Missbrauch in München-Freising: Fälle in den 60ern und 70ern

Heute zu den Fällen, die unter Kardinal Döpfner (Erzbischof 1961-1976) und seinen Generalvikaren Defregger und Dr. Gruber begannen bzw. erstmals bekannt wurden, nachdem es im letzten Artikel um die Fälle unter den Kardinälen Faulhaber und Wendel ging. Ich fasse wieder einfach nur die konkreten Fälle zusammen, wie sie das neue Gutachten darstellt; unten dann das Fazit. Da hätten wir also:

Fall 8: Ein Ordenspriester wird Anfang der 1960er vom Heiligen Stuhl auf eigenen Wunsch hin laisiert und ist als Laie für das Erzbistum tätig, wünscht sich aber Ende der 1960er, wieder als Priester aufgenommen zu werden. „Im Zuge der Prüfung des Wiederaufnahmegesuchs stellte sich heraus, dass der ehemalige Priester Ende der 1940er Jahre in etwa elf Fällen wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern im Alter von zehn bis elf Jahren verurteilt worden und deshalb in einer Heilanstalt untergebracht war. Nach der Entlassung aus der Anstalt Anfang der 1950er Jahre wurde ihm untersagt, Jugendseelsorge zu betreiben. Soweit aus der Akte ersichtlich, wurde diese Auflage später jedoch wieder aufgehoben. Ein kirchenstrafrechtliches Verfahren erfolgte nicht.“ (S. 460) Generalvikar Dr. Gruber teilt ihm schließlich mit, dass Kardinal Döpfner sich gegen seine Wiederaufnahme als Priester entschieden hat, aber er war offenbar weiter als Katechet tätig und mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt.

(Hier ist für mich aus dem Gutachten nicht ganz klar, wer in den 50ern für ihn zuständig war – sein Orden, die Diözese München-Freising, eine andere Diözese? Daher, und weil er in den 60ern und 70ern weiter für die Diözese arbeitete, habe ich diesen Fall in diesem Artikel behandelt und nicht im vorigen.)

Fall 20: Generalvikar Defregger erhält Mitte der 1960er einen Hinweis von der Telefonseelsorge, dass ein Ordenspriester, der als Pfarrvikar eingesetzt wird, ein Verhältnis mit einem Minderjährigen habe; Defregger spricht mit der Mutter des Jungen. „Diese berichtete, dass der Priester vor einigen Jahren ihren damals 15- bis 16jährigen Sohn über einen längeren Zeitraum sexuell belästigt habe. Sexuelle Übergriffe hätten nach Kenntnis der Mutter nicht stattgefunden, allerdings seien diese aufgrund der Art und Weise der Annäherungsversuche nicht fernliegend. Der Priester habe zudem versucht, ihren Sohn mit Alkohol gefügig zu machen.“ (S. 488) Außerdem gibt es Hinweise, dass die Mutter sich schon damals an einen Mitarbeiter des Bistums gewandt hatte, und der Priester deswegen zu dieser Zeit mehrfach versetzt worden war. Allerdings gibt es keinen Hinweis, dass der damalige Erzbischof und Generalvikar davon wussten. Auch diese neue Meldung hat jedoch keine Konsequenzen für den Priester, er wird weiter normal eingesetzt, auch als Religionslehrer.

Fall 21: Ein Priester begeht Ende der 1950er sexuelle Handlungen mit einem zehnjährigen Jungen. Der Staat ermittelt, der Priester wird währenddessen vorerst von Generalvikar Dr. Fuchs in ein Kloster geschickt. Er wird schließlich zu einer Haftstrafe von anderthalb Jahren verurteilt. Während seiner Haft beginnt die Amtszeit von Kardinal Döpfner und Generalvikar Defregger. Defregger setzt sich für seine vorzeitige Haftentlassung ein, ein Ordinariatsmitarbeiter besucht ihn im Gefängnis und versichert ihm, dass man ihn nicht fallen lassen werde, und als er aus dem Gefängnis kommt, wird vom Kardinal und vom Generalvikar beschlossen, ihn als Krankenhausseelsorger einzusetzen und ihm den Titel „Kurat“ zu verleihen. Er hat also zumindest keine Stelle mit viel Kontakt zu Kindern mehr, wird aber ansonsten normal eingesetzt. (Ich habe diesen Fall hier behandelt, weil das fragwürdige Verhalten der Erzdiözese in die Zeit von Kardinal Döpfner, nicht mehr von Kardinal Wendel fällt.)

Fall 22 wurde schon hier zusammengefasst; in Bezug auf Kardinal Döpfner und Generalvikar Dr. Gruber wirkt dieser Fall nicht sehr positiv.

Fall 23: Ein Priester wird Anfang der 1960er wegen einer „Sache mit Buben“ in eine andere Gemeinde versetzt. Er versichert, mit den betroffenen Jungen nicht mehr zusammenzukommen. Es werden ihm jedoch keine Auflagen bzgl. des Kontakts mit Kindern und Jugendlichen erteilt.

„In seiner neuen Gemeinde erteilte er Religionsunterricht und übernahm in diesem Zusammenhang die sexuelle Aufklärung von Schülern der 7. Klasse. Dabei bot er den Schülern noch im Jahr seiner Versetzung an, ihn bei diesbezüglichen Fragen in seiner Wohnung besuchen zu können. Eine 13- beziehungsweise 14jährige Schülerin nahm dieses Angebot an. Im Rahmen ihres Besuches bei dem Priester kam es zu mehrmaligen sexuellen Übergriffen auf das Mädchen. Aus den Akten ist nicht ersichtlich, dass die Vorfälle zum Tatzeitpunkt im Erzbischöflichen Ordinariat bekannt waren.
Mitte der 1960er Jahre, mithin fünf Jahre nach diesen Vorfällen, wurde der Priester in eine andere Gemeinde versetzt und zwei Jahre nach seiner Versetzung zum Dekan ernannt. Die damalige Schülerin, auf die er sexuelle Übergriffe verübt hatte, lebte in seiner neuen Gemeinde mit ihm als Haushälterin.“
(S. 494)

Er hat das Mädchen also offenbar irgendwie von sich abhängig gemacht. Ihr Ex-Verlobter, der zwischenzeitlich davon erfahren haben muss, wendet sich Ende der 1960er an Kardinal Döpfner und an die Polizei und zeigt den sieben Jahre zuvor geschehenen Missbrauch an. Kardinal Döpfner und Generalvikar Dr. Gruber beschließen, dass man den Priester von seinem Amt als Dekan entbinden und unauffällig versetzen müsse. Gerichtlich wird er zu einer Bewährungsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Das Erzbistum versucht, ihn in anderen Diözesen, evtl. in einem anderen Bundesland unterzubringen, aber das dortige Kultusministerium teilt mit, dass man solche Geistliche nicht dulde. Es findet sich auch keine passende Gemeinde zur Versetzung, also bleibt er einfach bis zu seinem Tod in seiner Gemeinde. Dr. Gruber stimmt später sogar zu, dass er zum Schuldekan ernannt wird.

Fall 24: In diesem Fall geht es nicht um Kindesmissbrauch, sondern um Belästigung erwachsener Frauen. Schon Anfang der 1960er habe es Annäherungsversuche des Priesters gegenüber jungen Frauen gegeben. Mitte der 1960er beschwert sich dann der Vater einer 20jährigen Frau, der Priester habe seine Tochter sexuell belästigt. Der Priester entschuldigt sich und gelobt Besserung. Ein Jahr später wendet sich der Vater einer anderen 20jährigen Frau ans Erzbistum.

„seine Tochter habe ihm gegenüber nun bestätigt, was er bereits gerüchteweise über den Priester gehört habe. Ein konkreter Vorwurf ergibt sich nicht aus den Schilderungen des Vaters. Aus einer Aktennotiz eines Ordinariatsmitarbeiters für Generalvikar Defregger folgt, dass dieser Vorfall bereits vor der Meldung durch den Vater im Erzbischöflichen Ordinariat bekannt war. Der Mitarbeiter berichtet über ein Gespräch mit dem Priester wie folgt:
‚Pfarrer […] hat mich gebeten, mit dem Generalvikar in dem Sinn zu sprechen, dass er nicht bestraft wird. Ich habe das mit dem Bemerken zugesagt, meiner Meinung nach habe der Generalvikar eine solche Absicht nicht. Gleichzeitig habe ich aber sehr deutlich gemacht, dass m. E. im Fall der Wiederholung eines Ereignisses, wie es zweimal dem Bischof berichtet worden ist, gar nichts anderes übrig bliebe, als ihm seine Pfarrei zu nehmen.'“
(S. 497f.)

Kardinal Döpfner entscheidet sich dennoch für (leichte) Konsequenzen, und Generalvikar Defregger schreibt dem Priester, er solle abwarten, bis er wieder in den normalen Seelsorgedienst zurückkehren dürfe. Er wird für drei Monate in ein Kloster geschickt und von einem Psychiater untersucht, und kehrt dann in die Seelsorge zurück, erteilt auch wieder Religionsunterricht. Weitere Beschwerden über sexuelle Belästigung gibt es nicht; in den 2010er Jahren beschwert sich eine ehemalige Schülerin, er habe „Schüler im Grundschulalter körperlich in ungebührlichem Maß körperlich gezüchtigt“ (S. 499), aber dabei bleibt es.

Fall 25: Anfang der 1960er wird ein Ordenspriester aus einer anderen Diözese, der dort ein „verdächtiges“ Verhältnis mit einer Minderjährigen gehabt hat und offenbar suspendiert wurde, nach München-Freising geschickt. Generalvikar Defregger fragt bei seinen Ordensoberen an, die ihm zusichern, der Priester bereue sein Verhalten aufrichtig und könne wieder in der Seelsorge eingesetzt werden. Ihm wird dann tatsächlich eine Pfarrei übertragen. Zeitweise wird befürchtet, dass Gerüchte die Bevölkerung erreichen könnten, und Generalvikar Defregger zieht in Erwägung, der Priester solle ein Schuldbekenntnis vor der Gemeinde ablegen. Letztlich kommt jedoch nichts an die Öffentlichkeit. „Soweit aus der Akte ersichtlich, fiel der Priester auch während seiner Tätigkeit in der Erzdiözese München und Freising durch ‚indiskutables‘ Verhalten auf. Dabei ging es allerdings um Verhältnisse zu volljährigen Frauen.“ (S. 502)

Fall 26: Anfang der 1960er werden Missbrauchsvorwürfe gegen einen Priester bekannt; vom Erzbistum wird er zunächst versetzt, dann kommt er in Untersuchungshaft und wird zu fünf Jahren Haft verurteilt. Es handelt sich um zahlreiche Taten an mehreren Kindern zwischen zehn und 13 Jahren.

„Während der Haftverbüßung plante der Priester, seinen Beruf aufzugeben. Auf Intervention des Erzbischöflichen Ordinariats, insbesondere durch ihm zugewandte Briefe des damaligen Generalvikars Defregger, verwarf er diesen Entschluss. Dieser teilte dem Priester Mitte der 1960er Jahre ausweislich einer Gesprächsnotiz in einem persönlichen Gespräch mit, dass eine Stelle weit genug von seinen bisherigen Einsatzorten gesucht werden solle, damit nicht ‚[…] die blödsinnigsten und simpelsten Indiskretionen ihm die Wirkungsmöglichkeiten am neuen Einsatzort von vornherein nehmen.'“ (S. 503)

Im Gutachten steht nicht, was der Priester direkt nach der Haftentlassung tat; aber ein paar Jahre später, Ende der 1960er, wurde er Krankenhausseelsorger, half auch anderswo aus. Jahrzehnte später, Anfang der 2000er (mittlerweile war Kardinal Wetter im Amt), wurde ihm eine zu nahe Beziehung zu Krankenhausministranten vorgeworfen, und er gab zu, sie in seine Sauna gelassen zu haben und mit ihnen in den Urlaub gefahren zu sein. Er wurde daraufhin in den Ruhestand versetzt, wobei er nach ein paar Monaten bat, das rückgängig machen zu lassen, da er eine Kastration habe durchführen lassen. Das wurde ihm jedoch nicht gewährt. Er blieb als Ruhestandspfarrer am Ort des Krankenhauses, wobei der Ortspfarrer dagegen war, da er eine bleibende Gefahr durch ihn fürchtete. Ihm wurde die Zelebration untersagt, allerdings vorgeblich wegen gesundheitlicher Gründe, aber später von Generalvikar Dr. Simon wieder erlaubt; nur solle er nicht in der Krankenhauskapelle zelebrieren. In den 2010ern wurde die Akte noch einmal hervorgeholt, aber weiter nichts veranlasst. Besonders krass ist hier, dass das Erzbistum den Priester noch überzeugte, bei seiner Arbeit zu bleiben, die er selbst aufgeben wollte.

Fall 27: Mitte der 1960er bemüht sich ein Priester aus einer anderen Diözese um Aufnahme in München-Freising. Der Grund: Sein Bistum will ihn loswerden, weil er „Schulkindern mit eindeutiger Bevorzugung von Jungen, auf seinem Zimmer einzeln sexuelle Aufklärung erteilt“ hat (S. 508). Man setzt auf seine Besserung und setzt ihn in der Seelsorge ein. Zwischendurch wechselt er für längere Zeit in eine andere Diözese, weil er eine Stelle will, „auf der er seine psychologisch-heilpädagogischen und insbesondere auch hypnotischen Fähigkeiten einsetzen“ kann (S. 509). In den 2010ern gibt es Anschuldigungen, dass er in dieser anderen Diözese in den 70ern und 80ern minderjährige Jungen unter dem Vorwand der Therapie missbraucht hat.

Fall 28: Ein Priester ist in einer anderen Diözese in einem Internat tätig und missbraucht dort zwischen Mitte und Ende der 1960er einen Schüler, der zu Beginn in der 4. oder 5. Klasse ist. Es gibt offenbar keine wirklichen Konsequenzen, aber er wird zur Fortbildung nach München-Freising geschickt und hilft dort in der Seelsorge aus. Zwei Jahre später berichtet der Priester seiner ursprünglichen Diözese, er habe in einem Gespräch mit einem Weihbischof in München-Freising „die Hintergründe seines Fortgangs erläutert und ‚alles offen erzählt'“ (S. 510). Der Weihbischof habe Rücksprache mit Kardinal Döpfner und Generalvikar Dr. Gruber gehalten und ihm dann gesagt, man sei bereit, ihn für drei Jahre auf Probe zu übernehmen; die ursprüngliche Diözese stimmt dem zu. Er wird gleich für zwei Jahre als Religionslehrer eingesetzt, dann vor allem in der Krankenhausseelsorge, und wird Ende der 1980er (also dann schon unter Kardinal Wetter) endgültig in den Klerus des Erzbistums aufgenommen. Mitte der 2010er wird er von Bistumsmitarbeitern befragt und äußert u. a. folgendes:

„Es war meiner Ansicht nach ein heißes Eisen, dass mich Weihbischof [Anm.: der Weihbischof der Erzdiözese München und Freising] […] als Religionslehrer an einem Gymnasium eingesetzt hat. Ich habe mich damals gefragt, wie man mich in ein Gymnasium stecken kann, wenn ich als Pädophiler gelte. Der Religionslehrer, der vor mir am Gymnasium in […] tätig war, hat geheiratet. Man brauchte einen Nachfolger.“ (S. 511)

In den Münchner Akten war zunächst nicht klar, dass die dortigen Verantwortlichen Bescheid wussten. Anfang der 2010er gab es aber eine Meldung an den Missbrauchsbeauftragten in München-Freising wegen der Taten in der anderen Diözese, und man fragte dort an (allerdings erst drei Jahre später!), woraufhin die andere Diözese das Schreiben des Priesters übermittelte, aus dem hervorgeht, dass Kardinal Döpfner und Generalvikar Dr. Gruber Bescheid wussten.

Fall 29: Ein Ordenspriester will Mitte der 1960er in München-Freising aufgenommen werden; das scheitert jedoch an seinem Ordensoberen. „In einem fünfseitigen Schreiben an den damaligen Generalvikar Defregger, der sich zuvor persönlich für die Inkardination des Priesters eingesetzt hatte, kritisierte der Ordensobere das Verhältnis des Priesters zu den kleinen Jungen in den beiden Kollegs, die er geleitet hatte. Der Priester habe sich mit seinen Zöglingen sehr gut verstanden, sie immer mit Geschichten bespaßt und sich mit ihnen gerauft. Mit einem der Jungen, seinem ‚Lieblingszögling‘, habe der Priester nachts fröhlich gefeiert und ihn auch zu einer Fahrt nach Österreich mitgenommen. Der Priester habe alle Zimmer der Jungen ‚ad libitum‘ besucht und über sich selbst gesagt, dass ihm ‚kein Schoß verschlossen bleibe‘. Eine Übernahme des Priesters in den Klerus der Erzdiözese München, so der Ordensobere, müsse ‚auf eigenes Risiko‘ erfolgen.“ (S. 512f.) Fünf Jahre später bemüht er sich erneut um Aufnahme. Der Ordensobere weist Generalvikar Dr. Gruber auf sein damaliges Schreiben hin und erklärt wieder, die Aufnahme geschehe auf einiges Risiko. Dr. Gruber nimmt ihn dennoch auf. „Als Grund für seine Aufnahmebitte gab der Priester die fehlenden Zukunftsaussichten im veralteten Orden an. Nach seiner Aufnahme war der Priester auf verschiedenen Posten im Erzbistum tätig. In den Akten finden sich keine Hinweise auf etwaige Missbrauchsverdachtsfälle aus dieser Zeit.“ (S. 514)

Fall 30 wird in einem kommenden Artikel behandelt, da es hier um Missbrauchsvorwürfe geht, die erst in den 2010ern bekannt wurden.

Fall 31: Ende der 1960er wird ein Priester in einer anderen Diözese wegen Missbrauchs von drei Jungen zwischen elf und 13 Jahren zu einem Jahr und fünf Monaten Haft verurteilt. Nachdem er zwei Drittel davon verbüßt hat, wird der Rest zur Bewährung ausgesetzt, mit einer Bewährungszeit von vier Jahren und der Auflage, dass er während dieser Zeit nicht unterrichten und keine Pfarrstelle übernehmen darf. „Der Priester fiel bereits in seiner Ausbildung als ‚Sorgenkind‘, ‚Einzelgänger‘, ‚Sonderling‘ und ’stark egozentrisch‘ auf. Zur Aufnahme ins Priesterseminar wurde er durch seinen damaligen Regens deshalb ’nur mit Einschränkungen empfohlen‘. Auch während der Verbüßung seiner Haftstrafe trat der Priester negativ in Erscheinung, indem er seine Mitgefangenen aufhetzte und dem Gefängnispfarrer zusetzte.“ (S. 522)

Sein Bischof vermittelt ihn nach der Haftentlassung nach München-Freising; Generalvikar Dr. Gruber wird der Hintergrund dabei mitgeteilt. Man will ihn dann zuerst in einem Familienerholungs- und Schulungsheim als Hausgeistlichen unterbringen, aber der dortige Leiter will es nicht riskieren. Dann kommt man auf die Idee, ihn in einem Frauenkloster unterzubringen, ohne den Nonnen etwas von der Vorgeschichte zu erzählen; Dr. Gruber schlägt vor, sie anzulügen: „Es ist wohl klüger, wenn die Schwestern über seine Vorgeschichte nichts erfahren und wenn man zur Begründung seiner Übersiedlung Gesundheitsgründe angibt. Mit dem Pfarrer von […] werde ich u. U. dann bei Gelegenheit über die Situation [des Priesters] sprechen.“ (S. 527) Am Ende wird er aber in einem Altenheim und in der Mithilfe bei der sonstigen Seelsorge eingesetzt, man überlegt, ihn als Kaplan in eine andere Pfarrei zu schicken. Allerdings macht er sich offenbar unbeliebt, sodass man ihn doch wieder in die andere Diözese zurückschicken will: „Nun müssen wir zu unserem Bedauern immer wieder Klagen anhören, daß er die Bayern in Gesprächen und sogar im Amt unschön und ungerecht aburteilt, daß er keine Gemeinschaft findet, […]. Er [Anm.: der Priester] wird in [der Pfarrei] wegen seines Verhaltens abgelehnt.“ (S. 529) Besonders erregt er aber nicht nur mit unsozialem Verhalten Aufsehen, sondern auch mit Kontakten zu jungen Ausländern, u. a. nimmt er einen 19jährigen Türken vorübergehend bei sich auf. Sein Heimatbistum will ihn zuerst nicht zurück und er möchte auch lieber noch etwas in München-Freising bleiben, aber dann ändern sich seine Pläne und er bittet darum, zurückkehren zu können. „Als Grund seinen plötzlichen Sinneswandel gab der Priester in seinem Schreiben an, dass seine ‚Gegner‘ in der Pfarrei von seiner Vorgeschichte Kenntnis erlangt hätten.“ (S. 532f.) Er kehrt also zurück und wird fünf Jahre später noch in eine andere Diözese geschickt. Später melden sich in seiner Heimatdiözese acht mutmaßliche Missbrauchsopfer; in Bayern sind keine bekannt. In einem Brief an seinen Heimatbischof hat der Priester selbst noch geschrieben:

„Ich bin nämlich wirklich hochgradig homophil. Und zwar gerade im Hinblick auf junge Menschen […] meine Neigung ist eine ständige Gefahr für mich selbst und damit auch für die Kirche. Auch in [dem Ort in der Erzdiözese München und Freising, an dem der Priester im Altersheim und in der Seelsorgemithilfe eingesetzt war] war diese Gefahr für mich existent, und ich habe es nicht einmal gewußt. Jetzt erst zum Schluß hat der dortige Pfarrer mir etwas erzählt, woraus ich ersah, in welch großer Gefahr ich vorübergehend geschwebt hatte, ohne daß ich sie auch nur geahnt hätte.“ (S. 533)

Fall 32: Mitte der 1960er beschwert sich ein Pfarrer beim Erzbistum über seinen Kaplan, u. a. habe er zu viele nahe Kontakte mit Jungen, auch in seinen Ferien, „wenngleich man ihm hier direkt wirklich nichts nachsagen“ könne (S. 534). Der Priester wird von Generalvikar Defregger zu mehr Distanz ermahnt. Er wird in eine andere Pfarrei versetzt, besucht aber noch öfter seine alte Pfarrei, was ihm schließlich vom Erzbistum verboten wird. In seiner neuen Pfarrei widmet er sich auch wieder stark der Jugendarbeit. Konkrete Anhaltspunkte für Missbrauch gibt es allerdings nicht.

Fall 33: Ein Ordenspriester missbraucht Ende der 1960er mehrere Schüler eines Knabenseminars nachts im Schlafsaal. Die Schüler berichten dem Seminardirektor davon, der aber nichts tut. Weil die Vorwürfe beim Erzbistum erst Anfang der 2010er bekannt wurden, behandle ich diesen Fall eigens in einem späteren Artikel ausführlicher.

Fall 34: Ein Priester missbraucht über einen längeren Zeitraum zehn seiner Schüler oder Ministranten, alles Jungen zwischen elf und 14 Jahren. Schließlich kommt es heraus und die Eltern eines Jungen erstatten Anzeige; der Priester wird vom Erzbistum auf eigenen Wunsch in den zeitlichen Ruhestand versetzt. Ein halbes Jahr später, Anfang der 1970er, wird er zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt; ein ärztliches Gutachten stellt verminderte Schuldfähigkeit fest. Generalvikar Dr. Gruber setzt sich jedoch weiterhin beim Justizministerium für ihn ein, u. a. für seine vorzeitige Haftentlassung. Nachdem er zwei Drittel verbüßt hat, wird er entlassen; Generalvikar Dr. Gruber will ihn wieder in die Seelsorge aufnehmen. „Nach seiner Entlassung aus der Strafhaft wurde dem Priester auch ein geistlicher Berater zur Seite gestellt, der ihn bei der Rückkehr ins Priesteramt beraten und unterstützen sollte. Soweit ersichtlich war es sodann aber der Priester selbst, der nach Verbüßung seiner Haftstrafe nicht mehr aktiv in der Seelsorge tätig sein wollte. Bis zu seinem Tod lebte er in einer bayerischen Gemeinde auf dem Gebiet der Erzdiözese München und Freising und leistete vor Ort vereinzelt Urlaubsaushilfen.“ (S. 538)

Fall 35: Ein Priester, der als Religionslehrer tätig ist, wird Anfang der 1970er beschuldigt, „einen 13jährigen beziehungsweise 14jährigen Jungen mit der Hand befriedigt zu haben und sich auch von diesem befriedigt haben zu lassen“ (S. 538). Er scheidet aus dem Schuldienst aus und wird zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr verurteilt. „Eine Kopie des Urteils findet sich ausschließlich in der persönlichen Ablage/Handakte von Generalvikar Dr. Gruber. Ein Jahr nach der Verurteilung wurde der Priester als Hausgeistlicher in einem Altenheim eingesetzt.“ (S. 539)

Fall 36: „Gegen den einer anderen deutschen Diözese angehörenden Priester wurde kurz vor seiner Weihe im europäischen Ausland ein Strafbefehl wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht mit einem jungen Mann erlassen. Während seiner Ausbildung pflegte er zudem homosexuelle Kontakte. Aufgrund dieser Vorfälle wechselte er nach seiner Priesterweihe in eine andere deutsche Diözese. Anfang der 1970er Jahre kam es zu sexuellen Kontakten mit acht verschiedenen männlichen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, was zu einem staatlichen Ermittlungsverfahren gegen den Priester führte.“ (S. 539) Er hält sich während des Verfahrens zur Therapie in München-Freising auf, und bemüht sich dort um einen Einsatz in der Seelsorge, was Generalvikar Dr. Gruber aber ablehnt. Schließlich wird er zu einem Jahr und sechs Monaten Haft verurteilt. Der Haftantritt verzögert sich, weil er angibt, nicht haftfähig zu sein. Er bemüht sich wieder um eine Stelle in München-Freising; der Personalreferent seiner Diözese teilt dem Erzbistum mit, sein Einsatz sei nicht verantwortbar, auch wenn man ihm die Zelebrationserlaubnis nicht entzogen habe. „Als der Pfarrer, bei dem er privat untergebracht war, erkrankte, wurde seitens der Erzdiözese erwogen, den Priester in dessen Gemeinde einzusetzen. Dieses Vorgehen wurde Generalvikar Dr. Gruber mit einer Aktennotiz des damaligen stellvertretenden Generalvikars ein knappes Jahr nach der Verurteilung des Priesters vorgeschlagen. Ob es zu einem solchen Einsatz kam, ist nicht dokumentiert.“ (S. 540) Ein Jahr nach der Verurteilung tritt er seine Haft schließlich an. Nach seiner Entlassung wird er kurz aushilfsweise in München-Freising tätig, und das Erzbistum fragt bei seinem ursprünglichen Bistum an, ob man ihn generell in der Seelsorge einsetzen könne. Dieses Bistum informiert das Erzbistum jetzt umfassend über die ganze Vorgeschichte und zeigt sich zurückhaltend; man will ihn zwar nicht laisieren, aber auch nicht einfach wieder normal einsetzen. Der den Priester behandelnde Arzt hat eine positive Meinung zu ihm, und Generalvikar Dr. Gruber wendet sich noch einmal an sein Heimatbistum, das aber wegen der Rückfallgefahr und der Gefahr eines Skandals weiterhin an seiner Meinung festhält. Man setzt ihn dann kurz in einem Frauenkloster ein, wo aber seine Vorgeschichte bekannt wird, und versetzt ihn dann in ein Altenheim. Er bleibt bis Anfang der 2010er in der Altenheimseelsorge und übernimmt auch Urlaubsvertretungen.

Fall 37 wurde bereits hier angesprochen – auch hier hat man keinen positiven Eindruck von Kardinal Döpfner und Generalvikar Dr. Gruber.

Fall 38: Anfang der 1970er wird dem aus dem Ausland stammenden Priester eine Pfarrei im Erzbistum übertragen. Zwei Jahre später bemüht sich das Erzbistum, ihn loszuwerden, und er reicht schließlich seinen Rücktritt ein; der Grund dafür sind offenbar auffällige Beziehungen zu Jugendlichen, wobei er versichert, nichts Strafbares getan zu haben. Anfang der 2010er gibt ein Mann gegenüber dem Erzbistum an, in dieser Zeit als 17jähriger von dem Priester betrunken gemacht und vergewaltigt worden zu sein; außerdem habe der Priester zwei andere Jugendliche aus zerrütteten Familienverhältnissen, die als homosexuell galten, im Pfarrhof beherbergt. Er wird nach seinem Rücktritt anderswo als Krankenhausseelsorger und bei der Mithilfe in der Seelsorge eingesetzt. Es gibt im Lauf der Jahre immer wieder Hinweise auf homosexuelle Kontakte mit Jugendlichen, wobei er versichert, keine solchen Beziehungen mit Minderjährigen gehabt zu haben. Vom Erzbistum wird nichts dagegen unternommen. In den 1980ern geht er für einige Zeit ins Ausland, kehrt dann aber nach München-Freising zurück (inzwischen ist Kardinal Wetter im Amt). Er ist in verschiedenen Pfarreien tätig und es gibt wieder Hinweise auf auffällige Kontakte mit Jungen. Vom Erzbistum wird jedoch nichts unternommen, nur ein Weihbischof spricht Warnungen aus. „Ebenfalls Anfang der 1990er Jahre mithin einen Monat nach der Versetzung des Priesters in den dauerhaften Ruhestand, beschwerte sich der Priester bei Erzbischof Kardinal Wetter über den Weihbischof, der gegenüber einer Mesnerin geäußert habe, dass der Priester eine starke homoerotische Ausstrahlung habe, die Eltern sollten auf ihre Jungen aufpassen und die Mesnerin sollte ein waches Auge auf die neun- bis zehnjährigen Ministranten haben.“ (S. 558)

Fall 39: Der Priester einer südamerikanischen Diözese kommt in den 1950ern nach Deutschland und in den 1960ern nach München-Freising. „Aus der persönlichen Ablage/Handakte des Generalvikars Dr. Gruber ergibt sich, dass Hintergrund des Wechsels des Priesters in die Erzdiözese München und Freising ein homosexueller Vorfall zu Beginn der 1960er Jahre unter Seminaristen war.“ (S. 559) Der Stadtpfarrer, dem er unterstellt ist, weiß davon, und rät deshalb von seinem Einsatz als Berufsschullehrer ab; er ist aber ansonsten auch in der Jugendarbeit tätig. „Nachdem der Priester Ende der 1960er Jahre versucht hatte, erkennbar gegen dessen Willen homosexuelle Kontakte mit einem Ordenspriester aufzunehmen, wurde er kurzfristig versetzt.“ (S. 560) Sein dortiger Pfarrer beschwert sich beim Erzbistum, dass der Priester viel mit seinem Auto unterwegs sei und zwischenzeitlich eine eigenständige Jungengruppe gegründet habe. Später wird er als Pfarrvikar in eine andere Pfarrei versetzt. In den 2010ern meldet sich ein Mann beim Erzbistum und berichtet, er sei dort Mitte der 1970er als 12- bzw. 13-jähriger mehrfach von dem Priester missbraucht worden; der Missbrauchsbeauftragte bewertet die Angaben als glaubhaft und der Mann erhält eine Entschädigungszahlung von 5000 €.

Fall 40 und Fall 42 wurden ebenfalls hier schon behandelt.

Zu Fall 41 heißt es im Gutachten „Dieser Fall ist Gegenstand des als Bestandteil dieser Untersuchung vorgelegten Sondergutachtens“ (S. 568) – ich lasse ihn hier vorerst aus.

Fazit: Unter Kardinal Döpfner und den Generalvikaren Defregger und Dr. Gruber sieht man praktisch durchgehend Vertuschung und Gleichgültigkeit – ganz besonders bei Dr. Gruber. Egal ob es um erwiesenen Kindesmissbrauch, um verdächtigen Umgang mit Jugendlichen, um Belästigung erwachsener Frauen oder um homosexuelle Handlungen geht: nirgends sieht man halbwegs angemessene Reaktionen.

Ein Gedanke zu “Missbrauch in München-Freising: Fälle in den 60ern und 70ern

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