Was habe ich eigentlich gegen die sog. Aufklärung? Teil 2: Zu Toleranz und Demokratie

Heute zu zwei weiteren „Errungenschaften“, für die die Aufklärung gerne gefeiert wird:

3) Glaubens-, Meinungs-, Pressefreiheit

„3) Die Aufklärer haben immer wieder bekräftigt, dass es jedem Menschen erlaubt sein sollte, seine Meinung frei zu äußern. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir heute über Presse- und Meinungsfreiheit verfügen. Dank der Aufklärung müssen wir uns nicht mehr fürchten, als Häretiker auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden, wenn wir eine unbequeme Meinung kundtun und die Dogmen der Kirche hinterfragen (Beispiel: Johannes Hus auf dem Konzil von Konstanz).“

Mit der Glaubens- und der Meinungsfreiheit ist das eine sehr komplizierte Sache. Und ich glaube, ich muss hier erst mal wieder ein bisschen ausholen und einige geschichtliche Sachen nacheinander erzählen, bevor ich zum Punkt kommen kann. Also:

Die Kirche hat immer gelehrt, dass Zwangstaufen ungültig und unerlaubt sind, da Gott will, dass die Menschen freiwillig zu Ihm kommen, und es gar nicht möglich ist, Glauben zu erzwingen. Aber ganz simpel und friedlich war der Umgang mit anderen Glaubensvorstellungen in der Kirchengeschichte bekanntlich trotzdem nicht immer – wofür es vielfältige Gründe gab.

In Antike und Frühmittelalter wurden gelegentlich heidnische Tempel und Götterbilder durch Herrscher, die den christlichen Glauben angenommen hatten, zerstört – bzw. manchmal auch durch christliche Missionare, wie beim hl. Bonifatius und der Donareiche der Fall -, sodass gewisse heidnische Kulthandlungen nicht mehr möglich waren; einerseits wurden so Handlungen, die man als Affront gegen Gott sah, gestoppt; andererseits war das aber auch einfach eine effiziente Methode, um die Heiden von der Machtlosigkeit ihrer Götter zu überzeugen.

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(Bonifacius haut in Hessen einen Opferbaum um, Radierung von Bernhard Rode 1781, Gemeinfrei.)

Richtig vorzugehen begannen christliche Herrscher nach der Konstantinischen Wende allerdings nicht gegen Juden oder Heiden – die Heiden ließen sich nach und nach taufen und wurden bis dahin auch toleriert, die Juden hatten einen festen Status als geduldete Außenseiter, für die eigene Regeln galten -, sondern gegen Theologen und Sektengründer innerhalb der Christenheit, die von der Kirchenlehre abweichende Lehren verkündeten (also Häretiker/Ketzer). Mit Verrätern im Inneren geht man ja meistens härter um als mit Feinden da draußen.

Das begann schon in der Antike: Hier wurden z. B. manche solche Theologen von den römischen Autoritäten in ein anderes Gebiet verbannt (das konnte allerdings auch mal die rechtgläubige Seite treffen, wenn der Kaiser einer häretischen Partei, etwa den Arianern, folgte). Nachdem sich etwa in Nordafrika die Donatisten (die glaubten, dass Christen, die in den Zeiten der Verfolgung von der Kirche abgefallen waren, bei ihrer Rückkehr ein zweites Mal getauft bzw., wenn Kleriker, ein zweites Mal geweiht werden müssten) abgespalten hatten, wurden ihre Schriften und Gebäude schließlich konfisziert und wieder der katholischen Seite übergeben, Laien, die nicht zur katholischen Kirche zurückkehren wollten, wurden mit hohen Geldstrafen belegt, und Kleriker wurden verbannt. Die Donatisten waren freilich keine ganz harmlose Gruppe: Eine militante donatistische Gruppierung, die Circumcellionen, verübte gerne Terroranschläge. Mit diesen Häretikern hatte übrigens der hl. Augustinus sich besonders auseinanderzusetzen; er war zunächst gegen die Anwendung staatlicher Zwangsmittel, bis er laut eigener Aussage sah, dass in einigen Regionen, wo zuerst die rechtgläubige Religion gewissermaßen aufgezwungen worden war, die Leute bald selbst überzeugt gegen den Donatismus waren. Er berief sich hier auch auf Lk 14,23: „dränge/nötige/zwinge sie einzutreten“; in der Übersetzung, die er gebrauchte: „cogite intrare“, d. h. „zwinge sie einzutreten“.

Auch die erste Hinrichtung eines Ketzers – Priscillian – fällt noch in die Antike, nämlich ins Jahr 383; allerdings protestieren damals die einflussreichsten Bischöfe, wie der hl. Martin von Tours, der hl. Ambrosius von Mailand, und der hl. Papst Siricius ausdrücklich dagegen. Im Hochmittelalter wurde neben solchen Strafen wie der Exkommunikation oder der Klosterhaft auch die Reichsacht oder die Todesstrafe für hartnäckige Häretiker schließlich üblich; der hl. Thomas von Aquin argumentierte, die Anwendung der Todesstrafe sei ganz richtig, weil man ja schon Münzfälscher mit dem Tod bestrafe, Häretiker aber etwas sehr viel Wichtigeres verfälschten. „Denn weit schwerere Schuld ist es, den Glauben zu fälschen, welcher der Seele das Leben gewährt, wie Geld zu fälschen, das nur zum Unterhalte des zeitlichen Lebens dient.“ Es war nicht so, dass man nicht auch versucht hätte, die Häretiker (besonders die, die nur den Sektenführern nachliefen) mit Argumenten zu überzeugen – der Dominkanerorden etwa wurde deshalb als Predigerorden gegründet, um die Albigenser in Südfrankreich zur Kirche zurückzuführen -, aber es gab auch andere Maßnahmen. Häretiker galten als Bedrohung für das Fundament der Gesellschaft, den christlichen Glauben, den die Kirche hütete, und oft genug hatten ihre Lehren auch ganz praktische schädliche Auswirkungen: So lehrten etwa die Albigenser des 12./13. Jahrhunderts, Ehe und Kinderkriegen seien quasi dämonisch und ihre „Vollkommenen“ praktizierten in manchen Fällen sogar Selbstmord durch Verhungern; die Wiedertäufer des 16. Jahrhunderts lehnten die Leistung von Eiden und den Kriegsdienst – selbst für Verteidigungskriege – ab. Auf jeden Fall wurden solche Gruppen als gefährliche Sektierer gesehen, die nicht nur die irdische Gesellschaft, sondern auch das ewige Heil der einzelnen gefährdeten. Öfter einmal führten solche Abspaltungen auch zu Aufständen und Bürgerkriegen (etwa den Hussitenkriegen).

Bis ins frühe 16. Jahrhundert wurden die meisten Häresien früher oder später unterdrückt und verschwanden wieder oder blieben nur ein lokales Problem; nach 1517 allerdings gewannen gewisse Häretiker die Gunst einiger Fürsten, die eine gute Gelegenheit gekommen sahen, den Besitz der Klöster zu beschlagnahmen und – im Fall Heinrichs VIII. von England – die Ehefrau loszuwerden, weshalb sie wesentlich mehr Erfolg hatten. Das Ganze lief dann, nachdem sich die Fragen nicht mit Disputationen und päpstlichen Schreiben aus der Welt schaffen hatten lassen, erst einmal auf diverse brutal geführte Kriege bzw. auch Bürgerkriege, ein paar Revolutionen oder Staatsstreiche, versuchte und gelungene Attentate sowie Terroranschläge und natürlich beiderseitige staatliche Maßnahmen gegen die andere, als häretisch betrachtete Seite hinaus.

Aber irgendwann fand man doch irgendwelche Friedensvereinbarungen zwischen Katholiken und Protestanten und wurde der ganzen Kämpfe müde. Die Aufklärung mit ihrem religiösen Indifferentismus und ihrer gleichzeitigen Abneigung gegen alle dogmatischen Religionen folgte letztlich daraus – .nicht nur aus der Erfahrung der ganzen Brutalität, sondern auch daraus, dass diese Brutalität nichts genützt hatte. Nach ein wenig Hin und Her zu Beginn blieb halb Europa protestantisch, und halb Europa katholisch; es war eine Pattsituation, die sich nicht auflösen ließ.

„Und das ist ein Gefühl, das man nur eins der Zwecklosigkeit nennen kann. Es kam von dem Missverhältnis zwischen den Gefahren und Nöten der Religionskriege und dem wirklich unvernünftigen Kompromiss her, mit dem sie endeten; cuius regio ejus religio, was man übersetzen kann mit, „jeder Staat soll seine Staatskirche errichten“, aber was in der Renaissance hieß, „jeder Fürst mag tun, was er will“.

Das siebzehnte Jahrhunderte endete mit einem Fragezeichen. […] Es war eine offene Frage, aber es war auch eine offene Wunde. […] sie erwarteten, dass sich die Wunde schließen würde. Wir tendieren heute natürlich dazu, diesen Punkt zu übersehen. Wir haben fast vierhundert Jahre ein geteiltes Christentum gehabt und haben uns daran gewöhnt; und es ist die Wiedervereinigung der Christenheit, die wir als das außerordentliche Ereignis ansehen. Aber sie sahen immer noch die Spaltung der Christenheit als ein außergewöhnliches Ereignis. Keine der beiden Seiten hatte je wirklich erwartet, dass sie in einem Zustand der Spaltung verbleiben würde. Alle ihre Traditionen seit tausend Jahren sprachen von irgendeiner Art von Einheit, die aus einer Kontroverse folgte, von jeher, seit eine geeinte Religion sich über ein geeintes Römisches Reich ausgebreitet hatte. Von einem protestantischen Standpunkt aus war es ganz natürlich, dass der Protestantismus Europa erobern würde, so wie das Christentum Europa erobert hatte. In diesem Fall wäre der Erfolg der Gegenreformation nur das letzte Aufzüngeln einer sterbenden Flamme, wie das letzte Gefecht des Julian Apostata. Von einem katholischen Standpunkt aus war es ganz natürlich, dass der Katholizismus Europa zurückerobern würde, wie er mehr als einmal Europa zurückerobert hatte; in diesem Fall wäre der Protestant dasselbe wie die Albigenser: ein vorübergehendes Element, das schlussendlich reabsorbiert würde. Aber keins dieser beiden natürlichen Dinge geschah. Preußen und die anderen protestantischen Fürstentümer kämpften im Dreißigjährigen Krieg gegen Österreich als den Erben des Heiligen Römischen Reiches. Sie bekämpften einander bis zum Waffenstillstand. Es war absolut und offensichtlich hoffnungslos, Österreich protestantisch oder Preußen römisch-katholisch zu machen. Und von dem Moment an, wo diese Tatsache begriffen wurde, änderte sich das Wesen der ganzen Welt. Der Fels war gespalten worden und würde sich nicht wieder schließen, und in dem Spalt oder Abgrund begann eine neue Art von seltsamem und stacheligem Unkraut zu wachsen. Die offene Wunde eiterte.“ (G. K. Chesterton, „Anti-Religious Thought In The Eighteenth Century“, Übersetzung von mir.)

Auch an anderen Fronten herrschte eine Art religiöse Pattsituation; während im Altertum tatsächlich noch viele Juden Christen geworden waren, war das seit dem Mittelalter nur noch in Einzelfällen vorgekommen – woran wohl ihre unfreundliche Behandlung durch Christen auch nicht ganz unschuldig war, allerdings war das sicher nicht der einzige Faktor. Luther hatte ja noch gemeint, wenn er den Juden nur freundlich sein korrektes „Evangelium“ präsentiere, würden sie schon bald Jesus als den Messias anerkennen; da hatte er seine Rechnung allerdings ohne die Juden gemacht, weshalb er dann auch ziemlich sauer geworden war und gefordert hatte, man solle ihre Synagogen und Häuser zerstören, den Rabbinern bei Todesstrafe das Lehren verbieten und die jungen Juden zur Zwangsarbeit heranziehen. Aber auch der Islam stand der Christenheit weiterhin sowohl unversöhnlich wie unbesiegt gegenüber; das expandierende Osmanische Reich war in der Frühen Neuzeit sogar eine immense Bedrohung. Und der letzte Versuch – ein sehr vielversprechender Versuch übrigens – einer Union mit den Orthodoxen war schon Mitte des 15. Jahrhundert gescheitert.

Nirgendwo zeichnete sich der „Sieger der Geschichte“ ab, den die Leute fälschlicherweise erwarteten, und die Wiederkunft des Herrn, die in der Krisenzeit des 16. und frühen 17. Jahrhunderts nicht nur ein paar der radikalsten Sekten erwartet hatten, blieb ebenfalls aus. Also kamen die Leute auf den Gedanken, dass möglicherweise keine all der Seiten wirklich im Recht gewesen war, dass man diese ganzen Streitereien lassen und einfach friedlich und human nebeneinander leben und alle allzu dogmatischen religiösen Lehren aufgeben sollte; sich nicht mehr so sehr um den Himmel, sondern mehr um die Erde sorgen sollte; nicht mehr darüber predigen sollte, wie man einen gerechten Gott kriegte, sondern wie man gute Menschen machte.

Das Problem war nur, dass diese Idee am Ende nicht funktionierte.

Nachdem die Leute aufgehört hatten, die Religion als wichtigsten Teil des Lebens zu betrachten und einander ihretwegen zu bekämpfen, kamen nach und nach andere Dinge auf, um derentwillen sie einander bekämpften. Nationalstolz, faschistische Eroberungslust, Rassenhass, Versuch der proletarischen Weltrevolution; alles Mögliche. Die Ideologien, die nach der Aufklärung aufkamen, sorgten für wesentlich größere Blutbäder als die Religionen der Epoche zuvor.

Schon mit der Toleranz der Aufklärer selber war es ja nicht immer so einfach. Dem großen französischen Aufklärer Voltaire wird ja gerne (fälschlich)  das Zitat zugeschrieben: „Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.“ Als Beschreibung der Einstellung einiger Aufklärer taugt es tatsächlich bis zu einem gewissen Grad – denn sie traten ja schon für allgemeine Toleranz und Glaubensfreiheit ein, aber gleichzeitig missbilligten (oder im Fall von Voltaire: hassten) sie eben schon so gut wie alle Glaubensrichtungen, die da hätten toleriert werden sollen (abgesehen von ihrem eigenen vagen Deismus). Damit meine ich nicht nur den Katholizismus; man muss sich mal die Beschimpfungen durchlesen, die Voltaire oder auch Rousseau zum Judentum einfielen. „Das jüdische Volk wagt, einen unversöhnlichen Haß gegen alle Völker zur Schau zu tragen. Es empört sich gegen alle seine Meister, immer abergläubisch, immer gierig nach dem Gute anderer, immer barbarisch, kriechend im Unglück und frech im Glück.“ (Voltaire, Sur les Moeurs 42, gemäß Wikiquote.) Das letztliche Ziel der Aufklärer war tatsächlich das Ende dieser Religionen – Voltaire unterzeichnete seine Briefe gerne mit „Ecrasez l’infame“ – „Zermalmt die Niederträchtige“, was sich auf die Kirche bezog. Lassen wir noch einen anderen Aufklärer zu Wort kommen, um zu erfahren, was für Vorstellungen diese Leute von Toleranz hatten. Ich übergebe das Wort an Jean-Jacques Rousseau, dessen Ideen (über seinen Fan Robespierre) die Französische Revolution sehr stark prägten:

Es gibt daher [in Rousseaus idealem Staat] ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein. Ohne jemand dazu verpflichten zu können, sie zu glauben, kann er jeden aus dem Staat verbannen, der sie nicht glaubt; er kann ihn nicht als Gottlosen verbannen, sondern als einen, der sich dem Miteinander widersetzt und unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit ernstlich zu lieben und sein Leben im Notfall der Pflicht zu opfern. Wenn einer, nachdem er öffentlich ebendiese Dogmen anerkannt hat, sich so verhält, als ob er sie nicht glaube, soll er mit dem Tode bestraft werden; er hat das größte aller Verbrechen begangen, er hat vor den Gesetzen gelogen.

Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl und klar ausgedrückt sein, ohne Erklärungen und Erläuterungen. Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze – das sind die positiven Dogmen. Was die negativen Dogmen anbelangt, so beschränke ich sie auf ein einziges: die Intoleranz; sie gehört jenen Kulten an, die wir ausgeschlossen haben.

Meiner Meinung nach täuschen sich diejenigen, die einen Unterschied machen zwischen der bürgerlichen Intoleranz und der religiösen Intoleranz. Diese beiden Arten von Intoleranz sind nicht zu trennen. Es ist unmöglich, mit Menschen in Frieden zu leben, die man für unselig hält; sie lieben hieße, Gott, der sie straft, hassen; man muss sie unbedingt bekehren oder sie bedrängen. […]

Heute, wo es eine ausschließliche Staatsreligion nicht mehr gibt noch geben kann, muss man alle jene tolerieren, die ihrerseits die anderen tolerieren, sofern ihre Dogmen nicht gegen die Pflichten des Bürgers verstoßen. Wer aber zu sagen wagt ‚Es gibt kein Heil außerhalb der Kirche‘ muss aus dem Staat ausgestoßen werden, es sei denn, der Staat ist die Kirche und der Fürst der Pontifex.“ *

Mit anderen Worten: Der Staat soll eine eigene Religion einführen und alle Abweichler – alle, die den Staat nicht für heilig erklären wollen, alle, die ihre eigene Religion ernst nehmen und missionieren wollen, aber z. B. auch alle Atheisten – verbannen oder hinrichten. Das nennt sich Freiheit und Toleranz, nicht wahr? (Dass Rousseau keine Ahnung vom Christentum hat und meint, Menschen zu lieben wäre das Gegenteil davon, sie von der Wahrheit überzeugen zu wollen, lassen wir mal beiseite, ebenso wie die Tatsache, dass „Kein Heil außerhalb der Kirche“ ja gar nicht heißt, dass alle Nichtkatholiken in die Hölle kommen („unüberwindliche Unwissenheit“ usw.).)

Dass es die Aufklärer in der Praxis nicht immer so mit der Toleranz hatten, sieht man z. B. schon bei dem aufgeklärt-absolutistischen Kaiser Joseph II., der in Österreich hunderte „unnütze“, d. h. vor allem kontemplative Klöster aufheben ließ. Die eigene Lebensform frei wählen? Nix da, wenn diese Lebensform die der klausurierten Nonne ist. Eine Aufhebung der Orden war etwas, das die Aufklärer wieder und wieder forderten, und das sie auch immer wieder erreichten. Am klarsten sieht man die „Toleranz“ der Aufklärung während der Französischen Revolution, der Gelegenheit, bei der aufklärerisch inspirierte Leute erstmals so richtig zum Zug kamen.

Anfangs war sie ja noch nicht so schlimm. Anfangs ging es um konkrete Abhilfe für berechtigte Probleme – z. B. ein ungerechtes Steuersystem. Dass eine Verfassung geschaffen werden sollte, dass die Leibeigenschaft abgeschafft wurde, dass Richterämter nicht mehr käuflich sein sollten usw., alle diese Reformen der Jahre 1789/90 waren gut. Der sinnlose Gewaltausbruch in Paris im Juli 1789, bei dem ein Gefängnis mit ganzen sieben Insassen gestürmt wurde und Männern, denen man freies Geleit zugesagt hatte, dann der Kopf abgehackt wurde, war freilich nicht sehr schön, hätte aber eine Fußnote in der Geschichte bleiben können, wenn es nur dabei geblieben wäre.

Wie gesagt, soweit der Beginn. Aber bald ging die Revolution in eine Richtung, an der man gut viele Fehler der Aufklärung sehen kann.

Das zeigt sich schon bald im direkten Umgang mit der Kirche: Da der Kirchenzehnte abgeschafft wurde, sollte der Staat für die Bezahlung der Priester aufkommen; im Gegenzug wurde von ihnen ein Eid auf die Verfassung verlangt – mit anderen Worten, die Kirche sollte unter die Kontrolle des Staates gebracht werden. Etwa die Hälfte der Priester verweigerte diesen Eid (den zu leisten auch der zögerliche Papst Pius VI. 1792 schließlich für unzulässig erklärte) und wurde dafür abgesetzt und bestraft oder musste ins Exil fliehen. Dann wären auch hier die Orden: Schon 1790 wurden die meisten Orden abgeschafft; diejenigen, die sich dem Schulwesen und der Krankenpflege gewidmet hatten, durften immerhin noch bis 1792 bestehen bleiben, aber dann vertrieb man auch hier die Mönche und Nonnen aus den Klöstern.

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(Bleiglasfenster in der Kirche Saint-Honoré d’Eylau (Avenue Raymond-Poincaré im 16. Arrondissement von Paris). Es zeigt die 14 Karmelitinnen von Compiègne, die 1794 auf der Guillotine hingerichtet wurden, weil sie ihr Ordensleben nicht hatten aufgeben wollen. Hersteller: Félix Gaudin nach einem Karton von Raphaël Freida. Bildquelle: Wikimedia, eingestellt von GFreihalter.)

Die Revolution wurde immer radikaler; die „Nation“ galt immer mehr, und alle ihre Feinde hatten beseitigt zu werden. Da haben wir die Septembermassaker in den Pariser Gefängnissen 1792; die Absetzung und schließlich die Hinrichtung des Königs (der eigentlich ein sehr friedfertiger und gleichzeitig schwacher Mensch gewesen war, der immer versucht hatte, das Richtige zu tun); die „Schreckensherrschaft“ der Jahre 1793 und 1794, wo die Guillotine kaum mehr zum Stillstand kam. Während man die ersten Gesetzesänderungen der Revolution noch mit einem feierlichen Te Deum gefeiert hatte, sollte jetzt mit der „Dechristianisierung“ das Christentum komplett ausradiert werden – stattdessen wurden ein deistischer „Kult des Höchsten Wesens“, ein „Kult der Vernunft“ und die Verehrung von „Revolutionsmärtyrern“ gefördert.

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(„Fest der Vernunft“ in der Pariser Kathedrale Notre-Dame 1793, bei dem eine Schauspielerin die Vernunft verkörperte. Gemeinfrei.)

Als 1793 in der Vendée (einem ländlichen Gebiet im Westen Frankreichs) anlässlich einer massenhaften Einberufung zur Armee ein Aufstand gegen die brutale Regierung der Ersten Republik ausbrach, wurde der mit extremer Brutalität niedergeschlagen. „Mein Freund, ich verkünde Dir mit großem Vergnügen, dass die Räuber endlich vernichtet sind. […] Die Zahl der hierher gebrachten Räuber ist nicht abzuschätzen. Jeden Augenblick kommen neue an. Weil die Guillotine zu langsam ist, und das Erschießen auch zu lange dauert und Pulver und Kugeln vergeudet, hat man sich entschlossen, je eine gewisse Anzahl in große Boote zu bringen, in die Mitte des Flusses etwa eine halbe Meile vor der Stadt zu fahren, und das Boot dort zu versenken. So wird unablässig verfahren.“ So ein Bericht, der im Nationalkonvent verlesen wurde.

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(Ertränkungen bei Nantes, Jean Duplessis-Bertaux. Gemeinfrei.)

Die „höllischen Kolonnen“ der revolutionären Pariser Regierung waren alles andere als zimperlich. „Es gibt keine Vendée mehr. Sie starb unter unserem blanken Säbel, mitsamt Frauen und Kindern. Ich habe sie in den Sümpfen und Wäldern von Savenay begraben. Man kann mir keine Gefangenen vorwerfen. Ich habe alles ausgelöscht.“ So berichtete ein General.

(Symbol des Vendée-Aufstands: Heiliges Herz Jesu mit der Aufschrift „Dieu“ (Gott) auf der einen Seite und „Le Roi“ (Der König) auf der anderen.)

Die Erste Republik in Frankreich war eine totalitäre Diktatur – und weitere totalitäre Diktaturen sollten in den nächsten zwei Jahrhunderten folgen, die sich auf Prinzipien der Aufklärung beriefen. Gleichheit etwa – darum ging es den Kommunisten. Brüderlichkeit und Einheit und die Unteilbarkeit der Nation (auch das beliebte Schlagworte der Revolutionspropaganda) – darum den Faschisten.

Also: Die Freiheit der Aufklärung ist nie eine wirkliche Freiheit gewesen. Religionsfreiheit? Nur für die, denen ihre Religion eh nicht so wichtig ist; nur für die, deren religiöse Praxis nichts einschließt, was die Aufklärer zu „Aberglaube“ und „Fanatismus“ erklären, oder was gegen die neuen Götzen gerichtet ist, die man anstelle Gottes aufrichtet.

Aber, könnte man einwenden, heißt das nicht nur, dass einige Leute Prinzipien der Aufklärung verraten haben, die an sich gut gewesen wären? Und haben diese Prinzipien sich nicht doch zumindest in manchen Staaten und zu manchen Zeiten in gewisser Weise durchgesetzt und positive Folgen gehabt? Da wären die Judenemanzipation; die Katholikenemanzipation in England oder Schweden; Toleranz für die französischen Protestanten; konfessioneller Friede in Deutschland. Sollte man nicht, auch wenn die Erste Republik das in der Praxis nicht getan hat, auch Meinungen dulden, die man nicht gut findet?

Nun ja: Dass Einschränkungen von Freiheiten und staatliche Strafmaßnahmen nicht so schön sind, gilt letztlich immer. Und wir können uns sicher darauf einigen, dass der Scheiterhaufen recht brutal ist und nicht unbedingt das Mittel der Wahl sein sollte. Trotzdem stellt sich, wenn es um die Toleranz geht, für jeden Staat die Frage, welche Weltanschauung ihm selber zugrunde liegt, was davon Abweichendes er tolerieren will, und was nicht mehr, denn eine Toleranz von wirklich allem und jedem lässt sich praktisch nicht durchhalten.  Hier ein paar Beispiele für Vertreter von Meinungen, die heute nicht gern gesehen werden:

  • Holocaustleugner
  • Reichsbürger
  • Scientology
  • Muslimbruderschaft
  • IS
  • Pädophilieapologeten (Kein Strohmann. In den 70ern und 80ern behaupteten viele, z. B. in den Reihen der Grünen, dass Kinder von „einvernehmlichen“ sexuellen Beziehungen mit Erwachsenen profitieren würden.)

Auch heutige Staaten kennen so etwas wie Verfassungsfeinde. Wenn man zum Beispiel in Bayern für den Staat arbeiten will, muss man erst einmal eine lange Liste von linksradikalen, rechtsradikalen, islamistischen, türkisch-nationalistischen, kurdisch-nationalistischen usw. Organisationen unterschreiben, mit denen man nichts zu tun haben darf; und ein eigenes Formblatt gibt es noch für Scientology. Weltanschauungsbeauftragte warnen vor Sekten, der Verfassungsschutz beobachtet gewisse Gruppen, um zuschlagen zu können, wenn Gewalttaten geplant werden sollten. Manchmal werden auch Internetseiten abgeschaltet oder Social-Media-Konten gelöscht, und natürlich bekommen verfassungsfeindliche Gruppen keine Fördergelder vom Staat und nicht so leicht Demonstrationen genehmigt. So etwas sind recht humane Methoden, aber auch diese Methoden bedeuten eine Einschränkung der Freiheit – eine, die gerechtfertigt sein kann.

Es gibt ja die Ansicht, jede auch noch so schlimme Meinung sollte offen gesagt werden dürfen, denn am Ende würde sich dann dank der Überzeugungskraft der Wahrheit von selbst die richtige durchsetzen. Das ist aber illusorisch; am Ende gewinnt erfahrungsgemäß eher der, der am lautesten schreit und am geschicktesten Propaganda macht. Das wissen wir nicht erst seit, sagen wir, dem Jahr 1933, sondern spätestens seit etwa dem Jahr 33.

File:Hieronymus Bosch - Ecce Homo - Google Art Project.jpg

Ans Kreuz mit ihm! (Hieronymus Bosch, „Ecce Homo“, zwischen 1480 und 1490. Gemeinfrei.)

(Und dazu hat auch Papst Gregor XVI. schon 1832 in seiner Enzyklika Mirari vos das Passende geschrieben: „Leider aber gibt es Leute, die in ihrer Vermessenheit so weit gehen, dass sie hartnäckig behaupten, diese aus der Pressefreiheit hervorgehende Flut von Irrtümern würde übergenug wettgemacht durch irgendein Buch, das inmitten dieses großen Sturmes von Schlechtigkeiten zur Verteidigung von Religion und Wahrheit herausgegeben wird. […] Welcher vernünftige Mensch wird je sagen, es dürfe Gift frei ausgestreut, öffentlich verkauft, mit sich getragen, ja, gebraucht werden, weil es wohl irgendein Heilmittel gibt, durch dessen Gebrauch man vor dem Tode bewahrt wird?“)

Nein: Es ist tatsächlich nicht gut, wenn jedem uneingeschränkt erlaubt wird, seine Meinung frei zu äußern. Es gibt Meinungen, die nicht nur harmlose Irrtümer, sondern böse und schädlich sind. Und es kann auch durchaus sein, dass derjenige, der sie vertritt, damit sündigt. Ich habe früher nicht verstanden, wieso Ketzerei eine Sünde sein könnte; okay, da kam jemand auf etwas Falsches, aber ein Irrtum war doch noch kein Vergehen, oder? Aber es kann eben doch Sünden des Intellekts geben. Bei Leuten wie Jan Hus oder Martin Luther kann es ihr Stolz gewesen sein, der sie dazu brachte, das, was die Kirche lehrte, nicht anerkennen zu wollen, auch wenn ihnen bewusst gewesen sein sollte, dass die Kirche ihre Autorität vom Sohn Gottes hatte; bei diversen Sektengründern war/ist es wohl Gewinnsucht oder Größenwahn; bei den Pädophilieverteidigern der 1980er war es einfach so, dass sie ihre Lieblingssünde (Kindsvergewaltigung) rechtfertigen wollten. Unbelehrbarkeit, Hochmut, Vorurteile, Selbsttäuschung, alle diese Dinge führen zu falschen Lehren, und vor allem zum Beharren auf falschen Lehren.

Ich finde hier einen Text von Lessing – dessen Ringparabel der Anlass für meine Aufklärungskritik hier war – sehr aufschlussreich. In „Über die Wahrheit“ schreibt er:

„Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Überzeugung in guter Absicht ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen sucht, ist unendlich mehr wert als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidigt.

Will es denn eine Klasse von Leuten nie lernen, daß es schlechterdings nicht wahr ist, daß jemals ein Mensch wissentlich und vorsetzlich sein selbst verblendet habe? Es ist nicht wahr, sag ich; aus keinem geringern Grunde, als weil es nicht möglich ist. Was wollen sie denn also mit ihrem Vorwurfe mutwilliger Verstockung, geflissentlicher Verhärtung, mit Vorbedacht gemachter Plane, Lügen auszustaffieren, die man Lügen zu sein weiß? Was wollen sie damit? Was anders, als – – Nein; weil ich auch ihnen diese Wahrheit muß zugute kommen lassen; weil ich auch von ihnen glauben muß, daß sie vorsetzlich und wissentlich kein falsches verleumdrisches Urteil fällen können: so schweige ich und enthalte mich alles Widerscheltens.

Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –

Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“

Das ist ein ziemliches Potpourri aus Wahrem und Idiotischem. So stimmt es natürlich, dass jemand, der „aufrichtige Mühe“ aufgewandt hat, um auf die Wahrheit zu kommen, aber dabei ohne eigene Schuld bei etwas Falschem gelandet ist, ein besserer Mensch sein kann als einer, der aus den falschen Gründen bei der Wahrheit gelandet ist. Die Kirche kennt hierfür auch Begriffe wie „irrendes Gewissen“. Aber dann widerspricht es einfach jeder Erfahrung, zu behaupten, die Leute würden sich nie selbst täuschen. Die Leute sind nicht so gut, dass sie immer offen für die Wahrheit wären. Das kann jeder an sich selber sehen, schon bei alltäglichen Streitereien ist man voreingenommen für die eigene Seite.

Und das Ende dieses Abschnitts ist so blödsinnig, dass es jeder Beschreibung spottet. Das Ziel der Suche nach Wahrheit ist die Wahrheit. Der Weg ist nicht das Ziel. Lessing ist sich gar nicht bewusst, wie viel die Wahrheit wert ist, wie sehr man sie im Leben braucht, sonst würde er nicht so reden, als wäre bloß die Suche nach ihr nützliches Training. Und der „Besitz“ der Wahrheit macht eben nicht ruhig und träge und stolz – gerade, wenn man eine wichtige Wahrheit erkannt hat, wird man sie immer noch tiefer ergründen wollen. (Wenn wir mal davon absehen, dass es sowieso, wenn, dann Er (Jesus Christus, die Wahrheit in Person) ist, der uns „besitzt“, nicht wir Ihn, wenn ich mal diesen Spruch von einem Freund klauen darf.)

Lessing ist sich scheinbar gar nicht bewusst, wie absolut widersinnig und undankbar es wäre, eine Offenbarung von Gott über die Wahrheit nicht annehmen zu wollen.

Darüber, wie effektiv und sinnvoll staatliches Vorgehen gegen Irrtümer und Lügen ist, mögen die Meinungen auseinandergehen, ebenso, wie darüber, welche Mittel dabei in Ordnung sind, aber ein Recht auf absolute Meinungs- und Pressefreiheit gibt es tatsächlich nicht. Bei den Aufklärern war es so, dass sie Religionen eigentlich nur unter der Prämisse dulden wollten, dass alle Religionen als zweitrangig, möglicherweise falsch, nette Folklore ohne zentrale Bedeutung für das Leben, gelten sollten; ihre Toleranz war untrennbar verbunden mit religiösem Indifferentismus. Wesentlich schwieriger ist es, Dinge zu tolerieren, die dem eigenen Weltbild absolut widersprechen und es wirklich bedrohen. Auch hier kann man um der christlichen Nächstenliebe und der Achtung vor dem Gewissen des einzelnen willen Waffenstillstände mit seinen Gegnern schließen und es nur mit friedlicher Bekehrung versuchen – so wie es auch schon manche Fürsten der Frühen Neuzeit gegenüber Ketzern taten, etwa Henri IV. mit dem Edikt von Nantes 1598. Aber das ist etwas anderes als die Toleranz, die auf der Ansicht beruht, welche Religion die richtige sei, sei letztlich so unentscheidbar und so unwichtig wie die Frage, welche Farbe die schönste oder welches Nudelgericht das leckerste sei.

Aber was heißt das jetzt für die Praxis? Was wäre denn, wenn – sagen wir – Deutschland, ganz ideal, sich zu 95% zum katholischen Glauben bekehren würde, und der Bundestag auch gleich noch die katholische Religion zur Staatsreligion erklären würde, aber noch, sagen wir, 5% Muslime da bleiben würden? Nun ja, man könnte mit ihnen z. B. so umgehen wie heute mit Scientologyanhängern: vor ihrer Ideologie warnen, besonders radikale Prediger beobachten, sie ihre Religion ansonsten für sich leben lassen, inklusive Kopftuchtragen und Beschneidung und halal-Fleisch und Moscheebauten.

Ich als Katholikin freue mich natürlich irgendwo darüber, dass in England und Schweden keine Priester mehr hingerichtet werden. Und ich vermute, gerade die Juden freuen sich darüber, dass Berufsverbote und Ghettos Geschichte sind. (Auch wenn die furchtbarste Judenverfolgung der Geschichte in die Zeit nach der Aufklärung fällt, was man auch erwähnen sollte.) Aber ganz so einfach ist es mit der Toleranz eben nicht – wie ja die Geschichte erwiesen hat, sind gerade die, die sich so viel auf ihre Toleranz eingebildet haben, besonder intolerant gegenüber denen geworden, die sie als intolerant angesehen haben. Da ist es doch besser, seine weltanschaulichen Gegner als Gegner zu achten, denen gegenüber auch die Gebote der Gerechtigkeit und Nächstenliebe gelten, die man aber trotzdem manchmal gewissermaßen bekämpfen muss. (Unterscheiden kann man dabei sicher oft auch zwischen Sektenführern und denen, die auf sie hereinfallen.)

4) Demokratie

„4) Die Aufklärer haben auch die Forderung erhoben, dass alle Menschen an politischen Prozessen beteiligt werden sollen. Die Aufklärung bildet also das Fundament unserer freiheitlichen Demokratie.“

Hier sollte man ein paar Dinge klarstellen.

Als Katholik muss man anerkennen, dass der heute übliche Parteienparlamentarismus – oder auch allgemein die Demokratie – nicht die einzige legitime Regierungsform ist. Erbmonarchie, Wahlmonarchie, Erbaristokratie, lokale Basisdemokratie, ständestaatliche Vertretungen, verschiedene Mixturen daraus usw. können alle legitime Regierungsformen sein, solange sie für das Recht sorgen. Prinzipiell illegitim sind nur Anarchie, Tyrannei (d. h. Willkürherschaft) und Totalitarismus, d. h. die Staatsformen in denen das Recht nicht gilt oder die die Nation, die Partei o. Ä. zum Götzen machen und den Leuten elementare Freiheiten nehmen.

Katholische Lehre ist: Es muss, das ist die von Gott eingesetzte Ordnung, in Gesellschaften jemanden geben, der herrscht und damit für das Recht sorgt; wie diese Person(en) bestimmt werden, ist der Kirche eher egal. Und es ist nicht zwangsläufig so, dass die Minderheiten in einem Land sich allem fügen müssten, was die Mehrheit sagen würde, und auch nicht so, dass alles, was die Mehrheit sagen würde, deswegen schon gut wäre; ein Naturrecht auf Demokratie gibt es nicht.

„Daß in jeder Vereinigung und Gemeinschaft von Menschen irgendwelche vorstehen , erzwingt die Notwendigkeit selbst. […] Es ist aber an dieser Stelle wichtig, darauf zu achten, daß diejenigen, die dem Gemeinwesen vorstehen sollen, in bestimmten Fällen nach dem Willen und Urteil der Menge gewählt werden können, ohne daß die katholische Lehre [dem] widerspricht oder widerstreitet. Bei dieser Wahl freilich wird der Herrscher bestimmt, werden nicht die Rechte der Herrschaft übertragen; auch wird nicht die Herrschaft übergeben, sondern festgelegt, von wem sie auszuüben sei. Auch wird hier nicht nach den Arten der Gemeinwesen gefragt: denn es gibt keinen Grund, warum von der Kirche nicht die Herrschaft sowohl eines einzigen als auch die mehrerer gebilligt werden sollte, wenn sie nur gerecht und auf den gemeinsamen Nutzen ausgerichtet ist. Deshalb werden die Völker, wenn die Gerechtigkeit gewahrt ist, nicht daran gehindert, sich jene Art des Gemeinwesens einzurichten, die entweder ihrer eigenen Veranlagung oder den Sitten und Gebräuchen der Vorfahren angemessener entspricht.“ (Papst Leo XIII., Enzyklika „Diuturnum Illud“, 1881.)

Was die Aufklärung gebracht hat, war zunächst vor allem die Vorstellung des Gesellschaftsvertrages: Ein Staat entsteht dadurch, dass die im Naturzustand freien Menschen sich zusammenschließen und ihre Freiheit an ihn abgeben. Diese Vorstellung wirkt auf den ersten Blick logisch, oder? Tatsächlich ist sie gar nicht unproblematisch (weshalb Leo sie dann auch im weiteren Verlauf der Enzyklika ablehnt). Der gedachte Naturzustand ist nämlich eine Illusion, da Menschen von Anfang an Teil von Gemeinschaften sind. Zur Illustration wieder ein Zitat von Rousseau:

„Die älteste aller Gesellschaften und die einzig natürliche ist die der Familie. Und selbst dort bleiben die Kinder nicht länger an den Vater gebunden als sie seiner zu ihrer Erhaltung bedürfen. Sobald diese Bedürftigkeit aufhört, löst sich das natürliche Band. Die Kinder, befreit vom Gehorsam, den sie dem Vater schuldeten, und der Vater, befreit von der Sorge, die er den Kindern schuldete, beide kehren gleichermaßen in die Unabhängigkeit zurück. Wenn sie weiter zusammenbleiben, geschieht dies nicht mehr natürlich, sondern willentlich, und die Familie selbst wird nur durch Übereinkunft aufrechterhalten.

Die allen gemeinsame Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen. Dessen oberstes Gesetz ist es, über seine Selbsterhaltung zu wachen, seine erste Sorge ist diejenige, die er sich selber schuldet, und sobald der Mensch erwachsen ist, wird er so sein eigener Herr, da er der einzige Richter über die geeigneten Mittel zu seiner Erhaltung ist.“**

Das ist Unsinn. Allein schon offensichtlich deshalb, weil die Familienbande sich eben nicht auflösen; die Eltern werden irgendwann alt, und dann müssen wieder die Kinder für sie sorgen. Das Eheband, von dem Rousseau gar nicht spricht, bindet auch bis zum Tod. Für Rousseau sind Familien ein Ausnahmefall, eigentlich sind die Menschen ungebundene Individuen; tatsächlich ist es andersherum, Familien sind natürlich und normal. Die Menschen gehören von Anfang an in eine Gemeinschaft hinein und sind auf sie angewiesen und ihr verpflichtet. (Aber bei jemandem, der alle seine fünf Kinder gleich als Säuglinge in Findelheime gegeben hat, wird man wohl nicht erwarten können, dass er familiäre Bindungen besonders achtet.) Und so wie mit der Familie ist es eben auch mit größeren Gemeinschaften.

Als Katholik darf man also Erbmonarchie oder Parteienparlamentarismus oder einen Mix daraus – oder was auch immer – vorziehen, ganz wie man möchte. Der oben zitierte Chesterton zum Beispiel war sehr (basis)demokratisch eingestellt; bei anderen Katholiken ist auch der (konstitutionelle) Monarchismus beliebt – wofür z. B. solche Gründe angeführt werden wie hier im Kommentarbereich. Die klassische Position nach Aristoteles ist, dass eine Mischung aus Republik, Aristokratie und Monarchie am besten sei; Aristoteles würde freilich Parlamente als Aristokratie und Kanzler und Präsidenten als Monarchen betrachten und eher in Volksabstimmungen demokratische Elemente sehen; insofern leben wir also in Deutschland in einem solchen gemischten System.

Der frühneuzeitliche Absolutismus, mit dem man es im 18. Jahrhundert zu tun hatte und gemäß dem der Herrscher von allen Gesetzen losgelöst („absolutus“) sein soll, ist übrigens eine Staatsform, die zu dieser Zeit noch gar nicht so alt war und die auf eigentlich sehr unchristlichen Überlegungen basiert – etwa denen von Thomas Hobbes, dass, da der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, es einen geben müsse, der die absolute Kontrolle hätte, damit es nicht in Anarchie ausarte. Im Mittelalter sah man den Herrscher sehr wohl an die alten Gesetze und das Gewohnheitsrecht gebunden und meinte, dass er Rücksicht auf die Ständevertretungen usw. nehmen müsste.

Und natürlich war auch die Aufklärung nicht immer ganz so demokratisch. Der „aufgeklärte Absolutismus“, dem z. B. Friedrich II. von Preußen oder Joseph II. von Österreich folgten, sollte bekannt sein. Die Aufklärung war oft genug etwas, wo die väterlichen Herrscher, die es besser wussten, ihren ungebildeten Volksmassen, die ja nie in irgendwelchen Salons über Kant und Voltaire debattiert hatten, bis ins kleinste Detail vorschrieben, was sie zu tun und zu lassen, was sie zu trinken und was sie zu essen und wie sie ihre Haare zu tragen hatten.

Ob die Demokratie zu so idealen Ergebnissen führt, ist jedenfalls letztlich nicht ausgemacht. Nicht vergessen: Hitler kam über ein demokratisches System an die Macht (weshalb übrigens nach dem Krieg das Grundgesetz absichtlich weniger demokratisch gestaltet wurde als die Verfassung von 1918). Da ist mir doch jeder König oder Kaiser lieber – ja, selbst Friedrich II. oder Joseph II. Bei Wahlen bewerben sich machtgierige Leute; bei einem Erbkönigtum bleibt es dem Zufall überlassen, wer die Herrschaft erhält. Es ist unbestritten, dass die Aufklärung mehr demokratische Elemente in der Politik durchgesetzt hat (auch wenn es sie mancherorts, z. B. in den freien Reichsstädten oder in England, schon lange gab); ob das im Endeffekt so gut war – ich weiß es nicht. Ganz ehrlich: Keine Ahnung. Gewisse Mitbestimmungsrechte haben sicher ihre Vorteile, aber über die Errungenschaften und Nachteile des Strebens nach Demokratie in den letzten 250 Jahren insgesamt erlaube ich mir noch kein Urteil.

Was man der Aufklärung meiner Meinung nach eher zugute halten kann, ist, dass sie Rechtsgleichheit gebracht hat (Abschaffung der Adelsprivilegien, Vereinheitlichung von verschiedenen Rechtsbräuchen), und festgeschriebene Verfassungen. Hier will ich sie mal loben; das war gut. (Wobei auch hier die Leute damals nicht immer ihr lokales Gewohnheitsrecht aufgeben wollten; aber vielleicht war es einfach eine Notwendigkeit in einer sich technisch weiter entwickelnden Welt, eine gewisse rechtliche Vereinheitlichung zu haben.)

Im nächsten Teil dann noch zu ein paar weiteren Problemen mit aufklärerischen Ideen.

* Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, übersetzt von Hans Brockard und Eva Pietzcker, Reclam 2004, S. 151-153. (4. Buch, 9. Kapitel.)

** Ebd., S. 6. (1. Buch, 2. Kapitel.)

12 Gedanken zu “Was habe ich eigentlich gegen die sog. Aufklärung? Teil 2: Zu Toleranz und Demokratie

  1. Dazu fällt mir auch ein:

    Ich bin sicherlich ein ideologischer Gegner des Kommunismus. Aber wenn in chinesischen Staatsmedien geleitartikelt wird: „Der Westen ist immer für Meinungsfreiheit und Pressefreiheit, aber wo hat die Meinungs- und Pressefreiheit denn hingeführt? Sie hat zu Donald Trump geführt“, dann kann ich nicht umhin, etwas peinlich berührt zu sein.

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  2. Das braucht aber nicht peinlich zu sein, besser ein D.Trump inc. Meinungsfreiheit als ein Mao Zedong der mal locker 45 Millionen Landsleute auf seinem „großen Sprung nach vorne“ verhungern ließ. Natürlich nachdem er die Meinungsfreiheit verboten hatte und nur noch seine eigene für gültig erklärte.

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    1. Allerdings war Mao Zedong zwar zumindest in der Auswirkung der schlimmere Politiker als Donald Trump, aber er war nicht *lächerlich*.

      Natürlich, Brutalität und Überleichengehen hilft natürlich dabei, nicht lächerlich zu sein; das mag leider so sein, aber es ist so.

      Und als unverbesserlicher Moralist finde ich so Dinge wie die Kulturrevolution oder so, wo bewußt tyrannische und dann auch gewaltsame Maßnahmen getroffen wurden, oder sogar das Verbot der papsttreu-katholischen Kirche für um einiges schlimmer als den „großen Sprung nach vorn“, der doch – bei allen Millionen Toten – im wesentlichen ein gescheitertes Wirtschaftsprojekt mit allerdings massentöterischen Folgen, aber doch der Absicht nach ein gutwilliges (wenn auch falsches bis vertrotteltes) Wirtschaftsprojekt, war. (Ich habe mich in das Thema aber nicht erneut eingelesen.)

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  3. Du schreibst in deinem Beitrag:

    „Auch an anderen Fronten herrschte eine Art religiöse Pattsituation; während im Altertum tatsächlich noch viele Juden Christen geworden waren, war das seit dem Mittelalter nur noch in seltenen Einzelfällen vorgekommen – woran wohl ihre unfreundliche Behandlung durch Christen auch nicht ganz unschuldig war, allerdings war das sicher nicht der einzige Faktor.“

    Wie weit reichte diese unfreundliche Behandlung? Gab es Berufsverbote für Juden im Mittelalter? Existierten auch noch andere Gesetze, die Juden aktiv diskriminierten?

    Ich stelle diese Fragen, da ich schon häufiger im Internet gelesen habe, dass Hitlers Judenpolitik durch die Gesetzgebung im Mittelalter inspiriert wurde, und ich nun wissen möchte, ob diese Behauptung durch historische Befunde gestützt werden kann.

    „Allerdings war das sicher nicht der einzige Faktor“ – Welche Faktoren gab es noch, die dafür verantwortlich waren, dass sich Juden nur noch in seltenen Einzelfällen zum Christentum bekehrten?

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    1. Juden lebten in Ghettos, also abgegrenzten Bereichen in den Städten. Sie durften oft kein Land besitzen und bestimmte Berufe nicht ausüben; das drängte sie in andere Berufe wie den Geldverleih (hinzu kam in diesem Fall, dass Christen anderen Christen keine Zinsen auferlegen durften, aber zwischen Christen und Juden, die keine Glaubensbrüder waren, war das erlaubt, also waren die meisten Geldverleiher eben Juden, und das trug dann auch zu dem Klischee vom geldgierigen Juden bei, weshalb die Leute sie noch mehr hassten). Sie trugen oft spezielle Kleidung – wobei man dazu sagen muss, dass es in den Städten für alle Leute Kleiderordnungen gab, die z. B. auch festlegten, welchen Schmuck eine Magd tragen durfte oder so, das betraf also nicht nur Juden. Aus manchen Ländern wurden die Juden sogar ganz ausgewiesen, z. B. im 13. Jh. mal aus England. Aber allgemein waren für sie im Mittelalter Gesetze und Verordnungen weniger gefährlich als spontane Ausschreitungen, also, wenn z. B. gerade in einer Stadt die Pest ausgebrochen war und die Leute jemandem die Schuld geben wollten und sich dann eine Außenseitergruppe als Sündenbock suchten und eine Synagoge stürmten und ein paar Juden umbrachten oder so.

      Damit, dass das nicht der einzige Faktor war, wollte ich einfach sagen, dass sich jemand nicht nur deswegen schon zu deiner Religion bekehrt, weil du ihn gut behandelst; wenn er von seiner sehr überzeugt ist oder sie für seine Identität sehr wichtig ist, hält er halt daran fest. Sämtliche einzelnen Faktoren weiß ich da nicht.

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      1. Dazu habe ich einige Fragen:

        Warum durften Juden oft kein Land besitzen? Welche Berufe durften Juden nicht ausüben?
        Wie wurde ein solches Berufsverbot begründet?

        Was waren die Beweggründe für die Ausweisung der Juden aus England im 13. Jahrhundert?

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