgemäß auch viele sehr unsympathische Menschen unter ihnen; und selbst sympathische Leute werden von linken Ideologien oft zu unangenehmeren Menschen gemacht (jedenfalls hat man im normalen Leben und vor allem im Internet diesen Eindruck).

Es stecken in jeder Ideologie irgendwelche guten Motive und irgendwelche (verdrehten) Wahrheiten, sonst könnte sie gar keine Anhänger finden. Aber auch eine Ideologie, in der was Gutes steckt, kann ziemlich falsch sein und ein Cover dafür bieten, böse Impulse ausleben zu dürfen. Bei den Linken kommen, jedenfalls habe ich diesen Eindruck, manchmal folgende zusammen:

  1. Man kann ungehemmt Hass und Aggression ausleben, weil die Gegner zutiefst böse sind. Man selbst ist eindeutig für das Gute, also können die Gegner nicht nur fehlgeleitet sein, sondern sind zutiefst böse Unterdrücker. In jedem sozialistischen Staat waren bzw. sind Geheimpolizei und Gefängnispersonal ungehemmt sadistisch. Man rechtfertigt es damit, dass der Zweck die Mittel heiligt: Man muss das Paradies schließlich möglichst schnell hier auf Erden errichten, weil es kein Leben nach dem Tod gibt, und dafür muss man eben vorerst ein paar Kollateralschäden in Kauf nehmen. (Im Christentum dagegen ist die Feindesliebe vorgeschrieben und man muss auch zu seinen Gegnern gerecht sein, auch Verbrecher verdienen nur verhältnismäßige Strafen, und Unschuldigen gezielt Böses zu tun, um das große Ganze zu retten, darf man schlicht nicht.) Auch dabei, dass man nicht an ein Gericht nach dem Tod glaubt, kann der Wunsch der Vater des Gedankens sein: Man wird sich nie vor jemandem rechtfertigen müssen, der vollkommen gerecht ist und alles weiß.
  2. Vor allem die neueren linken Theorien haben etwas Zerstörungswütiges, Lebensfeindliches: Man ist für Dekonstruktion (d. h. Destruktion), will Sicherheiten erschüttern, Überzeugungen verunklaren, Ordnungen auflösen. Aber es ist eben so: Wenn man alles durchschaut (bzw. scheinbar durchschaut), sieht man am Ende gar nichts mehr. Irgendwo gibt es eine Natur des Menschen, gibt es eine Ordnung in der Welt, die gut ist.
  3. Dazu passt auch die Familienfeindlichkeit des Sozialismus. Familien wurden schon immer als einschränkend gesehen (im Ostblock hatte man bekanntlich Wochenkrippen und dergleichen und früh ein liberales Abtreibungsrecht). Man soll die Leute aus ihren familiären „Zwängen“ „befreien“, was oft dadurch funktioniert, dass die Kinder vom Staat vereinnahmt werden (Olaf Scholz: „Lufthoheit über den Kinderbetten“). Für einzelne ist diese Familienfeindlichkeit zwar oft nachteilig, aber wenn jemand gerade gerne Verantwortung für seine Kinder abgeben will, ist die Verstaatlichung der Kindheit von Vorteil. Und dann heißt es ja manchmal sogar „überhaupt keine Kinder bekommen fürs Klima“, was es sehr leicht macht, nicht über sich hinauszugehen und neuen Menschen das Leben zu schenken. Auch sexuell erlauben die Linken alles, und daraus folgt die Erlaubnis der Abtreibung als Auffangbecken für Missgeschicke, was wesentlich schlimmer ist, als einfach von vornherein keine Kinder entstehen zu lassen. Und wenn einer sogar lieber das Leben anderer Menschen gewaltsam beendet, als ein bisschen Kontrolle über seine Lebenspläne abzugeben, aber sich dabei sagen will, dass er das Richtige für die Menschheit tut, hilft ihm die „Keine Kinder wegen Überbevölkerung und Klimawandel“-Einstellung oder die „Familien sind patriarchalische Unterdrückungsmechanismen“-Einstellung natürlich. [Anmerkung: Natürlich gibt es aus katholischer Sicht keine allgemeine Pflicht, Kinder zu bekommen; es ist völlig legitim, wenn man sich nicht dafür geeignet sieht, oder einfach ein Einzelgänger ohne Wunsch nach Familie ist; aber zu diesem Zweck darf man zuallererst niemanden töten, und dann muss man es auch akzeptieren, dass man keinen Sex haben kann; einer der beiden Zwecke von Ehe & Sexualität ist es nun mal, neue unsterbliche Seelen in die Welt zu setzen, und das ist etwas sehr Kostbares.]
  4. Gerade die Critical Race Theory hat oft etwas Masochistisches: Weiße sollen sich selbst dafür geißeln, dass sie weiß sind, und ihre ganze Kultur als von Grund auf auf Rassismus gebaut sehen. (Was sie nicht ist, aber das nur anbei.) Ähnlich beim Feminismus: Männer sollen ihre Männlichkeit als toxisch empfinden. Der Wunsch, sich selbst zurückzustellen und seine Fehler anzuerkennen, kann sehr gut sein; aber in diesem Fall spielt stattdessen sehr viel zerstörerischer Selbsthass hinein. Diese Ideologien erlauben keine wirkliche Erlösung und freuen sich auch nicht über bekehrte Sünder.
  5. Dieser Punkt gilt eher für den älteren Sozialismus als für den neuen Wokismus, aber manchmal auch für den: Man befreit sich innerlich ein Stück weit davon, im täglichen Leben seine Pflichten erfüllen zu sollen, Rücksicht und Gerechtigkeit zu üben, usw., weil der politische Kampf immer als das Vorrangige gilt. Solange man auf die richtigen Demos geht, ist es nicht zentral wichtig, ob man sonst ein Arschloch ist. Viele der RAF-Terroristen, um das extremste Beispiel zu nehmen, haben ihre Kinder zurückgelassen, um in den Untergrund zu gehen und Anschläge zu verüben; und eine von ihnen, Ulrike Meinhof, hat ihre Töchter sogar verschleppen lassen und wollte sie in einem Waisenlager der Fatah unterbringen (die Kinder entgingen diesem Schicksal glücklicherweise). Manchmal ist praktisch die Einstellung da: Wie kann man sich für sein privates Glück, seine privaten Verantwortlichkeiten, oder auch für sein gutes Gewissen interessieren, wenn man das große Ganze retten muss. Damit verschiebt man die Verantwortung, die man für konkrete Menschen hat, auf ein ominöses größeres Gebilde. (Damit zusammenhängend: Man gibt auch dadurch Verantwortung ab, dass es heißt, die Gesellschaft schafft alle Übel. Auch wenn man es ist, der sich schlecht verhält: Die Gesellschaft hat einen eben verdorben, man kann gar nichts dafür. Ja, das widerspricht in gewisser Weise dem vorigen Punkt, aber Sozialisten leben eben gerade in diesen Widersprüchen und verhalten sich mal so und mal so.) Ich will damit gar nicht sagen, dass die Gesellschaft und die Politik unwichtig sind, sie sind sehr wichtig und formen Menschen stark; aber manche Verantwortlichkeiten gehen vor und ein einzelner Mensch kann nicht immer viel am großen Ganzen ändern.
  6. Gerade wenn es um das Thema „Mikroaggressionen“ geht: Die betroffenen Gruppen können ziemlich schnell etwas finden, was am Benehmen eines anderen angeblich unsensibel gewesen sein soll (z. B. hat der einen ausländischen Namen falsch ausgesprochen), und das dann nicht als tatsächliche Mikroaggression (dem Wortlaut nach eine kleine unbedeutende Sache), sondern als Anzeichen einer allgegenwärtigen Unterdrückung nehmen; sich damit als Opfer profilieren, Mitleid einheimsen, und dem Gegner den Mund verbieten, denn alles, was der weiterhin sagen könnte, wäre ja nur noch mehr Mikroaggression; der soll sich nur noch für die erste Mikroaggression demütigen und dann verschwinden. Dass sie selbst gerade in größerem Maße aggressiv sind, merken sie gar nicht.
  7. Ein gewisser Neid steht auch manchmal dahinter: Man hält es für ungerecht, wenn es manchen Menschen besser geht als anderen. Dabei erfordert Gerechtigkeit nicht genaue Gleichheit, sondern eher, dass jeder zumindest das bekommt, was ihm zusteht, und es ihm einigermaßen gut geht (soweit das mit den gegebenen Mitteln in einer Gesellschaft machbar ist). Ich gehöre sicher nicht zu den Wirtschaftsliberalen, die es für Neid halten, wenn Leute für einen Vollzeitjob einen Lohn haben wollen, mit dem sie sich eine Familie mit vier Kindern und ein Reihenhaus leisten können, oder wenn Leute auch in der Arbeitslosigkeit nicht auf der Straße landen wollen. Aber genaue Gleichheit ist weder machbar noch wünschenswert. Wenn z. B. von zwei Leuten einer ein kleineres, aber hübsches und ausreichendes Haus mit mittelgroßem Garten hat, und einer eins mit 100 Quadratmeter mehr und riesigem Garten, ist das eine gute Situation, an der nichts auszusetzen ist, und offensichtlich besser, als wenn beide nur winzige Plattenbauwohnungen haben. Man kann es aushalten, wenn es anderen besser geht, man kann ihnen ihr Glück gönnen. Und wenn Linke z. B. dagegen wettern, dass manche Kinder Vorteile haben, weil ihre Eltern ihnen bei den Hausaufgaben helfen und ihnen gegebenenfalls Nachhilfe organisieren, kann es offensichtlich nicht die Lösung sein, Eltern zu verbieten, ihren Kindern zu helfen, oder alle Kinder bis sechs Uhr abends in der Nachmittagsbetreuung einzusperren, damit sie möglichst wenig Freizeit haben, in der sie eine vorteilhafte Position finden können. Eher sollte man alle Eltern anhalten, ihren Kindern zu helfen, ihnen ermöglichen, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, und meinetwegen eine freiwillige Nachmittagsbetreuung oder Nachhilfestunde für Kinder anbieten, deren Eltern ihnen nicht gut helfen können. Dasselbe beim Thema Erbrecht: Eltern haben offensichtlich den Wunsch und das Recht, für ihre Kinder vorzusorgen und ihnen etwas, das sie aufgebaut haben, zu hinterlassen. Das ist völlig legitim, auch wenn dabei unterschiedlich große Erbansprüche herauskommen. Ungleichheit wird nicht dadurch gelöst, dass es allen gleich schlecht gehen soll. (Noch eine kleine Illustration zum Thema Neid bei Linken: Ich kenne eine Linkenwählerin, die sich gleich mehrmals darüber beschwert hat, dass eine Kollegin fast so viel verdiene wie sie, obwohl die viel weniger qualifiziert sei – man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Das Problem war nicht, dass sie selber zu wenig verdient, sondern eine andere zu viel, obwohl die immer noch weniger verdient als sie.)

Weil ich oben gesagt habe, dass schon ihre Theorien falsch sind, ohne Psychologisieren, wäre es hier vielleicht angebracht, noch ganz knapp zusammengefasst ein paar Gründe zu erwähnen, wieso:

  1. Der klassische Sozialismus sah immer schon die Abschaffung des Privateigentums und auch die Auflösung der Familie voraus; beides ist grundfalsch. Menschen werden immer in Familien geboren und sind in Familien glücklicher als in Kollektiven. Und diese Familien brauchen, um zu funktionieren, auch eine gewisse Unabhängigkeit, bei der das Privateigentum hilft. Privateigentum ist generell ein gewisser Schutz davor, dass der Staat nicht nur seine legitimen Aufgaben erledigt, sondern gleich alles an sich reißt.
  2. Linke Theorien sehen oft die ganze Welt nur als Machtstrukturen. Dass Dinge wie Freundschaft, Treue, Überzeugungen, ein schlechtes Gewissen, künstlerisches Interesse, Abenteuerlust, Naivität, Massenpanik usw. usf., manche Dinge erklären könnten und eine größere Rolle in der Weltgeschichte gespielt haben könnten, stellt man sich gar nicht vor.
  3. Besonders die heutigen Linken stellen ständig Opferhierarchien auf. Dabei übersehen sie, dass Machtstrukturen nicht immer so einfach sind, und dass auch gerade Eliten (oder scheinbare Eliten) von starkem Hass betroffen sein können (man frage nur mal die Tutsi in Ruanda oder die Aleviten in Syrien). Natürlich übersehen sie auch (oder ignorieren es), dass sich Hierarchien oft umgedreht haben, und es in Einzelfällen oft nicht auf generelle Hierarchien ankommt. Sie bezeichnen außerdem Dinge, die eigentlich jeder haben sollte, als „Privilegien“, bei denen man sich dafür schämen sollte, dass man sie hat.

Zuletzt ein kurzes nettes Beispiel dafür, wo Linke falsch denken, aus dem Film „Eins zwei drei“ von 1961 (er spielt kurz vor dem Bau der Berliner Mauer): Die 17jährige reiche, verwöhnte und naive Amerikanerin Scarlett hat bei einem Aufenthalt in Berlin heimlich den ostdeutschen jungen Kommunisten Otto geheiratet, der mit ihr in die Sowjetunion gehen und da studieren will. Vor der geplanten Abreise fragt sie ihn, ob sie beide Pelzmäntel mitnehmen soll, worauf er entschlossen sagt „keine Frau sollte zwei Pelzmäntel haben, solange noch eine Frau keinen Pelzmantel hat“. Sie schließt daraus einfach „Otto sagt, jede Frau sollte einen Pelzmantel haben“, behält einen und schenkt den zweiten der Haushälterin ihrer Westberliner Gastgeber. So was ist tatsächlich ein gesunder Impuls. Aber der kommunistische Impuls, das, was Otto gemeint hat, ist „erstmal sollte keiner das haben“, und die Zeit, in der es alle haben, kommt dann nie. (Die zwei gehen übrigens am Ende doch nicht in die Sowjetunion.)