Die frühen Christen (bis 200 n. Chr.), Teil 7: Sündenfall und Erbsünde

Wer wissen will, was es mit dieser Reihe auf sich hat, möge bitte diese kurze Einführung hier lesen; knapp gesagt: ich habe Zitate aus christlichen Schriften vom Jahr 95 bis ca. 200 n. Chr. gesammelt, um einen Eindruck von der frühen Kirche zu vermitteln. (In der Einführung findet sich eine Liste mit allen herangezogenen Werken mitsamt ihrer Datierung.)

Alle bisher veröffentlichten Teile gibt es hier.

 

Bibelstellen zum Vergleich (u. a.): Gen 3, Röm 5,12-19, 1 Kor 15,21f., Sir 25,24.

 

Heute geht es darum, was die Christen im 2. Jahrhundert über den Sündenfall und die Folgen von Adams und Evas Sünde lehrten.

 

Bischof Irenäus von Lyon schreibt ausführlich über Erschaffung und Fall des Menschen:

„Den Menschen aber bildete er mit eigener Hand. Er verwandte dazu den feineren und zarteren Stoff der Erde und verband in [weisem] Maße miteinander die Erde und seine Macht. Denn er hat dem Geschöpfe seine Form gegeben, damit es in seiner Erscheinung Gottes Bild sei. Als Abbild Gottes setzte er den von ihm erschaffenen Menschen auf die Erde. Damit er Leben empfange, hauchte er in sein Angesicht den Lebensodem, auf daß der Mensch sowohl seiner ihm eingehauchten Seele nach und in seiner Leibesbildung Gott ähnlich sei. Er war folglich frei und Herr über sich selbst durch Gottes Macht, damit er über alles, was auf Erden ist, herrsche. Und dieses große Schöpfungswerk der Welt, das alles in sich barg, von Gott schon vor der Schöpfung des Menschen zubereitet, wurde dem Menschen zum Wohnsitz gegeben. Und es fanden sich an ihrer Stelle und mit ihren Arbeitsleistungen die Diener dieses Gottes, der alles schuf. Und ein Hauswalter hatte als Schützer dieses Gebiet inne, der über die Mitknechte gesetzt war. Die Knechte waren die Engel, der Walter und Schützer aber der Fürst der Engel [ein Erzengel].

Indem Gott so den Menschen als Herrn der Erde und alles dessen, was auf ihr ist, erschaffen hatte, hat er ihn auch zum Herrn derer, welche als Diener auf ihr sind, erhoben. Jedoch erfreuten sich jene der Reife ihrer Natur, während der Herr, d. h. der Mensch, klein war; war er doch ein Kind, noch des Wachstums bedürftig, um zu seiner Vollreife zu gelangen. Seine Ernährung und sein Wachstum sollte dabei voll Freude und Wonne sein. So ward für ihn dieser Ort schöner bereitet als diese Welt; [er ward ausgestattet mit Vorzügen] der Luft, Schönheit, des Lichtes, der Nahrung, der Pflanzen, Früchte und der Wasser und mit allem anderen, was zum angenehmen Leben nötig war. Sein Name war Paradies. Herrlich und schön war das Paradies; da wandelte das Wort Gottes immer in demselben umher, es verkehrte und sprach mit dem Menschen über die Zukunft und belehrte ihn zum voraus über das, was kommen wird. So wollte es bei ihm wohnen, mit den Menschen reden und weilen und sie in der Gerechtigkeit unterweisen. Allein der Mensch war ein Kind, seine Gedanken waren noch nicht vollkommen geklärt, daher wurde er auch leicht vom Verführer betrogen.

Bei seinem Verweilen im Paradies führte nun Gott dem Menschen, während dieser darin umherging, alles Lebende vor und befahl, es ihm zu benennen. Wie immer Adam ein Lebewesen bezeichnete, so wurde es nunmehr benannt. So war der Augenblick gekommen, da Gott Adam auch eine Gehilfin schaffen wollte. ‚Denn‘, so sprach Gott, ‚es ist nicht gut für den Menschen, allein zu sein. Laßt uns ihm eine Gehilfin machen nach seinen Verhältnissen.‘ Denn unter den andern Lebewesen hatte sich keine Adam nach Natur und Wert gleiche und zu ihm passende Gehilfin gefunden. So ließ Gott selbst über Adam eine Verzückung kommen und ihn in Schlaf sinken. Weil es noch keinen Schlaf im Paradiese gab und doch die Erfüllung eines Werkes auf dem früheren beruhen soll, so ist dieser durch Gottes Willen über Adam gekommen. Es nahm nun Gott eine von den Rippen Adams und ersetzte sie durch Fleisch. Die Rippe selbst aber, die er ihm entnommen hatte, bildete er zum Weibe um und führte es so vor Adam. Als dieser dasselbe sah, sprach er: ‚Das ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleische. Sie soll Weib heißen, denn von ihrem Manne ward sie genommen.‘

Und Adam und Eva — denn das ist der Name des Weibes — waren nackt und schämten sich nicht. Denn sie waren ohne Sünde und kindlichen Sinnes. Ihr Geist war frei von Vorstellungen und Gedanken, wie sie seither aus Bosheit durch sinnliche Begierde und schändliche Gelüste in der Seele entstehen. Noch hatten sie ja ihre Natur unversehrt bewahrt, denn vom Schöpfer war der Hauch des Lebens ihnen eingehaucht worden. So lange dieser Hauch unentweiht und unversehrt bleibt, ist er ohne Empfänglichkeit und Sinn für das Schlechte. Deswegen nun schämten sie sich nicht bei ihren Küssen und Umarmungen in Reinheit nach Kinderart.

Doch sollte der Mensch sich nicht zu hoch dünken und sich nicht hoffärtig erheben, gleich als habe er, da ihm Macht und Freiheit verliehen sind, keinen Herrn über sich; er sollte bewahrt werden davor, sich gegen seinen Gott, seinen Schöpfer, zu verfehlen durch Überschreitung des ihm gesetzten Maßes und durch stolze selbstgefällige Willkürhandlungen gegenüber Gott. Deshalb wurden ihm von Gott Gesetze gegeben; sie sollten ihm zeigen, daß er einen Herrn habe, den Herrn aller Dinge. Auch traf Gott bestimmte Verfügungen, wie die, daß er [der Mensch] in seinem Sein verharren sollte, wie er war, d. h. daß er unsterblich sein sollte, wenn er das Gebot Gottes beobachtete. Der Sterblichkeit aber sollte er verfallen und zur Erde aufgelöst werden, aus welcher er bei der Schöpfung genommen worden war, wenn er dasselbe nicht beobachtete. Das Gebot aber war dieses: ‚Von allen Bäumen, welche im Innern des Gartens sind, sollst du essen dürfen, aber von dem einen Baum, von welchem die Erkenntnis des Guten und des Bösen kommt, sollt ihr nicht essen, denn an dem Tage, an welchem ihr davon esset, sollt ihr dem Tode verfallen.‘

Dieses Gebot hat der Mensch nicht gehalten, sondern er wurde ungehorsam gegen Gott, mißleitet vom Engel. Dieser letztere war wegen der vielen Gaben, die Gott dem Menschen verliehen hatte, von bitterem Neid erfüllt. In diesem richtete er sich selbst zu Grund und machte den Menschen zum Sünder, indem er ihn zum Ungehorsam gegen das Gebot Gottes verleitete. Durch die Lüge zum Anstifter und Urheber der Sünde geworden, verfiel er zwar selbst dem göttlichen Strafgerichte im Abfall von Gott; aber er hatte auch bewirkt, daß der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde. Weil der Engel nach einem aus sich selbst gefaßten Entschluß von Gott abgefallen ist, wurde er in hebräischer Sprache Satan genannt, was so viel ist als Widersacher. Doch wird er auch noch Verleumder [Teufel] genannt. — Die Schlange, welche den Teufel in sich trug, verfluchte also Gott. Sein Fluch traf das Tier, aber er ging auch über auf den in ihm listig verborgenen Teufel. Den Menschen verwies er von seinem Angesichte und gab ihm seinen Wohnsitz vor den Toren des Paradieses. Denn das Paradies nimmt die Sünder nicht in sich auf.“ (Irenäus, Erweis der Apostolischen Verkündigung 11-16)

Über die Notwendigkeit der Erlösung, darüber, dass auch Adam persönlich erlöst wurde, und darüber, wieso Gott die Menschen zu ihrem eigenen Nutzen nicht mehr im Paradies leben lassen konnte, schreibt er:

„Da nun der Herr zu seinem verlorenen Schaf kam und eine so große Heilsordnung rekapitulierte und sein Geschöpf aufsuchte, so mußte er gerade jenen Menschen retten, der nach dem Bild und Gleichnis Gottes gemacht war, d. h, Adam, indem er die wegen seines Ungehorsams festgesetzte Zeit der Verdammnis erfüllte, ‚die der Vater kraft seiner Macht festgesetzt hatte‘. Denn die gesamte Heilsordnung hinsichtlich des Menschen vollzog sich nach dem Wohlgefallen des Vaters, damit Gott nicht unterliege, noch besiegt werde seine Kunst. Der Mensch nämlich war von Gott zum Leben erschaffen, verlor aber, verwundet von der Schlange, die ihn verführt hatte, das Leben. Wäre er nun zum Leben nicht zurückgekehrt, sondern völlig dem Tode preisgegeben worden, dann wäre ja Gott besiegt worden, und die Bosheit der Schlange hätte den göttlichen Willen überwunden. Da aber Gott unbesiegbar und langmütig ist, so zeigte er sich auch langmütig in der Besserung Adams und der Prüfung aller Menschen, wie wir gesagt haben, band durch den zweiten Menschen den Starken und zerbrach seine Gefäße und vernichtete den Tod, indem er den Menschen lebendig machte, der getötet war. Das erste Gefäß, das ihm gehörte, war Adam geworden, den er in seiner Gewalt hielt, d. h. ungerechterweise zur Übertretung verleitete, und an dem er unter dem Vorwand der Unsterblichkeit zum Mörder wurde. Indem er ihnen nämlich versprach, daß sie sein würden wie die Götter, was doch schlechthin unmöglich ist, brachte er den Tod über sie. Darum ward mit Recht von Gott gefangen genommen, der den Menschen gefangen genommen hatte, und von den Banden der Verdammnis wurde gelöst der Mensch, der als Gefangener fortgeführt worden war.

Das ist aber Adam, wenn man die Wahrheit sagen soll, jener erstgebildete Mensch, von dem nach der Schrift der Herr sprach: ‚Lasset uns den Menschen machen nach unserm Bild und Gleichnis.‘ Aus ihm sind wir alle, und weil wir aus ihm sind, haben wir auch seinen Namen geerbt. Wenn aber der Mensch gerettet wird, dann muß auch der Mensch gerettet werden, der zuerst gebildet wurde. Denn es wäre doch sehr unvernünftig, wenn jener, der von dem Feinde heftig verwundet war und zuerst in die Gefangenschaft geführt worden war, von dem, der den Feind besiegte, nicht gerettet sein sollte, wohl aber seine Söhne, die er in derselben Gefangenschaft gezeugt hat. Dann wird der Feind nicht in Wahrheit besiegt erscheinen, wenn in seinen Händen noch die alten Beutestücke zurückbleiben. Wenn Feinde einige überwinden und gebunden in die Gefangenschaft abführen und lange Zeit in Knechtschaft halten, sodaß sie bei ihnen Kinder erzeugen, und jemand aus Mitleid mit denen, die Sklaven geworden sind, eben jene Feinde besiegen würde, dann würde er keineswegs gerecht handeln, wenn er die Söhne jener, die in die Gefangenschaft geführt worden waren, aus der Gewalt derer, die ihre Väter gefangen genommen hatten, befreien wollte, aber jene, welche in die Gefangenschaft geführt wurden, in der Gewalt der Feinde belassen wollte, derentwegen er den Rachezug unternahm. Haben aber die Kinder aus diesem Anlaß die Freiheit erlangt, dann durften die Väter nicht zurückbleiben, die in die Gefangenschaft geführt waren. So ist auch Gott, der dem Menschen zu Hilfe kam und ihn in seine Freiheit wieder einsetzte, weder schwach noch ungerecht.

Deswegen hat er auch gleich zu Beginn der Übertretung des Adam nicht diesen verflucht, sondern die Erde in ihren Werken nach dem Berichte der Schrift, wie auch einer von den Alten sagt: ‚Es übertrug Gott den Fluch auf die Erde, damit er nicht auf dem Menschen verbleibe.‘ Als Strafe aber für seine Übertretung empfing der Mann Mühe und irdische Arbeit und mußte das Brot essen im Schweiße seines Angesichtes und zur Erde zurückkehren, von der er genommen war. In ähnlicher Weise auch das Weib Mühen und Plagen und Seufzer und Traurigkeit bei der Geburt und die Pflicht des Gehorsams gegen den Mann. So sollten sie weder als von Gott Verfluchte gänzlich untergehen, noch straflos Gott verachten dürfen. Der ganze Fluch aber ging auf die Schlange über, die sie verführt hatte, wie geschrieben steht: ‚Und es sprach Gott zur Schlange: Weil du dies getan hast, bist du verflucht von allen großen und kleinen Tieren der Erde.‘ Dasselbe sagt auch der Herr im Evangelium zu denen, die auf seiner linken Seite gefunden werden: ‚Gehet weg, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das mein Vater dem Teufel und seinen Engeln bereitete.‘ Damit tut er kund, daß das Feuer nicht hauptsächlich für den Menschen, sondern ewiglich dem bereitet ist, der ihn verführte und sündigen ließ und, sage ich, dem Fürsten des Abfalls, wie den Engeln, die mit ihm abtrünnig wurden. Dieselbe Strafe werden mit Recht auch die empfangen, die ähnlich wie er ohne Buße und Besserung in ihren bösen Werken verharren.

Dem Kain z. B. riet Gott, er möge sein verkehrtes Betragen gegen seinen Bruder ändern und davon ablassen; jener war aber der Meinung, daß er mit Neid und Bosheit ihn unterbekommen werde, und hörte nicht nur nicht auf den Herrn, sondern fügte Sünde auf Sünde, indem er durch sein Werk seine Gesinnung kundtat. Was er nämlich dachte, das tat er auch, erhob sich wider ihn und tötete ihn. So ließ Gott den Gerechten dem Ungerechten unterliegen, damit jener in seinen Leiden als der Gerechte, dieser in seinen Taten als der Ungerechte offenbar werde. Aber auch nicht einmal dann kam jener zur Einsicht und hörte auf, verkehrt zu handeln, sondern antwortete auf die Frage, wo sein Bruder wäre: ‚Ich weiß es nicht, bin ich denn der Wächter meines Bruders?‘ So erweiterte und vermehrte er noch durch seine Antwort seine Sünde. Denn wenn es schon Sünde ist, den Bruder zu töten, so ist es noch viel schlimmer, dem allwissenden Gott so frech und respektlos zu antworten, gleich als ob er ihn hintergehen könnte. Deswegen traf ihn auch der Fluch, weil er die Sünde ableugnete, ohne Ehrfurcht vor Gott und ohne Reue über den Brudermord.

Bei Adam aber ist nichts Derartiges geschehen, sondern alles verhielt sich umgekehrt. Von einem andern war er verführt unter dem Vorwand der Unsterblichkeit. Sogleich wird er von Furcht ergriffen und verbirgt sich, nicht als ob er Gott entfliehen könnte, sondern beschämt, weil er das Gebot übertreten hatte und unwürdig war, vor dem Angesicht Gottes zu einer Unterredung zu erscheinen. ‚Die Furcht Gottes aber ist der Anfang der Weisheit.‘ Die Erkenntnis seiner Übertretung aber bewirkte die Reue, und den Reumütigen schenkt Gott seine Gnade. Nämlich gleich bei der Tat zeigt er durch die Schürze seine Reue, indem er sich mit Feigenblättern bedeckte. Es gab ja auch viele andere Blätter, die seinen Körper weniger gestochen hätten. Dennoch machte er sich gerade ein Kleid, das seinem Ungehorsam angepaßt war. Da er durch die Furcht Gottes erschüttert war und den ungestümen Angriff des Fleisches zurückdrängen wollte — denn nun hatte er seinen kindlichen Charakter und Sinn verloren und war auf bösere Gedanken gekommen — so legte er sich und seiner Frau den Zügel der Enthaltsamkeit an, weil er Gott fürchtete und seine Ankunft erwartete. Damit wollte er gleichsam kundtun: Das Gewand der Heiligkeit, das ich vom Geiste hatte, habe ich verloren, und erkenne nun, daß ich ein solches Kleid verdiene, das keinerlei Ergötzung bietet, sondern das Fleisch beißt und kratzt. Und dieses Kleid hätte er, um sich zu demütigen, fortan getragen, wenn nicht Gott in seiner Barmherzigkeit sie mit Tierröcken statt der Feigenblätter bekleidet hätte. Deshalb richtet er auch an sie die Frage, damit die Klage auf das Weib falle, und dann wiederum an das Weib, damit sie die Schuld auf die Schlange schieben könne. Sie sagte nämlich, was geschehen war: ‚Die Schlange verführte mich, und ich aß.‘ Die Schlange aber fragte er nicht, denn er wußte, daß sie die Ursache der Übertretung geworden war; so sandte er zuerst auf sie den Fluch, und dann traf den Menschen der Tadel. Den nämlich, der den Menschen verführt hatte, haßte Gott; über den aber, der verführt worden ist, erbarmte er sich ganz allmählich.

Deswegen warf er ihn auch aus dem Paradiese hinaus und entfernte ihn von dem Baume des Lebens, nicht als ob er ihm diesen nicht gegönnt hätte, wie einige sich erkühnen zu behaupten, sondern aus Erbarmen, damit er nicht für immer der Sünder bliebe und die Sünde an ihm nicht unsterblich wäre oder das Übel unendlich und unheilbar. So setzte er der Übertretung einen Damm, indem er den Tod dazwischen legte und der Sünde ein Ende machte durch die Auflösung des Fleisches in Erde, damit endlich einmal der Mensch aufhöre, der Sünde zu leben, und sterbend anfange, für Gott zu leben.

Deswegen setzte er Feindschaft zwischen die Schlange und das Weib und ihren Samen, die sich gegenseitig nachstellen. Der eine sollte in die Fußsohle gebissen werden und über das Haupt des Feindes dahinschreiten, der andere sollte beißen und töten und den Schritt des Menschen aufhalten, bis der verheißene Same käme, sein Haupt zu zertreten, der Sprössling Mariens, von dem der Prophet sagt: ‚Über die Natter und den Basilisken wirst du gehen, und du wirst zertreten den Löwen und den Drachen.‘ Die Sünde also, die sich wider den Menschen erhob und ausdehnte und ihn kalt machte, die sollte mit der Herrschaft des Todes ausgetrieben werden, und zertreten werden von ihm in den letzten Zeiten der gegen das Menschengeschlecht anspringende Löwe, d. h. der Antichrist, indem er jenen Drachen, die alte Schlange, anband und der Macht des Menschen, der besiegt worden war, unterwarf, um alle seine Kraft zu zertreten. Adam war aber besiegt worden, indem von ihm alles Leben hinweggenommen worden war; nachdem also der Feind besiegt war, empfing Adam das Leben wieder. Als letzter Feind aber wird der Tod vernichtet, der zuerst vom Menschen Besitz ergriffen hatte. Deshalb wird, nachdem der Mensch befreit worden ist, geschehen, was geschrieben steht: ‚Verschlungen ist der Tod im Siege; wo ist, Tod, dein Sieg? Wo ist, Tod, dein Stachel?‘ Das könnte aber nicht rechtmäßig gesagt werden, wenn nicht jener befreit worden wäre, über den der Tod zuerst herrschte. Seine Rettung nämlich ist die Vernichtung des Todes. Indem also der Herr den Menschen, d. h. den Adam, lebendig machte, wurde der Tod vernichtet.“ (Irenäus, Gegen die Häresien III,23,1-7)

Er schreibt über Adams Sünde und Jesu Erlösungstat:

„Denn das ist das Ende des menschlichen Geschlechtes, das Gott zum Erbe hat, daß, wie im Anfang wir durch die ersten Menschen alle in die Knechtschaft gebracht wurden durch die Schuld des Todes, so jetzt am Ende der Zeit durch den letzten Menschen alle, die von Anfang an seine Schüler waren, gereinigt und abgewaschen von der Todesschuld, in das Leben Gottes eintreten.“ (Irenäus, Gegen die Häresien IV,22,1)

„Auf diese Weise hat er also unsere Erlösung als herrlicher Sieger vollendet, hat die Verheißungen an die Vorväter erfüllt und die alte Auflehnung getilgt und ausgeschaltet. Der Sohn Gottes wurde zum Sohne Davids, zum Sohne Abrahams; diese vollendend und in sich erneuernd und zusammenfassend, um uns in den Besitz des Lebens zu setzen, ist das Wort Gottes geheimnisvoll in der Jungfrau Fleisch geworden, den Tod zu vernichten und den Menschen mit dem Leben zu begaben. Wir lagen ja in den Banden der Sünde, die wir in Sünden geboren sind und unter der Herrschaft des Todes leben.“ (Irenäus, Erweis der apostolischen Verkündigung 37)

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Mittelalterliche Buchmalerei. Oben: Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. Unten: Adams und Evas Leben nach dem Sündenfall.

 

Theophilus von Antiochia schreibt über den Sündenfall:

„Als nun Gott den Menschen, wie gesagt, ins Paradies gesetzt, um es zu bebauen und zu bewachen, gebot er ihm von allen Früchten zu essen, offenbar auch vorn Baume des Lebens; nur vom Baume der Erkenntnis gebot er ihm, nicht zu kosten. Gott versetzte ihn aber von der Erde weg, aus der er war gemacht worden, ins Paradies und gab ihm den Antrieb zur Weiterbildung, damit er dort fortschreite und vollkommen werde, ja sogar als Gott bezeichnet und im Besitz ewigen Lebens zum Himmel hinaufsteige. Der Mensch war nämlich als Mittelding erschaffen, weder als bestimmt sterblich noch als bestimmt unsterblich, sondern fähig für beides. So stand auch sein Wohnort, das Paradies, in Bezug auf Schönheit, zwischen Himmel und Erde in der Mitte. Der Ausdruck ‚um es zu bebauen‘ aber bedeutet keine andere Tätigkeit als die, das Gebot Gottes zu beobachten, damit er nicht durch Ungehorsam sich ins Verderben stürze, wie er es wirklich durch die Sünde getan hat.

Der Baum der Erkenntnis selbst war gut, und auch seine Frucht war gut. Es brachte nämlich nicht, wie einige meinen, der Baum den Tod, sondern der Ungehorsam. Denn in der Frucht war nichts anderes, als nur die Erkenntnis. Die Erkenntnis aber ist gut, wenn man sie auf rechte Weise benützt. Adam dort aber war seinem dermaligen Alter nach noch ein Kind, deswegen konnte er die Erkenntnis noch nicht nach Gebühr fassen. Denn auch jetzt ist es so: wenn das Kind geboren wird, ist es nicht sofort imstande, Brot zu essen, sondern es wird zuerst mit Milch genährt und geht erst mit fortschreitendem Alter auch zur festen Nahrung über. So war es wohl auch bei Adam. Deswegen hatte ihm Gott nicht etwa aus Neid, wie manche meinen, vom Baume der Erkenntnis zu essen verboten. Ferner wollte er ihn auch prüfen, ob er seinem Gebote gehorchen werde. Zugleich auch wollte er, daß der Mensch in seinem Kindesalter noch für längere Zeit in argloser Einfalt verbleibe. Denn es ist dies nicht bloß vor Gott, sondern auch bei den Menschen etwas Heiliges, in Einfalt und Arglosigkeit den Eltern untertan zu sein. Wenn es aber Pflicht ist, daß die Kinder den Eltern untertan sind, um wieviel mehr muß dies Gott dem Vater des Alls gegenüber geschehen? Ferner ist es auch unschön, wenn kleine Kinder über ihr Alter hinaus altklug sind. Denn wie man an Alter stufenweise wächst, so wächst man auch in der Erkenntnis. Zudem ist, wenn das Gesetz gebietet, sich eines Dinges zu enthalten, und jemand nicht gehorcht, klar, daß nicht das Gesetz an der Züchtigung Schuld ist, sondern der grobe Ungehorsam. Denn auch ein Vater befiehlt seinem Kinde manchmal, sich gewisser Dinge zu enthalten, und wenn dies dem väterlichen Gebote nicht gehorcht, so wird es derb gezüchtigt und ausgescholten wegen seines Ungehorsams. Und es sind nicht gleich die Handlungen die Ursache der Schläge, sondern der Ungehorsam ist es, der dem Ungehorsamen die empfindliche Züchtigung einbringt. So brachte auch dem Ersterschaffenen sein Ungehorsam die Strafe, daß er aus dem Paradiese vertrieben wurde. Nicht als ob der Baum der Erkenntnis etwas Böses an sich gehabt hätte, sondern durch seinen Ungehorsam hatte der Mensch nun Mühsal, Plage, Schmerz zu erdulden und fiel zuletzt dem Tode anheim.

Und zwar ist der Tod auch noch eine große Wohltat, die Gott dem Menschen erwiesen hat, auf daß er nicht in der Sünde befindlich ewig lebte; sondern er verwies ihn sozusagen in eine Art Verbannung aus dem Paradiese, damit er die Sünde in der ihm bestimmten Zeit durch die Strafe abbüße und dann gebessert später wieder zurückgerufen würde. Deswegen steht auch in der Hl. Schrift, nachdem der Mensch auf dieser Welt erschaffen war, mit geheimnisvoller Bedeutung, daß er zweimal ins Paradies versetzt worden sei; das erstemal, als er dorthin versetzt wurde, das zweite Mal soll es sich erfüllen nach der Auferstehung und dem Gerichte. Ja noch weiter! gleichwie ein Geschirr wenn es nach der ersten Verfertigung einen Fehler hat, umgegossen und umgebildet wird, so daß es wieder neu und ganz wird, so geschieht auch dem Menschen durch den Tod. Denn er wird sozusagen zerschlagen, um bei der Auferstehung wieder ganz zu erscheinen, d. h. fleckenlos, gerecht und unsterblich. Daß aber Gott sagte und rief: Adam, wo bist du? so tat er dies nicht, weil er es nicht wußte, sondern er wollte ihm in seiner Langmut damit Veranlassung zur Reue und zum Bekenntnisse geben.

Nun wird man mir aber sagen: ‚Der Mensch ist also sterblich von Natur aus erschaffen?‘ Durchaus nicht! ‚Was denn? unsterblich?‘ Auch das sagen wir nicht. ‚Also‘, wird man sagen, ‚keines von beiden?‘ Auch das sagen wir nicht. Der Mensch ist also von Natur weder sterblich noch unsterblich erschaffen. Denn hätte ihn Gott von Anfang an unsterblich erschaffen, so hätte er ihn zum Gotte gemacht; hinwiederum, wenn er ihn sterblich erschaffen hätte, so würde es scheinen, als ob Gott an seinem Tode schuld sei. Weder unsterblich also noch auch sterblich hat er ihn erschaffen, sondern, wie gesagt, fähig für beides, daß er, wenn er durch die Beobachtung des göttlichen Gebotes der Unsterblichkeit sich zuwendete, die Unsterblichkeit als Lohn von Gott empfing und ein Gott würde, hinwiederum aber, wenn er durch Ungehorsam gegen Gott sich auf Seite des Todes stellte, selbst die Ursache seines Todes würde. Denn Gott hat den Menschen mit Freiheit und Selbstbestimmung begabt erschaffen. Was er sich nun durch seinen Leichtsinn und Ungehorsam zugezogen, das gibt ihm Gott jetzt seinerseits als Geschenk aus Liebe und Erbarmung, wenn sich der Mensch gehorsam unterwirft. Denn gleichwie der Mensch durch seinen Ungehorsam dem Tode hörig geworden ist, so kann durch Gehorsam gegen den Willen Gottes jeder, der will, sich das ewige Leben erwerben. Gott hat uns nämlich sein Gesetz und heiligen Gebote gegeben, auf daß durch deren Erfüllung ein jeder das Heil erlangen, zur Auferstehung gelangen und die Unverweslichkeit erben kann. […]

Gott aber, der Vater und Schöpfer des Alls, hat das Menschengeschlecht nicht verlassen, sondern ihm sein Gesetz gegeben und heilige Propheten geschickt, um dem Menschengeschlechte Kunde und Belehrung zu bringen, auf daß ein jeder von uns sich ernüchtere und erkenne, daß nurein Gott sei. Diese lehrten auch, daß man sich enthalten müsse vom sündhaften Götzendienste, vom Ehebruch, Totschlag, Hurerei, Diebstahl, Geiz, Meineid, von aller Ausgelassenheit und Uneinigkeit; daß der Mensch alles, was er nicht will, daß es ihm geschehe, auch einem andern nicht tue, und daß so der gerecht Handelnde den ewigen Strafen entgehe und des ewigen Lebens durch Gott gewürdigt werde.“ (Theophilus, An Autolykus II,24-27.34)

 

Tatian schreibt über die Erschaffung des Menschen und der Engel durch den Sohn Gottes, und wie sie von Gott abfielen und dem Teufel folgten:

„Denn der himmlische Logos, als Geist vom Geiste und als Wort aus der Kraft des Wortes entsprungen, hat in Nachahmung des Vaters, der ihn gezeugt, zum Abbild der Unsterblichkeit den Menschen geschaffen, auf daß dieser, wie die Unvergänglichkeit bei Gott ist, ebenso, durch einen Anteil am Wesen Gottes, gleichfalls die Unsterblichkeit besitze.

Nun wurde aber der Logos vor der Erschaffung der Menschen auch der Schöpfer der Engel: beide Gattungen von Geschöpfen sind frei geschaffen und besitzen nicht von Natur aus das Gute, das ausschließlich in Gott allein ist, von den Menschen aber aus freier Wahl vollbracht wird, damit der Böse mit Recht bestraft werde, nachdem er durch seine eigene Schuld böse geworden, der Gerechte aber um seiner guten Werke willen nach Verdienst gelobt werde, weil er nach freiem Entschluß den Willen Gottes nicht übertreten hat. So verhält es sich mit den Engeln und Menschen. Da aber die Kraft des Logos die Fähigkeit an sich hat, das vorauszusehen, was in Zukunft nicht durch das Fatum, sondern durch die freie Entschließung der Wählenden geschehen werde, so sagte er den Verlauf der kommenden Ereignisse voraus, schränkte durch Verbote die Bosheit ein und lobte diejenigen, die im Guten verharren würden. Doch als die Menschen und Engel einem, der als Erstgeborener die übrigen an Verstand übertraf, scharenweise folgten und ihn, obgleich er sich wider das Gesetz Gottes aufgelehnt hatte, als einen Gott ausriefen, da stieß die Kraft des Logos sowohl den Urheber des Frevels als auch dessen Anhänger aus der Gemeinschaft mit dem Worte. Und der nach dem Bilde Gottes geschaffene Mensch wurde, da der mächtigere Geist sich von ihm trennte, sterblich; der Erstgeborene aber wurde ob seiner Übertretung und Torheit zum Dämon, und aus denen, die seine Gaukeleien nachahmten, wurde ein Heer von Dämonen, die ihrer Unverbesserlichkeit überlassen wurden, weil sie ja freie Wesen waren.“ (Tatian, Rede an die Bekenner des Griechentums 7)

Über die Folgen der Ursünde schreibt er:

„Nachdem die Seele ihre Flugkraft, den vollkommenen Geist, durch die Sünde verwirkt hatte, flatterte sie ängstlich wie ein junger Vogel und fiel zu Boden; und da sie also die Verbindung mit dem Himmel verloren hatte, begann sie die Gemeinschaft mit den niederen Dingen zu wünschen. Verstoßen wurden die Dämonen, ausgetrieben wurden die ersten Menschen: jene wurden vom Himmel herabgestürzt, diese von der Erde vertrieben, aber nicht von der heute bestehenden, sondern aus einer, die besser eingerichtet war als die gegenwärtige.“ (Tatian, Rede an die Bekenner des Griechentums 20,2f.)

Die ganze Schöpfung ist gut, das Böse eine Pervertierung des Guten:

„‚Alles ist von ihm und ohne ihn ist nichts gemacht.‘ Ist aber in dem Geschaffenen etwas Schädliches, so ist es durch unsere Sünde hineingekommen.“ (Tatian, Rede an die Bekenner des Griechentums 19,11f.)

 

In einem Märtyrerbericht heißt es über die Erbsünde:

„Als aber der Soldat die Holzstücke aufschichtete und anzünden wollte, sagte der heilige Karpus, während er da hing: Wir sind von derselben Mutter Eva geboren worden und haben dasselbe Fleisch, aber hinblickend auf das untrügliche Gericht erdulden wir alles. Als er dieses gesagt hatte und das Feuer brannte, betete er sprechend: Gepriesen seist du, Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, daß du auch mich Sünder deines Besitzes gewürdigt hast.“ (Martyrium der Heiligen Karpus, Papylus und Agathonike 4)

 

Die Schöpfung ist auch von den Dämonen in Unordnung gebracht und der Mensch wird von ihnen zum Schlechten beeinflusst, schreibt Athenagoras von Athen:

Weil also gegen Erwartung und Recht die einen glücklich, die andern unglücklich sind, so konnte es sich Euripides nicht erklären, wer die Verwaltung der irdischen Dinge habe, bei der man ausrufen möchte:

‚Wie sollten wir beim Anblick solcher Dinge noch
An Götter glauben oder halten ein Gesetz?‘

Dies bewog auch einen Aristoteles zu dem Ausspruche, daß es für die Dinge unter dem Himmel keine Fürsorge gebe. Aber die ewige Fürsorge Gottes bleibt uns nach wie vor:

‚Ob gern, ob ungern sprießt die Erde Weide mir.
Naturnotwendig, und ernährt zur Mast mein Vieh‘

und auch die Fürsorge für die Teile erstreckt sich tatsächlich, nicht bloß vermeintlich, auf die würdigen; auch für das übrige ist, soweit es der gemeinsame Zweck der Schöpfung fordert, durch weise Einrichtung gesorgt. Weil aber die vom feindseligen Geiste ausgehenden Erregungen und Einwirkungen besagte Unordnung hineinbringen, da sie nunmehr auch die Menschen, den einen so, den andern anders, bald einzelne, bald ganze Völker durch geteilten oder gemeinschaftlichen Ansturm, je nach dem Verhältnisse eines jeden zur Materie und nach dem Grade seiner Empfänglichkeit fürs göttliche, innerlich und äußerlich in Erregung versetzen, so haben einige und zwar Autoritäten gemeint, daß das Universum nicht auf einer Ordnung beruhe, sondern der Tummelplatz blinden Zufalls sei; sie haben dabei übersehen, daß von all den Dingen, von denen eigentlich der Fortbestand der Welt abhängt, kein einziges ungeordnet und vernachlässigt ist, sondern ein jedes eine vernünftige Einrichtung zeigt, so daß sie die ihnen gesetzte Ordnung nicht überschreiten. Auch der Mensch, wie er aus des Schöpfers Hand hervorging, ist ein wohlgeordnetes Wesen, mag man nun die Art und Weise seiner Entstehung betrachten, die einen einheitlichen, für alle gültigen Plan aufweist, oder sein organisches Wachstum, welches das hiefür maßgebende Gesetz nicht überschreitet, oder das Ende des Lebens, das gleich und gemeinschaftlich bleibt für alle. Aber nach seiner eigenen individuellen Vernunft und nach der Einwirkung jenes drängenden Herrschers und seines Dämonengefolges wird der eine so, der andere anders beeinflußt und erregt, obschon die Fähigkeit vernünftigen Denkens allen in gleicher Weise innewohnt.“ (Athenagoras, Bittschrift für die Christen 25)

 

Im Diognetbrief heißt es:

„An diesem Orte nämlich ist ein Baum der Erkenntnis und ein Baum des Lebens gepflanzt; aber nicht der Baum der Erkenntnis tötet, sondern der Ungehorsam. Denn nicht ohne tiefern Sinn ist, was geschrieben steht, dass Gott am Anfange einen Baum der Erkenntnis und einen Baum des Lebens in der Mitte des Paradieses pflanzte: durch ‚Erkenntnis‘ hat er das Leben angedeutet; weil die Stammeltern von ihr keinen lautem Gebrauch machten, wurden sie durch Betrug der Schlange entblösst. Denn weder gibt es Leben ohne Erkenntnis, noch sichere Erkenntnis ohne wahres Leben; deshalb sind beide nebeneinander gepflanzt worden. Im Hinblick auf die Macht dieser Verbindung tadelt der Apostel die Erkenntnis, die ohne Wahrheit der Anwendung aufs Leben geübt wird, und sagt: Die Wissenschaft bläht auf, die Liebe aber erbaut. Denn wer etwas zu wissen glaubt ohne wahre Erkenntnis, der auch das Leben Zeugnis gibt, der hat keine wirkliche Erkenntnis und wird von der Schlange irregeführt, weil er das Leben nicht liebte. Wer aber mit Furcht erkennt und Leben sucht, der pflanzt auf Hoffnung in Erwartung der Frucht.“ (Diognetbrief 12)

 

 

So-tun-als-ob-Pastoral

In der katholischen Durchschnittspfarrei kann man öfter das erleben, was ich als „So-tun-als-ob“-Pastoral bezeichnen würde. Was ich damit meine:

Für mich war es als Kind in den 2000ern (bayerische Kleinstadt) ganz normal, mit so gut wie allen Mitschülern außer den ein oder zwei Türken und Evangelischen im Religionsunterricht zu sitzen und zur Erstkommunion- und Firmvorbereitung zu gehen, ein paar aus der Klasse waren auch immer bei den Ministranten (ich übrigens nicht) oder bei irgendwelchen kirchlichen Musikgruppen. Aber gleichzeitig war es völlig normal und erwartet, dass man außerhalb von Erstkommunion- und Firmvorbereitung nie wieder zur Beichte gehen würde und das Konzept von „Kein Sex vor der Ehe“ natürlich abzulehnen war. Das sind halt so Sachen, die die Kirchenhierarchie irgendwie noch offiziell fordert, aber hier vor Ort natürlich mehr oder weniger ignoriert werden können. Vielleicht glaubt auch der ein oder andere neue Kaplan oder die ein oder andere Religionslehrerin doch noch daran, aber sogar die sind manchmal zögerlich dabei, von einem zu erwarten, dass man das überzeugend findet. Auch diejenigen, die es schön finden, wenn man bei den Ministranten mitmacht – dass man regelmäßig zur Kirche kommt, wenn man nicht bei den Ministranten ist, wird selten erwartet. Man ist verpflichtet, bei ewig vielen Gruppenstunden und Ausflügen zur Firmvorbereitung mitzukommen, aber ob man, bevor man gefirmt wird, die grundlegendsten katholischen Wahrheiten eigentlich bekennt oder nicht, interessiert dabei eher so weniger (wie auch; man hat sie ja oft nur sehr bruchstückhaft beigebracht bekommen).

Oder dann hat man da manchmal diesen distanzierten Umgang mit speziell katholischen Sachen: Wenn Religionslehrer so was erklären wie „aus katholischer Sicht wird einem durch den Beistand des Priesters in der Beichte die Botschaft ‚Gott ist bei dir in allen deinen Schwächen‘ zugesprochen, aus evangelischer Sicht soll man sich im persönlichen Gebet Gott anvertrauen“ – na ja, da denkt man sich, okay, was glauben die jetzt eigentlich und wollen mir vermitteln. Offensichtlich nicht, dass die Beichte jetzt wirklich was Wichtiges und Wirksames ist. „Katholiken glauben, dass in der Kommunion Jesus gegenwärtig wird“ „Für Katholiken gilt die Firmung als entscheidender Schritt auf dem Weg eines Christen“ – man hat den Eindruck, als würde man über den Hinduismus oder Zoroastrismus informiert, nicht über das, was der Religionslehrer selber theoretisch glauben soll.

Es wird ein bisschen so getan, als ob man sich noch an den offiziellen Katholizismus hält; man muss ja die Form wahren. Aber der Glaube dahinter ist nicht derselbe. Das heißt nicht, dass da gar kein Glaube ist; der Glaube, dass es Gott gibt, dass Jesus zumindest was ganz Besonderes und vielleicht sogar Gottes Sohn war, dass man nach dem Tod in den Himmel kommt (und es für Leute wie Hitler und Stalin vielleicht sogar eine Hölle gibt), dass Jesus gesagt hat, dass man nett sein und Gutes tun soll, das ist zumindest oft noch da – wobei man sich manchmal nicht mal bei der Existenz Gottes so ganz sicher ist, das vermutet man eben oder geht mal davon aus. Aber es ist alles irgendwie verschwommen und unsicher; es ist mehr die Vorstellung da, dass alle konkreten Offenbarungen (Christentum, Judentum, Islam usw….) nicht wahr sind und bloß Teilwahrheiten enthalten, und die gerade unbeliebten katholischen Wahrheiten natürlich falsch sind. Gott ist nicht konkret da, sondern fern und vage.

Man bietet noch die Beichte an; aber eben als Zugeständnis für die paar Leute, die noch unbedingt daran festhalten wollen. Man liest die Messe; aber eben nur deswegen, weil das die katholische Form des Gottesdienstes ist, und man nun mal in diese Religion hineingeboren wurde, man hätte auch kein Problem damit, Lutheraner zu sein und evangelische Gottesdienste zu veranstalten. Man macht auf ausdrückliche Bitte hin noch die Krankensalbung, aber versteht eigentlich nicht, wieso manche Sterbende die unbedingt wollen und nicht mit dem Trost durch einen Laienseelsorger vorlieb nehmen können.

Natürlich sind nicht alle so. In guten Pfarreien hat man sogar eine ziemlich starke Partei, die den Glauben ernst nehmen will, die Nightfever-Abende, Eucharistische Anbetungen und Alpha-Kurse veranstaltet, und mit Jugendgruppen zum Weltjugendtag fährt. Aber für gewöhnlich hat man auch eine große Masse, die so tut als ob.

Das ist, denke ich, einer der zentralen Unterschiede zu Tradigemeinden. Ich bin selber noch vergleichsweise neu dabei und hatte gerade im Lauf des letzten Jahres oft gar nicht die Gelegenheit, jeden Sonntag zur alten Messe zu gehen. Aber auch während man sich (wie ich) in die ungewohnte „vorkonziliare“ Liturgie erst noch ein bisschen reinfinden muss, ist da von Anfang an dieses Gefühl da: Hier hat man keine so grundlegenden Differenzen. Hier kann man offen sein, ein guter Priester muss nicht erst Leute von den grundlegendsten Dingen überzeugen, und man hat nicht die Sorte Priester, bei deren Predigt man versucht, sie einfach nur auszublenden. Da passt man hin, da muss man sich nicht rechtfertigen, da ist einfach diese kollektive Unehrlichkeit und Spaltung nicht da; da wird nicht so getan, als ob.

Carl Frithjof Smith, Nach der Erstkommunion.

Christliche Kultur am Sonntag: „Eines Tages“

Bei christlichen Sachbüchern findet man bekanntlich relativ leicht gute Sachen; bei Romanen, Filmen oder Kinderbüchern sieht es allerdings manchmal schwieriger aus, auch wenn einige vermutlich gern mehr davon besäßen. Dabei gibt es eigentlich auch hier viel Gutes, wenn man näher hinschaut, und weil nicht allen alles bekannt ist, dachte ich, ich stelle meinen Lesern hier mal jede Woche kurz ein Werk vor – hauptsächlich katholische Sachen, aber wenn es von guter Qualität ist, auch mal was aus anderen Konfessionen; nicht nur Hochkultur, sondern auch eher Populärkultur (aber halbwegs gut gemacht soll es sein); und sowohl solches mit explizit religiösen Inhalten (im Einzelfall auch mal, wenn es von persönlich nicht sehr frommen Menschen kommt), als auch Werke von überzeugten Christen ohne explizite Botschaft. Viele werden bestimmte Klassiker schon kennen, aber andere vielleicht noch nicht.

Und weil ich ja auch nicht alles kennen kann: Wer ein katholisches Lieblingsbuch, einen Film o. Ä. hat, von dem er schon immer mal mehr Leuten erzählen wollte, darf mir gern über die „Contact“-Seite schreiben und vielleicht ergibt sich ein Gastbeitrag.

Heute: „Eines Tages“ (Corinna Turner)

Corinna Turners kurzer Roman „Eines Tages“ (geeignet ca. ab 16 Jahre) beginnt irgendwo im ländlichen England, im methodistischen Mädcheninternat Chisbrook Hall. In der Nacht ertönt der Feueralarm, und fremde Männer in Uniform drängen die Schülerinnen nach draußen. Bald wird ihnen klar, dass es keine Soldaten sind. Die Männer geben sich als Mitglieder einer islamischen Terrormiliz zu erkennen, treiben die Mädchen in LKWs und Pferdeanhänger und fahren mit ihnen davon. Später werden sie im Wald in andere Fahrzeuge umgeladen, und noch ein wenig später bei Nacht und Nebel auf ein Schiff gebracht, das England schnell hinter sich lässt.

„Eines Tages“ erzählt die Entführung der 276 nigerianischen Schülerinnen aus Chibok im Jahr 2014 durch die Terrorgruppe Boko Haram nach, versetzt sie aber nach England. Die Geschichte wird aus häufig wechselnder Sichtweise erzählt; aus der Sicht verschiedener Schülerinnen und aus der Sicht von Leuten, die nach ihnen suchen. Da wäre Ruth, die wegen ihres christlichen Glaubens entschlossen ist, sich nicht zwingen zu lassen, das islamische Glaubensbekenntnis aufzusagen, obwohl die anderen sie anflehen, es zu tun, um nicht getötet zu werden; Alleluia, die es schafft, andere Mädchen zu einem riskanten Fluchtversuch zu bewegen, als sich ihnen, während sie noch in England sind, eine Gelegenheit bietet; Daniyah, die muslimische Schülerin, die versucht, den anderen Schülerinnen zu helfen, da sie weiß, was von ihnen erwartet wird; Yoko, die japanische Austauschschülerin, die wenig Englisch spricht und die ihre shintoistischen Talismane aus ihrem Schlafsaal mitgenommen hat, was dann von einem der Entführer entdeckt wird; Sam, Isaar und Rishad, Offizierskadetten, die bei der Suche nach den Mädchen helfen und zwei im Wald zurückgelassene vergewaltigte Mädchen finden.

Es wird nichts beschönigt; manche Mädchen werden vergewaltigt, manche werden getötet. Die Terroristen wollen schließlich aussortieren, wer als „Ehefrau“ taugt und wer nur als Sklavin, was sich bei ihnen kaum voneinander unterscheidet, und wollen sie zur Konversion zum Islam zwingen. Bei vielen einzelnen Punkten der Handlung hat die Autorin sich an Berichte von Mädchen aus Chibok angelehnt, die fliehen konnten.

Die Handlung wirkt an manchen Stellen nicht so glaubwürdig, wie wenn es in Nigeria spielen würde; man würde einen größeren Einsatz der Sicherheitsbehörden erwarten, und dass Flucht und Untertauchen im dichter besiedelten Europa nicht so einfach wären. (Andererseits stellt die Autorin dieses England als mit ständigen weiteren Terrorakten überfordert dar.) Aber es bringt das Ganze eben auch näher. Corinna Turner ist keine brillante, aber eine gute Autorin; und die Geschichte selber fesselt genug. Die schlimmsten Szenen werden nicht direkt geschildert – was eine gewisse Achtung vor den Opfern ausdrückt, meiner Meinung nach; denn es geht hier auch nicht nur um Buchfiguren, sondern auch um die realen Vorbilder.

Das letzte Kapitel endet damit, wie man in England Monate nach der Entführung erfährt, dass vier weitere Mädchen von einer Farm in Albanien geflohen sind, wo sie zuletzt gefangen gehalten wurden, und dass diese Mädchen vom Tod von ein paar weiteren Mädchen berichten konnten. Die anderen – über 200 – werden nicht gefunden; die Terrorgruppe ist weitergezogen.

Es gibt kein wirkliches Ende, keine zufriedenstellende Auflösung, eigentlich überhaupt keine Auflösung. Auch hier hat sich die Autorin an die Realität gehalten. (Das Buch wurde 2016 geschrieben; jetzt, Stand 2021, sind immer noch über 100 der Mädchen aus Chibok in der Gewalt von Boko Haram.) Man erfährt nicht einmal, ob ein paar der Figuren in England, bei denen man es hätte erwarten können, noch irgendwann zusammenfinden; und es wird nichts mehr aus der Sicht der Mädchen erzählt, die noch in Gefangenschaft geblieben sind. Sie sind verschwunden, fort aus der Geschichte, irgendwo verschollen. Man weiß nur von Vergewaltigung, Sklaverei und Elend.

Das Buch enthält ein Vorwort eines nigerianischen Bischofs und im Anhang Berichte realer Opfer von Boko Haram; der Erlös geht an die Hilfsorganisation Kirche in Not, die auch in Nigeria aktiv ist. Es ist über den Verlag Petra Kehl oder den Sarto-Verlag erhältlich.

Die Kongogräuel, Teil 3: Ihr Bekanntwerden, ihr Ende und das weitere Schicksal des Kongo

Hier Teil 1 (Entstehung und System des Kongo-Freistaats) und hier Teil 2 (die eigentlichen Verbrechen).

Nach und nach gelangten Berichte über die Situation nach Europa und Amerika, v. a. durch britische oder amerikanische protestantische Missionare und durch Händler, die englische Aborigines Protection Society („Gesellschaft zum Schutz der Eingeborenen“; hier sind nicht speziell die australischen Aborigines gemeint) befasste sich damit. Besonders nahm die Kampagne gegen die Verbrechen im Kongo etwa nach 1900 an Fahrt auf, erst recht 1903/1904, als der britische Konsul Casement nach einer zweieinhalbmonatigen Reise durch den Oberkongo den „Casement Report“ veröffentlichte, und auch das englische Parlament sich mit der Angelegenheit befasste und Druck auf die Regierung des Kongo-Freistaats ausübte. Der englische Publizist E. D. Morel widmete sich der Aufgabe, die Verbrechen zu bekämpfen, veröffentlichte Berichte und Fotos aus dem Kongo, und gründete 1904 die Congo Reform Association, für die er viele prominente Unterstützer fand. (Zu den heute noch relativ bekannten frühen Veröffentlichungen gehört auch Joseph Conrads Novelle „Herz der Finsternis“ aus dem Jahr 1899, in der ein Seemann erzählt, wie er einen Posten als Kapitän eines Flussdampfers auf dem Kongo fand, dort Grausamkeiten gegen Zwangarbeiter beim Eisenbahnbau und menschenleere Flussufer sah, und schließlich zu einem Posten im Hinterland gelangte, dessen Postenchef sich von den Einheimischen verehren ließ, eine Menge Elfenbein heranschaffte, seinen Gartenzaun mit Menschenköpfen dekoriert hatte und später an einer Tropenkrankheit starb. Die Novelle spielt noch vor der Errichtung des Kautschuksystems.)

„So verfolgen die Agenten des Kongo-Staates in Afrika ihren wahnsinnigen Kurs, unbeirrt von jedem Gesetz und internationalem Recht; mit den Einheimischen umgehend wie Raubtiere mit ihren Opfern; Kannibalentruppen bewaffnend und über das ganze Land loslassend, um zu plündern, zu schänden und zu morden; Hass und Zorn gegen den weißen Mann in zehntausenden dunkler Herzen heranzüchtend; unfähig, die Exzesse ihrer wilden Verbündeten zu kontrollieren; nicht zögernd, alles nur Erdenkliche gegen Europäer, die sie stören, zu tun; gleichgültig gegenüber menschlichem Leid und trunken von Selbstherrlichkeit…“, urteilte E. D. Morel über den Kongo-Freistaat. (King Leopold’s Rule in Africa, S. 219)

Karikatur von 1906 im „Punch“.

Vor allem die Fotos von abgehackten Händen sorgten für allgemeines Entsetzen. Die Regierung des Kongo-Freistaats, die ständig hochtrabend von der „materiellen und sittlichen“ Verbesserung des Lebens der Einheimischen geredet hatte, verstand darunter offenbar, sie für Kautschuk abzuschlachten, sah man in Europa.

[Wenn auch in der Praxis nicht immer eingehalten, sah man damals doch in der Theorie (vor allem von Europa aus) den Kolonialismus insbesondere auch als etwas, das humanitär sein sollte, als humanitäre Intervention plus Entwicklungshilfe – man könnte es damit vergleichen, wie heute der Bundeswehreinsatz in Afghanistan gesehen wird. So heißt es in der Generalakte der Berlin-Konferenz von 1885 in Artikel 6: „Alle Mächte, welche in den gedachten Gebieten Souveränitätsrechte oder einen Einfluß ausüben, verpflichten sich, die Erhaltung der eingeborenen Bevölkerung und die Verbesserung ihrer sittlichen und materiellen Lebenslage zu überwachen und an der Unterdrückung der Sklaverei und insbesondere des Negerhandels mitzuwirken; sie werden ohne Unterschied der Nationalität oder des Kultus alle religiösen, wissenschaftlichen und wohlthätigen Einrichtungen und Unternehmungen schützen und begünstigen, welche zu jenem Zweck geschaffen und organisirt sind, oder dahin zielen, die Eingeborenen zu unterrichten und ihnen die Vortheile der Civilisation verständlich und werth zu machen.“ Der belgische Jurist Félicien Cattier bezeichnet in seiner Studie von 1906 über die Übel im Kongo-Freistaat das in der Berlin-Akte bezeichnete Ziel als „Wesen und Grund jeder legitimen kolonialen Unternehmung. Diese muss darauf abzielen, das Leben der Einheimischen zu verbessern, nicht nur unter moralischen, sondern auch unter materiellen Gesichtspunkten. Sie strebt danach, ihnen die materielle Existenz angenehmer, leichter zu machen; sie ist darauf gerichtet, die Sicherheit der Personen und der Besitztümer zu steigern; sie bezweckt es, ihren Lebensstandard in Bezug auf Wohnung, Nahrung und Kleidung zu heben.“ (Étude sur la situation de l’État Indépendant du Congo, S. 34f.) Über den Kongo-Freistaat urteilte er kurz und knapp, er sei „kein Kolonialstaat, er ist kaum auch nur ein Staat: Er ist ein Wirtschaftsunternehmen“ (Ebd., S. 341)]

König Leopolds Reaktion und die öffentliche Meinung in Belgien

Wie reagierte Leopold auf Berichte von Gräueltaten in dem Staat, den er gegründet und dessen wirtschaftliches System allein er errichtet hatte, allerdings ohne sich für seine genaue Umsetzung zu interessieren? Anfangs anders als später.

„Aber – und das ist ein sehr wenig bekannter Aspekt – als die ersten Ankläger sich erhoben hatten, um die Missbräuche, die bei der Behandlung der Einheimischen begangen worden waren, anzuprangern, war der König darüber heftig erregt. Von 1896 bis 1900, wie es private Briefe zeigen, hat er mehrmals Zeiten von Qualen durchlaufen. ‚Wir sind aus der Zivilisation ausgestoßen‘ schreibt er im September 1896 an van Eetvelde. ‚Wenn es Missbräuche im Kongo gibt, müssen wir sie abstellen. Wenn sie fortbestehen würden, wäre das das Ende des Staates.‘ ‚Man muss diese schrecklichen Missbräuche energisch ahnden‘, die enthüllt wurden, mahnt er im Januar 1899 einen anderen seiner Mitarbeiter. ‚Diese Schrecken müssen aufhören oder ich werde mich aus dem Kongo zurückziehen. Ich werde mich weder mit Blut noch mit Dreck beschmutzen lassen und diese Schändlichkeiten müssen aufhören.‘ Und ein Jahr später wiederholt der König: ‚Ich bin es leid, mit Blut und Dreck beschmutzt zu werden.‘

Während jeder dieser Krisen von Wut und Ekel wiederholt der König strikte Anweisungen: Die Grausamkeiten gegen die Einheimischen müssen hart bestraft werden. Die Verwaltung des Kongo, an die er diese Anweisungen richtet, akzeptiert sie, buckelt, und wartet, bis der Sturm sich legt. Es ist tatsächlich die Verwaltung, die die Herrin des Spiels ist. Sie hat ein System ausgearbeitet und sie hält daran fest. Sie weigert sich, zuzugeben, dass das System selbst Missbräuche erzeugt; das zuzugeben hieße, ihren eigenen Fehler anzuerkennen. Sie ermisst auch die Gefahr dabei, das System zu schwächen, indem man es verändert; denn eine Schwächung des auf die Einheimischen aufgebauten Drucks würde notwendigerweise eine Verringerung der Einnahmen bedeuten, und in diesem Fall, das weiß sie, wäre es viel mehr als ein Sturm, den sie vonseiten des Souveräns zu erleiden hätte. Die Verwaltung, mit anderen Worten, unterscheidet zwischem dem bleibenden und grundlegenden Willen des Königs, der darin besteht, die Produktion der Domäne zu erhöhen, und seinen gelegentlichen Gewissenskrisen; sie richtet ihre Handlungsweise nach dem aus, was bleibend und grundlegend ist.

Alle, die mit dem System verbunden sind, und die bestrebt sind, sich reinzuwaschen, versuchen außerdem, Leopold II. zu überzeugen, dass die gegen den Kongo vorgebrachten Anschuldigungen ungerecht oder übertrieben sind, und dass sie zum großen Teil von Böswilligkeit kommen. Die Einstellung von Leopold II. – der, ohne Zweifel unbewusst, nur danach verlangte, sich überzeugen zu lassen – untergeht daher einer tiefen Änderung: Anstatt von den Angriffen getroffen zu sein wird er sich bald, und mit größerer und größerer Heftigkeit, über sie erzürnen. Der König dominierte fast immer stolz sein Umfeld; man kann sagen, dass er sich in diesem Fall von ihm hat einfangen lassen.

Die zunehmende Kampagne, die in England ab ungefähr 1900 gegen die Missbräuche im Kongo geführt wird, wird daher den König, die kongolesische Verwaltung und – zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt – die überwiegende Mehrheit der belgischen Meinung vereint bei einem empörten Gegenangriff finden. In den Augen der kongolesischen Verwaltung und ihrer Führungskräfte sind die angelsächsischen Missionare, die die Missbräuche anprangern, oder Konsul Casement, der zu Lasten des Systems einen erdrückenden Bericht abfasst, nur ‚Agenten‘ Englands, die dem Kongo schaden wollen, indem sie Verleumdungen über ihn verbreiten. Die belgische öffentliche Meinung ist nicht weniger vor denen auf der Hut, die unter der Flagge des Humanitarismus die Kampagne in England selbst orchestrieren; sie hat das jüngste Erlebnis des Burenkrieges frisch im Gedächtnis und argwöhnt, dass der Humanitarismus nur die Maske der Habgier ist.“ (Stengers, Jean: L’État Indépendant du Congo et le Congo belge jusqu’en 1914, in: Ders.: Congo. Mythes et réalités, Brüssel 2005, S. 99-128, S. 118-120)

Aus damaliger belgischer Sicht schien diese Vermutung zunächst gar nicht so abwegig, und das aus mehreren Gründen:

  • Wie bereits erwähnt, achtete auch England in seinen kolonialen Unternehmungen nicht immer skrupulös die Rechte anderer; der kürzlich zu Ende gegangene Burenkrieg war im Grunde nichts als eine Aggression gegen die kleinen Republiken der niederländischen Siedler in Südafrika aus Habgier. Freilich waren die Zustände in den britischen afrikanischen Kolonien nirgends so wie im Kongo; aber im fernen Europa mochte man glauben, dass es sich bei den Verbrechen im Kongo um aufgebauschte Einzelfälle handeln könnte, die sich in anderen Kolonien auch finden würden. Schlimme Einzelfälle, die mit Zuchthaus oder Galgen bestraft gehörten, natürlich, aber eben Einzelfälle.
  • Viele, die die Gräueltaten beklagten (z. B. Konsul Casement), beklagten gleichzeitig auch, dass es im Kongo keine Handelsfreiheit mehr gab. Wegen der Monopole des Staates und der Konzessionsgesellschaften konnten einzelne Händler sich nicht mehr an Einheimische wenden, um von ihnen Kautschuk oder Elfenbein zu kaufen, sie waren völlig verdrängt worden. Der Kongo-Freistaat erwiderte auf diesen Vorwurf, der Grundsatz der Handelsfreiheit schließe ja wohl nicht aus, dass es staatliches Eigentum/Privateigentum an Grund und Boden geben dürfe, und überhaupt hätte sich jede Firma für Konzessionen bewerben können; eine sehr sophistische Antwort, denn in der Praxis lief es natürlich trotzdem auf extreme Monopole hinaus, und die Einheimischen hatten auch nicht wirklich bebautes Land bisher immer genutzt und dessen Früchte manchmal an untereinander konkurrierende Händler verkauft. Jedenfalls ging es vielen Kritikern auch um ein wirtschaftliches Prinzip, von dem sie überzeugt waren und von dem sie glaubten, dass es die Entwicklung Afrikas gefördert hätte bzw. anderswo förderte; und manche Händler, die den Kongo-Freistaat kritisierten, hatten natürlich selbst ein handfestes wirtschaftliches Interesse daran, dass er wieder für den freien Handel geöffnet wurde. Der gedankliche Schritt zu „denen geht es allen nur um Geschäftsinteressen“ schien für die Belgier nicht so abwegig. Dazu kam, dass die Kampagne vor allem in der Zeit an Fahrt aufnahm, als der Kongo-Freistaat ziemlich viel Geld abwarf. Erst seitdem er profitabel sei, fielen den Engländern die armen Einheimischen auf, um derentwillen man ihn Leopold wegnehme müsse, hieß es in Belgien. Die Kampagne schrieb man neidischen und gierigen „Liverpool-Kaufleuten“ zu (zu denen E. D. Morel tatsächlich Verbindungen hatte).
  • In England und anderswo wurden Rufe laut, den Kongo-Freistaat aufzulösen und zwischen anderen Ländern aufzuteilen; dabei wurde behauptet, die Berlin-Konferenz hätte schließlich diesen Staat errichtet, er hätte unter einer Art Aufsicht der Teilnehmerstaaten stehen sollen und eine weitere Konferenz könne über ihn entscheiden. Juristisch gesehen war das völliger Unsinn; bei der Konferenz hatte die Internationale Kongo-Gesellschaft, die bereits von Deutschland und den USA anerkannt war, einfach die Gelegenheit genutzt, mit weiteren Staaten bilaterale Verträge zu schließen; durch die Konferenz selbst war nichts errichtet worden. Das heißt nicht, dass diejenigen, die eine humanitäre Intervention befürworteten und dafür das Völkerrecht kreativ auslegten, das aus schlechten Motiven getan hätten; aber in Belgien sah man das Ganze einfach nur als ausländische Aggression.

Die Regierung des Kongo-Freistaats machte sich natürlich daran, diese Version in den Zeitungen zu verbreiten (auch international investierte sie dafür viel Geld). Sicher habe es ein paar Verbrechen gegeben, aber die würden überall geschehen und die Täter würden ja bestraft werden. Und das Zwangsarbeitssystem sei nun einmal nötig, um die Einheimischen an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen und zu zivilisieren; aber es seien ja nur 40 Stunden im Monat, und in jedem anderen Staat würden auch Steuern verlangt, für die man arbeiten müsse.

Es gab aber eben auch tatsächliche Anhaltspunkte, bei denen sie ansetzen und die sie aufbauschen konnte. Zunächst war es im Kongo regional sehr unterschiedlich; kein Wunder, dass auch die Verteidiger des Kongo-Freistaats Berichte von Reisenden oder Missionaren vorzuzeigen hatten, die ein ganz anderes Land zeigten. Manche Gegenden waren kaum erschlossen; manche Gegenden waren nicht rohstoffreich; und manche Gegenden hatten Glück mit ihren Kolonialagenten. Wie bereits gesagt war es auf dem Staatsland meistens besser als bei den Konzessionsgesellschaften.

„Das System der Bewirtschaftung war nicht überall gleich hart; in der Psychologie der europäischen Agenten findet man, je nach den einzelnen Männern, alle Grade einer Skala, die von purer Gewinnsucht verbunden mit Brutalität zu ehrlich humanitären Empfindungen reicht; die Zwangsmittel und Repressionsmaßnahmen, die gegenüber den Einheimischen eingesetzt wurden, variierten beträchtlich je nach Zeit und Ort. Es gab zum Beispiel keine oder fast keine Gemeinsamkeiten zwischen den dunklen Wäldern der ABIR-Gesellschaft im Herzen des Kongo, die höllische Szenen stattfinden sahen, und den Savannen von Ober-Katanga, wo unparteiische Zeugen am Anfang des 20. Jahrhunderts eine in ihren Augen normale und zufriedenstellende Situation beschreiben.“ (Stengers, Jean: Les accusations anglaises contre le Congo: E. D. Morel, le fondateur de la Congo Reform Association, et la Belgique, in: Ders.: Congo. Mythes et réalités, Brüssel 2005, S. 129-158, S. 148f.)

Dazu kam, dass es Fälle gab, in denen Einheimische, die die belastenden Abgaben loswerden wollten, Europäern, die unabhängig vom Staat Nachforschungen anstellten, erfundene oder zumindest übertriebene Geschichten über Gräueltaten erzählten, weil sie meinten, diese könnten für ein Ende der Abgabenpflicht und der wirklichen Gräueltaten sorgen – eine kaum überraschende Taktik, wenn man ihre Situation ansieht.

Ein interessanter Fall ist der von Epondo, der (siehe Teil 2) im Untersuchungsbericht unter den sechs vor der Kommission vorgeführten Verstümmelten erwähnt worden ist, der eine Hand wegen eines Bisses eines wilden Tieres auf der Jagd verloren hatte, und über den es heißt, dass er in der Vergangenheit widersprüchliche Angaben gemacht hatte. Das ist derselbe Epondo, der schon im Casement Report erwähnt wird. Im Casement Report selbst wird er anonymisiert als „Junge II“ bezeichnet; in den Anhängen wird er in der Korrespondenz der englischen mit der kongolesischen Regierung unter seinem Namen erwähnt. Als Konsul Casement in sein Dorf in der Region von Coquilhatville gekommen war, hatten die Dorfbewohner und dieser Jugendliche selbst ihm seinen Arm gezeigt und einen Wächter namens Kelengo beschuldigt, die Hand abgeschnitten zu haben. Casement hatte dann eine gerichtliche Untersuchung angeregt (die Regierung des Kongo-Freistaats zitiert aus den Akten dazu), in deren Verlauf die Dorfbewohner angegeben hatten, sie hätten gelogen und Epondo habe seine Hand Jahre vorher, als er als Sklave bei einem anderen Einheimischen in einer anderen Region und mit diesem auf der Jagd war, durch einen Wildschweinbiss verloren. Epondo, der zunächst an seiner Geschichte festhielt, sagte am Ende dasselbe; die anderen Dorfbewohner hätten ihn dazu gebracht, zu lügen. Kelengo wurde freigesprochen.

(Aus Epondos Befragung durch den Staatsanwalt, englische Übersetzung. Quelle hier.)

Nun könnte man die Vermutung aufstellen, die Zeugen wären bei dieser Untersuchung eingeschüchtert worden; dass die spätere Untersuchungskommission (nachdem auch ein Arzt Epondo untersucht hatte) im Grunde zum selben Ergebnis kam, nämlich dass es ein wildes Tier gewesen war, lässt es allerdings als logischer erscheinen, dass die Geschichte tatsächlich erfunden worden war; dazu kommt ja die Bestätigung durch die Bewohner von Epondos ursprünglichem Heimatdorf Malele gegenüber Reverend Weeks, die im Untersuchungsbericht erwähnt wird. Epondo war zweimal von Engländern fotografiert worden (auch in der Collage mit Verstümmelten in Teil 2 ist er unten in der Mitte zu sehen).

Foto von Epondo (rechts) in „King Leopold’s Rule in Africa“.

Das Ende der Kongogräuel

Es kamen schon vor dem eigentlichen Ende der Kongogräuel mit der Zeit einzelne Verbesserungen – z. B. dass staatliche Agenten keine Prämien mehr für die Menge an geliefertem Kautschuk erhielten – aber das sorgte noch für kein Ende der Verbrechen. Mancherorts wurden sie sogar schlimmer, weil immer mehr Kautschuk gefordert wurde.

Als in Europa immer größere Erregung wegen der Kongogräuel herrschte und vor allem die britische Regierung Druck machte, musste Leopold im Jahr 1904 die schon erwähnte Untersuchungskommission ernennen, die im Winter 1904/1905 den Kongo bereiste, den Vorwürfen nachging, dann noch in Europa diverse Dokumente als Beweisstücke studierte und einen Bericht ausarbeitete, der Ende des Jahres 1905 veröffentlicht wurde und einige Reformen vorschlug, allerdings ohne die prinzipielle Berechtigung der „40 Stunden im Monat“ (als Maximum) infragezustellen. Die Kommission bestand aus drei Belgiern ohne Verbindungen zum Kongo-Freistaat, einem Italiener, der in der kongolesischen Justiz tätig war, und einem Schweizer. Die Ankläger des Kongo-Freistaats rechneten zuerst mit einer parteiischen Scheinuntersuchung, überzeugten sich dann aber von der weitgehenden Neutralität der Ermittler. Die belgischen Kommissionsmitglieder hatten zunächst damit gerechnet, vor Ort die Vorwürfe entkräften zu können und mussten ihre Meinung dazu ändern.

Die dicke schwarze Linie zeigt die Reiseroute der Untersuchungskommission an. Bildquelle hier.

Nach der Veröffentlichung des Berichts konnte auch in Belgien nicht mehr geleugnet werden, dass viele Beschuldigungen zumindest eine Grundlage hatten. Das belgische Parlament erkannte das geschlossen an (Abgeordnete der oppositionellen Sozialdemokraten, v. a. Émile Vandervelde, und einige Liberale hatten den Vorwürfen schon vorher eher Glauben geschenkt; die Katholiken, die die Mehrheit ausmachten, und andere Liberale erst später). Auch die öffentliche Meinung änderte sich, und ab dem Sommer 1906 musste Leopold einige Reformen zulassen, auch wenn er sich weiter gegen die Anerkennung der „Verleumdungen“ seines „Werkes“ wehrte; die Zwangsmittel („Wächter“, Militärexpeditionen) wurden beschränkt.

Die Kommission hatte das System der Arbeitspflicht von 40 Stunden pro Monat als im Prinzip legitim anerkannt, aber viele forderten tiefgreifendere Reformen: Diese Zwangsarbeit und die ganze Inbeschlagnahme aller unbewohnten Gebiete als staatliches Eigentum müssten ein Ende finden, weil sie die Verbrechen verursachten und jeder Versuch, die Arbeitspflicht humaner zu regeln, in der Praxis scheitern müsse. Die Kritiker (z. B. der Jurist Cattier) verglichen es mit der Situation in anderen Kolonien, wo die Jagd- und Sammelgebiete der Einheimischen nicht als „ungenutztes“ Land vom Staat beansprucht wurden, und wo keine Zwangsarbeit, sondern nur geringfügige Steuern existierten.

Und das eigentliche Ende der Missstände kam dann auch 1908, als der Kongo zu einer regulären belgischen Kolonie statt einem Privatunternehmen Leopolds wurde und dieses Zwangsarbeitssystem abgeschafft wurde. Die Entscheidung zur Annexion war schon im Dezember 1906 gefallen, als die britische Regierung immer mehr Druck ausübte und auch andere Länder (Deutschland, Frankreich, USA) sich anschlossen, und Leopold einsehen musste, dass es keine andere Möglichkeit mehr gab, wenn er nicht eine internationale Konferenz und womöglich den völligen Verlust des Kongo riskieren wollte. Er hatte die Annexion durch Belgien eigentlich abgelehnt, seitdem der Kongo rentabel war, und erst vorgesehen, Belgien nach seinem Tod den Kongo zu „vererben“, mit einem möglichst unveränderten System; besonders wichtig war es ihm gewesen, die „Stiftung der Krone“ zu erhalten, deren Einnahmen für seine Bauprojekte in Belgien verwendet worden waren. Die Vorbereitungen und das Hin und Her zwischen König, Ministern, Parlament und einer Kommission aus Vertretern der im Parlament sitzenden Parteien über die zukünftige Verfassung von Belgisch-Kongo dauerten einige Zeit, sodass dann erst im November 1908 der Kongo annektiert wurde.

Proklamation der Annexion des Kongo-Freistaates durch Belgien, 1908. („Ich habe die Ehre, dem Personal des Kongo-Freistaates, allen nicht-einheimischen Bewohnern der europäischen und der farbigen Rasse und allen kongolesischen Staatsangehörigen mitzuteilen, DASS AB DEM 15. NOVEMBER 1908 Belgien die Souveränität über die Territorien übernimmt, aus denen der Kongo-Freistaat besteht. Boma, am 16. November 1908. Für den abwesenden Generalvizegouverneur, der Staatsinspektor GHISLAIN.“)

„Jene, die die Missbräuche im Kongo anprangerten, erklärten lautstark, dass diese Missbräuche nur ein Ende nehmen könnten, wenn man aus der Verwaltung des Landes all jene entfernen würde, die sie begangen hatten. Tatsächlich war diese massive Säuberung gar nicht notwendig. Der Kongo-Freistaat, wie gesagt, führte ab 1906 wichtige Reformen ein, ohne allerdings auf die Zwangsarbeit zu verzichten. Nach der Annexion durch Belgien 1908 wurde die Zwangsarbeit selbst abgeschafft. Die Situation der Einheimischen verbesserte sich rapide, obwohl es das alte Personal des Freistaates war, das zu einem großen Teil im Amt geblieben war; aber es war aus dem Räderwerk des Systems entkommen.“ (Stengers, Jean: L’État Indépendant du Congo et le Congo belge jusqu’en 1914, in: Ders.: Congo. Mythes et réalités, Brüssel 2005, S. 99-128, S. 109f.)

Der Kongo-Freistaat war jetzt zu Belgisch-Kongo geworden, einer klassischen Kolonie. Außer der Abschaffung der Zwangsarbeit wurde den Einheimischen auch das Recht wiedergegeben, auf eigene Faust Produkte wie Kautschuk zu sammeln und damit zu handeln, die Regierung schaute in den folgenden Jahrzehnten darauf, die bei der Berlin-Konferenz eingegangene Verpflichtung zur Handelsfreiheit zu achten, die belgischen und kongolesischen Staatsfinanzen wurden getrennt, und in der Folgezeit wurde mehr für die Einheimischen getan. Die „Kolonialcharta“, das grundlegende Gesetz für Belgisch-Kongo, enthielt Rechte für alle Einwohner, die auch eingehalten wurden – sie entsprachen einigen, wenn auch nicht allen Rechten der belgischen Verfassung (die typischen zivilen Rechte wie Freiheit der Person, Recht auf den gesetzlichen Richter, Schutz des Eigentums, Religionsfreiheit oder Unverletzlichkeit der Wohnung waren enthalten; die politischen wie die Vereinigungsfreiheit oder das Wahlrecht nicht); Leopold regte sich bei der Ausarbeitung des Gesetzes über seine Parlamentarier, diese „Ideologen“, auf, mit „ihren Vorstellungen, den N*gern alle konstitutionellen Rechte zuzusprechen“. Das belgische Parlament erhielt einen wesentlichen Einfluss auf die Regierung der Kolonie, d. h. sie wurde nicht von König und Kolonialminister allein regiert; das sorgte allerdings auch für eine ziemliche Zentralisierung der Kolonialpolitik in Brüssel, während die Beamten vor Ort vergleichsweise wenig entscheiden konnten.

Leopold II. starb kurz darauf im Jahr 1909. „Hear how the demons chuckle and yell. / Cutting his hands off, down in Hell“, dichtete ein amerikanischer Dichter 1912 über ihn (etwa: „Hör wie die Dämonen jauchzen und johlen, während sie unten in der Hölle seine Hände abhacken“); sein Ruf war noch immer im Keller (übrigens auch wegen seines wüsten Privatlebens). In den Jahrzehnten darauf gewann er posthum allerdings wieder mehr Ansehen – jedenfalls in Belgien.

Leopold ii belgien.jpg
Letztes Foto von Leopold II.

In letzter Zeit, als das Statuenstürzen beliebter wurde, sind ja auch Leopoldstatuen, von denen v. a. in Belgien noch einige stehen, in die Kritik geraten.

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Statue von Leopold in Kinshasa, ehemals Leopoldville, im Kongo.

Einige Aktivisten in England blieben zunächst skeptisch gegenüber den Verbesserungen; aber schließlich waren auch sie überzeugt davon, dass die Situation sich grundlegend geändert hatte. Im Jahr 1913 löste sich Morels Congo Reform Association auf.

Leopolds Neffe und Nachfolger, König Albert I., und seine Frau Elisabeth auf Besuch in Belgisch-Kongo, 1928. Albert hatte den Kongo auch 1909 bereist, um die Situation dort zu sehen.

Belgisch-Kongos Schicksal nach 1908

In diesen letzten fünf Jahrzehnten der Kolonialzeit verlor der Kautschuk sehr schnell seine Bedeutung, dafür wurde der Kongo ein bedeutender Exporteur von Bodenschätzen wie Kupfer und Uran (kongolesisches Uran wurde für den Bau der ersten Atombombe verwendet). Die Zahl der im Land lebenden Belgier stieg auf über 100.000 an. Einen gewissen Arbeitszwang gab es allerdings diese ganzen Jahrzehnte noch: Die Landbevölkerung wurde ab 1917 verpflichtet, bestimmte Mengen an Lebensmitteln und Exportprodukten wie Baumwolle anzubauen; diese Produkte gehörten dann allerdings ihnen und sie verkauften sie zu ihrem eigenen Profit an die Firmen, die sie exportierten; das Ganze sollte den Lebensstandard heben. Verstöße wurden mit Geldbußen und kurzen Gefängnisstrafen geahndet. Am Ende der Kolonialzeit gab es eine heftige Reaktion gegen dieses System, das lange ohne größeren Widerstand akzeptiert worden war. In den 1920ern hatte es auch noch eine eigentlich illegale zwangsweise Rekrutierung von Arbeitern für Minen, Eisenbahnbau etc. gegeben; man hatte Häuptlinge dafür bezahlt, eine vorgegebene Zahl an Arbeitern zu stellen. Das endete dann und man bemühte sich eher um positive Anreize. Nach Art. 2 der Kolonialcharta durfte niemand mehr zur Arbeit für Privatleute oder Gesellschaften gezwungen werden.

In der späten Kolonialzeit war Belgisch-Kongo anderen afrikanischen Kolonien beim Lebensstandard und vor allem bei der medizinischen Versorgung tatsächlich überlegen, die Sozialprogramme für Minenarbeiter und deren Familien ab den späten 1920ern beispielsweise waren ziemlich gut (die großen Minengesellschaften betrieben in Zusammenarbeit mit Missionaren Schulen, Krankenhäuser, sogar Sportstätten, zahlten einen Kinderbonus, o. Ä.); bei der höheren Bildung hinkte er ein Stück weit hinterher, weil das Bildungswesen zunächst fast nur Missionaren überlassen worden war, deren Prioritäten eine breite Versorgung mit Grundschulen, Berufsbildung und Priesterseminare waren, und weil die Regierung junge Kongolesen nicht gern im Ausland studieren ließ, wo sie sich den Kommunismus einfangen konnten. Die erste Universität in Belgisch-Kongo (die katholische Universität Lovanium in Leopoldville/Kinshasa) wurde 1954 gegründet, zwei weitere Universitäten kamen kurz darauf hinzu.

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Schüler einer medizinischen Schule in Belgisch-Kongo (Yakusu).

Im Jahr 1960 wurde die lange Zeit politisch stabile belgische Kolonie, deren Führung fest in den Händen Belgiens gewesen war und in der die Einheimischen sich lange Zeit so gut wie gar nicht für politische Partizipation interessiert hatten und ziemlich loyal zu Belgien gewesen waren (auch wenn sie vielleicht rassische Diskriminierung z. B. bei ihren Löhnen beklagt hatten), nach einem zwar ziemlich unblutigen, aber auch ziemlich unvorhergesehenen und abrupten Prozess der Dekolonialisierung unabhängig und zur „Republik Kongo“, dann „Demokratische Republik Kongo“ (unter dem Diktator Mobutu zwischenzeitlich in „Zaire“ umbenannt); einem leider bald exrem dysfunktionalen Staat, auch im afrikanischen Vergleich, der unter mehreren Bürgerkriegen litt.

(Zur kongolesischen Unabhängigkeitsbewegung: Sie ist ein erstklassiges Beispiel dafür, wie ohne viel äußeren Druck eine interne „Radikalisierungs“spirale ablaufen kann. Erst 1956 kamen unter kleinen Gruppen von gebildeten Kongolesen erste Rufe nach einer langsamen, sich voraussichtlich über Jahrzehnte hinziehenden politischen Emanzipation auf, an deren Ende der Kongo seine eigenen demokratischen Institutionen haben, aber immer noch in einer Föderation mit Belgien verbunden sein sollte (grob derselbe Plan, den die Belgier hatten, auch wenn die meisten keine Fristen dafür setzen wollten); bereits 1958 wurde dann von denselben Gruppen die totale Unabhängigkeit, und zwar so schnell wie möglich, gefordert, politische Gruppierungen bildeten sich. Noch blieb aber alles friedlich, die Radikalisierung war auf kleine Gruppen beschränkt. Eine kleine überparteiliche belgische Arbeitsgruppe von Politikern entschied, dass der Weg zur Unabhängigkeit – die jetzt schon andere Kolonien anderer Länder erlangten – unvermeidbar wäre; man sollte demokratische Institutionen im Kongo schaffen und den Kongolesen am Ende die Wahl zwischen einer teilweisen Autonomie und einer völligen Unabhängigkeit lassen. Im Januar 1959 gab es dann unvorhergesehene, heftige Krawalle in Leopoldville, die die Force Publique aber wieder in den Griff bekam. Die Regierung versprach die zukünftige Unabhängigkeit, aber man wollte sich zuerst noch die Zeit nehmen, um im Kongo die politischen Strukturen aufzubauen. Dann aber verlief im Lauf dieses einen Jahres 1959 alles immer schneller, im Kongo gründeten sich Parteien, die Massen fingen an, sich heftig für die sofortige Unabhängigkeit zu begeistern, im Niederkongo verlor die koloniale Verwaltung schnell jede Autorität. In Belgien hielt keiner die Zeit wirklich für reif, die Kongolesen für gut vorbereitet auf die Unabhängigkeit; aber die öffentliche Meinung in Belgien war auch gegen den Einsatz von Gewalt und wollte ein freundschaftliches Auseinandergehen, das zeigte, dass die Kolonialgeschichte ein Erfolg gewesen war. Schließlich sagte man die Unabhängigkeit schon für das kommende Jahr, 1960, zu. Anfang 1960 fand ein runder Tisch zwischen kongolesischen Delegierten (darunter Patrice Lumumba, Joseph Kasavubu und Moise Tschombé) und belgischen Politikern statt. Eine neue Verfassung wurde ausgearbeitet, es gab Wahlen, und am 30. Juni 1960 wurde der Kongo unabhängig.)

Unterzeichnung des Dokuments, das dem Kongo Unabhängigkeit gewährt, durch Patrice Lumumba und Gaston Eyskens.

Die Kongogräuel wurden seitdem wieder bekannter in Afrika, weit über den Kongo hinaus, und auch die „10 Millionen“-Zahl wurde jetzt öfter verbreitet, während das alles in Europa eher in Vergessenheit geriet – erst in letzter Zeit scheint es wieder mehr Interesse daran zu geben.

An dieser Stelle sei noch kurz eine Fälschung erwähnt, die heutzutage in Afrika verbreitet wird; mir hat sie vor ein paar Jahren ein Afrikaner gezeigt, der sie aus der Schule in seinem Heimatland kannte. Es handelt sich um eine Rede, die Leopold II. angeblich im Jahr 1883 vor den ersten in den Kongo gesandten Missionaren gehalten haben soll.

Die englischen Untertitel sind ein bisschen fehlerhaft, aber man bekommt das Wichtigste mit. Grober Inhalt: Die Missionare sollen vor allem den Interessen Belgiens dienen; die Einheimischen würden Gott und Moral ja wohl schon kennen; sie seien daher nur dafür da, ihnen einzureden, dass Armut gut sei, damit sie sich nicht mehr für die Reichtümer des Landes interessieren; dass sie die andere Wange hinhalten sollen, wenn Weiße mit Gewalt gegen sie vorgehen; wenn sie fragen sollten, wieso die Weißen nicht das täten, was sie predigten, sollten sie antworten „richtet euch nach dem, was wir sagen, und nicht nach dem, was wir tun“ und sagen, die Schwarzen sollten glauben, ohne etwas infragezustellen.

Die Rede ist schlichtweg eine Erfindung aus dem späten 20. Jahrhundert, die zuerst in den 1970ern im Kongo verbreitet wurde; mal wurde sie Leopold im Jahr 1883 zugeschrieben, mal einem späteren Kolonialminister namens Jules Renkin im Jahr 1920. (Renkin war nun wirklich kein böswilliger Tyrann, und im Jahr 1920 war nicht einmal er Kolonialminister, sondern Louis Franck.) Ihre Erfindung fällt in die Zeit, als unter Diktator Mobutu die kongolesische Regierung den christlichen Glauben als ausländisch, unauthenisch, als von den Kolonialherren übergestülpt bekämpfte und z. B. kirchliche Schulen verstaatlichte und Propaganda v. a. gegen die katholische Kirche (die bedeutendste Konfession im Kongo; heute sind die Hälfte der Kongolesen katholisch) machte. Auch unabhängige, afrikanisierte Kirchen wie die relativ große Sekte der Kimbanguisten machte sich daran, sie zu verbreiten. In Ruanda verbreiteten manche sie mit ein paar Änderungen: Die Missionare werden angewiesen, sich auf die Volksgruppe der Tutsi zu stützen. Später wurde sie in kamerunischen Zeitschriften weiterverbreitet, gelangte schließlich ins Internet, und hier hat sie offenbar irgendein Afrikaner – der Akzent klingt eher afrikanisch – als Tonaufnahme aufgenommen.

Der Inhalt ist schlicht Unsinn: Kein Missionar hätte in dieser Weise geredet oder gedacht; selbst wenn irgendeiner mal eher den Mund zu Verbrechen hielt, um keine Probleme mit seiner Regierung zu bekommen, war er eigentlich gekommen, weil er den Einheimischen etwas Gutes bringen wollte. Aber schon Details zeigen die Fälschung: Da wäre z. B. die Tatsache, dass „Leopold“ den Ausdruck „Belgisch-Kongo“ verwendet, als noch nicht einmal der Kongo-Freistaat, geschweige denn eine belgische Kolonie existierte; außerdem scheint der Redner die Missionare im Land willkommen zu heißen: Leopold war aber nie im Kongo. Nicht einmal das Jahr der angeblich ersten Entsendung der Missionare stimmt.

Das jedenfalls war letztlich das Ende von Leopolds großem Projekt, seinem „Werk“, auf das er so stolz gewesen war.

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Ehemalige Residenz des Generalgouverneurs in Boma, Foto von 2008. Bildquelle: Wikimedia Commons, eingestellt von Nutzer PClement.

Die Kongogräuel, Teil 2: Die eigentlichen Verbrechen und die Opferzahlen

Im ersten Teil ging es darum, wie es um 1885 zur Entstehung des Kongo-Freistaats und 1891/92 zur Entstehung des Zwangsarbeitssystems in diesem Staat kam; jetzt dazu, welche Verbrechen geschahen, wenn die (oft genug exzessive) Pflicht zum Kautschuksammeln durchgesetzt werden sollte, und ganz am Ende des Artikels noch zu den Opferzahlen.

Es gab verschiedene Methoden: Man nahm Geiseln (häufig Frauen) aus den Dörfern, die auf den Staatsposten festgehalten wurden, bis das Dorf die gewünschte Menge an Kautschuk lieferte, wobei die Geiseln oft unter schlechten Bedingungen eingesperrt wurden; man sperrte diejenigen, die zu wenig geliefert hatten, für ein paar Wochen oder Monate ein und ließ sie Zwangsarbeit verrichten; man verabreichte ihnen Schläge mit der „Chicotte“/Nilpferdpeitsche (einer Peitsche aus Nilpferdhaut); man legte dem Dorf zusätzlich hohe Geldbußen auf, die in einer lokalen Währung aus Kupferstäbchen gezahlt werden mussten und die es irgendwie auftreiben musste (es gibt ein paar Berichte, dass manche Einheimische sich gezwungen sahen, ihre Familienmitglieder in die Sklaverei in andere Dörfer zu verkaufen, um genug Kupferstäbe zusammenzubekommen); man stationierte einzelne „Wächter“ (sog. „Sentinelles“ oder „Capitas“) in den Dörfern, die mit einfachen Gewehren bewaffnet waren und die Arbeit überwachen sollten; man schickte die Armee – die sog. Force Publique („öffentliche Streitmacht“) – in die Dörfer.

Die „Wächter“ waren immer Einheimische; die Force Publique bestand zum größten Teil aus Einheimischen unter weißen Befehlshabern; im Jahr 1905 ca. 15.000 Einheimische unter wenigen hundert Weißen – alle Zivilisten mitgezählt lebten im Kongo im Jahr 1908 ca. 3000 Weiße. (Es war nicht immer ganz leicht, Leute zu finden, die in die Kolonien gehen wollten und auch das Klima vertrugen, und es war eine Sache der Notwendigkeit, sich mit Einheimischen zu verbünden oder sie anzuheuern.) Die schlimmsten Gräueltaten passierten laut den Berichten davon tatsächlich oft, wenn (was nach einiger Zeit theoretisch verboten wurde) Truppen ohne europäischen Offizier ausgeschickt wurden. Einer der Vorwürfe gegen den Kongo-Freistaat war gerade, er würde seine Soldaten unter „wilden und kannibalischen“ Stämmen wie den Bangala auswählen, worauf seine Antwort in etwa lautete, es gäbe ja keine Auswahl, da wären doch eh alle Kannibalen. Die Täter stammten für gewöhnlich aus anderen Stämmen als ihre Opfer, man schickte sie in andere Gegenden, als die, in denen sie beheimatet gewesen waren; und die Stämme im Kongo waren oft genug verfeindet gewesen.

Es war beileibe nicht so, dass es keine weißen Täter gegeben hätte, die Morde und Massaker direkt befahlen (oder indirekt befahlen, ohne ganz die Verantwortung übernehmen zu wollen); und in jedem Fall errichteten und hielten die weißen Agenten ein System aufrecht, das regelmäßig zu Mord und Totschlag führen musste, und profitierten davon (sie erhielten v. a. anfangs Prämien für höhere Mengen Kautschuk oder Elfenbein). Dennoch: Die schlimmsten Taten geschahen ohne ihre direkte Anweisung durch afrikanische Täter; sie hätten sich oft mit (auch sehr unschönen) Methoden wie Geiselnahme und Auspeitschung zufriedengegeben statt Mord und Plünderung. Und ihre einheimischen Soldaten waren meistens nur zu eifrig dabei, andere auszuplündern und ihre neue Macht willkürlich auszunutzen.

Force Publique in Boma.

Da der Staat nicht die Ressourcen hatte, alle Gebiete zu erschließen, vergab er in einigen Gebieten „Konzessionen“, also das Monopol auf bestimmte Rohstoffe – v. a. Kautschuk, aber auch Kopal und Elfenbein – und das Recht, die Abgabenpflicht der Einheimischen in Anspruch zu nehmen. In den Gebieten der Konzessionsgesellschaften (v. a. der ABIR-Gesellschaft („Anglo-Belgian India Rubber Company“ – Kautschuk heißt auf Englisch „india rubber“, „indischer Gummi“) und der Anversoise-Gesellschaft) war es deutlich schlimmer als auf dem staatlichen Land, ausgenommen die „Stiftung der Krone“ (Domaine de la Couronne), wo es ebenfalls viele Verbrechen gab; und sie bemühten sich natürlich auch nicht, auch nur das geringste bisschen an öffentlicher Infrastruktur wie Eisenbahnen oder Krankenhäuser bereitzustellen. Auch diese Gesellschaften stellten Wächter ein und führten oft, ohne dazu eigentlich befugt zu sein, regelrechte militärische Expeditionen. Hinter den Gesellschaften standen wenige wohlhabende Geldgeber wie z. B. der belgische Bankier Alexandre de Browne de Tiège. Der Staat erhielt für gewöhnlich die Hälfte der Einnahmen der Gesellschaft.

Karte des Kongo-Freistaats mit den Konzessionsgebieten („ABIR Trust“, „Anversoise Trust“; oben mittig), 1906.

Um einen Eindruck von der Situation zu geben, wieder einige Zitate aus dem Bericht der Untersuchungskommission von 1904/05 (im nächsten Artikel mehr zu dieser Kommission), den ich in Teil 1 schon erwähnt habe:

Zu den Wächtern:

„Laut den Zeugen missbrauchen diese Hilfskräfte, vor allem die, die in die Dörfer abgestellt werden, die Autorität, die ihnen übertragen wurde, spielen sich als Despoten auf, verlangen Frauen, Lebensmittel, nicht nur für sich, sondern auch für das Gefolge von Schmarotzern und zwielichtigen Gestalten, die die Liebe zum Diebstahl schnell dazu bringt, sich ihrem Schicksal anzuschließen und mit denen sie sich wie mit einer wahrhaftigen Leibgarde umgeben; sie töten ohne Mitleid jene, die Miene machen, sich ihren Forderungen, ihren Launen zu widersetzen.

Die Kommission konnte offensichtlich nicht in allen Fällen die Korrektheit der Anschuldigungen überprüfen, die vor ihr vorgebracht wurden, besonders da die Fakten oft mehrere Jahre zurücklagen. Dennoch, die Grundlage der gegen die Wächter vorgebrachten Anschuldigungen scheint aus einer Gesamtheit von Zeugenaussagen und offiziellen Berichten hervorzugehen. […]

Wie vieler Missbräuche haben sich die Wächter schuldig gemacht? Es ist uns unmöglich, das zu sagen, selbst annäherungsweise.

Mehrere Häuptlinge aus der Region von Baringa [im Gebiet der ABIR-Gesellschaft] haben uns nach der einheimischen Methode Bündel von Stäben gebracht, von denen jedes einen ihrer Untergebenen repräsentieren sollte, der von den Capitas getötet worden war. Einer von ihnen zeigte für sein Dorf eine Gesamtmenge von hundertzwanzig in den letzten Jahren begangenen Morden an. Was man auch darüber denken mag, welches Vertrauen diese Berechnung der Verbrechen verdient, ein Dokument, das der Kommission vom Direktor der AIBR-Gesellschaft in Afrika übergeben wurde, erlaubt es nicht, am unheilvollen Charakter dieser Institution zu zweifeln. Es handelt sich um eine Liste, die feststellt, dass vom 1. Januar bis zum 1. August 1905, d. h. im Verlauf von sieben Monaten, hundertzweiundvierzig Wächter der Gesellschaft von den Einheimischen getötet oder verletzt worden waren. Nun ist es anzunehmen, dass die Wächter in vielen Fällen wegen der Repressalien von den Einheimischen angegriffen wurden. […] Andernteils haben die von der Kommission befragten oder bei den Anhörungen anwesenden Agenten nicht einmal versucht, die gegen die Wächter vorgebrachten Anschuldigungen zu widerlegen.“ (Untersuchungsbericht, S. 52)

Als Wächter wurden auch oft Ortsfremde gewählt, die mit ihren Untergebenen nichts gemeinsam hatten; und auch wenn sie aus dem Dorf selbst stammten, stellten sie eine Gegenautorität zum traditionellen Häuptling dar und meinten, ihre neu erworbene Stellung ausnutzen zu können; es gab damals schlicht keine kongolesische (der Staat war eine reine Konstruktion Leopolds) oder afrikanische Identität oder Zusammenhalt.

Über militärische Expeditionen schreibt die Kommission, wobei sie noch nicht das Abgabensystem an sich infragestellt, alles immer noch im für die Regierung am wenigsten schlimmen Licht präsentiert und sich bewusst sehr diplomatisch ausdrückt:

„Oft besteht die Expedition dieser Art in einer einfachen Aufklärungsmission, einer friedlichen Tour, bei der der weiße Offizier, der die Anweisungen und Rundschreiben achtet, sich darauf beschränkt, seine Truppen in die verweigernden oder nachlässigen Dörfer zu führen. Er setzt sich mit den Häuptlingen in Verbindung, und indem er den Schwarzen, die nur den Apparat der Macht respektieren, die Stärke des Staates zeigt, gibt er ihnen die Torheit einer Eigensinnigkeit zu verstehen, die sie in Konflikt mit den Truppen bringen würde. […]

Leider haben die Expeditionen nicht immer diesen friedlichen Charakter und diese guten Auswirkungen. Manchmal wurde es für nötig gehalten, energischer zu handeln.

In diesem Fall bestand der schriftliche Befehl, der dem Befehlshaber der Expedition von seinem Vorgesetzten gegeben wurde, meistens darin, ihm anzuordnen, ‚die Einheimischen an ihre Pflichten zu erinnern‘.

Das Vage, die Ungenauigkeit solcher Befehle, und, in bestimmten Fällen, die Leichtfertigkeit dessen, der damit beauftragt war, sie umzusetzen, hatten oft nicht gerechtfertigte Tötungen zur Folge. […]

Es kommt tatsächlich am häufigsten vor, dass die Einheimischen beim Näherrücken der Truppe fliehen, ohne irgendeinen Widerstand entgegenzusetzen. Die im Allgemeinen befolgte Taktik besteht dann darin, das verlassene Dorf oder die benachbarten Felder zu besetzen. Vom Hunger getrieben kehren die Einheimischen zurück, entweder allein oder in kleinen Gruppen. Man nimmt sie fest, man ist bestrebt, den Häuptling und die angesehenen Männer zu fassen, die sich fast immer unterwerfen, versprechen, ihre Verpflichtungen nicht mehr zu verletzen, und denen manchmal Geldbußen auferlegt werden.

Aber es kommt auch vor, dass die Einheimischen nur zögerlich wiederkehren. Eine der im Allgemeinen angewandten Maßnahmen in diesem Fall ist das Aussenden von Patrouillen, die sich durch den Busch schlagen, mit dem Auftrag, die Einheimischen zurückzuholen, die sie treffen. Man sieht sofort die Gefahren dieses Systems. Der bewaffnete Schwarze, sich selbst überlassen, fühlt in sich die blutigen Instinkte wieder aufsteigen, die die strikteste Disziplin kaum zügeln konnte. Während solcher Patrouillen wurden die meisten Morde begangen, die den Soldaten des Staates vorgeworfen werden, und insbesondere jene, die die in der Gegend von Monsembe unternommene Expedition kennzeichneten, Gegenstand einer Beschwerde von Reverend Weeks.

Die Regierung wurde sich der dieser Taktik inhärenten Missbräuche bewusst und hat die Aussendung von Patrouillen, die nicht von einem Weißen befehligt werden, strikt verboten, aber diese Verbote wurden oft missachtet, trotz der über Agenten, die dagegen verstießen, verhängten Strafen. […]

Manchmal nahm die militärische Expedition einen noch klarer repressiven Charakter an. Wir wollen von jenen Operationen sprechen, die man als ‚Strafexpeditionen‘ bezeichnet hat und deren Zweck es ist, einem Dorf oder Gruppierungen von Einheimischen eine examplarische Bestrafung zuzufügen, und von denen manche unbekannt geblieben sind und sich eines Verbrechens oder einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Autorität des Staates schuldig gemacht haben.

(Foto in „King Leopold’s Rule in Africa“ von E. D. Morel; der Autor bezeichnet die Kongogräuel als neue Form der Sklaverei, daher die Bildunterschrift.)

Der dem Kommandant der Abordnung gegebene Befehl war dann im Allgemeinen in der folgenden Weise abgefasst: ‚N… wird beauftragt, dieses Dorf zu bestrafen oder zu züchtigen‘. Die Kommission hat von mehreren Expeditionen dieser Art erfahren. Deren Folgen waren manchmal sehr mörderisch. Und man braucht sich nicht darüber zu wundern. Wenn während delikater Operationen, deren Ziel die Geiselnahme und die Einschüchterung der Einheimischen ist, eine Überwachung zu allen Zeiten nicht immer verhindern kann, dass die blutigen Instinkte der Schwarzen sich freien Lauf lassen, wenn der Befehl zu strafen von einer höheren Autorität kommt, ist es sehr schwierig, dass die Expedition nicht in Massaker begleitet von Plünderung und Brandstiftung ausartet.“ (Untersuchungsbericht, S. 63-66)

Häufig vergewaltigten die Soldaten auch Frauen aus den Dörfern und/oder verschleppten sie auf die Posten und hielten sie dort für längere Zeit fest.

Man wird davon ausgehen dürfen, dass die Vorgesetzten sich gut bewusst waren, was aus ihren (bewusst) vagen Befehlen öfter mal resultieren würde.

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Soldaten im Fort von Shinkakasa.

Für besonderes Entsetzen sorgten in Europa Bilder von Kongolesen mit abgehackten Händen, die in den Jahren ca. ab 1903 öfter verbreitet wurden. Heute ist es verbreitet, zu glauben, Belgier hätten zur Strafe für zu wenig gesammelten Kautschuk Hände abhacken lassen. Das ist falsch; und wäre auch eine sehr schlechte Idee gewesen, wenn man von Leuten in Zukunft noch Kautschuk bekommen will. Um Art und Ausmaß der Verstümmelungen zu sehen, ist der Untersuchungsbericht wieder hilfreich.

Vor allem bei Militärexpeditionen, schreibt die Kommission, seien die Verstümmelungen passiert, auf die v. a. protestantische Missionare hingewiesen hätten. Es werden folgende Aussagen/Vorkommnisse aufgezählt:

„Beim Tumba-See in Ikoko haben Missionare und mehrere Schwarze uns versichert, um das Jahr 1895 in einem mit Soldaten besetzten Einbaum einen Korb gesehen zu haben, der zwischen zwölf und zwanzig abgehackte Hände enthielt. Reverend Clark erklärt, ungefähr um dieselbe Zeit in einem Einbaum an einen Stab gebundene abgehackte Hände gesehen zu haben; sie seien ihm vorgekommen, als seien sie geräuchert worden. Beide Einbäume waren unterwegs in Richtung Bikoro. Ein Einheimischer beteuert, dass diese Hände dem Postenchef von Bikoro gezeigt wurden und Herr Clark erklärt, dass dieser Agent, der heute verstorben ist, als er ihm seinen Hund gezeigt habe, ihm gesagt habe: ‚Das ist ein menschenfressender Hund, er frisst abgehackte Hände.‘ Derselbe Missionar, Frau Clark und Frau Whitman haben uns gesagt, bei mehreren Gelegenheiten im Verlauf von staatlichen Expeditionen getötete Einheimische gesehen zu haben, deren rechte Hand abgeschnitten worden war. Herr und Frau Clark, wie auch ein schwarzer Zeuge, behaupten, ein kleines Mädchen gesehen zu haben, dessen Hand während einer Expedition abgehackt worden war, und das nach sechs Monaten starb, trotz der medizinischen Pflege, die man ihr reichlich zukommen ließ, und eine auf dieselbe Weise verstümmelte Frau.

Diese Missionare erzählten uns zuletzt von einem Einheimischen namens Mola, der beide Hände nach schlechter Behandlung durch Soldaten verloren hatte, was durch eine Ermittlung festgestellt worden war. (Mola war von Soldaten gefangen genommen worden. Die Fesseln um seine Handgelenke, zu eng zugezogen, verursachten Wunden, die brandig wurden; die beiden Hände waren verloren.)

(Der Mola im mittleren Bild dürfte derselbe sein, von dem hier die Rede ist; Fotos aus „King Leopold’s Rule in Africa“.)

Schwarze Zeugen, beheimatet im Distrikt des Leopold-II-Sees, die Herr Scrivener in Bolobo beigebracht hat, brachten vor, dass sie, als ihr Dorf vor fünf oder sechs Jahren nach einem Kampf von staatlichen Truppen besetzt worden war, sieben Genitalien gesehen hatten, die bei während des Kampfes getöteten Einheimischen abgeschnitten worden und an eine Liane gehängt worden waren, die zwischen zwei Stangen vor der Hütte, in der der Weiße wohnte, festgemacht war.

Die Kommission ihrerseits hat mehrere Verstümmelte gesehen.

Im Posten von Coquilhatville haben wir Epondo und Ikabo befragt. Epondo fehlte die linke Hand, und Ikabo die rechte.

Herr Clark, in Ikoko, präsentierte uns Mputila, aus Yembe (Tumba-See), dem die rechte Hand fehlte. Reverend Louver, in Ikau, hat vor uns Imponge aus N‘Songo erscheinen lassen, einen Jungen, der etwa zehn Jahre alt wirkte, und der der rechten Hand und des rechten Fußes beraubt war. Reverend Harris hat uns in Baringa einen Mann namens Isekosu und die Frau Boali gezeigt, dem ersten fehlte die rechte Hand und der zweiten der rechte Fuß.

Epondo, der wiederholt, was er schon zuvor berichtet hat, sagt uns, dass er die linke Hand infolge eines Wildschweinbisses verloren habe, als er eines Tages mit seinem Herrn auf der Jagd gewesen sei. (Ohne etwas auf die Aussagen von Epondo zu geben, der bei seinen verschiedenen Zeugenaussagen in den letzten zwei Jahren Unterschiedliches erzählt hat, ist die Kommission, indem sie sich auf ihre eigenen Feststellungen und die gründliche ärztliche Untersuchung, die von Dr. Védy in Coquilhatville vorgenommen wurde, stützt, überzeugt, dass Epondo die Hand tatsächlich in Folge des Bisses eines wilden Tieres verloren hat. Außerdem hat Reverend Weeks uns gesagt, dass diese Tatsache im Dorf Malele, aus dem Epondo ursprünglich stammt, bekannt sei, wie er persönlich bei einem kürzlichen Besuch in diesem Dorf habe feststellen können.)

Imponge erklärt, dass, als er ein kleines Kind war, Wächter (Sentinelles) in sein Dorf kamen, sein Vater mit ihm auf dem Arm floh und ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt im Wald fallen ließ, um schneller rennen zu können. Ein Wächter sah ihn und hackte ihm die rechte Hand und den linken Fuß ab, um sich die Kupferringe zu verschaffen, die er am Knöchel und Daumen trug. Dieser Bericht wird vom Vater bestätigt.

Die Frau Boali sagt, dass ein Capita, dem sie sich verweigert hatte, sie mit einem Gewehrkolben zu Boden schlug und, da er sie für tot hielt, ihr den Fuß abschnitt, um den Kupferring um ihren Knöchel mitzunehmen.

Die drei anderen Verstümmelten geben eine Aussage ab, die sich so zusammenfassen lässt: ‚Die Soldaten (oder die Wächter) sind gegen unser Dorf in den Krieg gezogen. Ich bin verletzt worden und wie tot zu Boden gefallen. Ein Soldat (oder ein Wächter), der mich für tot hielt, hackte mir die Hand ab.‘

Herr Monney, der Chef des Postens von Bikoro, sagt, dass er abgesehen von Mola noch drei andere Einheimische gesehen habe, denen die rechte Hand fehlte und die ihm dasselbe berichtet hätten.

Aus der Gesamtheit der gemachten Feststellungen und der Zeugenaussagen und Auskünfte, die die Kommission erhalten hat, lässt sich schließen, dass die Verstümmelung von Leichen ein alter Brauch ist, der in den Augen der Einheimischen nicht denselben leichenschänderischen Charakter hat wie in unseren. Das Abtrennen gewisser Körperteile einer Leiche entspricht dem Bedürfnis des Einheimischen, sich entweder eine Trophäe oder auch einfach ein Beweisstück mitzunehmen.

Die Verstümmelung von gefallenen Feinden geschah häufig bei den Kriegen zwischen Einheimischen gewisser Regionen. Heute noch sind die Schwarzen es gewöhnt, wenn sie einen greifbaren Beweis des Todes eines von ihnen erbringen wollen und die Leiche selbst nicht mitnehmen können oder wollen, entweder die rechte Hand oder den rechten Fuß vorzuzeigen. So brachte auch vor kurzem ein Einheimischer aus Wala (bei Baringa) zur Mission in Baringa und dann zur Faktorei der ABIR einen Kinderfuß und eine Kinderhand, die er abgeschnitten hatte. Er kam, um die Ermordung des Kindes durch einen Sentinelle zu beklagen. [Anmerkung: In diesem Fall dürfte ein kleiner Fehler (vielleicht ein Missverständnis bei der Übersetzung der Zeugenaussagen o. Ä.) auf der Seite der Kommission vorliegen. Laut dem Bericht eines Missionars namens Stannard hatte dieser Einheimische, Nsala, die Gliedmaßen zwar als Beweisstücke hergebracht, aber ausdrücklich gesagt, sie nicht selbst abgeschnitten zu haben; seine Tochter sei von den Wächtern zerstückelt und teilweise gekocht und gegessen worden, hatte er berichtet. Siehe auch weiter unten.] Ein paar Tage später brachten Einheimische aus N‘Songo Frau Harris zwei Hände, die sie abgeschnitten hatten, wobei sie sagten, dass sie zwei von den Sentinelles getöteten Männern gehörten. 1902 kam ein Einheimischer zum Gericht von Coquilhatville, um den Mord eines Verwandten während einer Schlägerei anzuzeigen. Als Beleg seiner Erzählung zeigte er die Hand des Toten vor, die er abgeschnitten und geräuchert hatte.

Man muss sich nicht wundern, wenn die in der Force Publique angemusterten Schwarzen diesen eingefleischten Brauch nicht gleich aufgeben konnten, und wenn sie, um ihren Vorgesetzten einen Beweis ihrer Tüchtigkeit als Krieger zu bringen, ihnen manchmal blutige Trophäen brachten, die sie von den Kadavern ihrer Feinde abgeschnitten hatten. […]

Wie auch immer, ein Punkt steht außer Frage: Nie hat ein Weißer über lebende Einheimische solche Verstümmelungen als Strafe für fehlende Abgaben oder aus irgendeinem anderen Grund verhängt oder verhängen lassen. Derartige Vorgänge sind uns von keinem Zeugen angezeigt worden und trotz all unserer Ermittlungen haben wir keine gefunden.“ (Untersuchungsbericht, S. 71-74)

Daraus, dass die Kommission unter den während der Monate, die sie im Kongo verbrachte, angehörten Zeugen nur fünf von Wächtern/Soldaten Verstümmelte anhörte, zeigt auch, dass es zwar Fälle von Verstümmelungen von (für gewöhnlich totgeglaubten) Lebenden gab, aber relativ wenige, und die Morde mit anschließender Leichenschändung das eigentliche Problem waren.

Es gibt anderswo allerdings auch Berichte davon, dass bestimmte weiße Postenchefs sich die Hände von Toten hatten bringen lassen als Beweis dafür, dass die allein ausgeschickten schwarzen Soldaten mit den Patronen nicht sonst etwas angestellt hatten.

„Wir kennen Namen, Orte. In der Gegend des Leopold-II-Sees, in der von Equateur scheinen die abgeschnittenen Hände Ende des 19. Jahrhunderts obligatorisch mit zahlreichen militärischen Expeditionen einhergegangen zu sein. Der beste Spezialist dieser Methode war ein Mann, der von seinen Freunden als ’sehr energisch‘ charakterisiert wurde und der in Equateur während mehrerer Jahre den Befehl innehatte, Kapitän Fiévez. Man prahlte in seiner Umgebug mit den erreichten Ergebnissen: ‚Ein großes Palaver (d. h. eine militärische Expedition) von Fiévez: 200 Opfer mit 375 Patronen.‘ Fiévez war das Muster der gefühllosen Bestie; selbst unter Offizieren, die keinen so ausgeprägten Charakter hatten wie den seinen, fand er Nachahmer.“ (Stengers, Jean: Les accusations anglaises contre le Congo: E. D. Morel, le fondateur de la Congo Reform Association, et la Belgique, in: Ders.: Congo. Mythes et réalités, Brüssel 2005, S. 129-158, S. 154f.)

Und es gibt auch Aussagen, dass es dann manchmal vorgekommen war, dass Soldaten, die Patronen auf der Jagd verschwendet hatten, sogar bewusst Lebenden die Hände abgehackt hatten.

Es lohnt sich noch, zwei der von der Untersuchungskommission erwähnten Fälle noch genauer anzusehen; als konkrete Beispiele für die Grausamkeiten. Beide Fälle wurden von Missionaren der baptistischen britischen Missionsgesellschaft „Congo-Balolo Mission“ dokumentiert. John Hobbis Harris, seine Frau Alice Seeley Harris und ein weiterer Missionar namens Edgar Stannard waren im Jahr 1904 in der Missionsstation von Baringa stationiert. Stannard beschreibt in einem Brief folgendes:

„Am Sonntagmorgen, dem 15. Mai [1904], um kurz nach acht Uhr, war ich zu Mr. Harris‘ Haus hinübergegangen, und wir wollten gerade den morgendlichen Gottesdienst beginnen, als zwei Jungen atemlos hereinstürmten und sagten, dass einige Wächter eine Anzahl an Leuten getötet hätten, und dass zwei Männer vorbeigegangen wären, um es den weißen Kautschuk-Männern zu melden [d. h. den Agenten der Konzessionsgesellschaft, die ihren Posten in der Nähe der Missionsstation hatte], und dass sie auch ein paar Hände dabei hätten, um sie ihm zu zeigen, falls er ihnen nicht glauben wollte. Es erschütterte uns sehr, und wir sagten ihnen, sie sollten nach den Männern Ausschau halten, wenn sie zurückkämen, und uns Bescheid sagen, damit wir sie treffen könnten. Kurz danach kamen die zwei Männer den Pfad entlang, und wir hörten, wie die Jungen ihnen zuriefen, sie sollten kommen und es uns zeigen; aber sie wirkten ängstlich, und so gingen wir schnell nach draußen und holten sie ein und fragten sie, wo die Hände wären. Daraufhin öffnete einer von ihnen ein Päckchen aus Blättern und zeigte uns Hand und Fuß eines kleinen Kindes, das nicht älter gewesen sein konnte als fünf Jahre. Sie waren frisch und mit einem sauberen Schnitt abgetrennt worden. Es war ein furchtbarer Anblick, und selbst jetzt, während ich schreibe, kann ich den Schauder und das Gefühl des Entsetzens spüren, das mich überkam, als wir sie ansahen, und den gequälten Blick des armen Mannes sahen, der benommen vor Trauer wirkte, und der sagte, dass es Hand und Fuß seines kleinen Mädchens wären. Ich kann nie den Anblick dieses entsetzten Vaters vergessen. Wir baten sie, ins Haus zu kommen und uns von der Sache zu erzählen, was sie taten, und das Folgende ist die Geschichte, die sie uns erzählten.

Der Vater des kleinen Mädchens sagte, sein Name sei Nsala, und er stamme aus Wala, was eine Sektion des Nsongo-Distrikts ist und verbunden mit Lifinda, dem Außenposten von Baringa. Am vorigen Tag, obwohl es noch drei Tage waren, bis sie den Kautschuk hätten bringen müssen, kamen fünfzehn Wächter aus Lifinda, alle abgesehen von zwei bewaffnet mit Albini-Gewehren, und begleitet von Anhängern. Sie begannen, Gefangene zu machen und zu schießen, und töteten Bongingangoa, seine Frau; Boali, seine kleine Tochter von ungefähr fünf Jahren; und Esanga, einen Jungen von ungefähr zehn Jahren. Diese schnitten sie sofort in Stücke, und kochten sie danach in Töpfen, taten Salz hinein, das sie mitgebracht hatten, und aßen sie dann.

Sie schossen auch drei andere an, die, obwohl verwundet, es schafften, in den Wald zu rennen. […]

Nsala sagte, dass er, als die Wächter nicht hinsahen, den Fuß und die Hand seines kleinen Mädchens schnappte, um sie mitzunehmen und dem weißen Mann zu zeigen, falls er ihm nicht glauben sollte. Wir fragten ihn, ob er die Hand und den Fuß abgeschnitten hatte, aber er sah entsetzt aus und protestierte, dass er das nicht getan hätte. […]

Mrs. Harris nahm dann ein Photo von dem gramgebeugten Mann und allem, was ihm von seiner Frau und kleinen Tochter geblieben war, auf. Uns wurde schlecht, als wir darauf blickten, und an das unschuldige kleine Kind dachten, und uns vorstellten, wie sie eine kurze Zeit vorher herumgerannt war. Wir versuchten, ein wenig an den Gefühlen des unglücklichen Vaters Anteil zu nehmen, und unwillkürlich stieg ein Gebet aus unseren Herzen auf, dass Gott selbst um dieser Leute willen einschreiten möge.“

Im selben Brief beschreibt Mr. Stannard noch die Entstehung eines weiteren Photos:

„Am Donnerstag, dem 19. Mai, kam Mr. Harris um Mittag herum von Jikau zurück, und wir hofften, dass diese Schrecken ein Ende hatten, wenigstens für eine Weile. Leider war das nicht der Fall, denn am Freitag Nachmittag, etwa um 4:30 Uhr, während ich mit Mr. Harris zusammen war, kamen drei Männer mit einem kleinen Paket zu uns und sagten, während sie es öffneten: ‚Schaut! Das ist die Hand von Lingomo, und das die Hand von Bolengo. Wir konnten Balengolas Hand nicht mitbringen, da sie ihren ganzen Körper gegessen haben.‘ Ich erkannte zwei der Männer als Bompenju und Lofiko, die zu uns am vorigen Dienstag gekommen waren. Wir sagten: ‚Was, haben sie noch mehr getötet?‘ ‚Ja‘, antworteten sie, ‚drei mehr, von denen sie einen gegessen haben.‘ ‚Weiße Männer‘, fuhren sie fort, ‚was sollen wir tun? Sie erledigen uns alle. Während wir vor drei Tagen herkamen, töteten sie einen Mann, einen Jungen und eine Frau.‘ Mrs. Harris nahm ein Photo von den Männern mit den Händen auf, und Mr. Harris und ich standen mit in der Gruppe, da wir dachten, es wäre eine zusätzliche Beglaubigung. […]

Ich fürchte, Mr. Harris und ich sehen auf dem Photo eher zornig aus, aber ich bekenne, dass ich zornig war. Es brachte mein Blut zum Kochen, an diese Dinge zu denken – Schrecken über Schrecken – die diesen verfolgten Menschen zugefügt werden.“

Dann das Thema Auspeitschungen: Staatliche Agenten hatten – eigentlich – keine Befugnis, Auspeitschungen als Strafe für fehlende Abgaben anzuordnen, durften es aber als Disziplinarstrafen für Soldaten der Force Publique und staatliche Angestellte, wobei das Höchstmaß 50 Schläge betrug, an einem Tag höchstens 25 auf einmal verabreicht werden durften, und bei einem Zusammenbruch sofort aufgehört werden musste. Wie man sich denken kann: Auch hier war man nicht allzu skrupulös bei der Beachtung der Regeln, und wandte das Auspeitschen auch an, um mehr Kautschuk zusammenzubekommen.

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Auspeitschung mit der Nilpferdpeitsche.

Dazu schreibt die Kommission:

„Trotz aller vom Gesetz für den Gebrauch der Chicotte vorgeschriebenen Einschränkungen entstehen manchmal Missbräuche, ob man nun zu oft und in zu wenig gerechtfertigter Weise auf diese Strafe zurückgreift, oder ob man das vorgeschriebene Maß überschreitet.

Die Kommission hat zu dieser Angelegenheit Beschwerden zahlreicher Arbeiter erhalten. Hier vor allem muss man die gewohnheitsmäßige Übertreibung der Schwarzen in Betracht ziehen. Die Kommission war mehr als einmal von Anfang an misstrauisch in Bezug auf die phantastische Zahl an Schlägen, von der die Zeugen behaupteten, sie an einem einzigen Tag erhalten zu haben, und sehr oft konnte sie die Beschwerdeführer auf frischer Tat bei einer Lüge ertappen.

Dennoch ist es nicht zu leugnen, dass die Postenchefs sich manchmal verleiten ließen, im Wunsch, ein Exempel zu statuieren, die Vorschriften der Disziplinarordnung zu verletzen. Es ist gleichfalls wahr, dass diese Verfehlungen nicht immer mit der wünschenswerten Härte verfolgt wurden […] Die Kommission musste sogar feststellen, dass zweifach wiederholte Instruktionen der Staatsanwaltschaft, die sich auf solcherlei Missbräuche bezogen, die sich im Botanischen Garten von Eala ereignet hatten, wegen Anordnung von oben ohne Folge blieben. […]

Die Vorschriften verbieten es ausdrücklich, Frauen mit der Chicotte zu bestrafen. Manche Verstöße gegen diese Bestimmung wurden uns angezeigt; aber das sind Einzelfälle und zumindest aktuell sehr selten. In jedem Fall hat die Regierung nie irgendeine Toleranz für diesen Missbrauch gezeigt.“ (Untersuchungsbericht, S. 105f.)

Es mag vielleicht überraschen, aber: Im Kongo gab es in dieser Zeit ein Justizsystem, und wenn Fälle von Morden oder Misshandlungen vor Gericht gelangten, wurden sie auch bestraft (die Jusitz interessierte sich wesentlich mehr für die Rechte der Einheimischen als die Verwaltung). Ein Hauptproblem war schlicht, dass das Justizsystem hoffnungslos unterbesetzt war: Es gab im ganzen Kongo 14 Gerichte, aber weil an den meisten keine Berufsrichter waren, mussten sämtliche wichtigeren Fälle in die Hauptstadt Boma. Zum Vergleich: Man stelle sich vor, wegen eines in Warschau oder Danzig begangenen Mordes erst nach Marseille vor Gericht ziehen zu müssen. Man muss es immer wieder wiederholen: Der Kongo war ein enormes Gebiet, noch dazu zum großen Teil von Regenwald bedeckt, und die Chefs von isolierten Posten und erst recht die Wächter in den Dörfern waren oft fern von jeder Kontrolle.

Wenn man sich für ein Beispiel für einen solchen Prozess aus dem Jahr 1904 interessiert: Die Akten aus dem Berufungsverfahren gegen einen Belgier namens Philipp Caudron und einen Afrikaner aus dem britischen Lagos namens Silvanus Jones, beide bei einer Konzessionsgesellschaft angestellt, gibt es hier (zuerst eine englische Einleitung, dann die französischen Akten, dann eine englische Übersetzung der Akten); beide wurden wegen diverser Morde usw. zu einigen Jahren Zwangsarbeit verurteilt (Jones bekam 10 Jahre, Caudron zuerst 20, im Berufungsverfahren auf 15 reduziert). Gegner des Kongo-Freistaats wie E. D. Morel kritisierten solche Urteile als zu lasch, auch, da andere Verurteilte schon nach drei oder vier Jahren Gefängnis wieder entlassen worden waren.

Gefängnis in Nouvelle-Anvers.

Die Justiz konnte natürlich immer nur niedrigere Agenten belangen und hatte nicht die Macht, die höchsten Männer im Staat wegen ihrer Anweisungen zur Rechenschaft zu ziehen. Es war wesentlich leichter, einem untergeordneten Postenchef ein Massaker in einem bestimmten Dorf nachzuweisen, als einen Distriktkommissar oder Generalgouverneur für Anweisungen zu belangen, von denen er wissen musste, dass sie zu solchen Massakern führten. Gerade, wenn die Aussagen eines Angeklagten die höheren Beamten im Staat hätten belasten können, wurden sie auch einfach mal laufen gelassen; so z. B. in der „Tilkens-Affäre“, als man einen Agenten namens Tilkens, der Verbrechen im Osten des Kongo begangen hatte, nach Belgien entkommen ließ und von Belgien nicht seine Auslieferung forderte.

In einem Brief an einen belgischen Offizier, den er noch als Postenchef geschrieben hatte, hatte Tilkens (mit einer gewissen Mischung aus Selbstmitleid, Verzweiflung und dem Wunsch, sich reinzuwaschen) geschrieben: „Zwei Jahre lang führe ich schon Krieg in diesem Land, immer begleitet von vierzig oder fünfzig Albinis [= Soldaten mit Albini-Gewehren]. Und doch kann ich nicht sagen, dass ich die Leute unterworfen habe. […] Sie sterben lieber. […] Was soll ich tun? Ich werde bezahlt, meine Arbeit zu tun, ich bin ein Instrument in den Händen meiner Vorgesetzten, und ich gehorche den Befehlen, die die Disziplin verlangt.“ (Zitiert in: E. D. Morel, King Leopold’s Rule in Africa, S. 308.)

Weitere Schwierigkeiten, mit denen die Justiz zu kämpfen hatte, waren, dass ermittelnde Staatsanwälte in den Gebieten der Konzessionsgesellschaften auf deren Dampfboote, Posten etc. angewiesen waren, um überhaupt irgendwohin zu gelangen, und dass der Generalgouverneur Prozesse gegen Europäer verhindern konnte. Wie machtlos die Justiz vor Ort manchmal sein konnte, zeigt eine weitere Schilderung des Missionars Stannard:

„Vor kurzer Zeit war Richter Bosco hier, und stellte Ermittlungen an bezüglich der Morde, die von Wächtern in den Städten im Hinterland begangen worden waren, kurz bevor Mr. Frost nach England abreiste, und die er persönlich erforschte. Die Morde waren bis ins letzte bewiesen – tatsächlich eine größere Zahl, als wir zuerst sicher gewusst hatten. Verwandte der Ermordeten und Zeugen aus den Städten kamen und sagten vor dem Richter aus, und die Wächter gestanden, die Leute getötet zu haben. Der Richter sagte, dass es gesichert war, dass die Morde geschehen waren, und die einzige Frage war, wer dafür verantwortlich war. Ausnahmslos alle Wächter sagten, dass sie von Monsieur Van Calcken, dem Agenten, angewiesen worden waren, Leute zu töten, und dass die, die es nicht taten, gerügt worden waren. Der Agent andererseits bestritt, das getan zu haben.

Die Macht und Autorität des Richters schienen sehr begrenzt zu sein, und es schien, dass er nicht mehr tun konnte, als eine Ermittlung anzustellen. Er sagte, dass, da ein Weißer beteiligt war, alles, was er tun konnte, war, die Fakten nach Boma zu melden, und dass er wahrscheinlich in ungefähr drei Monaten eine Antwort zu der Angelegenheit erhalten würde. Wir wiesen darauf hin, dass diese Wächter zugaben, die Morde begangen zu haben, und fragten ihn, da das so war, was er mit ihnen tun würde; aber er bekannte sein Unvermögen, mehr in der Sache zu tun, da die Verantwortung nicht geklärt war, und es mit Kautschuk zu tun hatte. […] Wundern Sie sich, dass die Leute sagen, dass es nutzlos ist, diese Dinge anzuzeigen? Sie kommen und erzählen uns von diesen Dingen, oft unter großem Risiko, aber mit keinem besseren Ergebnis als dem obigen, und oft nicht einmal so viel. Der Richter hat Ilangala, den Capita, oder obersten Wächter, verhaftet; aber er erklärte uns, dass er das nur tat, weil er eine Frau getötet hatte, und er sagte, dass es illegal wäre, dass eine Frau wegen Kautschuk bestraft wird. Diese bestimmten Männer sind keine Wächter mehr, aber sie sind in ihren Städten und ganz frei, und es ist wahrscheinlich, dass sie, wenn sie in drei Monaten gesucht werden, verschwunden sind, und dann wird ihr Vorwurf gegen den Agenten unbelegt sein, und die ganze Sache wird ins Wasser fallen und nichts daraus werden.

Das ist die übliche Vorgehensweise bei diesen Palavern, bei denen Menschen ermordet werden. Die Wächter versichern stets, dass ihnen gesagt wird, sie sollten Menschen töten, während, wenn Morde ans Licht kommen, die Agenten sie beschuldigen, und die Verantwortung ablehnen. Es ist allerdings auffällig, dass sie [die Agenten] fast nie, wenn überhaupt jemals, Maßnahmen ergreifen, außer in Fällen, die wir ihnen berichten. Mein deutlicher Eindruck ist, dass sie von den Aktionen ihrer Wächter wissen, und zum großen Teil dafür verantwortlich sind. Sie sind gezwungen, ihre volle Menge an Kautschuk zusammenzubekommen, und guten Kautschuk, wenn man ihn bekommen kann, und sind bereit, alle Mittel zu diesem Zweck zu gebrauchen. Natürlich ziehen sie es vor, die schreckliche Arbeit nicht selbst zu erledigen, und die Wächter sind nur zu willig, das Gewehr zu benutzen. Die Agenten sollten die Sorte Männer kennen, die sie bewaffnen […]

Der Richter hat uns gegenüber bemerkt, dass die Arbeit, ihm zu tun gegeben wird, nicht ernst [der Auftrag nicht ernst gemeint, nur eine Fassade] ist, d. h., dass sie unmöglich ist. In diesem Distrikt Equator, so groß wie ein großer europäischer Staat, ist er der einzige Justizbeamte, und er kann kaum den ganzen Distrikt während seiner Amtsdauer besuchen. Wenn er kommt, um einem Vorwurf nachzugehen, ist dieser möglicherweise ein Jahr alt, und es ist unmöglich, Zeugen zu finden. Und während er auf Reisen ist, weiß er, dass sich in Coquilhatville eine enorme Menge Arbeit für ihn ansammelt, und dass es keine anständige Rechtspflege gibt.“

Andere Missstände

Es seien kurz weitere Missstände aufgezählt.

Andere Abgaben/Arbeiten:

Von den Einheimischen wurde nicht nur das Kautschuksammeln verlangt; auch für die Versorgung der Posten mit Lebensmitteln (Maniok und Trockenfisch für die einheimischen Arbeiter und Soldaten, Wild und Vieh für die Weißen), für Reparaturarbeiten, für die Instandhaltung von Telegraphenkabeln, für die Versorgung der Dampfschiffe mit Holz zum Heizen, usw. usf., zog man nach Belieben die Bewohner der umliegenden Dörfer heran. Bei manchen Posten waren die Arbeiten quasi kontinuierlich und auf eine geringe Bevölkerung verteilt, oder wurden zu unvorhersehbaren Zeiten verlangt; auch diese Arbeiten oder Abgaben wurden zwar geringfügig bezahlt, belasteten die Bevölkerung aber trotzdem manchmal sehr. Ähnliches wie für das Kautschuksammeln gilt hier.

Am belastendsten war die Arbeit als Lastenträger in einer Karawane in den Regionen, in denen die Flüsse nicht schiffbar waren. Anfangs betraf das v. a. die Region der Katarakte, einen Abschnitt des Kongo voller Stromschnellen zwischen Matadi und Leopoldville/Kinshasa; weiter flussaufwärts ist der Kongo wieder schiffbar. Dort wurde dann ab 1889 eine Eisenbahn gebaut, die 1898 fertiggestellt war; die Situation der Bevölkerung im Gebiet der Katarakte, die auch nicht mit Kautschuksammeln belastet war, besserte sich. Dafür sollten neue Gebiete im Osten des Kongo erschlossen werden, für die man wieder Lastenträger brauchte. Der bereits erwähnte Tilkens, ein Postenchef im Osten des Kongo, später angeklagt wegen Verbrechen gegen die Einheimischen, schrieb noch auf seinem Posten in einem Brief an einen Major:

„Der Postenchef von Buta kündigt die Ankunft des Dampfers Vande Kerkhove an, der zum Nil gebracht werden soll. Er wird die kolossale Zahl von 1500 Trägern verlangen. Unglückliche Schwarze! Ich will nicht daran denken. Ich frage mich, wo ich sie finden kann? Wenn die Straßen gut wären, wäre es vielleicht anders, aber sie sind kaum gerodet, werden wiederholt von Sümpfen unterbrochen, wo viele einen sicheren Tod finden werden. Hunger und die Erschöpfung von einem achttägigen Marsch werden für viele mehr sorgen. Wie viel Blut dieser Transport nicht hat fließen lassen! Schon drei Mal war ich gezwungen, Krieg gegen Häuptlinge zu führen, die sich weigern, sich an der Arbeit zu beteiligen. Leider werden sie nur schlecht für eine solche harte Arbeit bezahlt, Kaurimuscheln im Wert von 5d. (50 Centimes) für den Hinweg, und ein Stück amerikanischen Stoff für den Heimweg. Wenn ein Häuptling sich weigert, heißt es Krieg; und dieser furchtbare Krieg – perfektionierte Waffen der Zerstörung gegen Speere und Lanzen! … Ein einheimischer Häuptling ist gerade gekommen, um mir zu sagen: ‚Mein Dorf ist ein Haufen Ruinen. Alle meine Frauen wurden getötet. Und doch, was kann ich tun? Ich bin Häuptling, weil mein Vater Häuptling war, aber ich habe nicht seine Stärke und Macht. Wenn ich meinen Leuten sage, sie sollen die Fracht des weißen Mannes tragen, fliehen sie in den Wald, und wenn deine Soldaten kommen, um zu rekrutieren, kann ich ihnen niemanden geben, weil meine Leute lieber im Wald an Hunger sterben, als Transportarbeit zu erledigen.‘ Oft bin ich gezwungen, diese unglücklichen Häuptlinge in Ketten zu legen, bis 100 oder 200 Träger gefunden sind, was ihre Freilassung erlangt. Sehr oft finden meine Soldaten die Dörfer verlassen; dann ergreifen sie Frauen und Kinder und nehmen sie gefangen.“

Während als Träger und Kautschuksammler vor allem Männer verlangt wurden, lastete die Versorgung mit Maniokbrot, dessen Herstellung arbeitsintensiv war, v. a. auf Frauen, Kindern und Sklaven der Einheimischen, denen sowieso die meiste landwirtschaftliche Arbeit überlassen wurde; dementsprechend mussten sie die Versorgung ihrer eigenen Familien vernachlässigen. Einheimische, deren Vieh ständig zu einem zu geringen Preis als Abgabe verlangt werden konnte, sahen auch keinen Anlass mehr, welches zu züchten. In der Umgebung von kleinen Posten mit wenigen Arbeitern und Soldaten war es noch nicht schlimm; aber in der Umgebung der großen war die Folge eine deutliche Verarmung der Bevölkerung.

„Die in Leopoldville angehörten Missionare, katholische und protestantische, schilderten übereinstimmend die generelle Armut, die in der Region herrscht. Einer von ihnen glaubte sagen zu können: ‚wenn dieses System, das die Einheimischen verpflichtet, die 3000 Arbeiter von Leopoldville zu ernähren, noch fünf Jahre andauert, war es das mit der Bevölkerung des Distrikts‘. Ohne diese pessimistischen Bewertungen vollständig zu teilen, kann man zugeben, dass sie einen wahren Kern enthalten.“ (Untersuchungsbericht, S. 35)

(Die Lösungsvorschläge der Kommission waren so banale wie etwa: man solle selber Landwirtschaft betreiben und die Frauen der Soldaten dazu anstellen, die nichts zu tun hätten, oder mehr Reis auf Vorrat kaufen/importieren statt schnell verderbliches Maniok zu verlangen; ein anderes System hätte sich leicht etablieren können.)

Rekrutierung von Soldaten:

Auch um der Force-Publique-Soldaten selbst willen gab es Kritik; Kritiker meinten, das Vorgehen bei der Rekrutierung ähnele dem von Sklavenfängern. Die Untersuchungskommission meinte dazu, diese Kritik sei „ungerecht. In jedem Fall kann sie nicht auf die aktuelle Situation Anwendung finden.“ (Untersuchungsbericht, S. 95) Auf die frühere Situation konnte sie allerdings eine gewisse Anwendung finden.

In den ersten Jahren des Kongo-Freistaats hatte der Staat Freiwillige aus anderen, bereits von anderen europäischen Staaten kolonisierten afrikanischen Gebieten angeworben, was ihn teures Geld gekostet hatte; ab 1891 war er dazu übergegangen, im Kongo lebende Freiwillige zu suchen und zusätzlich eine Wehrpflicht einzuführen, da die Freiwilligen nicht ganz reichten. Die Wehrpflicht traf nicht jeden; in der Theorie sah es so aus, dass in den Distrikten ein Losentscheid durchgeführt werden oder die einheimischen Häuptlinge bestimmen sollten, wer zur Armee musste. Man kann ganz grob sagen, dass Anfang des 20. Jahrhunderts jeder tausendste Kongolese in der Armee war.

In der Praxis gab es in den ersten Jahren nach 1891 verschiedene Methoden, Soldaten zusammenzubekommen. Die europäischen Agenten erhielten Prämien für jeden einberufenen Soldaten, also waren sie sehr motiviert, Soldaten zu finden. Manchmal kauften sie einfach Haussklaven der Einheimischen; oder verpflichteten die Einheimischen, ihnen anstelle einer Geldbuße für irgendein Vergehen oder als Lösegeld für auf den Posten festgehaltene Geiseln ihre Haussklaven zu überlassen; oder führten Strafexpeditionen durch, um Gefangene zu machen, die sie dann zu Soldaten machen konnten.

Die Prämien wurden allerdings irgendwann abgeschafft und die Situation verbesserte sich, während die übrigen Verbrechen noch andauerten; die Wehrpflicht wurde jetzt regulärer von den Distriktkommissaren in Zusammenarbeit mit den Häuptlingen vor Ort durchgesetzt. Und die Force Publique hatte tatsächlich nach einiger Zeit relativ viele Freiwillige, und relativ viele Soldaten, die sich nach Ablauf ihrer Dienstzeit noch einmal verpflichteten. Die Stellung als Soldat bot eben doch Vorteile, auch wenn sie bedeutete, den Heimatort verlassen zu müssen; wer gerne Macht über andere ausübte, hatte jetzt eine leichte Möglichkeit dazu.

Für diejenigen, die – ob irregulär gezwungen oder regulär vom Distriktkommissar einberufen – nicht freiwillig Soldat geworden waren, war es sicher ein spezielles Grauen, zu einer Truppe zu gehören, die immer wieder solche Verbrechen wie oben beschrieben beging. Viele allerdings waren sogar ganz zufrieden mit ihrer neuen Situation: eine Beschwerde einiger Rekruten, die die Kommission wiedergibt, lautete, dass sie entgegen ihrer Erwartungen als Arbeiter beim Festungsbau anstatt als Soldaten eingesetzt worden waren; und sonst wurden vor ihr kaum Beschwerden von Soldaten vorgebracht. E. D. Morel zitiert in seinem Buch über die Kongogräuel eine eidliche Aussage vor einem britischen Beamten von zwei Afrikanern aus britischen Gebieten, die eine Zeitlang im Kongo gewesen waren, laut der die Offiziere sogar Angst gehabt hätten, ihre Soldaten zu bestrafen: „Die weißen Männer haben so große Angst vor den Soldaten, dass sie sie tun lassen, was immer sie wollen. Sie vergewaltigen, morden und stehlen alles von den Einwohnern, und wenn der Häuptling oder Dorfbewohner sich ihnen entgegenstellen, werden sie oft auf der Stelle erschossen. Die Offiziere wissen das alles, aber sie beachten es nie, weil sie Angst haben, ihre Soldaten zu bestrafen.“ (King Leopold’s Rule in Africa, S. 211)

Letztlich kann man doch sagen, dass die Soldaten der Force Publique zumindest in den meisten Fällen wohl eher Täter als Opfer waren.

Über das alltägliche Leben der Soldaten schreibt die Kommission: „Nämlich sind die Soldaten der Force Publique auch im Allgemeinen gut behandelt, gut versorgt. […] Sie beziehen einen Tagessold von 21 Cent. Jeder Soldat hat das Recht, mit seiner Frau zusammenzuleben und sie überall mit ihm zu nehmen. Außerdem ordnet ein kürzliches Rundschreiben des Generalgouverneurs an, dass die neuen Einberufenen ermutigt werden sollen, bevor sie sich zu ihrer Kompanie begeben, sich eine Frau aus ihrer Heimat zu wählen.“ (Untersuchungsbericht, S. 96)

Oben: Soldatenkantine; unten: Ehefrauen von Soldaten.

Die Dienstzeit dauerte allerdings exzessiv lang: Sieben Jahre im aktiven Dienst, fünf Jahre in der Reserve; auch das war oft Gegenstand heftiger Kritik. Bei den weißen Offizieren dagegen kritisierte man eher, dass sie oft nur kurz im Kongo waren, bevor sie daheim in Europa wieder etwas Besseres fanden; dass sie oft weder die Sprachen noch die Einstellungen der Einheimischen in ihrer Region lernen konnten, bevor sie wieder verschwanden.

Rekrutierung von Arbeitern:

Der Staat, die Gesellschaften und Privatleute hatten natürlich auch gewöhnliche langfristige Angestellte; und auch um ihretwillen gab es diverse Kritik, u. a., dass Einheimische, die kein sehr bestimmtes Zeitgefühl hatten, sogar schon Kinder, dazu gebracht wurden, Verträge zu unterschreiben, die man ihnen kaum erklärt hatte und an die sie dann jahrelang gebunden waren.

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Arbeiter im Kongo, 1888.

Ein Vertrag konnte für bis zu sieben Jahre abgeschlossen werden und musste eigentlich vor einem Richter (oder einem Vertreter des Richters) unterzeichnet werden, von denen es aber sehr wenige im Land gab, damit sichergestellt war, dass der Arbeiter die Bedingungen kannte und verstand. Das Gesetz wurde im Niederkongo (einem kleinen Gebiet an der Küste) eingehalten, wo eine strengere Aufsicht geübt wurde, im wesentlich größeren Oberkongo aber nicht.

V. a. für Großprojekte wie den Bau von Eisenbahnlinien und Straßen wurden auch zwangsweise Arbeiter rekrutiert; Ähnliches wie bei der irregulären Zwangsrekrutierung von Soldaten trifft hier zu, auch hier gab es anfangs Prämien für Agenten, die auf welche Weise auch immer Arbeiter herschafften, und man verlangte die Stellung von Arbeitern manchmal als Strafe oder Lösegeld, oder hielt sogar einfach Einheimische, die zum Posten gekommen waren, um Kautschuk zu liefern, fest und zwang ihnen einen Arbeitsvertrag auf. Diese Zwangsarbeit konnte mehrere Jahre dauern, und einige kehrten nie wieder heim, da die Todesrate bei solchen Großprojekten angesichts der anstrengenden Arbeit, der schlechten Arbeitsbedingungen, des Klimas und der Tropenkrankheiten hoch war. Zwangsarbeiter erhielten einen Lohn von 3-6 Franken im Monat plus Verpflegung.

Noch von der Situation 1904/1905 berichtet die Untersuchungskommission: „Als die Untersuchungskommission in Stanleyville ankam, fand sie dort dreitausend beim Bau der Sektion Stanleyville-Ponthiervielle der Eisenbahnstrecke der Großen Seen beschäftigte Arbeiter, die auf obrigkeitliche Anordnung in der Ostprovinz rekrutiert worden waren, und von denen nur manche einen regulären Vertrag hatten.“ (Untersuchungsbericht, S. 101)

Hausangestellte oder Matrosen für die Flussdampfer fanden sich relativ leicht auf dem freien Markt; aber bei anderen Arbeiten war der Rückgriff auf Zwangsarbeit nicht selten.

Vormundschaft über Waisenkinder:

Dann wurde noch das System der staatlichen Vormundschaft über Waisenkinder angeprangert. Ein Dekret (hier findet sich eine englische Übersetzung) legte fest, dass der Staat die Vormundschaft haben sollte über „Kinder, die bei der Ergreifung oder Zerstreuung einer Sklavenkolonne befreit werden, über jene, die als flüchtige Sklaven seinen Schutz erbeten, über im Stich gelassene, ausgesetzte oder verwaiste Kinder, und über solche, deren Eltern nicht ihre Pflicht des Unterhalts und der Erziehung erfüllen“. (An sich ein sinnvolles Dekret, wie viele Dekrete des Kongo-Freistaats in der Theorie und auf dem Papier sinnvoll waren.) Für diese Kinder gründete der Staat Schulen – auf Französisch als „colonies scolaires“ (Schulkolonien), auf Englisch als „settlement schools“ bezeichnet -, in denen sie eine schulische, handwerkliche und militärische Ausbildung erhielten. Nach dem Ende ihrer Schulzeit traten sie als Handwerker, Dienstboten, Übersetzer, Soldaten usw. in den Dienst des Staates.

Die Kritik betraf folgende Punkte:

  • Am gravierendsten war die Auswahl der Kinder: Als es keine Sklavenkolonnen mehr gab, aus denen Kinder befreit wurden, der Staat aber weiterhin gut ausgebildete Angestellte und Elitesoldaten aus seinen Schulkolonien beziehen wollte, wurden oft Waisenkinder dorthin gebracht, die noch Verwandte hatten, die für sie gesorgt hätten, d. h. Kinder wurden ihren Familien weggenommen, damit der Staat Elitesoldaten für die Force Publique bekam. [Update: Ich bin allerdings nicht mehr sicher, ob diese Kritik vollkommen zutrifft; es gibt auch Berichte aus dem Kongo, wonach Waisenkinder zwar für gewöhnlich noch Verwandte hatten, aber von diesen oft wie Arbeitssklaven behandelt wurden, dass es ihnen also in den Schulen tatsächlich besser gegangen wäre.]
  • Die Vormundschaft des Staates über die Waisen dauerte, bis sie 25 (!) Jahre alt waren, obwohl sie ab 14 die Schule verlassen konnten, wenn sie die drei Jahre Schulzeit beendet hatten.
  • Die Löhne derer, die nach der Schule als Arbeiter (statt als Soldaten) beim Staat waren, waren eher gering in Anbetracht ihrer Ausbildung; die Schulabgänger würden unzufrieden und verbittert und von anderen Einheimischen verspottet und kein Einheimischer würde seine Kinder freiwillig in diese Internate geben (was auch möglich war), meint die Untersuchungskommission dazu.
  • Die Schule in Boma war schlecht finanziert und die Schüler hatten zunächst keine anständigen Unterkünfte, sondern schliefen in Bambushütten; um bessere Gebäude zu bauen, musste der Schuldirektor die Kinder selbst die Bauarbeiten erledigen lassen.

Es gab allerdings nur zwei solche staatliche Schulen (in Boma und Nouvelle-Anvers); anderswo wurden die Waisen vom Staat Missionsschulen anvertraut; hauptsächlich katholischen (Belgien war katholisch).

Laut der Untersuchungskommission trafen hier dieselben Kritikpunkte bzgl. der Auswahl der Waisenkinder zu, auch wenn die Unterkünfte gut seien, die Schüler einen guten Eindruck machen würden, und der Eifer der Missionare beim Unterricht gelobt wird. In den Schulen der Missionsstationen gab es ebenfalls eine schulische und berufliche Ausbildung, allerdings keine militärische.

Ein öfter vorgebrachter Vorwurf gegen die katholischen Missionare lautete, dass sie vor den Gräueltaten außerhalb ihrer Stationen häufig die Augen schlössen und manchmal auch die Aussagen der englischen oder amerikanischen protestantischen Missionare darüber als Verleumdungen bezeichneten. Die Situation ist allerdings nicht so einfach. Es waren insgesamt nicht sehr viele Missionare im Land, und keine Konfession hatte überall Stationen. Die protestantischen Missionare hatten ihre Stationen nun tendenziell in Gebieten mit vielen Missbräuchen, nämlich im Gebiet der ABIR-Gesellschaft, von Mongala und des Leopold-II-Sees, und reisten auch mehr umher; die katholischen Missionare hatten ihre Stationen tendenziell eher in bessergestellten Gebieten. Der Kongo war ein extrem großes, dünn besiedeltes Land, in dem Informationen nicht schnell reisten; ein Missionar im Gebiet der Stanley Falls bekam einfach nichts davon mit, wenn im Gebiet der ABIR-Gesellschaft ein Massaker begangen wurde. Dazu kam, dass der Staat seine Agenten anwies, mit brutalen Aktionen im Umfeld von Missionsstationen generell vorsichtig zu sein. So hieß es in einem Rundschreiben der Regierung von 1903: „Ich empfehle Ihnen, in der Umgebung der Missionsstationen, noch mehr als sonst überall, alles zu vermeiden, was für gewaltsames Vorgehen in Bezug auf die Einheimischen gehalten werden könnte. […] Ich empfehle Ihnen die größte Vorsicht in Ihrem Verhältnis zu den Missionaren jeder Konfession. Sie müssen es sich zur Regel machen, nie irgendeine Frage mit ihnen zu diskutieren.“ (Quelle: Arthur Vermeersch, La question congolaise, Brüssel 1906, S. 281, Fußnote 1, meine Übersetzung) Natürlich war das nicht überall der Fall; auch manche katholische Missionare bekamen Gräueltaten mit, und wandten sich dann oft auch mit Beschwerden an die Verwaltung und Gerichtsbarkeit und hatten teilweise kleine Erfolge. Was allerdings stimmt, ist, dass die katholische Seite irgendwie viel zögerlicher dabei war, die Verbrechen vor der Öffentlichkeit anzuprangern, als noch nicht viel davon bekannt war. Viele der Missionare waren Belgier, die ihr Land wohl nicht von Ausländern in Misskredit gebracht sehen wollten; vielleicht teilten sie die Meinung vieler anderer Belgier, dass es sich (auch) um eine Kampagne Englands handle, das den Kongo einfach nur für sich wolle (s. Teil 3) und meinten, die Probleme würden intern schon nach und nach gelöst werden; vielleicht hatten sie als Belgier mehr Vertrauen darin, dass die Gräueltaten nur vereinzelt und vorübergehend wären und die Regierung endlich etwas dagegen tun würde; vielleicht wollten sie auch nicht riskieren, Schwierigkeiten mit dem Staat zu bekommen und ihr (ja für die Kongolesen sehr nützliches) Wirken im Kongo ganz aufgeben zu müssen; vielleicht hielten sie es auch nicht für zielführend, sich an die Presse zu wenden. Dennoch: Am Ende waren es die Proteste der protestantischen Missionare, die eine Änderung bewirkten, und der Erfolg wäre vielleicht rascher gekommen, wenn sie sich auch angeschlossen hätten. Den katholischen Missionaren wird man wohl keine Böswilligkeit unterstellen können – sie waren ja, anders als andere Europäer, ohne jede Hoffnung auf persönlichen Gewinn und nur aus religiösen und humanitären Motiven ins Land gekommen – , aber wahrscheinlich schon zu wenig Einsatz und zu viel Rücksicht auf den Staat und den König.

Bodengesetzgebung und Handelsfreiheit:

Da, wie bereits erwähnt, alles nicht genutzte Land als Staatsland galt, behandelten manche Postenchefs es als widerrechtliches Betreten von Privatgrund, wenn Einheimische ohne Erlaubnis über das Staatsland zogen, um sich zum Beispiel an anderen Orten niederzulassen, wo sie den Abgaben entgehen konnten, oder sich auch nur einige Zeit von ihrem Dorf entfernten (solche Einheimische wurden dann evtl. verhaftet, zurückgebracht und manchmal ausgepeitscht).

Auch die Früchte des Landes galten ja als Staatseigentum, also konnte sogar jemand, der im Wald Früchte pflückte, als Dieb behandelt werden. Letzteres wurde nicht unbedingt so streng durchgesetzt; fast überall hatte man den Einheimischen das Recht überlassen, z. B. die Früchte der Ölpalme zu pflücken und auch damit zu handeln. Dass sie mit Kautschuk und Elfenbein (also den wirklich wertvollen Rohstoffen) mit unabhängigen Händlern handelten, hatte man freilich sehr schnell unterdrückt und so auch fast alle unabhängigen Händler aus dem Land vertrieben.

Dazu hatte der Staat sich oft geweigert, Händlern oder sogar Missionaren Teile „seines“ Landes für Niederlassungen zu verkaufen; so hatte es auch weniger Zeugen der Verbrechen gegeben.

Opferzahlen

Wie kommt es dazu, dass heute die „10 Millionen“-Zahl verbreitet wird? Sie kommt von Schätzungen zum Bevölkerungsrückgang im Kongo. Man nahm z. B. eine Schätzung der kongolesischen Bevölkerung von 1924 auf ca. 10 Millionen, und eine weitere Schätzung (genaue Zahlen gab es nicht), dass die Bevölkerung in den Jahrzehnten zuvor um die Hälfte zurückgegangen war (diese Schätzung war wohl ein wenig zu pessimistisch, aber nicht sehr); damit hatte man eine vorkoloniale Bevölkerungszahl von 20 Millionen, und seine 10 Millionen Opfer. Diese Zahl wurde z. B. von dem amerikanischen Journalisten Adam Hochschild in seinem Buch „King Leopold’s Ghost“ aus dem Jahr 1998 verbreitet.

Der Bevölkerungsrückgang geschah allerdings nicht nur der Verbrechen wegen.

Der Hauptgrund – bei weitem – war die Schlafkrankheit, die durch die Tse-Tse-Fliege verbreitet wird und die in dieser Zeit stark ausbrach und für die es noch keine Heilung gab; an zweiter Stelle kamen die Pocken, die es dort auch schon länger gab. Nicht nur waren die Todesraten wegen häufiger Krankheiten hoch, auch die Geburtenraten waren in dieser Situation niedrig.

Natürlich kamen dieser Grund und die Verbrechen zusammen: Verarmung, Angst und extreme Unsicherheit stärken sicher nicht das Immunsystem und man kann davon ausgehen, dass die Ansteckungsraten und Todeszahlen unter anderen Umständen geringer hätten ausfallen können. Es kamen zwar mit dem Kolonialismus allmählich allererste Ansätze einer Verbesserung der Krankenversorgung (Missionare aller Konfessionen bemühten sich um die Isolierung und Pflege von Kranken, der Staat brachte die Pockenimpfung mit sich, und Beamte wurden angewiesen, das schwarze Personal auf den Stationen und die Bewohner der umliegenden Dörfer impfen zu lassen; in Leopoldville wurde ein bakteriologisches Institut eingerichtet, in dem die Schlafkrankheit erforscht wurde), aber dennoch: In dieser Zeit gab es für die allermeisten Kongolesen immer noch sehr wenig Versorgung (es gab nur wenige Missionsstationen und Krankenhäuser im Land, und manche davon waren arm und recht primitiv), vor allem die Schlafkrankheit wütete enorm, und selbst wenn diese Kranken gut versorgt wurden, konnten sie nur selten geheilt werden; die Schlafkrankheit endete meistens tödlich. Auch diejenigen, die die Verbrechen anprangerten, erkannten das oft an; der britische Konsul Casement beispielsweise erwähnt sehr wohl die große Rolle der Schlafkrankheit.

Dazu kamen andere Ursachen.

Viel Bevölkerungsrückgang in bestimmten Regionen – denn es gab ihn nicht überall – ist nicht dem Tod, sondern der Abwanderung der Einwohner anzulasten; das betrifft z. B. Uferregionen im Oberkongo. Man zog in unerschlossene Regionen, wo man den Abgaben entkommen konnte (davon gab es noch einige), oder auch in die benachbarte französische Kongo-Kolonie (von Leopoldville aus beispielsweise musste man nur den Fluss überqueren, um nach Brazzaville zu kommen) oder andere Kolonien. Ein Teil der Abwanderung aus diesen Uferregionen ist auch einer eigentlich guten Ursache anzulasten: Die Einwohner dort hatten sich früher Wohlstand durch den Sklavenhandel erworben, und den konnten sie jetzt nicht mehr ausüben. Der Wegzug von Sklaven, die es jetzt einfacher hatten, wieder zu ihren eigenen Stämmen zurückzukehren, kam dazu.

Dazu kamen häufige Abtreibungen, die das Bevölkerungswachstum hemmten. Die Kommission schreibt dazu:

„Protestantische Missionare sagten uns, dass die Frauen es vermeiden würden, Kinder zu bekommen, um imstande zu sein, im Fall militärischer Expeditionen leichter zu fliehen. Die Tatsache der Abtreibungen ist gesichert, aber sie ist einer abergläubischen Idee zuzuschreiben, die von den Fetischisten [d. h. denen, die einheimischen Religionen mit sog. Fetischen folgten], gegen die die Missionare aller Konfessionen sich bemühen zu kämpfen, und laut der der Ehemann und die Ehefrau sich dem Tod aussetzen würden, wenn sie sexuelle Beziehungen hätten, während das Kind, das sie in die Welt gesetzt haben, noch nicht abgestillt ist. Nun, da die Stillzeit zwei bis drei Jahre lang dauert, erklärt dieser tief verwurzelte Glaube sowohl die vergleichsweise beachtlich geringe Kinderzahl, die man in manchen Regionen beobachtet, als auch das Fortbestehen der Polygamie.

Aus dem Gesagten muss man nicht schließen, dass die Bevölkerung überall zurückgeht oder die Verbindungen überall unfruchtbar sind. Wir haben insbesondere feststellen können, dass in den Becken des Lopori und des Maringa wie auch an den Ufern des Kongo von Mobeka bis zu den [Stanley] Falls die Dörfer zahlreich und bevölkerungsreich und die kleinen Kinder zahlreich sind.“ (Untersuchungsbericht, S. 85f.)

Aber wenn man alle anderen Gründe für den Bevölkerungsrückgang herausrechnet: Wie hoch war dann die Zahl der Opfer? Das weiß man schlicht nicht. Die Quellen geben wohl zu wenig her; niemand rechnete genau nach. Man kann mit Sicherheit sagen, dass nicht die Hälfte der Bevölkerung ausgerottet wurde; aber halbwegs genaue Schätzungen habe ich jedenfalls nirgends gefunden.

Dass man manchmal sogar von 15 Millionen Opfern liest, kommt daher, dass manche spekulierten, eigentlich hätte die Bevölkerung ja in dieser Zeit noch wachsen müssen, also wäre Leopold für mehr Opfer verantwortlich. Das ist unsinnig; in Schwarzafrika gab es in dieser Zeit nirgends das Bevölkerungswachstum, das in Europa durch medizinischen Fortschritt und gute Nahrungsmittelversorgung möglich geworden war; das kam erst im Lauf der späteren Kolonialzeit.

Was Henry Morton Stanleys Schätzung der Bevölkerungszahl in den 1880ern angeht, die man auch manchmal liest: Stanleys Kalkulationsmethode war nicht gerade sinnvoll. Er hatte die Bevölkerung an den Flüssen, die er bereist hatte, auf etwa 806.000 abgeschätzt, war dann einfach davon ausgegangen, dass die Bevölkerungsdichte überall gleich sein müsste, und hatte die Zahl auf das ganze Kongo-Gebiet hochgerechnet. Mit dieser Berechnung wäre er eigentlich auf 27 Millionen gekommen; weil er auch noch einen Rechenfehler machte, kam er auf 42 Millionen. (Der französische Übersetzer seines Buches korrigierte die Zahl nach unten auf 27 Millionen, weshalb man mal die eine und mal die andere Zahl lesen konnte, aber auch diese Zahl war eben nicht belegt; es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass die Bevölkerung anderswo zwangsläufig genauso groß war wie an den Hauptverkehrswegen.)

Fazit

Ein ausbeuterisches System, starke Belastung, Verarmung und Abwanderung der Bevölkerung in vielen Regionen: Das gab es im Kongo-Freistaat. Viele Verbrechen, so einige Massaker, einen starken Bevölkerungsrückgang aus vielen zusammenspielenden Gründen: Das gab es auch, und es ist gut, darüber Bescheid zu wissen. Verstümmelung und Massakrierung von völkermordartigen Ausmaßen mit 10 oder 15 Millionen Opfern gab es allerdings tatsächlich nicht; und viele der Täter bei den Verbrechen, die es gab, waren nicht Europäer, sondern Afrikaner, die gut mit den schuldigen Europäern zusammenarbeiteten.

Im nächsten Teil dann dazu, wie die Kongogräuel beendet wurden.

Die Kongogräuel, Teil 1: Entstehung und System des Kongo-Freistaats

„König Leopold II. von Belgien hat 10 Millionen Kongolesen getötet“, kann man manchmal lesen, vor allem bei afrikanischen Accounts in den sozialen Medien. „Alle reden über den Holocaust, aber keiner kennt unseren Völkermord“.

Image

Manchmal wird aus der Zahl auch gleich mal 15 Millionen gemacht.

KING LEOPOLD II HEINOUS AND BARBARIC GENOCIDE OF THE PEOPLE OF THE CONGO -  Nubian Planet

Beide Zahlen sind aus der Luft gegriffen und nicht haltbar; dasselbe gilt für ein paar andere Vorstellungen über die Kongogräuel. Weil aber die Kongogräuel anscheinend einen so prominenten Platz im Geschichtsbild vieler Afrikaner einnehmen, habe ich mal einiges an Recherche dazu betrieben, und dachte, ein Artikel wäre angebracht.

Das ist sicher auch interessant für die, die noch gar nie davon gehört haben, dass es sie überhaupt gab; auch das ist ja gut zu wissen. Denn schlimm genug waren sie ja.

Es geht hier auch nicht um „Verharmlosung“, sondern einfach um Richtigkeit; wenn jemand sagen würde „Hitler hat 14 Millionen Juden ermorden lassen“ oder „Franklin D. Roosevelt hat japanische Immigranten in Todescamps einsperren lassen“, würde ich auch antworten „nein, es waren nur 6 Milionen“, beziehungsweise „nein, es waren einfach Internierungslager, dort wurde niemand getötet“.

[Um klarzumachen, woher ich habe, was ich schreibe, und für den Fall, dass jemand Dinge selbst nachlesen will: Zu meinen Hauptquellen gehören „Congo. Mythes et réalités“ von dem belgischen Historiker Jean Stengers (Éditions Racine, Brüssel 2005), der ausführliche Bericht einer Untersuchungskommission von 1905, den es online hier gibt (mehr zu der Kommission unten) und eine „Studie über die Situation des Kongofreistaats“, die ein im Kolonialrecht spezialisierter belgischer Jurist von der Universität Brüssel, Felicien Cattier, im Jahr 1906 ein wenig nach dem Untersuchungsbericht veröffentlichte, und in der er dessen Vorwürfe ein Stück weit verschärfte und präzisierte und radikalere Lösungen vorschlug..

Außerdem habe ich von der Seite der vorherigen Aktivisten gegen die Verbrechen im Kongo-Freistaat den „Casement Report“ des britischen Konsuls Roger Casement von 1904 gelesen (unter dem Link finden sich auch Entgegnungen der kongolesischen Regierung darauf und einige weitere Dokumente, z. B. Prozessakten), das Buch „King Leopold’s Rule in Africa“ des britischen Journalisten E. D. Morel von 1904, die Novelle „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad aus dem Jahr 1899, den offenen Brief des afroamerikanischen Missionars George Washington Williams an König Leopold II. von 1890, und das satirische Pamphlet „King Leopold’s Soliloquy“ von Mark Twain (2. Ausgabe, 1905). Als milder kritischen Text dann noch den Artikel über den Kongo in der amerikanischen „Catholic Encyclopedia“, der 1908 von dem belgischen Jesuiten Arthur Vermeersch verfasst wurde, und sein Buch „La question congelaise“ von 1906. Von der Seite seiner Verteidiger (abgesehen von den Entgegnungen auf den Casement Report) habe ich noch das ausführliche Buch „The story of the Congo Free State; social, political, and economic aspects of the Belgian system of government in Central Africa“ von Henry Wellington Wack, 1905, herangezogen. Für etwas mehr Hintergrundwissen über das spätere Grundgesetz von Belgisch-Kongo habe ich noch „Belgique et Congo: L’élaboration de la Charte Coloniale“, auch von dem Historiker Jean Stengers, gelesen.

Alle Zitate sind von mir übersetzt; die verwendeten Fotos stammen entweder aus Wacks Buch, aus Morels Buch, aus Cattiers Buch oder von Wikimedia Commons..]

Jedenfalls komme ich in dieser kurzen Artikelreihe zu folgenden Punkten:

  • Was war der Kongo-Freistaat, wie sah sein grundsätzliches System aus, das zu den Verbrechen führte?
  • Welche Verbrechen gab es? Woher kommt die „10 Millionen“-Zahl und wieso ist sie falsch?
  • Wie reagierte Leopold II. darauf (und wie reagierte die Öffentlichkeit in Europa)? Was wurde unternommen, wie endeten die Kongogräuel?

Heute erst mal nur das ganze Vorgeplänkel zu Entstehung und System des Kongo-Freistaats, das man braucht, um die Situation zu verstehen; morgen dann weiter mit Punkt 2.

Völlig aus der Luft gegriffen ist die ganze Geschichte wie gewöhnlich nicht; es gab im damaligen Kongo sehr viele Missstände und so einige Verbrechen, wenn auch nicht mit einer solchen astronomisch hohen Opferzahl. Dennoch war der Kongo eine Zeitlang definitiv die Kolonie in Afrika, in der die schlimmsten Zustände herrschten. Aber fangen wir am Anfang an. Die Geschichte des Kongo-Freistaates – später Belgisch-Kongo, heute Demokratische Republik Kongo – beginnt mit einem Mann: Leopold II.

König Leopold II. von Belgien.

Schon als Kronprinz von Belgien war Leopold fasziniert von den Kolonien, die andere Länder besaßen, und ganz besonders vom niederländischen Java, das, anders als andere Kolonien, Mitte des 19. Jahrhunderts einen schönen Profit für das Mutterland abwarf. Mit dieser Faszination stand er allein da: Weder das belgische Volk noch die belgischen Politiker interessierten sich groß für seine als abwegig und riskant gesehenen „Kolonialträumereien“. Er dagegen war fest überzeugt von der Notwendigkeit und vom wirtschaflichen Nutzen von Kolonien. Seine Motive waren Ruhm und Wohlstand für Belgien; sein kleines Belgien wollte er groß machen.

Zuerst richteten sich Leopolds Blicke auf den fernen Osten; er sorgte für Expeditionen im Pazifik, wollte den Niederlanden Borneo abkaufen, usw. usf. Alle diese Versuche verliefen im Sand; und schließlich sah er (der im Grunde nicht wählerisch war und davon überzeugt war, dass jede richtig verwaltete Kolonie sich lohnen müsste) auf Afrika. Weil der Rest Belgiens, das eine konstitutionelle Monarchie war, in der der Monarch an strenge Regeln gebunden war, an die er sich übrigens vorbildlich hielt, sich noch immer nicht für Kolonien interessierte, ergriff Leopold kurzerhand als Privatmann die Initiative; freilich als Privatmann, der den Vorteil hatte, nebenbei König zu sein. Hinter der jetzt von ihm gegründeten „Association Internationale du Congo“ (AIC; „Internationale Kongo-Gesellschaft“) stand ganz einfach nur Leopold II. „In Belgien kann er nicht den Direktor einer Musikschule ohne die Gegenzeichnung eines Ministers ernennen. Aber er konnte zur selben Zeit ein Reich errichten, ohne mit seinen Ministern darüber zu sprechen.“ (Stengers, Jean: Léopold II et la fondation de l’État Indépendant du Congo, in: Ders.: Congo. Mythes et réalités, Brüssel 2005, S. 45-85, S. 51.)

Location of Congo Free State
Der Kongo-Freistaat und Belgien (beide grün eingefärbt).

In Afrika hatte Leopold einen berühmten und fähigen Mittelsmann gefunden, Henry Morton Stanley, einen Entdeckungsreisenden, der im Allgemeinen einen Ruf für Brutalität genoss; bei diesem Auftrag verhielt er sich allerdings recht brav und gewaltlos. In Leopolds Auftrag schloss Stanley Verträge mit einheimischen Häuptlingen, die ihm Souveränität über ihre Gebiete abtraten; sie versprachen sich wohl einen mächtigen Verbündeten in den Europäern, wenn ihnen überhaupt genau bewusst war, was sie unterschrieben; außerdem hatte man sie mit technischen Tricks beeindruckt und von der magischen Macht der Weißen überzeugt und sie mit Geschenken (wie z. B. Stoffen) bestochen, die in Europa nicht viel wert waren. (Wer wissen will, wie diese Verträge aussahen, kann hier vier Beispiele finden. Diese wurden noch vom Comité d’Études du Haut-Congo („Oberkongoforschungskommittee“), Vorgängerorganisation der AIC, abgeschlossen.) Wie bedeutend Stanleys Rolle am Anfang war, kann man schön daran sehen, dass die Einheimischen die neue Regierung später als „Bula Matadi“ oder „Bula Matari“ bezeichneten, was zunächst ihr afrikanischer Name für Stanley persönlich gewesen war (etwa: „Steinebrecher“, wegen seines Straßenbaus auf seinen Expeditionen). Zuerst dachte Leopold nur an kleinere souveräne Stationen und Gebiete für sich; dann erst an einen Flächenstaat.

Henry Morton Stanley.

Bei den anderen europäischen Mächten galt Leopold als humanitärer, guter Monarch, sogar eher als zu weltfremder, träumerischer Idealist; seinen Plan für die Kolonie im Kongo-Gebiet vermarktete er als Projekt der Zivilisierung, der Humanität; als Plan zur Abschaffung der Sklaverei und zur Befriedung des Gebiets (das enorm unter Stammeskriegen und Sklavenrazzien der von Ostafrika her eindringenden Araber litt). Die AIC verglich er mit dem Roten Kreuz. „Das ist keine pure Heuchelei: es ist einfach das Herausstellen eines Teils dessen, was er tut, und die Verschleierung des Rests (der ’speziellen Unternehmung‘), der allerdings ohne jeden Zweifel in seinen Augen das wichtigste ist.“ (Stengers, Jean: Léopold II et la fondation de l’État Indépendant du Congo, in: Ders.: Congo. Mythes et réalités, Brüssel 2005, S. 45-85, S. 60.)

Auf der Berlin-Konferenz 1884/85 wurde die AIC von zahlreichen anderen Staaten als souveräner Staat anerkannt; die USA und das Deutsche Reich hatten sie schon kurz vorher anerkannt. Auf der Konferenz einigten sich diverse europäische Mächte und das Osmanische Reich auf Prinzipien bei der Kolonialisierung Afrikas. Oft ist die Vorstellung verbreitet, hier wäre Afrika aufgeteilt worden, aber um konkrete Territorialansprüche ging es fast gar nicht; eher einigte man sich auf Prinzipien wie Handelsfreiheit in großen Gebieten oder dass Herrschaftsansprüchen eine reale Okkupation zugrunde liegen musste, auch noch auf solche Dinge wie die Religionsfreiheit und die Unterdrückung des Sklavenhandels innerhalb Afrikas. Die Generalakte findet sich hier. Leopold sagte zu, aus dem Kongo-Gebiet einen Staat mit größtmöglicher Handelsfreiheit und ohne Zölle zu machen; die allgemeine Ansicht war, dass Handelsfreiheit die Entwicklung Afrikas befördern würde.)

1885 wurde aus der AIC der „Kongo-Freistaat“, dessen absoluter Souverän Leopold war und es bildeten sich dessen Grenzen heraus – zumindest auf dem Papier, denn einen großen Teil dieses riesigen Gebiets hatten noch gar keine Abgesandten Leopolds betreten. Er selbst setzte übrigens nie einen Fuß auf kongolesischen Boden, auch wenn er sehr stolz auf sein „Werk“ war und sich nicht nur als absoluter Souverän, sondern quasi als Besitzer des Kongo sah.

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Einheimische im Kongo, 1888.

Die Vorgehensweise bei der Aufrichtung des Kongo-Freistaats war ähnlich wie bei anderen afrikanischen Kolonien: Man errichtete Kolonialposten, weit verstreut in einem riesigen Gebiet (dabei folgte man hier meistens den großteils schiffbaren Flüssen), bemannt mit sehr wenigen europäischen Beamten und Offizieren, die das Klima und die Tropenkrankheiten schlecht vertrugen, und vielen angeheuerten afrikanischen Soldaten und Angestellten; man arbeitete mit den Häuptlingen zusammen, mit denen man Verträge geschlossen hatte, setzte aber auch missliebige Häuptlinge ab und beanspruchte schnell eine stärkere Souveränität über das Gebiet, als sie wohl vorhergesehen hatten. Die Kolonialisierung des Kongo spielte sich sehr friedlich ab, es gab relativ wenig Widerstand; die Zeit der Gewalttaten kam später. Zeitgleich kamen auf eigene Faust einige Missionare verschiedener Konfessionen und private Händler in das Gebiet und errichteten ihre eigenen Stationen und Häuser, natürlich auch angewiesen auf die Infrastruktur der Kolonialregierung.

Die Hauptstadt des Kongo-Freistaats wurde die Hafenstadt Boma (Niederkongo) nicht weit von der Mündung des Kongo; wichtige Posten im Inland, im mit Dschungel bedeckten Oberkongo, waren Leopoldville (das heutige Kinshasa, die Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo) und Stanleyville (das heutige Kisangani).

Pier von Boma, 1899.

Nun war der Kongo-Freistaat nicht völlig anders als andere afrikanische Kolonien des späten 19. Jahrhunderts und teilte auch manche ihrer typischen guten Seiten. Er unterband den Sklavenhandel tatsächlich allmählich (arabische Händler importierten zu dieser Zeit noch massenhaft Sklaven über das heutige Tansania, das in dieser Zeit zu Deutsch-Ostafrika wurde, und die Insel Sansibar; und auch die Kongolesen selbst beteiligten sich als Zulieferer an diesem Handel oder fingen für den Eigenbedarf Sklaven aus anderen Stämmen) und führte 1892-1894 erfolgreich Krieg gegen die Sklavenhändler Rumaliza und Sefu Bin Hamed im Osten des Kongo-Gebietes. Die Ankläger des Kongo-Freistaats meinten später, er habe sich hier einfach einer Konkurrenz entledigt.

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Die Sklaverei unter den Einheimischen selbst wurde nicht sofort verboten, aber Sklaven hatten es jetzt leichter, einfach zu ihren eigenen Stämmen zurückzukehren.

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Francis Dhanis, Anführer auf der Seite des Kongo-Freistaats im Krieg von 1892-1894.

Die Kriege zwischen den Stämmen fanden in dieser Zeit tatsächlich meistens ein Ende, und auch gegen Praktiken wie den Kannibalismus oder das lebendige Begraben von Sklaven als Opfer bei Häuptlingsbegräbnissen ging man nach und nach vor; wobei die Kritiker des Kongo-Freistaates ihm gerade vorwarfen, dabei zu wenig zu spät zu tun. („Grausamkeiten der bestürzendsten Sorte werden von den Einheimischen praktiziert, wie etwa, dass Sklaven im Grab eines toten Häuptlings lebendig begraben werden, dass bei einheimischen Kämpfen gefangen genommenen Kriegern die Köpfe abgeschnitten werden, und keine Anstrengung wird von der Regierung Eurer Majestät unternommen, um sie zu verhindern“, schreibt der Afroamerikaner George Washington Williams im Jahr 1890 über den noch jungen Kongo-Freistaat. Das menschliche Leben galt im Kongo nicht als besonders wertvoll. Auch der Kannibalismus war keine Erfindung von Rassisten; selbst vor relativ kurzer Zeit gab es in den kongolesischen Bürgerkriegen noch einzelne Berichte von kannibalistischen Verbrechen bantustämmiger Kongolesen an Pygmäen.)

In vieler Hinsicht allerdings wurden die Zustände im Kongo-Freistaat bald wesentlich schlimmer als irgendwo anders in Afrika, und hier kommen wir jetzt zu den Vorwürfen von den sog. „Kongogräueln“. Daher zu den im System des Kongo-Freistaats liegenden Gründen.

Wirtschaftliche Interessen trieben natürlich den Kolonialismus immer an, jedenfalls zu einem gewissen Teil (es gab noch einige Motive mehr; Ehre und Einfluss für das eigene Land, in-Schach-Halten anderer Länder; ehrliche Wünsche nach der Durchsetzung europäischer Werte, z. B. Verbreitung des Christentums, „Zivilisierung“/Industrialisierung, im 19. Jh. die Abschaffung des Sklavenhandels); man wollte je nach Kolonie exotische Importgüter, Absatzmärkte für eigene Produkte, Siedlungsgebiete für die eigene überschüssige Bevölkerung, usw. usf. Es war in den letzten 500 Jahren auch oft so, dass Kolonialisierung durch staatliche oder halbstaatliche Handelskompanien vorangetrieben wurde. Der Kongo-Freistaat aber war mehr als andere Kolonien einfach nur ein Wirtschaftsunternehmen. Im Kongo gab es mehrere Rohstoffe zu holen: Kopal, Elfenbein, auch einige Bodenschätze, die erst nach und nach gefunden wurden, aber vor allem Kautschuk zur Gummiproduktion, ein milchiger Saft, den man durch das Anritzen der Kautschukbäume bzw. -lianen gewinnt, die im kongolesischen Urwald zahlreich wuchsen. Leopold hatte das nicht wirklich vorhergesehen; es stellte sich erst nach und nach heraus, wie reich das Land war (zuerst hatte man mehr auf Elfenbein als auf Kautschuk gesetzt).

Arbeiter zu gewinnen war im Kongo generell nicht immer leicht; die Kongolesen lebten relativ anspruchlos und interessierten sich nicht sehr für regelmäßige Lohnarbeit, auch wenn sie gelegentlich schon Kautschuk oder Elfenbein an private Händler verkauft hatten; und ständig Arbeiter aus Sansibar, dem Senegal, Lagos oder Sierra Leone anzuwerben, wie man es anfangs für den Eisenbahnbau tat, war teuer.

Aber vor allem war Leopold schlicht und einfach daran interessiert, so schnell wie möglich so viel Gewinn wie möglich aus seinem Land herauszuholen, und von Anfang an vom Nutzen von Zwangsarbeit überzeugt gewesen. Er führte also ab 1891/92 folgendes System ein: Alles nicht effektiv bebaute Land (also alles außer den Siedlungen und Feldern der Einheimischen; auch das Land, das sie z. B. als Gebiet zum Jagen und Sammeln benutzt hatten) hatte als Besitz des Staates zu gelten, und die Einheimischen wurden zwangsweise herangezogen, um es zu erschließen und dem Staat Abgaben zu liefern. Zuerst war das Ganze nicht wirklich geregelt; erst als ein Gericht in Boma feststellte, dass es eine gesetzliche Grundlage für Abgaben o. Ä. geben musste, wurde 1903 ein Dekret erlassen, laut dem jeder Einheimische für 40 Stunden Arbeit im Monat für den Staat herangezogen werden konnte, quasi anstatt von Steuern, und diese Arbeit musste eben meistens auf dem Staatsland geleistet werden. Leopold hatte deswegen kein schlechtes Gewissen: Er sah es als zivilisatorische Maßnahme und Erschließung des Landes, das er sowieso einfach als seins betrachtete, und Steuern gab es schließlich auch in Europa.

In anderen in dieser Zeit entstehenden Kolonien in Afrika wurden teilweise auch Arbeitspflichten als Steuerersatz eingeführt, aber in viel geringerem Ausmaß. In wieder anderen Kolonien gab es eher (geringfügige) Individual- oder Hüttensteuern, für die sich die Einheimischen durch Arbeit auf dem freien Markt das Geld beschaffen mussten. Es gab auch Mischsysteme: In Mosambik konnte die jährliche Steuer entweder in Geld, Naturalien oder Arbeit gezahlt werden; die Arbeitszeit für die Steuer eines Jahres betrug 12 Tage. Ähnlich sah es in Deutsch-Ostafrika aus. Im ebenfalls deutsch regierten Kamerun betrug die Steuer für einen Erwachsenen pro Jahr 3 Mark. In Französisch-Kongo gab es je nach Region Individualsteuern von 1-3 Franken für Erwachsene oder Hüttensteuern von 2-6 Franken pro Hütte. In Madagaskar hatte Frankreich zuerst Arbeit verlangt und ersetzte das 1901 durch Steuern in Geld, weil es Schwierigkeiten und Missbräuche bei der Durchsetzung der Zwangsarbeit gegeben hatte. Zum Vergleich: Die Menge Kautschuk, die ein Einheimischer in manchen Regionen des Kongo-Freistaats jährlich sammeln musste, konnte u. U. zu einem Preis von mehreren hundert Franken verkauft werden.

Lagerräume für Kautschuk.

Bereits vorher wurde von den Einheimischen oft allerdings sehr viel mehr als 40 Stunden verlangt, und auch das Dekret von 1903 wurde in der Regel nicht umgesetzt; die zuständigen Agenten interessierten sich vor allem dafür, möglichst große Mengen an Kautschuk zusammenbekommen, wie sie ja von oben angewiesen wurden – auch Anfang 1904 erhielten die Distriktkommissare vom Generalgouverneur die Anweisung, dass trotz des neuen Dekrets nicht weniger geliefert werden sollte als vorher, sondern eher nach und nach mehr (es wurden auch immer noch neue Gebiete erschlossen, wo man bisher nicht viel Kontakt zu den Einheimischen gehabt hatte).

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Theophile Wahis, Generalgouverneur 1892-1908.

Die Untersuchungskommission von 1904/1905, die Leopold wegen der Kongogräuel schließlich zulassen musste (in Teil 2 und 3 mehr dazu), schreibt in ihrem Bericht:

„In der Mehrzahl der Fälle muss er tatsächlich alle zwei Wochen einen Marsch von ein oder zwei Tagen und manchmal mehr unternehmen, um sich an den Ort im Wald zu begeben, wo er in ausreichender Anzahl Kautschuklianen finden kann. Dort führt der Sammler während einer gewissen Anzahl von Tagen ein elendes Leben. Er muss sich einen improvisierten Unterstand bauen, der offensichtlich seine Hütte nicht ersetzen kann, er hat nicht die Nahrung, an die er gewöhnt ist, er ist seiner Frau beraubt, den Unbilden des Wetters und den Angriffen wilder Tiere ausgesetzt. Seinen Ertrag muss er zum Posten des Staates oder der Gesellschaft bringen und erst danach kehrt er in sein Dorf zurück, wo er nur zwei oder drei Tage bleiben kann, bis der nächste Termin ihn drängt. Daraus folgt, wie auch immer seine Aktivität im Kautschukwald aussieht, dass der Einheimische wegen der zahlreichen Reisen, die ihm auferlegt sind, den größten Teil seiner Zeit vom Kautschuksammeln in Anspruch genommen sieht. Es ist kaum nötig, anzumerken, dass diese Situation eine krasse Verletzung des Gesetzes von den ‚vierzig Stunden‘ darstellt.“ (Untersuchungsbericht, S. 46)

Während es Ende des 19. Jahrhunderts in der Kolonialpolitik im Allgemeinen als Grundsatz galt, dass staatliche Einnahmen aus den Kolonien in den Kolonien bleiben sollten, wollte Leopold solche Einnahmen für sein Land. „Im kolonialen System, wie es am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts praktiziert wird, gesteht man implizit zu, dass eine Metropole in den Beziehungen mit ihren Kolonien auf ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen pochen kann. Aber was man dennoch für indiskutabel hält, ist, dass sie versucht, aus ihren Kolonien direkte finanzielle Vorteile zu ziehen. Ein praktisch einstimmiges Einvernehmen hat sich über die Ansicht gebildet, dass die kolonialen Finanzen im alleinigen Interesse der Kolonien selbst verwaltet werden müssen.“ (Stengers, Jean: L’État Indépendant du Congo et le Congo belge jusqu’en 1914, in: Ders.: Congo. Mythes et réalités, Brüssel 2005, S. 99-128, S. 110.)

Als das Unternehmen im Kongo – nach sehr hohen Anfangsinvestitionen aus seinem Privatvermögen (im Jahr 1885, als der Staat gerade erst richtig gegründet war, hatte er bereits 11,5 Mio. Francs ausgegeben) und Krediten durch den belgischen Staat in den Jahren 1890 und 1895 – ab Mitte der 1890er Profit abzuwerfen begann, ließ Leopold von diesem Profit Belgiens Städte verschönern und Monumentalbauten errichten. Er hielt das nur für gerecht: Eine Kolonie sollte für ihre Zivilisierung dem Mutterland etwas zurückgeben. Leopolds eigene Kolonialbeamte waren nicht begeistert davon, und auch in Belgien stieß er nicht auf übermäßige Dankbarkeit:

„Die belgische Regierung zeigt die stärksten Vorbehalte gegenüber den königlichen Großzügigkeiten, und damit sie akzeptiert werden, wird der König manchmal Listen anwenden müssen. Um Belgien zum Beispiel den Arcade du Cinquantenaire zu geben, wird er sich hinter fiktiven Spendern verstecken müssen, die er gefunden hatte; als vollendeter Schauspieler wird der König am Tag der offiziellen Zeremonie diesen ‚großzügigen Spendern‘ überschwänglich danken. Die Verwaltung des Kongo ist noch reservierter, und sogar heimlich feindselig. Diejenigen, die im Kongo leben, sehen mit ihren eigenen Augen, wie arm das Land ist, und wie rudimentär seine Ausstattung noch ist; sie sehen den Mangel an Ärzten, an Krankenhäusern, an Transportmitteln; wie sie sich nicht beim Gedanken daran aufregen, dass die kongolesischen Gelder in Mengen von mehreren zehn Millionen für Monumentalbauten in Belgien verwendet werden. ‚Seit langem‘, schreibt ein ehemaliger Kolonialist, ‚ist der Arcade du Cinquantenaire von Brüssel der persönliche Fend der Kolonialisten gewesen.‘ Die Funktionäre der Verwaltung des Kongo in Brüssel teilen in dieser Hinsicht die Gefühle ihrer Kollegen in Afrika. Es wird passieren, wir wissen es, dass sie dem König die Existenz bestimmter Einkünfte aus dem Kongo verbergen, aus Angst, dass er sie sofort in seine großen Werke steckt.“ (Stengers, Jean: L’État Indépendant du Congo et le Congo belge jusqu’en 1914, in: Ders.: Congo. Mythes et réalités, Brüssel 2005, S. 99-128, S. 121f.)

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Arcade de Cinquantenaire, Brüssel. Bildquelle: Wikimedia Commons, eingestellt von Nutzer Marc Ryckaert (MJJR).

Die Gelder, aus denen Großbauten in Belgien finanziert wurden, stammten vor allem aus der „Stiftung der Krone“ (Domaine de la Couronne), einem großen Gebiet im Inneren des Kongo-Freistaats. Die Existenz der Stiftung wurde zuerst mehr oder weniger geheimgehalten, Missionaren o. Ä. der Zutritt dort schwer gemacht, und das System der Zwangsarbeit war dort oft besonders hart. Die Einnahmen vom Rest des Staatslandes blieben eher im Kongo, um dort die Angestellten und Soldaten zu bezahlen, die Posten zu bauen usw.

Die Einheimischen wurden für den Kautschuk bezahlt, z. B. mit Stoffen oder Kupferstäben (das sollte sie auf den Geschmack bringen, regelmäßig zu arbeiten, hieß es); allerdings recht schlecht. Das Gesetz von 1903 legte fest, dass die Bezahlung nicht geringer als der übliche örtliche Lohn sein sollte, was auch für gewöhnlich nicht eingehalten wurde.

Die Arbeit war aus gutem Grund unbeliebt und oft einfach exzessiv; nachvollziehbarerweise bestand nicht viel Lust dazu, den Leuten, die vor kurzem gekommen waren und das Land übernommen hatten, andauernd den Saft irgendwelcher Bäume zu liefern. Die Folge war, dass mit Gewalt gegen Verweigerer oder solche, die einfach nicht genug liefern konnten, vorgegangen wurde; und hier sind wir endlich beim eigentlichen Thema.

Aber dazu, wie gesagt, morgen in Teil 2.

Linkssein: Nicht nur fehlgeleiteter Idealismus

Es herrscht ja bei vielen der Eindruck, linke Ideen wären eigentlich an sich sehr schön, nur leider ein bisschen zu unpraktisch und utopisch; natürlich seien Linke gute Idealisten, aber auch ein bisschen realitätsfremde Träumer. „Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz, wer mit 30 noch Kommunist ist, hat keinen Verstand“ usw. Das ist meines Erachtens ziemlich falsch. Erstens ist schon die linke Theorie verkehrt; sie funktioniert deshalb nicht, weil sie nicht gut ist, nicht der Natur des Menschen entspricht. Aber auch ihre Vertreter sind nicht immer wahnsinnig sympathisch.

[Kurz zur Begriffsdefinition: Mit „Linkssein“ meine ich das ganze Konglomerat, das auf der politisch linken Seite zusammenkommt: Sozialismus (Ablehnung von Privateigentum und Marktwirtschaft in mehr oder weniger klassischer Form; zeigt sich z. B. an einer generellen Begeisterung für Enteignungen / Vergesellschaftungen, an Ideen von „100% Erbschaftssteuer“ o. Ä.); Feminismus im Sinne der Feministinnen, die Abtreibung befürworten und ständig über „toxische Männlichkeit“ schreiben; Anti-Rassismus im Sinne der Critical Race Theory (umgangssprachlich Wokeness), wobei alles und jedes von Rassismus geprägt ist, Weiße automatisch rassistisch sozialisiert sind und es keinen antiweißen Rassismus geben kann, weil Weiße strukturell privilegiert sind; Anti-Faschismus im Sinne der Antifa, wobei alles Faschismus ist, was man nicht mag; Umweltschutz im Sinne der Grünen, wobei oft das Denken dahintersteht, dass die Welt doch ohne Menschen besser dran wäre; usw.]

Ich halte nichts davon, nur mit Psychologisieren gegen Gegner vorzugehen; es gibt, wie gesagt, genug Argumente, die schon gegen ihre Theorien an sich sprechen. Ich habe diesen Artikel nicht geschrieben, weil ich meinen würde, Psychologisieren wäre schon genug, um diese Theorien zu verwerfen, sondern einfach, weil oft der m. E. falsche Eindruck herrscht, dass man mit Linken besonders freundlich und behutsam umgehen und ihnen automatisch gute Motive unterstellen sollte, während man anderen diese Freundlichkeit nicht entgegenbringt. Linke sind nicht automatisch gute Menschen mit irrendem Gewissen. Sicher gibt es einige solche Linke; v. a. die, die nur Mitläufer sind. Aber es gibt erfahrungsgemäß auch viele sehr unsympathische Menschen unter ihnen; und selbst sympathische Leute werden von linken Ideologien oft zu unangenehmeren Menschen gemacht (jedenfalls hat man im normalen Leben und vor allem im Internet diesen Eindruck).

Es stecken in jeder Ideologie irgendwelche guten Motive und irgendwelche (verdrehten) Wahrheiten, sonst könnte sie gar keine Anhänger finden. Aber auch eine Ideologie, in der was Gutes steckt, kann ziemlich falsch sein und ein Cover dafür bieten, böse Impulse ausleben zu dürfen. Bei den Linken kommen, jedenfalls habe ich diesen Eindruck, manchmal folgende zusammen:

  1. Man kann ungehemmt Hass und Aggression ausleben, weil die Gegner zutiefst böse sind. Man selbst ist eindeutig für das Gute, also können die Gegner nicht nur fehlgeleitet sein, sondern sind zutiefst böse Unterdrücker. In jedem sozialistischen Staat waren bzw. sind Geheimpolizei und Gefängnispersonal ungehemmt sadistisch. Man rechtfertigt es damit, dass der Zweck die Mittel heiligt: Man muss das Paradies schließlich möglichst schnell hier auf Erden errichten, weil es kein Leben nach dem Tod gibt, und dafür muss man eben vorerst ein paar Kollateralschäden in Kauf nehmen. (Im Christentum dagegen ist die Feindesliebe vorgeschrieben und man muss auch zu seinen Gegnern gerecht sein, auch Verbrecher verdienen nur verhältnismäßige Strafen, und Unschuldigen gezielt Böses zu tun, um das große Ganze zu retten, darf man schlicht nicht.) Auch dabei, dass man nicht an ein Gericht nach dem Tod glaubt, kann der Wunsch der Vater des Gedankens sein: Man wird sich nie vor jemandem rechtfertigen müssen, der vollkommen gerecht ist und alles weiß.
  2. Vor allem die neueren linken Theorien haben etwas Zerstörungswütiges, Lebensfeindliches: Man ist für Dekonstruktion (d. h. Destruktion), will Sicherheiten erschüttern, Überzeugungen verunklaren, Ordnungen auflösen. Aber es ist eben so: Wenn man alles durchschaut (bzw. scheinbar durchschaut), sieht man am Ende gar nichts mehr. Irgendwo gibt es eine Natur des Menschen, gibt es eine Ordnung in der Welt, die gut ist.
  3. Dazu passt auch die Familienfeindlichkeit des Sozialismus. Familien wurden schon immer als einschränkend gesehen (im Ostblock hatte man bekanntlich Wochenkrippen und dergleichen und früh ein liberales Abtreibungsrecht). Man soll die Leute aus ihren familiären „Zwängen“ „befreien“, was oft dadurch funktioniert, dass die Kinder vom Staat vereinnahmt werden (Olaf Scholz: „Lufthoheit über den Kinderbetten“). Für einzelne ist diese Familienfeindlichkeit zwar oft nachteilig, aber wenn jemand gerade gerne Verantwortung für seine Kinder abgeben will, ist die Verstaatlichung der Kindheit von Vorteil. Und dann heißt es ja manchmal sogar „überhaupt keine Kinder bekommen fürs Klima“, was es sehr leicht macht, nicht über sich hinauszugehen und neuen Menschen das Leben zu schenken. Auch sexuell erlauben die Linken alles, und daraus folgt die Erlaubnis der Abtreibung als Auffangbecken für Missgeschicke, was wesentlich schlimmer ist, als einfach von vornherein keine Kinder entstehen zu lassen. Und wenn einer sogar lieber das Leben anderer Menschen gewaltsam beendet, als ein bisschen Kontrolle über seine Lebenspläne abzugeben, aber sich dabei sagen will, dass er das Richtige für die Menschheit tut, hilft ihm die „Keine Kinder wegen Überbevölkerung und Klimawandel“-Einstellung oder die „Familien sind patriarchalische Unterdrückungsmechanismen“-Einstellung natürlich. [Anmerkung: Natürlich gibt es aus katholischer Sicht keine allgemeine Pflicht, Kinder zu bekommen; es ist völlig legitim, wenn man sich nicht dafür geeignet sieht, oder einfach ein Einzelgänger ohne Wunsch nach Familie ist; aber zu diesem Zweck darf man zuallererst niemanden töten, und dann muss man es auch akzeptieren, dass man keinen Sex haben kann; einer der beiden Zwecke von Ehe & Sexualität ist es nun mal, neue unsterbliche Seelen in die Welt zu setzen, und das ist etwas sehr Kostbares.]
  4. Gerade die Critical Race Theory hat oft etwas Masochistisches: Weiße sollen sich selbst dafür geißeln, dass sie weiß sind, und ihre ganze Kultur als von Grund auf auf Rassismus gebaut sehen. (Was sie nicht ist, aber das nur anbei.) Ähnlich beim Feminismus: Männer sollen ihre Männlichkeit als toxisch empfinden. Der Wunsch, sich selbst zurückzustellen und seine Fehler anzuerkennen, kann sehr gut sein; aber in diesem Fall spielt stattdessen sehr viel zerstörerischer Selbsthass hinein. Diese Ideologien erlauben keine wirkliche Erlösung und freuen sich auch nicht über bekehrte Sünder.
  5. Dieser Punkt gilt eher für den älteren Sozialismus als für den neuen Wokismus, aber manchmal auch für den: Man befreit sich innerlich ein Stück weit davon, im täglichen Leben seine Pflichten erfüllen zu sollen, Rücksicht und Gerechtigkeit zu üben, usw., weil der politische Kampf immer als das Vorrangige gilt. Solange man auf die richtigen Demos geht, ist es nicht zentral wichtig, ob man sonst ein Arschloch ist. Viele der RAF-Terroristen, um das extremste Beispiel zu nehmen, haben ihre Kinder zurückgelassen, um in den Untergrund zu gehen und Anschläge zu verüben; und eine von ihnen, Ulrike Meinhof, hat ihre Töchter sogar verschleppen lassen und wollte sie in einem Waisenlager der Fatah unterbringen (die Kinder entgingen diesem Schicksal glücklicherweise). Manchmal ist praktisch die Einstellung da: Wie kann man sich für sein privates Glück, seine privaten Verantwortlichkeiten, oder auch für sein gutes Gewissen interessieren, wenn man das große Ganze retten muss. Damit verschiebt man die Verantwortung, die man für konkrete Menschen hat, auf ein ominöses größeres Gebilde. (Damit zusammenhängend: Man gibt auch dadurch Verantwortung ab, dass es heißt, die Gesellschaft schafft alle Übel. Auch wenn man es ist, der sich schlecht verhält: Die Gesellschaft hat einen eben verdorben, man kann gar nichts dafür. Ja, das widerspricht in gewisser Weise dem vorigen Punkt, aber Sozialisten leben eben gerade in diesen Widersprüchen und verhalten sich mal so und mal so.) Ich will damit gar nicht sagen, dass die Gesellschaft und die Politik unwichtig sind, sie sind sehr wichtig und formen Menschen stark; aber manche Verantwortlichkeiten gehen vor und ein einzelner Mensch kann nicht immer viel am großen Ganzen ändern.
  6. Gerade wenn es um das Thema „Mikroaggressionen“ geht: Die betroffenen Gruppen können ziemlich schnell etwas finden, was am Benehmen eines anderen angeblich unsensibel gewesen sein soll (z. B. hat der einen ausländischen Namen falsch ausgesprochen), und das dann nicht als tatsächliche Mikroaggression (dem Wortlaut nach eine kleine unbedeutende Sache), sondern als Anzeichen einer allgegenwärtigen Unterdrückung nehmen; sich damit als Opfer profilieren, Mitleid einheimsen, und dem Gegner den Mund verbieten, denn alles, was der weiterhin sagen könnte, wäre ja nur noch mehr Mikroaggression; der soll sich nur noch für die erste Mikroaggression demütigen und dann verschwinden. Dass sie selbst gerade in größerem Maße aggressiv sind, merken sie gar nicht.
  7. Ein gewisser Neid steht auch manchmal dahinter: Man hält es für ungerecht, wenn es manchen Menschen besser geht als anderen. Dabei erfordert Gerechtigkeit nicht genaue Gleichheit, sondern eher, dass jeder zumindest das bekommt, was ihm zusteht, und es ihm einigermaßen gut geht (soweit das mit den gegebenen Mitteln in einer Gesellschaft machbar ist). Ich gehöre sicher nicht zu den Wirtschaftsliberalen, die es für Neid halten, wenn Leute für einen Vollzeitjob einen Lohn haben wollen, mit dem sie sich eine Familie mit vier Kindern und ein Reihenhaus leisten können, oder wenn Leute auch in der Arbeitslosigkeit nicht auf der Straße landen wollen. Aber genaue Gleichheit ist weder machbar noch wünschenswert. Wenn z. B. von zwei Leuten einer ein kleineres, aber hübsches und ausreichendes Haus mit mittelgroßem Garten hat, und einer eins mit 100 Quadratmeter mehr und riesigem Garten, ist das eine gute Situation, an der nichts auszusetzen ist, und offensichtlich besser, als wenn beide nur winzige Plattenbauwohnungen haben. Man kann es aushalten, wenn es anderen besser geht, man kann ihnen ihr Glück gönnen. Und wenn Linke z. B. dagegen wettern, dass manche Kinder Vorteile haben, weil ihre Eltern ihnen bei den Hausaufgaben helfen und ihnen gegebenenfalls Nachhilfe organisieren, kann es offensichtlich nicht die Lösung sein, Eltern zu verbieten, ihren Kindern zu helfen, oder alle Kinder bis sechs Uhr abends in der Nachmittagsbetreuung einzusperren, damit sie möglichst wenig Freizeit haben, in der sie eine vorteilhafte Position finden können. Eher sollte man alle Eltern anhalten, ihren Kindern zu helfen, ihnen ermöglichen, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, und meinetwegen eine freiwillige Nachmittagsbetreuung oder Nachhilfestunde für Kinder anbieten, deren Eltern ihnen nicht gut helfen können. Dasselbe beim Thema Erbrecht: Eltern haben offensichtlich den Wunsch und das Recht, für ihre Kinder vorzusorgen und ihnen etwas, das sie aufgebaut haben, zu hinterlassen. Das ist völlig legitim, auch wenn dabei unterschiedlich große Erbansprüche herauskommen. Ungleichheit wird nicht dadurch gelöst, dass es allen gleich schlecht gehen soll. (Noch eine kleine Illustration zum Thema Neid bei Linken: Ich kenne eine Linkenwählerin, die sich gleich mehrmals darüber beschwert hat, dass eine Kollegin fast so viel verdiene wie sie, obwohl die viel weniger qualifiziert sei – man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Das Problem war nicht, dass sie selber zu wenig verdient, sondern eine andere zu viel, obwohl die immer noch weniger verdient als sie.)

Weil ich oben gesagt habe, dass schon ihre Theorien falsch sind, ohne Psychologisieren, wäre es hier vielleicht angebracht, noch ganz knapp zusammengefasst ein paar Gründe zu erwähnen, wieso:

  1. Der klassische Sozialismus sah immer schon die Abschaffung des Privateigentums und auch die Auflösung der Familie voraus; beides ist grundfalsch. Menschen werden immer in Familien geboren und sind in Familien glücklicher als in Kollektiven. Und diese Familien brauchen, um zu funktionieren, auch eine gewisse Unabhängigkeit, bei der das Privateigentum hilft. Privateigentum ist generell ein gewisser Schutz davor, dass der Staat nicht nur seine legitimen Aufgaben erledigt, sondern gleich alles an sich reißt.
  2. Linke Theorien sehen oft die ganze Welt nur als Machtstrukturen. Dass Dinge wie Freundschaft, Treue, Überzeugungen, ein schlechtes Gewissen, künstlerisches Interesse, Abenteuerlust, Naivität, Massenpanik usw. usf., manche Dinge erklären könnten und eine größere Rolle in der Weltgeschichte gespielt haben könnten, stellt man sich gar nicht vor.
  3. Besonders die heutigen Linken stellen ständig Opferhierarchien auf. Dabei übersehen sie, dass Machtstrukturen nicht immer so einfach sind, und dass auch gerade Eliten (oder scheinbare Eliten) von starkem Hass betroffen sein können (man frage nur mal die Tutsi in Ruanda oder die Aleviten in Syrien). Natürlich übersehen sie auch (oder ignorieren es), dass sich Hierarchien oft umgedreht haben, und es in Einzelfällen oft nicht auf generelle Hierarchien ankommt. Sie bezeichnen außerdem Dinge, die eigentlich jeder haben sollte, als „Privilegien“, bei denen man sich dafür schämen sollte, dass man sie hat.

Zuletzt ein kurzes nettes Beispiel dafür, wo Linke falsch denken, aus dem Film „Eins zwei drei“ von 1961 (er spielt kurz vor dem Bau der Berliner Mauer): Die 17jährige reiche, verwöhnte und naive Amerikanerin Scarlett hat bei einem Aufenthalt in Berlin heimlich den ostdeutschen jungen Kommunisten Otto geheiratet, der mit ihr in die Sowjetunion gehen und da studieren will. Vor der geplanten Abreise fragt sie ihn, ob sie beide Pelzmäntel mitnehmen soll, worauf er entschlossen sagt „keine Frau sollte zwei Pelzmäntel haben, solange noch eine Frau keinen Pelzmantel hat“. Sie schließt daraus einfach „Otto sagt, jede Frau sollte einen Pelzmantel haben“, behält einen und schenkt den zweiten der Haushälterin ihrer Westberliner Gastgeber. So was ist tatsächlich ein gesunder Impuls. Aber der kommunistische Impuls, das, was Otto gemeint hat, ist „erstmal sollte keiner das haben“, und die Zeit, in der es alle haben, kommt dann nie. (Die zwei gehen übrigens am Ende doch nicht in die Sowjetunion.)