Wenn man Gender-begeisterte Theologen kritisieren will…

Ich habe es getan: Ich habe mir feinschwarz.net angesehen. Genauer gesagt einen Artikel mit dem Titel Gender-Forschung. Umkämpfte Normalität in der Katholischen Theologie, der von vier Theologieprofessoren (genauer: zwei Professoren und zwei Professorinnen) aus Tübingen verfasst worden. Nach der Lektüre kann ich nur sagen: Bin ich froh, dass ich nicht in Tübingen studiere!

Tja, und jetzt will ich irgendetwas auf diesen Artikel entgegnen. Aber das ist, wenn ich ehrlich sein soll, gar nicht so leicht. Es gibt dort nicht viel, auf das man etwas entgegnen könnte.

Der Artikel beginnt mit der Feststellung, dass es Widerstand gegen Gender-Ideen gäbe und beschreibt, wo dieser sich findet – kath.net, Demo für alle, Amoris Laetitia, etc. Dann geht es um vier Normalitätsannahmen“ der Gesellschaft, die die Gender-Forschung ablehne: Dass erstens jeder Mensch genau ein unabänderliches Geschlecht habe, dass es zweitens genau zwei Geschlechter, nichts anderes und nichts dazwischen, gebe, dass das Geschlecht drittens unabänderlich von der Natur vorgegeben und eindeutig bestimmbar sei, und dass das Geschlecht viertens mit bestimmten Rollen, Tugenden und Orten in dieser Welt“ verbunden sei. Weiter heißt es:

Das Konzept ›gender‹ problematisiert diese Normalitätskonzepte. Geschlecht wird als soziale Konstruktion begriffen. Geschlecht ist ein bedeutungsvoller Sachverhalt – eine Zuweisung von Eigenschaften mit der gleichzeitigen Zuschreibung der Bedeutung dieser Eigenschaften, der Zuschreibung von »Sinn«. Das heißt nicht, dass es keine Biologie mehr gibt; aber der Wert, der den vielfältigen (auch biologischen) Ausformungen dessen, was wir „Geschlecht“ nennen, zugemessen wird, ist weder an Chromosomen oder an Hormonen noch an Körpern ablesbar. Er wird gemacht. Wir „erschaffen“ und verändern Geschlechter kontinuierlich durch Bedeutungszuschreibungen, sie sind ein sozialer und kommunikativer Tatbestand, eben ein soziales Konstrukt.

Erst einmal frage ich mich hier: Wieso keine einheitliche Gestaltung der Anführungszeichen? Wäre das zu normativ?

Und dann sage ich mir: Okay. Und wieso?

Der Text leidet an einem großen Problem: Die Autoren haben offenbar die Deutschstunde verpasst, in der einem erklärt worden ist, dass man in einem Aufsatz für jede Behauptung auch eine Begründung und am besten noch ein Beispiel zu bringen hat, bevor das Ganze zusammen dann ein Argument ergibt. Kann ja passieren. Manchmal hat man einen Termin beim Kieferorthopäden und der Banknachbar vergisst, einem das Heft zu leihen, damit man den Eintrag nachtragen kann. Aber bevor man Professor an der Uni wird, sollte man solche Defizite dann doch aufgeholt haben.

Ihr seid der Meinung, dass Geschlechter ein soziales Konstrukt sind? Okay, dann beweist mir das. Geht auf Argumente und Gegenargumente ein. (Die einzige Erwähnung eines Gegenarguments findet sich übrigens ein Stück weiter unten: „Es ist demgegenüber bedrückend zu sehen, wie in der allgemeinen Diskussion um Genderfragen ein einzelner Satz wie Gen 1,27 aus seinem literarischen, historischen und kulturellen Kontext gelöst und in biblizistischer Manier zur überzeitlichen Norm gemacht wird.“ Inwiefern ist die gängige Interpretation von Gen 1,27 denn falsch und „biblizistisch“? Und was soll dieser „Kontext“ sein?) Erklärt genauer, welchen Wert ihr der Biologie zugesteht, was für euch sozial konstruierte Geschlechterrollen sind, was für euch an diesen Rollen gut oder schlecht ist, und was genau ihr überhaupt unter „sozial konstruiert“ versteht (die Definition von Begriffen ist auch ein wichtiger Bestandteil von Argumenten). Redet über Mütterrollen und Väterrollen, über Heterosexualität und Homosexualität, über Geschlechtsumwandlungen und Hormonbehandlungen, über Berufe und Hobbies, über was auch immer, aber sagt irgendetwas Konkretes und begründet es. Was soll es z. B. heißen, dass es die Biologie schon noch gibt, das Geschlecht aber nicht an Chromosomen, Hormonen oder Körpern ablesbar ist?

Der Text ist typisch dafür, wie Debatten heutzutage geführt werden. Die Autoren bleiben im Vagen, tragen undefinierte Schlagworte vor sich her, lenken die Leser mit nichtssagenden vielsilbigen Worten wie „Analysekategorie“ und „Solidaritätsagentur“ ab, und greifen teilweise auch Positionen an, die niemand genau in dieser Weise vertritt; mir wäre z. B. niemand bekannt, der das gelegentliche Auftreten von Intersexualität leugnet – auch wenn Intersexuelle immer noch entweder weiblich oder männlich sind, nur mit seltsam ausgeprägten Merkmalen, oder Teilmerkmalen des anderen Geschlechts. Und was mich angeht, ich als brave Katholikin bin z. B. auch nicht der Meinung, dass alle Mädchen in rosa Rüschenröcken herumzulaufen hätten.

(Hl. Jeanne d’Arc, Miniatur aus dem 15. Jahrhundert, Quelle: Wikimedia Commons)

Aber was genau greifen die Herren und Damen Professoren denn hier an? Die Ansicht, dass alle Mädchen in rosa Rüschenröcken herumzulaufen hätten, um ihrer gottgegebenen Weiblichkeit zu entsprechen – oder die Ansicht, dass die allermeisten Menschen komplett eindeutig Mann oder Frau sind, dass es Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, die sich durch geänderte soziale Konstruktionen nicht einfach wegkonstruieren lassen (anders gesagt: die sich nicht vollkommen aberziehen lassen), dass es Dinge gibt, die nur Männer (z. B. Kinder zeugen), und Dinge, die nur Frauen (z. B. Kinder austragen und gebären) tun können?

Der weitere Artikel gibt darüber keinen eindeutigen Aufschluss. Er geht erst einmal mit einer großzügigen Dosis Eigenlob weiter:

In der Gender-Forschung (»gender studies«) wird diesen und ähnlichen Fragen wissenschaftlich nachgegangen – und dies mit großem Erfolg. Die Gender-Konzeption gehört damit zu den gegenwärtig produktivsten Impulsen wissenschaftlicher Forschung – und dies über die unterschiedlichen Wissenschaftsfächer und ihre Disziplinen hinweg.

Auch in der Theologie, auch in der katholischen Theologie, wurde der Impuls des Gender-Konzeptes aufgenommen und Gender als ein Analyseinstrument in der theologischen Forschung etabliert.

Ich würde mal einfach behaupten, dass in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschung etwa die Genforschung (z. B. in Bezug auf genetisch veränderte Lebensmittel oder die Heilung genetisch bedingter Krankheiten), die Krebsforschung, die Forschung zu umweltfreundlicher Energieproduktion oder auch die zu autonomem Fahren produktivere und bedeutendere Impulse zu bieten haben (ob man die nun alle in der Praxis angewendet sehen will oder nicht). Ich würde sogar behaupten, dass die altorientalische Archäologie bedeutendere Impulse zu bieten hat. Aber gut, streiten wir uns mal nicht darüber, wer an den Unis am wichtigsten ist.

Ich will gar nicht behaupten, dass die Gender-Forschung nicht manchmal interessante Fragen stellt. Das tut sie gelegentlich schon. Nur wie genau geht sie ihnen wissenschaftlich nach?

Abschließend geht es um die angeblichen Erfolge der Gender-Forschung in der katholischen Theologie:

Dort, wo in der Moraltheologie die Natur der Geschlechter als ein traditioneller Rechtfertigungsgrund ausgehebelt wird, werden nicht nur vernünftigere Rechtfertigungen angestoßen, sondern auch bislang unsichtbare Fragen von Menschen, die ihre Sexualität leben und um ihre Identität ringen, sichtbar und stereotype Antworten darauf unplausibel gemacht.

[…]

„Gender“ ist nicht nur eine Analysekategorie, sondern auch eine Verunsicherungskategorie. Mit dem Gender-Konzept wird einer der dominanten Rechtfertigungsgründe für die Verteilung von Macht und Ämtern, für die Ordnung von Beziehungen sowie für die Steuerung von Körper- und Sexualitätsschemata, nämlich die Natur der Geschlechter, in Zweifel gezogen. Die Folgen dieses Zweifels sind tiefgreifend: Kein Argument dieser Welt kann die einfach vorgegebene Natur der Geschlechter in ihrer ursprünglichen Fraglosigkeit wieder zurückbringen.

Aha, jetzt kommen wir so ein bisschen zum Punkt.

Das Problem hier ist natürlich: Die Autoren gehen unhinterfragt davon aus, dass ihre Argumente ganz offensichtlich allen einsichtig sind und traditionelle Rechtfertigungsgründe wirklich ausgehebelt haben. Dabei warte ich immer noch auf irgendein echtes Argument. Vielleicht gelingt es ja wirklich, Menschen zu verunsichern, indem man einfach „Geschlecht ist bloß ein soziales Konstrukt!“ in den Raum ruft, ebenso wie man sie neuerdings anscheinend damit verunsichern kann, „Die Erde ist flach!“ zu rufen. Aber die Debatte hat man damit nicht gewonnen. Und wenn alles mit rechten Dingen zugeht, werden die meisten Menschen die Augen verdrehen, mit den Schultern zucken und den Rufer nicht weiter beachten – außer vielleicht, er zieht ihnen bei der Hausarbeit Punkte ab, wenn sie vergessen, „Christ*innen“ und „Studierende“ statt „Christen“ und „Studenten“ zu schreiben.

Zugegeben, dieser Text hier hat eher den Charakter eines Manifests als den einer „Einführung in die Gender-Forschung“. Aber es wird aus diesem Manifest nicht einmal ganz eindeutig, was die genderbegeisterten Theologen nun eigentlich wollen. Sie wollen verunsichern, verunklaren und hinterfragen. Okay. Aber wozu? Was wollen sie erreichen? Um ergebnisoffene wissenschaftliche Forschung scheint es ihnen ja nicht so sehr zu gehen.

Die letzten zitierten Absätze sagen es, wenn auch nicht gerade klar und deutlich: Sie wollen irgendwelche Machtstrukturen verändern, die sie in der Welt, und vor allem der Kirche, wahrnehmen. Sie sehen im Verhältnis der Geschlechter zueinander zwangsläufig Machtstrukturen am Werk, die ausgehebelt werden müssen. Die traditionelle Moraltheologie muss untergraben werden, weil sie auch nur Machtstrukturen rechtfertigt. Diese Theologen sehen sich als die mutigen Revolutionäre, die den Tyrannen von seinem Thron stürzen. Nur tendieren Revolutionäre dann leider oft dazu, ihre eigene Tyrannei zu erschaffen.

(Und natürlich ist die alte Moraltheologie keine Tyrannei.)

Man würde sich wünschen, dass die Leute einfach sagen könnten: „Wir sind davon überzeugt, dass es Geschlechter nicht wirklich gibt, weil […], und wir wollen deshalb erreichen, dass die Personen, die man nach den alten Kategorien dem Geschlecht der ‚Frauen‘ zugeordnet hat, die Priesterweihe empfangen und mit einer lesbischen Partnerin im Pfarrhaus leben dürfen“. Oder so was. Aber anscheinend ist das zu viel verlangt.

6 Gedanken zu “Wenn man Gender-begeisterte Theologen kritisieren will…

  1. Die Vorgehensweise erinnert mich an:

    DER MEDIZINISCHE FEHLER

    Ein Buch im Bereich moderner soziologischer Forschung hat eine gewissermaßen präzise umrissene Form. Es beginnt regelmäßig mit einer Analyse, mit Statistik, Bevölkerungstabellen, Niedergang der Kriminalität bei Freikirchlern, Zuwachs der Hysterie bei Polizisten und ähnlichen gesicherten Fakten; es endet mit einem Kapitel, das in der Regel „Die Lösung“ oder so ähnlich heißt. Und es ist fast zur Gänze diese behutsame, solide, wissenschaftliche Methode schuld daran, daß „Die Lösung“ nie gefunden wird. Denn dieses Schema medizinischen Fragens und Antwortens ist ein Bluff, der erste große Bluff der Soziologie. Man nennt es immer, erst die Krankheit zu diagnostizieren, bevor man an die Therapie geht. Aber der Mensch ist schlechthin dadurch definiert, seine Würde besteht schlechthin darin, daß wir in sozialen Angelegenheiten tatsächlich erst die Therapie herausfinden müssen, bevor wir die Diagnose stellen können.

    Dieser Irtum ist einer der fünfzig Irrtümer, die aus der modernen Verrücktheit nach biologischen oder körperlichen Metaphern stammen. Es ist bequem, vom „Sozialorganismus“ zu sprechen, so wie es ja auch bequem ist, von „dem bayrischen Löwen“ zu sprechen, der wieder brüllt etc. Aber Bayern ist ebensowenig ein Organismus wie ein Löwe. In dem Moment, in dem wir einer Nation die Einheit und Einfachkeit eines Tieres zuschreiben, haben wir begonnen, wild danebenzudenken. Weil jeder Mensch ein Zweifüßler ist, machen fünfhundert Menschen noch keinen Tausendfüßler. Dies hat z. B. die den offensichtlich absurden Unsinn hervorgebracht, andauernd von „jungen Nationen“ und „sterbenden Nationen“ zu sprechen, als hätte eine Nation eine fixe, physische Lebensspanne. So sagen die Leute, daß Spanien endgültig ins Greisenalter eingetreten ist; geradesogut könnte man sagen, daß Spanien alle Zähne verliert. Oder die Leute sagen, daß Kanada bald einmal eine Literatur hervorbringen könnte, was ungefähr so ähnlich ist wie zu sagen, daß Kanada sich bald einen neuen Schnurrbart wachsen lassen sollte. Nationen bestehen aus Menschen; die erste Generation kann dekadent, die tausendste kann kraftvoll sein. Ähnliche Anwendungen dieses Irtums machen die Leute, die in der zunehmenden Größe der nationalen Besitztümer einfachhin eine Zunahme an Weisheit und Körperkraft seinen, und an Gnade bei Gott und den Menschen. Diese Leute treiben tatsächlich die Parallele zu einem menschlichen Körper dann nicht einmal weit genug, um die subtile Unterscheidung zu stellen, ob denn ein Imperium nun als Zeichen seiner Jugend wächst, oder als Zeichen seines Alters dick wird. Aber von all den Fällen von Irrtum, die aus dieser physikalischen Mode herrühren, ist der schlimmste der, den wir vor uns haben: die Gewohnheit, eine soziale Krankheit ausführlich zu be-, und dann eine soziale Arznei zu vérschreiben.

    Nun reden wir zuerst über die Krankheit, wenn es tatsächlich um körperlichen Zusammenbruch geht, und zwar aus einem hervorragenden Grund. Nämlich, es mag zwar Zweifel über die Art und Weise des Zusammenbruchs des Körpers geben, aber es gibt keinen Zweifel, nicht den geringsten, über die Form, in der er wieder aufgerichtet werden sollte. Kein Arzt schlägt eine neue Art Mensch vor mit neuem Arrangement von Augen oder Gliedmaßen. Das Krankenhaus schickt manchmal, aus Not, einen Menschen heim mit einem Bein weniger; aber es wird ihn nicht, von Kreativität übermannt, mit einem Bein extra heimschicken. Die Medizin begnügt sich mit dem normalen menschlichen Körper und strebt nur danach, ihn widerherzustellen.

    Aber die Sozialwissenschaft begnügt sich keineswegs immer mit der normalen menschlichen Seele; sie bietet alle Arten modischer Seelen zum Verkauf an. Der Mensch als sozialer Idealist wird durchaus sagen können: „Ich bin es leid, Puritaner zu sein: ich will Heide sein“, oder „hinter diesem dunklen Jammertal des Individualismus sehe ich das leuchtende Paradies des Kollektivismus“. Nun gibt es in körperlichem Leid nicht diesen Meinungsunterschied, das ultimative Ideal betreffend. Niemand sagt: „ich bin dieses Kopfweh leid, ich will jetzt etwas Zahnweh haben“ oder „das einzige, was es auf diese [russische] Grippe hin jetzt braucht, ist etwas Röteln/deutsche Masern [orig.]“ oder „durch dieses dunkle Jammertal eines Katarrhs sehe ich das leuchtende Paradies des Rheumatismus“. Aber das ist genau die ganze Schwierigkeit in unseren öffentlichen Probleme, daß die einen Heilmethoden anstreben, die die anderen für noch schlimmere Krankheiten halten, daß sie finale Zustände als Gesundheiten vorzeigen, die andere ohne jeden Kompromiß Krankheiten nennen würden. Belloc sagte einmal, daß er sich von der Idee des Eigentums nicht eher trennen würde als von seinen Zähnen; aber für Shaw ist das Eigentum kein Zahn, sondern ein Zahnweh. Lord Milner hat ernsthaft danach gestrebt, deutsche Effizienz einzuführen; und viele von uns hätten da doch lieber die deutschen Masern (Röteln). Dr. Saleeby will ganz ernsthaft Eugenikalismus; da hätte ich dann doch lieber Rheumatismus.

    Dies ist das hervorstechende und dominante Faktum in der modernen sozialen Diskussion: der Streit geht nicht nur um die Schwierigkeiten, sondern ums Ziel. Über das Übel sind wir uns einig; es ist um das Gut, daß wir einander die Augen ausreißen könnten.

    Wir geben alle zu, daß eine faule Aristokratie etwas Schlechtes ist. Wir würden keineswegs alle zugeben, daß eine fleißige Aristokratie etwas Gutes wäre. – Wir sind alle entsetzt über eine irreligiöse Priesterschaft; aber manche von uns würden vor Abscheu verrückt werden, sähen sie eine wirklich religiöse. – Jeder ist empört über das Versagen der Bundeswehr, die Leute eingeschlossen, die erst so richtig empört wären, wenn die Bundeswehr eine starke Streitmacht *wäre*.

    Der soziale Fall ist das genaue Gegenteil des medizinischen. Wir haben unsere Meinungsverschiedenheiten nicht, wie Doktoren, darüber, worin die Kranheit besteht. Im Gegenteil sind wir uns alle darüber einig, daß Deutschland krank ist, aber die eine Hälfte von uns würden es nicht einmal *anschauen* in dem Zustand, den die andere „blühende Gesundheit“ nennen würde. Fehlleistungen der Staatsgewalt sind so wohlbekannt und auswirkungsvoll, daß sie alle großzügigen Leute zu einer art fiktiven Einmütigkeit vereinen. Wir vergessen darüber, daß wir uns über die Fehlleistungen sehr einig sind, aber über das, was echte Leistungen wären, sehr uneinig sein würden. Cadbury und ich sind uns durchaus einig, was die Spelunke betrifft. Wenn es ein anständiges Wirtshaus betrifft, dann würde unser schmerzlicher persönlicher Zwist auftreten.

    Ich behaupte daher, daß die gewöhnliche soziologische Methode ganz nutzlos ist: erst erbärmliche Armut zu sezieren oder Prostitution zu katalogisieren. Wir mögen alle keine erbärmliche Armut; aber die Dinge könnten anders ausschauen, wenn wir unabhängige und würdevolle Armut betrachteten. Wir lehnen alle Prostitution ab, aber nicht, weil wir alle Keuschheit befürworteten.

    Das einzige, was man machen kann, um über das soziale Übel zu diskutieren, ist sofort zum sozialen Ideal vorzuschreiten. Wir können die nationale Verrücktheit alle sehen, aber was ist nationale Gesundheit? Ich habe dieses Buch „Was läuft falsch mit der Welt?“ genannt, und das Fazit, die Antwort auf die im Titel gestellte Frage, kann sehr einfach angegeben werden. Es läuft falsch, daß wir nicht fragen, wie es richtig läuft.

    (Chesterton, natürlich)

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  2. >>mir wäre z. B. niemand bekannt, der das gelegentliche Auftreten von Intersexualität (biologisch uneindeutigen Zwischenformen zwischen männlich und weiblich) leugnet, also „Normalitätsannahme“ Nummer 2 uneingeschränkt zustimmt.

    Ich. Also letzteres. Ich stimme Normalitätsannahme 2 uneingeschränkt zu.

    Die Fälle von Intersexualität streite ich natürlich nicht ab, aber sie verletzen zwar (für den genderistischen Geschmack) Normalitätsannahme *1* („jeder Mensch hat genau ein Geschlecht“)und vielleicht auch 3 („das Geschlecht ist unveränderlich“) (tatsächlich auch diese nicht, da das ja eine *Normalitäts*annahme ist und der Intersexuelle halt schlicht *nicht* normal), haben aber – mit Verlaub – mit der Normalitätsannahme *2* – also: „es gibt nur zwei Geschlechter, Mann und Frau“ – hingegen offensichtlich gar nichts zu tun.

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