Die Benedikt-Option: Ich bin positiv überrascht

Jetzt bin ich endlich dazu gekommen, Rod Drehers „Die Benedikt-Option“ fertig zu lesen, nachdem mir das Buch vor zwei Wochen geliefert wurde, und ich muss sagen: es ist deutlich besser, als ich erwartet hätte.

Für alle, denen dieses Thema bisher entgangen sein sollte: Drehers Buch, das den Untertitel „Eine Strategie für Christen in einer nachchristlichen Gesellschaft“ trägt, ist in den USA schon im März 2017 erschienen („The Benedict Option: A strategy for Christians in a post-Christian nation“) und hat dort für viel Aufsehen und lebhafte Diskussionen gesorgt; hierzulande hat sich innerhalb des letzten Jahres vor allem der Blogger und Publizist Tobias Klein (sehr lesenswerter Blog) daran gemacht, Drehers Buch bekannt zu machen, und hat es schließlich für den katholischen fe-Verlag übersetzt. (Auf Amazon findet sich die dt. Ausgabe hier.) Ich hatte anfangs bei dem, was ich so über das Buch gelesen habe, einen sehr gemischten Eindruck; vieles kam mir komisch oder alarmistisch oder übertrieben vor. Aber man soll seine Vorurteile ja überprüfen, also hab ich mir die deutsche Übersetzung gleich mal bestellt, als sie dann erschienen ist. Und, wie gesagt, ich wurde positiv überrascht.

Ein paar Sachen vorweg. Mit Drehers Stil werde ich mich wohl nicht mehr anfreunden (ist einfach Geschmackssache), einzelne Punkte in seinem Buch sehe ich kritisch, und den Titel halte ich für nicht besonders gelungen. Der Untertitel drückt den Inhalt des Buches klar aus, aber der eigentliche Titel ist ein wenig irreführend. Dreher hält seine Ideen nicht für eine Option unter vielen, sondern für eine Strategie, auf die die Christenheit als Ganzes nicht wird verzichten können, wenn der Glaube überleben soll. Das kann man ihm allerdings irgendwo nachsehen, da seine Idee ein ziemlich breites Konzept ist, unter dem sich ganz verschiedene Initiativen und Gruppen wiederfinden könnten.

Die Grundidee des Buches ist einfach: Wir brauchen starke christliche Parallelgesellschaften [ich bitte zu  beachten, dass ich diesen Begriff in keiner Weise negativ meine], um den Glauben in einer glaubensfeindlichen Umgebung zu bewahren, ihn authentisch zu leben und ihn an die nächste Generation weiterzugeben. Damit sind keineswegs zwangsläufig autarke Landkommunen gemeint. Die kommen am Rande vor (dazu später), aber es geht sehr viel mehr um Pfarrgemeinden, christliche Schulen, Studentenverbindungen, berufliche Netzwerke und natürlich die kleinere Gemeinschaft der Familie. Dieser Grundidee kann man kaum widersprechen, und der Autor gibt so einige nützliche Impulse für die praktische Umsetzung. Er hat seine „Option“ nach dem hl. Benedikt von Nursia, dem Vater des abendländischen Mönchtums, benannt und nimmt immer wieder Bezug auf klösterliche Praktiken, die man in veränderter Form auch als Laie anwenden könnte.

Luftaufnahme des Stiftes Heiligenkreuz

(Das Stift Heiligenkreuz bei Wien, zu dem auch die Philosophisch-Theologische Hochschule Benedikt XVI. gehört und das sich sehr um die Neuevangelisierung bemüht, wäre sicher ein gutes Beispiel für eine Benedikt-Options-Gemeinschaft.)

Hier mal eine genauere Beschreibung des Inhalts:

Im ersten Kapitel beschreibt Dreher die Bedrohung, die Individualismus und  Säkularismus für unsere Religion darstellen würden. Die Christen im Westen seien nicht auf den Zusammenbruch des Christentums vorbereitet, obwohl er sich schon klar abzeichne. Viele gäben sich noch immer der Illusion hin, die Kultur sei mit konservativen (lies: republikanischen) politischen Initiativen gegen Abtreibung und Homo-Ehe zu retten. Dreher schreibt natürlich aus der US-amerikanischen Perspektive; und in den USA spielt das Christentum bekanntlich noch eine größere Rolle in Gesellschaft und Politik als in Europa, wo die Meinung, der Westen sei noch überwiegend christlich oder man könne ein „christliches Abendland“ auf kurze Sicht wiederherstellen, vermutlich weniger verbreitet ist.

Dreher schreibt:

„Heute können wir sehen, dass wir an allen Fronten verloren haben, und dass die rasanten und unerbittlichen Ströme des Säkularismus unsere schwachen Barrieren überwältigt haben. Ein feindseliger säkularer Nihilismus hat die Oberhand, und die gesamte Kultur hat sich entschieden gegen traditionsorientierte Christen gewendet. Wir reden uns ein, dass diese Entwicklungen von einer kleinen linksgerichteten Elite betrieben werden – weil wir die Wahrheit nicht ertragen können: Der Mainstream der Gesellschaft unterstützt diese Entwicklungen, wenn nicht aktiv, dann zumindest passiv.“ (S. 25f.)

Folglich sollte man lieber eine Arche bauen, statt erfolglos die Flut zu bekämpfen, lautet Drehers Plan. Das sei nicht nur nötig, um sich selbst vor der Welt zu schützen:

„Es geht nicht nur um unser eigenes Überleben. Wenn wir für die Welt das sein wollen, von dem Christus will, dass wir es seien, dann werden wir mehr Zeit abseits von der Welt verbringen müssen, in tiefem Gebet und umfangreichem spirituellen ‚Training’ – ebenso, wie Jesus sich zum Gebet in die Wüste zurückzog, ehe Er die Menschen lehrte. Wir können der Welt nicht geben, was wir selbst nicht haben.“ (S. 41)

Dreher gibt die Schuld am Zusammenbruch des Glaubens im Westen einem Pseudo-Glauben namens „Moralisch-therapeutischer Deismus“ (MTD), der die wirkliche Religion der meisten Amerikaner sei. Die Existenz von MTD wurde 2005 von den Soziologen Christian Smith und Melinda Lundquist Denton postuliert. Ihnen zufolge hat MTD folgende fünf Glaubenssätze:

„Ein Gott existiert, der die Welt erschaffen hat und in Ordnung hält und über das Leben der Menschen auf der Erde wacht.

Gott will, dass die Menschen gut, freundlich und fair miteinander umgehen, wie es die Bibel und die meisten Weltreligionen lehren.

Das wesentliche Ziel des Lebens ist es, glücklich und mit sich selbst im Reinen zu sein.

Es ist nicht nötig, Gott einen besonders bedeutenden Platz im eigenen Leben einzuräumen, außer man braucht Ihn, um ein Problem zu lösen.

Gute Menschen kommen in den Himmel, wenn sie sterben.“ (S.27f.)

Das Problematische an dieser Darstellung ist meiner Ansicht nach: MTD ist schlichtweg laxes Christentum. Ach, wenn doch nur die Mehrheit der Leute wirklich glauben würde, dass ein Gott die Welt erschaffen hat und in Ordnung hält und über uns wacht! Ich finde es ehrlich gesagt seltsam, dass Dreher sich hier auf MTD bezieht; in Kapitel 2 stellt er eine viel treffendere Diagnose des derzeitigen Zustandes: Die Menschen haben den Glauben daran verloren, dass die Welt wirklich von Gott geordnet ist. Sie hätten den Glauben an folgende, im Mittelalter selbstverständliche Grundpfeiler verloren:

„Die Welt und alle Dinge in ihr sind Teil eines von Gott eingerichteten und mit Sinn erfüllten harmonischen Ganzen – und alle Dinge sind Zeichen, die auf Gott hindeuten.

Die Gesellschaftsordnung ist in dieser höheren Ordnung verwurzelt.

Die Welt ist aufgeladen mit spiritueller Kraft.“ (S. 52)

Kapitel 2 („Die Wurzeln der Krise“) ist überhaupt sehr gelungen. Hier stellt Dreher dar, wie nach und nach, durch die spätmittelalterliche Philosophie des Nominalismus, den Renaissance-Humanismus, die Reformation und die ihr folgende Kirchenspaltung, den Aufschwung der Nationalstaaten, das neue Machbarkeitsdenken im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts, die Ablehnung von Offenbarungsreligionen durch die Aufklärer, die Industrielle Revolution und die ihr folgende Entwurzelung der Menschen, und zuletzt die sexuelle Revolution, das Denken im Lauf der letzten sieben Jahrhunderte immer individualistischer und relativistischer wurde. (Mir meine Wahrheit, dir deine Wahrheit – was ist schon die Wahrheit?)

Eine ausführliche Würdigung dieses Kapitels, mit ein paar Ergänzungen und ein klein wenig Kritik, kommt noch in einem eigenen Blogpost; aber eins möchte ich hier gleich anmerken. Dreher, der in einer protestantischen Familie aufgewachsen ist, sich als Erwachsener nach einer Zeit der Kirchenferne dem Katholizismus zuwandte, und zuletzt im Zuge des Missbrauchsskandals zur Orthodoxie konvertierte, hat sein Buch ausdrücklich ökumenisch ausgerichtet. Er zitiert Katholiken, Orthodoxe, Presbyterianer, Southern Baptists… Aber seine Idee funktioniert im Rahmen des Protestantismus letztlich nicht. Das heißt, Parallelgesellschaften aufbauen kann an sich natürlich jede Religion, aber Dreher zieht viele seiner konkreten Ideen dazu, wie die christlichen Parallelgesellschaften denn aussehen sollen, aus dem Ordensleben und dem katholischen Mittelalter, und hier ergeben sich immer wieder klare Widersprüche zur Gestalt des Protestantismus, v. a. zu evangelikalen Erweckungsbewegungen.

Und, wie gesagt, in Kapitel 2 beklagt Dreher unter anderem die Folgen der Reformation. Das Problem ist nach seiner Darstellung, dass die heilige Ordnung, die Einheit der Christenheit, die universelle Überzeugung von den christlichen Wahrheiten, die im Mittelalter existierte, verloren ging. Er stellt, auch wenn er der Reformation nur einen kurzen Abschnitt widmet und auf die problematischen Aspekte des Gottesbildes der Reformatoren überhaupt nicht eingeht, ganz gut das zentrale Problem heraus, für das sie sorgte:

„Dies [der sola-scriptura-Grundsatz] warf unvermeidlicherweise die Frage auf: Wessen Auslegung der Schrift? Keiner der Reformatoren befürwortete eine private Schriftauslegung, aber es fehlte ihnen an einem überzeugenden Instrumentarium, um festzulegen, wessen Interpretation die richtige war. So stellten die Reformatoren bald fest, dass das Abschütteln der Autorität Roms ein Problem gelöst, gleichzeitig aber ein anderes geschaffen hatte. Wie der Historiker Brad Gregory es formuliert: ‚Weil Christen sich uneinig darüber waren, was sie zu glauben und zu tun hatten, waren sie sich auch uneinig darüber, worin die Früchte eines christlichen Lebens überhaupt bestanden.’ Und so ist es bis heute.“ (S. 61)

Die Benedikt-Option legt dem Leser die Rückkehr zu einer quasi-mittelalterlichen Lebensweise nahe, und das ist total sympathisch; aber das alles macht im Endeffekt nur im Katholizismus oder noch in der Orthodoxie Sinn. Wenn wir zurück ins Mittelalter wollen, müssen wir hinter die Reformation zurück. Dreher stellt im ersten Kapitel MTD als Gegensatz zu „historischer, biblisch fundierter Rechtgläubigkeit“ dar; aber inwiefern soll ein konservativer Presbyterianer oder Baptist bitteschön rechtgläubig sein? Er folgt Ideen, die seit höchstens 500 Jahren in Umlauf sind, und ist damit dem Prinzip nach ebenso modernistisch wie irgendwelche Anglikaner oder Methodisten, die Christus nur für einen Menschen mit einer besonderen Gottesbeziehung halten und zweifach geschiedene lesbische Pfarrerinnen haben.

Dreher stellt an späterer Stelle, bei einem Abschnitt zur Zusammenarbeit über Konfessionsgrenzen hinweg, klar, dass seiner Meinung nach die „verschiedenen christlichen Konfessionen […] wohlgemerkt nicht ihre lehrmäßigen Differenzen verleugnen [sollten]“ (S. 220), gleichzeitig spielt er diese Differenzen jedoch herunter. Er zitiert gleich darauf den Gründer eines ökumenischen Lesekreises:

„‚Wenn wir Christen überleben wollen, wenn wir etwas bewirken wollen, müssen wir in der Lage sein, uns gemeinsam an einen Tisch zu setzen. Ein konfessionsübergreifendes Verständnis von Rechtgläubigkeit ist unverzichtbar’, betont Doom.“ (S. 221)

Wie genau diese Rechtgläubigkeit definiert sein soll, wird freilich nicht klar; es ist auch unmöglich, sie zu definieren; es bleibt letztlich nichts anderes als „das, was schon länger als 50 Jahre da ist* und sich ‚bibeltreu’ nennt“.

Übrigens versucht Dreher an mehreren Stellen im Buch, seinen Lesern klassisch katholische bzw. orthodoxe Dinge schmackhaft zu machen: Eine Liturgie, in der man nicht nur dasitzt und eine Predigt anhört, sondern auch kniet, aufsteht, Weihrauch schwenkt, kurz, den Körper und die Sinne ins Gebet einbezieht; Fasten; die Schriften der antiken Kirchenväter. Er geht dabei auch auf einen leichten Trend der letzten Jahre in evangelikalen Kreisen ein, solche Dinge mehr zu würdigen.

File:Messe solennelle d'action de grâce pour les 25 ans de la FSSP (10892923415).jpg

(Hochamt in der außerordentlichen Form anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Priesterbruderschaft St. Petrus, Quelle: Wikimedia Commons)

Das ist mein Hauptkritikpunkt bei diesem Buch: Die Benedikt-Option ist zu ökumenisch und damit gewissermaßen widersprüchlich. Jetzt aber weiter im Text.

In Kapitel 3 geht es dann um eine Reise des Autors nach Norcia (das ehemalige Nursia), den Herkunftsort des hl. Benedikt, seinen Besuch in einem dortigen Kloster und seine Ideen dazu, wie sich Impulse aus der benediktinischen Ordensregel von Laien umsetzen lassen. Ich muss sagen, am Anfang war ich ein bisschen überrascht darüber, dass Dreher nicht nach Montecassino zu dem Kloster gereist ist, das der hl. Benedikt gegründet hat – das in seinem Herkunftsort entstand wohl erst ein paar Jahrhunderte später – aber das liegt vielleicht einfach daran, dass viele der Benediktiner in Norcia Amerikaner sind, mit denen  Dreher sich natürlich leichter austauschen konnte, oder möglicherweise auch daran, dass diese Gemeinschaft „traditioneller“ nach der Benediktsregel lebt als die heutigen Mönche in Montecassino? Egal. Die Prinzipien jedenfalls, die Dreher herausgearbeitet hat, sind folgende:

  • Ordnung
  • Gebet
  • Arbeit
  • Askese
  • Beständigkeit
  • Gemeinschaft
  • Gastfreundschaft
  • Ausgewogenheit

Ich muss sagen, ich liebe es, wie hier die Ordnung, in der alles im richtigen Maß seinen richtigen Platz hat, betont wird. Man beginnt direkt, sich nach dem geordneten Leben in einem mittelalterlichen Benediktinerinnenkloster zu sehnen, in dem man seine Tage mit Stundengebet, Unkrautjäten, Kartoffelschälen und lectio divina verbringen kann. Also, ich jedenfalls. Irgendwie.

Im 4. Kapitel geht es um „Eine neue Form christlicher Politik“. Kurz gesagt ist Dreher der Ansicht, dass Christen sich eher auf die lokale Basisarbeit als die große Politik konzentrieren sollten. Mit einer Ausnahme: Den Einsatz für Religionsfreiheit. An dieser Stelle halte ich ihn ausnahmsweise mal für eher naiv als alarmistisch. Den meisten Leuten bedeutet Religionsfreiheit nicht unbedingt viel, auch wenn sie offiziell in irgendwelchen Verfassungen drin steht; wenn sie eine religiöse Lehre oder Praxis für schädlich halten, werden sie mit Appellen an Freiheitsrechte nur eine gewisse Zeit lang davon abzuhalten sein, gegen die betreffende Religion vorzugehen (man sehe sich nur Äußerungen in den sozialen Medien zum Thema Kopftuch- oder Beschneidungsverbot an). Es ist wichtig, dass wir uns die Freiheit bewahren, christliche Gemeinschaften bilden zu können usw., aber ich halte den Einsatz dafür nicht für mehr oder weniger aussichtsreich als, sagen wir mal, den Einsatz gegen die Einführung aktiver Sterbehilfe.

In Kapitel 5 („Eine Kirche für alle Jahreszeiten“) geht es dann um das kirchliche Leben, d. h. das Leben innerhalb einer Pfarrei oder einer Freikirche. Hier plädiert Dreher, wie bereits erwähnt, dafür, die christliche Vergangenheit wiederzuentdecken, z. B. indem man in Studienkreisen Schriften der Kirchenväter liest – ein toller Ratschlag. (Ein bisschen appeacement gegenüber den protestantischen Lesern muss aber sein: „Es mag verständlich sein, dass Protestanten misstrauisch gegenüber vorreformatorischen theologischen Werken des zweiten Jahrtausends sind, aber die Schriften der frühen Kirchenväter sind eine Goldmine spiritueller und theologischer Weisheit.“ (S. 170)) Man sollte den „Sinn für Liturgie zurückgewinnen“ (S. 171), außerdem etwas Askese betreiben (z. B. an festgesetzten Tagen fasten), durch „Güte und Schönheit“ (S. 190), also Werke der Nächstenliebe (z. B. Hilfe für kranke Gemeindemitglieder) und christliche Kunst, evangelisieren, und die Gemeinde sollte die „kirchliche Disziplin festigen“ (S. 187), d. h. Kirchenmitglieder müssen wegen schlimmer Sünden ermahnt und ggf. auch aus der Gemeinde ausgeschlossen werden.

„Der Grundgedanke dabei [bei der Kirchendisziplin der frühen Kirche] war weder Gemeinheit noch Selbstgerechtigkeit, sondern Verantwortlichkeit. Zudem konnte die Kirche – als eine Gemeinschaft, die ihre Mitglieder anleitet und formt – ihre Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie nicht in der Lage war, in ihren Reihen Ordnung aufrechtzuerhalten.“ (S. 188)

Hier könnte es aber wieder ein wenig knifflig werden, dank der schon kritisierten ökumenischen Ausrichtung. Mit protestantischer Kirchendisziplin ist das meiner Meinung nach nämlich so eine Sache. Sie neigt dazu, entweder zu strikt oder zu lax zu sein, und ihr fehlen oft die klaren Prinzipien. Im Katholizismus haben wir das universal geltende Kirchenrecht, das z. B. festlegt, wer zur Kommunion gehen darf. Auch hier hat sich eine Laxheit eingeschlichen, die eigentlich nicht da sein sollte (Leute im Stand der Todsünde gehen einfach trotzdem zur Kommunion), aber die Prinzipien wären klar und es muss nicht jede Pfarrei das Rad neu erfinden. Bei den Protestanten ist es schwieriger.

In diesem Abschnitt wird das Beispiel einer Gemeinde der Southern Baptists angeführt, deren Mitglieder bei ihrem Eintritt eine Vereinbarung unterzeichnen müssen, die ihre Pflichten gegenüber der Gemeinde festlegt, und auch das Recht der Gemeinde, sie, wenn sie auf Abwegen sind, zu Umkehr und Buße anzuhalten und ggf. auszuschließen. In dieser Gemeinde gab es ein Ehepaar, „das sich nach vier Jahrzehnten Ehe scheiden lassen wollte. Ein Beratungsgespräch mit den Pastoren, um ihnen zu helfen, ihre Ehe zu retten, lehnten sie ab. Ebenso wiesen sie Hilfsangebote von Freunden und anderen Gemeindemitgliedern zurück. Monatelange Bemühungen der Pastoren, die zerrüttete Ehe des Paares zu heilen, endeten in einer Sackgasse: Die Eheleute wollten einfach nicht kooperieren. Schließlich wurde eine Gemeindeversammlung einberufen, bei der beschlossen wurde, sie auszuschließen.“ (S. 189f.) Nun ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Kirche hier im Recht war und das Paar hätte versuchen sollen, seine Ehe zu bewahren; es ist aber auch möglich, dass die Eheleute gute Gründe für eine Trennung hatten (z. B. anhaltender Ehebruch durch einen der zwei, den sich der andere nicht mehr gefallen lassen wollte; dass sie dann beide nicht unbedingt mit der Gemeinde darüber hätten reden wollen, wäre verständlich). Und eine Trennung und weltliche Scheidung allein ist noch kein Ehebruch, wie eine Wiederheirat nach der Scheidung es wäre; eine Trennung/Scheidung ist nicht automatisch Sünde, sondern nur je nach den Umständen. Insofern frage ich mich schon, ob es gerechtfertigt ist, Mitglieder wegen einer Scheidung an sich, ohne zweite Beziehung, und ohne dass den Pastoren die genauen Hintergründe bekannt sind, aus der Gemeinde auszuschließen.

Aber an sich stimmt es natürlich: Man braucht in der Kirche gewisse moralische und lehrmäßige Standards, und wenn z. B. ein Priester offen Häresie lehrt oder ein Diakon in wilder Ehe lebt, kann das nicht einfach so zugelassen werden, weil die Standards sonst schnell verschwinden.

Kapitel 6 nennt sich „Die Idee eines christlichen Dorfes“ und Dreher beginnt mit dem Sprichwort „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen“. Er erwähnt die orthodoxen Juden und ihren Fokus auf die Gemeinschaft von Familie und Synagoge als Vorbild. Zu den Strategien, um seine Kinder christlich zu erziehen gehöre: ein lebendiges Familienleben, in dem das Heim beinahe eine Art Kloster ist, in dem es regelmäßige gemeinsame Gebetszeiten gibt, der Sonntagsgottesdienst Sportveranstaltungen vorgezogen wird und schädliche Einflüsse, z. B. durch zu viel Internet und Fernsehen, beschränkt werden. Ich finde es hier schön, wie Dreher betont, dass es in einer Familie wichtig ist, sich gegenseitig um Verzeihung bitten zu können; auch wenn es den Gehorsam gegenüber den Eltern brauche, müssten auch die Eltern ihren Kindern zeigen, dass sie sich bei ihnen entschuldigen könnten und ihnen zuhörten. Außerdem betont er noch einmal die Gastfreundschaft. Man müsste den Kindern zudem klar machen, dass es nichts Schlimmes ist, nicht so zu sein wie die anderen, und man sollte sich auch Gedanken darüber machen, mit welchen Gleichaltrigen sie ihre Zeit verbringen.

„Harris [die Psychologin Judith Rich Harris] verweist auf das Beispiel von Immigranten und deren Kindern. Zahlreiche Studien zeigen auf, dass, so stark die Herkunftskultur auch sein mag, die erste Generation der Nachkommen fast immer die Werte der Mehrheitsgesellschaft in der neuen Heimat übernimmt. […] ‚Kulturen werden nicht von Eltern an Kinder weitergegeben; die Kinder von Einwanderereltern nehmen die Kultur ihrer Altersgruppe an.’“ (S. 207)

Hier finde ich in Bezug auf die Situation in Deutschland übrigens das Beispiel der Muslime interessant: Zwar gibt es viele junge Muslime, die sich der säkularen deutschen Gesellschaft angepasst haben, aber es gibt auch sehr viele, die sogar noch traditionsbewusster, religiöser und stolzer auf ihre Herkunft sind als ihre Eltern. Wenn man häufig in einer Moschee mit gleichaltrigen Gleichgesinnten und überzeugenden Predigern zusammenkommt, scheint das einen großen Einfluss zu haben. In Sachen „Parallelgesellschaften aufbauen“ könnten wir von den Muslimen schon was lernen. (Ja, muslimische Parallelgesellschaften haben ihre schlechten Seiten. Weil der Islam eine falsche Religion ist, nicht weil es Parallelgesellschaften sind.)

(Eucharistische Anbetung bei einem Prayerfestival der Jugend 2000; Bildquelle hier.)

Am Ende warnt Dreher davor, die Familie zum Götzen zu machen – sie sei kein „Zweck in sich selbst“, sondern „ein Mittel zum Zweck der Vereinigung mit Gott“ (S. 209). Die Familie sollte nicht tyrannisch und paranoid gegenüber der Außenwelt werden und damit die Kinder vom Glauben forttreiben.

Außerdem geht er darauf ein, welche Vorteile es habe, in räumlicher Nähe zur Kirche zu leben, und häufig an Bibelstudien, Gebetskreisen, Lesezirkeln usw. teilzunehmen; auch die Kirchengemeinde solle man aber nicht zum Götzen machen und nicht zu sehr von der Außenwelt abschotten.

An diesem Kapitel stört mich ein wenig, dass Dreher nicht allzu konkret wird: Wie viel Kontakt zu Nichtgläubigen sollte man den Kindern jetzt erlauben? Außerdem fände ich es noch wichtig, zu erwähnen, dass man eigentlich einen gewissen Kontakt zur Außenwelt herstellen muss, allein schon, um die Kinder daran zu gewöhnen, dass es Menschen gibt, die anders denken (und wie sie denken), weil sie irgendwann mit denen in Kontakt kommen werden.

In Kapitel 7 geht es um Bildung. Dreher kritisiert das öffentliche Schulsystem und viele christliche Schulen, die auch keine entschieden christliche Bildung bieten würden. Das heutige Bildungswesen schaue nur auf Zweckmäßigkeit: Den Kindern muss das beigebracht werden, was sie später mal im Job brauchen werden, Erziehung zur Tugend wird vernachlässigt. Er stellt zwei Alternativen vor: Heimunterricht – der in Deutschland freilich keine Alternative ist, da seit 1938 verboten** – und, worauf er den Fokus legt, „klassisch-christliche Schulen“, d. h. Privatschulen, die klassische Bildung – Geschichte, klassische Literatur, usw. – mit religiöser Bildung verbinden und dabei folgendem Konzept folgen:

„Üblicherweise beginnt die Laufbahn eines Schülers an einer klassischen Schule mit der sogenannten Grammatikschule, in der es vor allem darum geht, grundlegende Fakten über die Welt zu lernen und sich ins Gedächtnis einzuprägen. Die zweite Stufe der klassischen Schulbildung ist die Logikschule, die etwa der 6.-8. Klasse entspricht und in der die Schüler lernen, Fakten zu analysieren und ihre Bedeutung zu erkennen. Die dritte und letzte Stufe ist die Rhetorikschule, die abstraktes Denken, Dichtung und die Fähigkeit zum klaren Selbstausdruck in den Mittelpunkt stellt.“ (S. 256f.)

Offensichtlich sind in den USA schon einige solche Privatschulen von Eltern oder Kirchen gegründet worden; theoretisch wäre so etwas Ähnliches sicher auch in Deutschland möglich.

Dann geht der Autor auch auf die Wichtigkeit von Studentengemeinschaften an den Universitäten ein, und ich muss sagen, hier habe ich mich absolut wiedergefunden. Regelmäßige Messfeier auch unter der Woche, Eucharistische Anbetung, Taizé-Andacht – das kann sehr gut tun.

Zusätzlich zu normalen Hochschulgemeinden und von Studenten gegründeten christlichen Netzwerken, die geistliche Begleitung, Vorträge, Bibelkreise usw. anbieten, stellt Dreher auch gemeinschaftliche Wohnprojekte christlicher Studenten vor, z. B. ein Haus an der Universität von Virginia, in dem ca. 20 junge Männer zusammenleben:

„Die Hausregel entwickelte sich im Laufe der Zeit. Sie probierten verschiedene Dinge aus. Ein gemeinsames Morgengebet erwies sich als schwer durchzuhalten, aber als Abendgebet funktionierte es besser. Sie führten eine Art gegenseitiger Beichte ihrer Sünden gegenüber der Gemeinschaft ein, mit dem Ziel, einander gegenseitig in ihren persönlichen Schwierigkeiten helfen zu können. (‚Wir nannten es ursprünglich nicht Beichte’, sagt Speers. ‚Wir nannten es Rechenschaft. Das klang für Evangelikale weniger anrüchig.’) Außerdem verlangte die Hausregel kontinuierliche gemeinschaftliche Pflege theologischer Studien und Diskussionen.

Es gab auch einige wenige, aber strenge Verbote: Keine Mädchen in Privaträumen bei verschlossenen Türen. Kein Alkohol außer in den Räumen derer, die alt genug waren, um legal Alkohol trinken zu dürfen. Einige Männer, die mit Pornographiesucht zu kämpfen hatten, ließen ihre Laptops im Gemeinschaftsraum zurück, um nicht in Versuchung geführt zu werden.“ (S. 270f.)

Hier zeigt sich für mich wieder, dass solche Wohngemeinschaften eine zweischneidige Sache sein können: Das mit dem Abendgebet beispielsweise klingt toll, auch die Regeln klingen sehr vernünftig. Das mit der öffentlichen Beichte (ohne ein bindendes Beichtgeheimnis) könnte dagegen problematisch werden.

In Kapitel 8 geht es um das Thema Arbeit. Der Autor konzentriert sich hauptsächlich auf die Gefahr, dass Christen am Arbeitsplatz gezwungen werden könnten, gegen ihr Gewissen zu handeln (sich also z. B. an der Ausrichtung einer Schwulenhochzeit zu beteiligen; in den USA wurden Bäcker und Floristen ja schon zu extrem hohen Geldstrafen verurteilt, weil sie eine solche Beteiligung verweigert hatten). Aber er geht auch auf den grundsätzlichen Sinn der Arbeit ein: Sie sollte einen sinnvollen Zweck in Gottes Ordnung erfüllen und zu Seiner größeren Ehre getan werden; und sie sollte nicht zum alleinigen Lebensinhalt werden. Hier lobt er übrigens die deutschen Ladenschlussgesetze, die Familienbetrieben das Leben erleichtern und dafür sorgen würden, dass die Deutschen ein ausgewogeneres Leben führen können als die Amerikaner.

Aber zurück zu möglichen Gewissenskonflikten am Arbeitsplatz. Dreher ist der Ansicht, dass man unterscheiden müsste, ob etwas wirklich nicht mit dem eigenen Gewissen vereinbar sei oder doch, um nach Möglichkeit in seinem Arbeitsumfeld Frieden halten zu können. Er führt das Negativbeispiel eines Staatsbediensteten aus Illinois an, der sich weigerte, sich ein Schulungsvideo über LGBT-Diversität anzusehen (er hätte nur das Video ansehen müssen, keine pro-LGBT-Erklärung abgeben müssen). Am Ende stellt er klare Kriterien auf:

„Ein christlicher Arzt muss es immer und überall ablehnen, unschuldiges Leben zu töten. Abtreibung und Euthanasie sind vollkommen indiskutabel. […] Und schließlich ist kein Job, so harmlos er erscheinen mag, es wert, ihn zu behalten, wenn er einem abverlangt, etwas dezidiert Unchristliches und Wahrheitswidriges aktiv zu unterstützen.“ (S. 294f.)

Dreher warnt, dass Christen sich in Zukunft vielleicht genauer überlegen müssten, welche Berufe sie ergreifen, und rät, dass sie eigene unternehmerische Tätigkeit und Handwerk und Industrie wieder entdecken sollten; außerdem sollte man christliche Netzwerke aufbauen und andere christliche Unternehmen unterstützen.

Kapitel 9 widmet sich dem Thema Sex; hier spricht der Autor z. B. darüber, dass Eltern sich selbst um die Sexualerziehung ihrer Kinder kümmern müssten, dass man jungen Christen vermitteln müsse, wieso die christliche Sexualmoral Sinn macht, und dass man vor allem Pornographie bekämpfen müsse.

In Kapitel 10 geht es um Technologie und hier wird klar: Dreher sieht das Internet als sehr problematisch, zum Beispiel, weil es den Leuten die Fähigkeit nimmt, sich zu konzentrieren, und ihnen eine Wunschwelt zeigt, in der „man sich mit nichts auseinandersetzen muss, was man sich nicht selbst ausgesucht hat. […] Man kann planlos von Seite zu Seite schlittern, flüchtig in soziale Netzwerke hineinschnuppern und sich wieder aus ihnen ausklinken, ganz nach Belieben.“ (S. 354) Er warnt besonders davor, Kindern Smartphones in die Hände zu geben, nicht zuletzt auch wegen der Gefahr, dass sie im Internet auf Pornographie treffen. Aber er kritisiert nicht nur übermäßigen Internetkonsum, sondern auch ganz grundsätzlich eine technokratische Mentalität, die sagt „Wenn wir es tun können, müssen wir auch die Freiheit haben, es zu tun!“ (S. 349), z. B., wenn es um die Fortpflanzungsmedizin geht. Ich muss sagen, beim Internet bin ich nicht ganz so kritisch wie er – immerhin hat es mir sehr dabei geholfen, Informationen über den Katholizismus zu finden, und lässt mich jetzt meine Gedanken vor Publikum ausbreiten! –, aber hier kann ich ihm zustimmen.

So. Das war jetzt eine lange Inhaltszusammenfassung; jetzt noch ein paar allgemeine Anmerkungen:

Es gab immer wieder Stellen, an denen ich mir gedacht habe: Ja, ganz genau so ist es! Ganz genau so. Etwa, wenn Dreher darüber spricht, auf welche Weise der Glaube schon über ein, zwei Generationen verloren gehen kann (wenn ich meine Großeltern, die jeden Sonntag in die Kirche gehen bzw. gingen, und meine Geschwister, die vermutlich noch irgendwie an einen Gott glauben, vergleiche, kann ich diese Entwicklung gut nachvollziehen).

Es ist auch sehr interessant und inspirierend, wie der Autor uns immer wieder die Dissidenten im Ostblock als Vorbilder zeigt. Es ist auch ermutigend: So schlimm wie sie werden wir es auf absehbare Zeit nicht haben – und sie haben manchmal so einiges geschafft, gerade im katholischen Polen.

(Der hl. Johannes Paul II. bei seinem ersten Besuch in Polen nach seiner Papstwahl; Quelle: Wikimedia Commons)

Zuletzt noch zu der Art von christlichen Laiengemeinschaften, an die die Leute (z. B. amerikanische Journalisten, die das Buch im letzten Frühjahr rezensiert haben) bei der Benedikt-Option anscheinend als erstes denken, obwohl sie im Buch gar keine so große Rolle spielen, wie ich erwartet hätte. An verschiedenen Stellen erwähnt Dreher Beispiele für solche Gemeinschaften, z. B. die amerikanische „Alleluia Community“, eine „Laiengemeinschaft charismatischer Katholiken und Protestanten“ (S. 213), oder die italienische „Tipi Loschi“, die er als besonders vorbildhaft hervorhebt. Tipi Loschi, eine Gemeinschaft mit 200 Mitgliedern, die dem Vorbild des sel. Pier Giorgio Frassati nacheifert, ist eine Vereinigung von Familien, die eine nach Chesterton benannte Schule und verschiedene Kooperativen, die wohltätigen Zwecken dienen, betreibt, und die eng mit dem Kloster in Norcia verbunden ist. Mir wird aus dem Buch nicht ganz klar, wie genau die Familien in der „Alleluia Community“ und in „Tipi Loschi“ leben; es hört sich nicht so an, als ob es sich um wirkliche Kommunen wie bei den Zwölf Stämmen oder irgendwelchen Hippie-Sekten der 70er handeln würde, sondern eher nach einem Leben in enger Nachbarschaft und mit vielen gemeinschaftlichen Veranstaltungen und gemeinsam betriebenen Institutionen. Die „Alleluia Community“ jedenfalls hört sich für mich dennoch eher zu eng gestrickt an, als dass ich (die ich von Natur aus kein sehr geselliger Mensch bin) mich da wohlfühlen könnte.

(„In Übereinstimmung mit den Beobachtungen Pater Martins sagt sie, das Geschenk der Gemeinschaft bestehe darin, eine Sozialstruktur auszubilden, in der es Christen leichter gemacht wird, Gottes Stimme zu hören und auf sie zu antworten, und in der andere Mitglieder sie zur Verantwortung ziehen, wenn sie vom geraden Weg abkommen. So nah mit anderen zusammenzuleben, kann die Geduld strapazieren, räumt Rachel ein – aber für sie und ihre Familie hat es sich als gut erwiesen.“ (S. 214))

Der Autor schlägt auch vor, dass Kirchengemeinden nach Geschlechtern getrennte Wohngemeinschaften für junge Singles gründen könnten; bei Ehepaaren und Familien mit Kindern geht er anscheinend schon eher davon aus, dass die für sich leben und sich in Pfarrgemeinden, Schulen usw. einbringen werden.

Er geht sowohl auf die Chancen als auch auf die Gefahren bei solchen Gemeinschaften wie der „Alleluia Community“ oder „Tipi Loschi“ ein; an einer Stelle schreibt er:

„Die wohl gefährlichste Versuchung für eng gestrickte Gemeinschaften ist der Drang, ihre Mitglieder übermäßig zu kontrollieren und allzu streng zu bevormunden, wenn sie von einem gewissen Reinheitsstandard abweichen.“ (S. 223)

Mir fehlen hier ein bisschen die konkreten Standards – wann ist eine Gemeinschaft zu streng oder zu abgeschottet? – und vielleicht auch die konkreten möglichen Vorsichtsmaßnahmen gegen solche Gefahren (z. B. wären klare Regeln wie die benediktinische Ordensregel vermutlich eine gute Idee); aber er erwähnt als grobe Regel immerhin, dass man z. B. auch Freundschaften außerhalb der Gemeinschaft knüpfen sollte, damit man sich nicht einbildet, alle Menschen dort draußen wären verdorben.

Mein Fazit: Das Buch ist lesenswert und gibt einige gute Impulse für ein christliches Leben. (Enthusiastischer wird’s leider nicht – aber ich fand’s alles in allem gut.)

* Ich sage ausdrücklich „50 Jahre“, weil gewisse in konservativen evangelikalen Kreisen verbreitete Ideen wie die von der „Entrückung“ (rapture) in der Endzeit oder die Akzeptanz der künstlichen Empfängnisverhütung noch nicht besonders alt sind.

** Zumindest in den allermeisten Fällen. Ich kannte tatsächlich mal eine Familie, die ihre Kinder zu Hause unterrichtete und dafür, soweit ich mich erinnere, eine Sondergenehmigung hatte. Soweit ich mich erinnere, kamen sie aus Baden-Württemberg und waren evangelisch.

19 Gedanken zu “Die Benedikt-Option: Ich bin positiv überrascht

  1. >>Ein konfessionsübergreifendes Verständnis von Rechtgläubigkeit ist unverzichtbar.

    Tja und das geht halt nicht.

    Der Katholik kann unmöglich ein Verständnis von Rechtgläubigkeit haben, unter das irgendein noch so sympathischer, engagierter und „im Kampf anscheinend auf unserer Seite“ befindlicher Nichtkatholik fallen würde.

    – Ausnahmen kann man allenfalls für Orthodoxe machen, und auch das nur dann, wenn sie das Filioque von Herzen unterschreiben, das theologische Denken z. B. scholastischer Art nicht nach dem Motto „denken ist seit dem Ende der Väterzeit ein unsicheres Geschäft geworden, wir lobpreisen bloß und malen Ikonen nach Vorlage“ grundsätzlich zurückweisen und Augustinus nicht für einen Häretiker halten, und auch dann nur mit Bauchschmerzen wegen dem päpstlichen Primat und dessen Nichtbefolgung. –

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    1. „Ausnahmen kann man allenfalls für Orthodoxe machen, und auch das nur dann …“

      Da die im Folgenden genannten Kriterien im Grunde die Aufgabe orthodoxer Identität verlangen, kann man hier nicht von einer „Ausnahme“ sprechen.

      Gegenüber den protestantischen Häresien in der lateinischen Tradition Unnachgiebigkeit zu zeigen, würde ich als Katholik sofort unterschreiben. Aber wenn ich mir anschaue, welche himmelweiten Unterschiede zwischen dem Denken in griechischer und lateinischer Sprache bestehen – von den aramäischen Christentümern gar ganz abgesehen (man lese mal Texte von Aphrahat und Ephrem dem Syrer – da versteht man, woher die Muslime ihre 99 Gottesnamen geklaut haben)! – halte ich es für etwas vermessen, die lateinische Interpretation einer Religion, die von dem aramäisch sprechenden Gottessohn begründet wurde, und dessen Taten auf Griechisch aufgeschrieben wurden, als die allein „richtige“ anzusehen. Angesichts der Pluralität des frühen Christentums ist mir nicht recht einsichtig, warum der heilige Geist nur in der katholischen Kirche wirken sollte. Diese Pluralität bliebe mir sonst irgendwie unverständlich, und ich meine damit nicht die klassischen Häresien (z.B. sind weder die Kopten und die Syrisch-Orthodoxen „monophysitisch“, noch die assyrische Kirche des Ostens „nestorianisch“, die sind alle klar rechtgläubig). Fünf Patriarchate standen nebeneinander, Alexandria, Jerusalem, Antiochia, Konstantinopel und Rom. Sollte sich der heilige Geist etwa sieben Jahrhunderte lang getäuscht haben und deswegen die ersten vier den Muslimen preisgegeben haben?

      Der Protestantismus ist eher wie Krätze, aber das große Schisma ein echter Skandal. Als Historiker kann ich in mir Zweifel am Papstprimat und am Filioque leider nicht ganz ausräumen und ich bin überzeugt, dass wir da in uns gehen müssen, um diesen Skandal zu beseitigen. Vielleicht nicht 100% katholisch, was ich das schreibe.

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      1. @nolitetimereweb

        „Wo genau widerspricht das lateinische Denken dem griechischen?“

        Es ist natürlich unwidersprochen, dass die katholische Kirche in seinem „Denken“ aus den beiden Traditionen schöpft. Vielleicht hätte ich schreiben sollen, dass der ‚Balast‘ ererbter Begrifflichkeiten zwangsläufig dazu führt, dass es bei der Übertragung eines Gedankens auch bei allem besten Willen von einer in die andere Sprache zu einer Veränderung von Assoziationen und Begriffszusammenhängen kommen kann (Stichwort Übersetzungstheorien). Das gilt auch für Begriffe, die für die Trinitätstheologie zentral sind, wie z.B. „natura“ (lt.), „physis“ (gr.), „kyana“ (sr.). Darin liegt doch der Grund, warum der Mitkommentator davon gesprochen hat, dass Augustinus im Osten für einen „Häretiker“ gehalten werden kann, zum einen, weil man ihn nicht versteht, weil seine (lat.) Denktraditionen dort weniger bekannt sind, zum anderen, weil Augustinus weder griechisch noch hebräisch konnte und aus östlicher Sicht deswegen ein idiosynkratischer Schriftsteller sein könnte. Wenn es keine Unterschiede zwischen griechischem und lateinischen Denken gäbe, hätten wir doch kein großes Schisma.

        Die katholischen Ostkirchen habe ich nicht erwähnt, weil sie ein eher rezentes Phänomen sind (gedanklich war ich bei meinem Posting in der Zeit vom 4.–7. Jh.).

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      2. Wenn das die orthodoxe Identität *ist*, dann ist diese eben nicht rechtgläubig. Mein vorsichtiges „Ausnahmen kann man allenfalls machen, wenn“ lag daran, daß ich nicht sicher sagen kann, ob das denn der Fall ist oder ob es sich bei solchen Entgleisungen nicht vielmehr bloß um sich partout vom Katholizismus abgrenzen wollende „Extremisten“ in den Ostkirchen handelt.

        (So scheint sich nach meinem begrenzten Einblick die ewige Filioquekritik durchaus ein wenig darauf zu versteifen, daß der Westen hier vom vom Konzil festgelegten *liturgischen Text* abweicht – hat er, ja, aber disziplinarische Bestimmungen, die der Gesetzgeber einmal erlassen hat, kann er auch wieder abändern: mit Genehmigung des Papstes jederzeit unproblematisch möglich. Was den Inhalt des Glaubens – in bezug auf das lateinische Wort „procedit“ – betrifft, gibt es durchaus zumindest *auch* nichtkatholisch-östliche Stimmen, die das – immerhin – gewissermaßen für vertretbar halten; andere meinen wieder etwas anderes.

        Das eigentliche Problem ist vermutlich ohnehin eher Punkt 2.)

        Was übrigens die altkirchlichen Patriarchate betrifft, so sind vier davon intakt und katholisch (wenn wir mal die lateinischen Patriarchate rauslassen und die Melkiten für Jerusalem mitzählen, von denen sie unter anderem meines Wissens den Titel führen). In Konstantinopel gibt es nicht viele Katholiken, aber der byzantinische Ritus hat unter anderen einen Quasipatriarchen in Kiew, usw.

        Zur *Berechtigung* der lateinischen Kirche, das so zu sehen, vielleicht später.

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      3. Ich weise übrigens auch noch mal drauf hin:

        Das, was von den Orthodoxen zu verlangen wäre für die Anerkennung, daß sie ihren Namen zu Recht führen, ist wie ich oben gesagt habe, unter anderem, daß sie das Filioque von Herzen unterschreiben (als theologisches *Dogma*).

        Ausdrücklich *nicht*, daß sie das Filioque in den griechischen (kirchenslawischen, etc.) Ritus *liturgisch* einführen.

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      4. @Nepomuk

        „Wenn das die orthodoxe Identität *ist*, dann ist diese eben nicht rechtgläubig.“

        Ich muss zugestehen, dass ich in der Tat nicht beurteilen kann, ob die Protasis richtig ist, wie Sie ausführlich dargelegt haben (ich vermute, dass Sie mit Ihren Einschränkungen Recht haben). Aber selbst wenn sie richtig wäre: Den Orthodoxen aufgrund des Filioque-Streites die Rechtgläubigkeit abzusprechen geht nicht an, wie ich finde. Da Sie meine historisch und linguistisch begründeten Zweifel, ob wir lateinische Christen gegenüber den Orthodoxen normativ definieren sollten, was Rechtgläubigkeit sei, in diesem Zusammenhang nicht teilen, kommen wir da wahrscheinlich nicht zusammen.

        Vielleicht kann ich mich auf KKK 248 berufen: Wenn ich richtig verstehe, was dort steht, gibt es doch einen Korridor von Rechtgläubigkeit, der von der Orthodoxie keineswegs die dogmatische Anerkennung des Filioque fordert, sondern von „gleichberechtigten Sichtweisen“ spricht, die „nicht einseitig überbetont“ werden dürfen. Also: Weder lateinischerseits das Filioque um jeden Preis einfordern, noch griechischerseits des Filioque um jeden Preis ablehnen. Ich fand es kirchengeschichtlich eigentlich immer einen recht fruchtbaren Weg, Korridore der Rechtgläubigkeit zu definieren.

        „Was übrigens die altkirchlichen Patriarchate betrifft, so sind vier davon intakt und katholisch“.

        Konstantinopel ist nach vor ein griechisch-orthodoxes Patriarchat. In Antiochia gibt es ein syrisch-orthodoxes und rum-orthodoxes Patriarchat, in Jerusalem ein griechisch-orthodoxes und armenisch-orthodoxes, in Alexandria das koptisch-orthodoxe und ein griechisches-orthodoxes, das seit dem 7. Jh. schon weitgehend marginalisiert ist. Kopten und Syrisch-Orthodoxe haben nur einen einfachen Bischof von Jerusalem. Es stehen also in jedem altkirchlichen Patriarchat bis zu drei oder vier verschiedene Patriarchen nebeneinander, dazu kommen noch die katholischen Ostkirchen. Die altkirchlichen Patriarchate als „katholisch“ zu bezeichnen, trifft pauschal nicht zu und spiegelt nicht die aktuellen konfessionellen Verhältnisse.

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      5. Wie Sie sicherlich richtig erkannt haben, meine ich die folgenden Patriarchate:

        *Konstantinopel: kein katholisches vorhanden,
        *Alexandria: koptisch-katholische Kirche,
        *Antiochia: syriakisch-katholische Kirche (und maronitisch-katholische Kirche)
        *Jerusalem: melkitisch-katholische Kirche (Patriarchat von Alexandria, Antiochia und Jerusalem, soweit ich weiß) (und lateinisches Patriarchat).

        >> Da Sie meine historisch und linguistisch begründeten Zweifel, ob wir lateinische Christen gegenüber den Orthodoxen normativ definieren sollten, was Rechtgläubigkeit sei,

        Es dürfte bekannt sein, daß mit dem bedauerlichen Schisma nicht das Magisterium aus der Kirche geschwunden ist. Natürlich dürfen in gewissem Sinn nicht „wir lateinische Christen“ *allein* definieren, was rechtgläubig ist, wohl aber „wir katholische Christen“ (durch die dafür zuständigen Organe, scil. Papst, Bischofskollegium, Konzil). Das Filioque ist auf dem vierten Laterankonzil und/oder dem zweiten Konzil von Lyon dogmatisiert worden (genauer nachgeschaut habe ich jetzt nicht), die nun einmal nicht weniger ökumenische Konzilien sind als das von Erste oder Zweite von Nizäa.

        Im übrigen sollte in dem Zusammenhang auch das „östliche Denken“ nicht überbewertet und (z. B.) die Machtpolitik des unstrittigen Usurpators Photius, der einen Grund brauchte, um die Leute gegen den namals noch anerkannten petrinischen Primat aufzuhetzen, nachdem der Papst ihn zu Recht abgesetzt hatte, oder die (subtile oder nicht so subtile oder einfach durch den Zeitablauf kräftige) Propaganda des türkischen Sultans, dem ein „lieber türkisch als römisch!“ durchaus sehr gelegen kam – und rein zufällig haben die drei Patriarchen im islamischen Machtbereich (!) die Union im 15. Jahrhundert torpediert, die Kaiser und Patriarch gewollt hatten, und rein zufällig wurde der Patriarch hernach im Osmanischen Reich zum auch weltlichen Vizeregenten des christlichen Volksteils, eine weltlich bedeutsamere Position, als er es unter dem östlichen Kaiser je hatte – nicht unterbewertet werden.

        KKK 248 spricht übrigens von den *Sichtweisen*, den Arten und Weisen der *Betrachtung* des Geheimnisses in den jeweiligen Traditionen. Am Dogmenbestand ändert das nichts: Die Ostkirche, will sie in der Wahrheit sein, muß anerkennen, daß das Filioque an sich richtig, insbesondere ein „sed non ex Filio“ *falsch* ist und die westliche Betrachtungsweise *möglich* ist. Mehr wird in der Tat nicht verlangt, *darauf* aber kann, wenn ein Dogma einmal ausgesprochen worden ist, nicht verzichtet werden.

        Es gibt unstrittig eine ganz große Wiese der Spiritualitäten und Betrachtungsmöglichkeiten, aber die Grenze der Rechtgläubigkeit selbst kann dann kein „Korridor“ sein.

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      6. >>Natürlich dürfen in gewissem Sinn nicht „wir lateinische Christen“ *allein* definieren, was rechtgläubig ist, wohl aber „wir katholische Christen“

        da hätte ich noch im Interesse des Spaßes an der Deutlichkeit den folgenden Satz anfügen wollen und dann leider vergessen:

        und wenn das de facto nur Lateiner *sind*, dann hat der Osten halt Pech gehabt.

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      7. „… im Interesse des Spaßes an der Deutlichkeit … und wenn das de facto nur Lateiner *sind*, dann hat der Osten halt Pech gehabt …“

        Genau das war ja der Stein des Anstoßes :DDD

        P.S.: Leider habe ich dieser Tage keine Zeit, die Diskussion im Interesse des Spaßes weiterzuführen – es ist aber recht entspannend, mal nicht gegen den üblichen vulgäratheistischen Krampf anschreiben zu müssen, was ich leider noch viel zu oft tue 🙂

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  2. Zuerstmal muss ich sagen, dass wenn man das Buch gelesen hat, der Eintrag hier etwas lang geraten ist.
    Was zur Diskussion geführt hat ist wohl die Frage, was denn jetzt als Authorität herangezogen werden sollte. Lassen wir das doch alles mal, und schauen wir uns die Menschen und den Zeitgeist an…

    Wir haben heute im Westen einen rationalen Zeitgeist, und dieser erfordert idealerweise eine möglichst rationale Religion, um von den Menschen angenommen werden zu können. In der Moderne geht es kaum noch um so ohne weiteres objektivierbare Glaubensinhalte, die automatisch von den „rechtgläubigen“ Christen angenommen werden, sondern um die Selbstvergewisserung eines jeden Einzelnen. Genau an diesem Punkt offenbaren sich die grundsätzlichen Spannungen zwischen Tradition und Moderne, zwischen unhinterfragter „katechetischer“ Akzeptanz und dem Zweifel eines skeptischen Zeitgeistes. Man denke nur an die unzähligen Vernunftstolpersteine in einem kath. Gottesdienst…

    Ein nach moralischer und spiritueller Religion strebender moderner Mensch mag sich auf das Authentische seiner Tradition rückbesinnen, aber auch das Althergebrachte muss sich soweit möglich reformieren (wie bereits angedeutet v.a. im Sinne von: sich der Vernunft zugänglich machen), damit sich eine weitläufige Identifikationmöglichkeit auftut und eine solche Benedikt-Option in die Tat umgesetzt werden kann.

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